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Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung

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16<br />

Raul Calzoni<br />

hätte«. 15 Hartung zählt Befürworter und Gegner (u. a. Hans Magnus Enzensberger<br />

und Alfred An<strong>der</strong>sch) dieses Begriffs auf. Er verteidigt das <strong>›Experiment‹</strong>,<br />

<strong>in</strong>dem er betont, dass die mo<strong>der</strong>ne Physik nicht mehr nach strenger Kausalität,<br />

son<strong>der</strong>n nach Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsvorhersagen handelt. Er beruft sich auf<br />

Benses ¾sthetik, nach <strong>der</strong> Kunstwerke Objekte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em relativ unwahrsche<strong>in</strong>lichen<br />

Zustand s<strong>in</strong>d, und auf se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition von ›experimenteller <strong>Literatur</strong>‹:<br />

die experimentelle <strong>Literatur</strong> [relativiert] alle Kategorien zwischen Prosa und Poesie,<br />

baut sie <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht sogar ab und zieht den l<strong>in</strong>guistisch allgeme<strong>in</strong>eren<br />

und tiefer liegenden Begriff »Text« vermittelnd vor, wie sie auch lieber vom<br />

»schreiben« als vom »dichten« spricht. Dazu kommt, daß experimentelle <strong>Literatur</strong><br />

ihre Versuche nicht wie die manieristische aus <strong>der</strong> Mçglichkeit dieses o<strong>der</strong><br />

jenes dekretierten Manuals symbolischer Funktion entwickelt, son<strong>der</strong>n vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund gewisser aus erkenntnistheoretischem Zwang hervorgegangener<br />

Theorien, die die gesamten Kommunikationsfähigkeiten des l<strong>in</strong>guistischen Materials<br />

betreffen. 16<br />

Für Bodo Heimann hat je<strong>der</strong> ›Versuch‹, ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹ zu def<strong>in</strong>ieren,<br />

mit zwei Problemen zu kämpfen: Erstens, ob die literarische Praxis e<strong>in</strong>hält, was<br />

die Theorie verspricht, und zweitens ihr Verhältnis zur Tradition. 17 Ansche<strong>in</strong>end<br />

ist das <strong>›Experiment‹</strong> e<strong>in</strong> mot-valise, das je<strong>der</strong> irgendwie auffüllt und auf se<strong>in</strong>e<br />

Reise mitschleppt. Es sollte daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn die Herausgeber<br />

dieses Bandes darauf verzichten, e<strong>in</strong>e neue Def<strong>in</strong>ition des Begriffs <strong>in</strong> diese<br />

E<strong>in</strong>leitung zu pressen. Stattdessen mçchten sie das <strong>›Experiment‹</strong> als e<strong>in</strong>e Gleichung<br />

betrachtet wissen und mit diesem Band 18 ›x-Grçßen‹ – dies ist die Anzahl<br />

<strong>der</strong> hier versammelten Beiträge – anbieten, um e<strong>in</strong> paar Variablen dieser<br />

Gleichung zu füllen. 18 <strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> lässt sich nur differential<br />

def<strong>in</strong>ieren: Es hängt erstens immer vom naturwissenschaftlichen Experimentbegriff<br />

ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich e<strong>in</strong>e ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹<br />

immer von e<strong>in</strong>er ›klassischen‹ o<strong>der</strong> ›traditionellen‹ Tradition ab, die sie<br />

15 Harald Hartung, Experimentelle <strong>Literatur</strong> und konkrete Poesie, S.5.<br />

16 Max Bense, ‘Movens. Experimentelle <strong>Literatur</strong>’, Grundlagen aus Kybernetik und Geisteswissenschaft,<br />

1, 1 (1960), S.122.<br />

17 Vgl. Heimann, Experimentelle Prosa <strong>der</strong> Gegenwart, S.9f.<br />

18 1962 wurde diese Metapher von Hans Magnus Enzensberger benutzt, <strong>der</strong> den Bezug zwischen<br />

<strong>›Experiment‹</strong> und ›Dichtung‹ e<strong>in</strong>en »simplen Bluff« nannte und Folgendes hervorhob:<br />

»S<strong>in</strong>nvoll ist e<strong>in</strong> Experiment nur, wenn die auftretenden Variablen bekannt s<strong>in</strong>d und begrenzt<br />

werden kçnnen. Als weitere Bed<strong>in</strong>gung tritt h<strong>in</strong>zu: Jedes Experiment muß nachprüfbar<br />

se<strong>in</strong> und bei se<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>holung stets zu e<strong>in</strong> und demselben, e<strong>in</strong>deutigen Resultat<br />

führen. <strong>Das</strong> heißt: e<strong>in</strong> Experiment kann gel<strong>in</strong>gen und scheitern nur <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong><br />

vorher genau def<strong>in</strong>iertes Ziel. […] Ke<strong>in</strong>eswegs kann es Selbstzweck se<strong>in</strong>: Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>härenter<br />

Wert ist gleich Null«; Hans Magnus Enzensberger, ‘Die Aporien <strong>der</strong> Avantgarde’, <strong>in</strong>E<strong>in</strong>zelheiten.<br />

Poesie und Politik (Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp, 1962), S. 309 f.

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