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Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung

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Raul Calzoni<br />

<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung<br />

Bereits am Anfang unserer Beteiligung am Europäischen Forschungsprojekt<br />

ACUME2 – Interfac<strong>in</strong>g Sciences, <strong>Literatur</strong>e & Humanities: An Interdiscipl<strong>in</strong>ary<br />

Approach war uns die Idee gekommen, e<strong>in</strong>en Band zum <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

deutschsprachigen <strong>Literatur</strong> herauszugeben. Es war Oktober 2007, als wir begannen,<br />

den vorliegenden Band zu planen, die Autoren auszuwählen, die <strong>in</strong><br />

Frage kommen kçnnten, und die entsprechenden Beiträge e<strong>in</strong>zufor<strong>der</strong>n. Beg<strong>in</strong>nt<br />

man mit <strong>der</strong> Arbeit an e<strong>in</strong>em neuen Projekt, so fühlt man sich immer e<strong>in</strong><br />

bisschen wie Forschungspioniere – unabhängig davon, ob es stimmen mag o<strong>der</strong><br />

nicht. <strong>Das</strong> war auch <strong>in</strong> unserem Fall so: Sehr bald wurde uns bewusst, dass das<br />

Thema des ›Experiments‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschsprachigen <strong>Literatur</strong> des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

sehr aktuell ist und <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten von hervorragenden <strong>Literatur</strong>-<br />

und Kulturwissenschaftlern erforscht worden ist.<br />

In <strong>der</strong> literaturwissenschaftlichen Diskussion hat <strong>der</strong> Begriff <strong>›Experiment‹</strong><br />

tatsächlich <strong>in</strong> jüngerer Zeit an Brisanz gewonnen. <strong>Das</strong> von Michael Gamper<br />

geleitete Forschungsprojekt »Experimentierkunst. Poetologie und ¾sthetik des<br />

Versuchs <strong>in</strong> Neuzeit und Mo<strong>der</strong>ne« 1 hat diesbezüglich e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle<br />

gespielt, weil es die Entwicklung <strong>der</strong> ›Experimentforschung‹ entscheidend gefçr<strong>der</strong>t<br />

hat. Seit 2007 werden an <strong>der</strong> Eidgençssischen Technischen Hochschule<br />

Zürich von Gamper und se<strong>in</strong>en Mitarbeitern Jahrestagungen organisiert, auf<br />

denen sich berühmte <strong>Literatur</strong>wissenschaftler <strong>in</strong>tensiv mit dem Thema ›Experiment<br />

und <strong>Literatur</strong>‹ ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen. Der erste Aktenband <strong>der</strong> Zürcher<br />

Tagungen ist vor kurzem erschienen mit dem Titel »Es ist nun e<strong>in</strong>mal zum<br />

Versuch gekommen«: Experiment und <strong>Literatur</strong> I: 1580–1790. Weitere Bände zu<br />

diesem Thema s<strong>in</strong>d geplant, und sie werden die Beziehung zwischen <strong>Literatur</strong><br />

und <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> den Zeitspannen 1790 –1890 und 1890–2009 untersuchen. 2<br />

1 Vgl. hierzu die Projektwebseite:<br />

http://www.lw.ethz.ch/projekt_experimentierkunst.htm<br />

2 »Es ist nun e<strong>in</strong>mal zum Versuch gekommen«. <strong>Literatur</strong> und Experiment I: 1580–1790, hrsg.<br />

von Michael Gamper, Mart<strong>in</strong>a Wernli, Jçrg Zimmer (Gçtt<strong>in</strong>gen: Wallste<strong>in</strong>, 2009). Die zu-


12<br />

Raul Calzoni<br />

Der vorliegende Band, <strong>der</strong> <strong>der</strong> deutschsprachigen <strong>Literatur</strong> des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

gewidmet ist, mçchte h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Experimentforschung jene Wege<br />

beschreiten, die diese »<strong>Literatur</strong>geschichte des Experiments« und Gampers<br />

Aufsatz ‘Dichtung als »Versuch«: <strong>Literatur</strong> zwischen Experiment und Essay’<br />

bereits e<strong>in</strong>geschlagen haben. 3 Die Herausgeber des vorliegenden Bandes wünschen<br />

sich, dass sich »E<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phantasie durchgeführtes Experiment«: <strong>Literatur</strong><br />

und Wissenschaft nach Neunzehnhun<strong>der</strong>t mit se<strong>in</strong>en Forschungsergebnissen<br />

denen des Projekts »Experimentierkunst. Poetologie und ¾sthetik des<br />

Versuchs <strong>in</strong> Neuzeit und Mo<strong>der</strong>ne« von Gamper gesellen kann, um e<strong>in</strong>en<br />

fruchtbaren literaturwissenschaftlichen Dialog unter Germanisten verschiedener<br />

Nationen zu fçr<strong>der</strong>n.<br />

Vor Gamper haben sich auch an<strong>der</strong>e berühmte <strong>Literatur</strong>wissenschaftler mit<br />

diesem Thema beschäftigt, wie z. B. Harald Hartung, Bodo Heimann, Siegfried J.<br />

Schmidt, Nicholas Pethes und Marcus Krause, um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen, auf<br />

<strong>der</strong>en Analysen sich die <strong>in</strong> diesem Buch gesammelten Beiträge berufen. 4 Unter<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> vor allem <strong>in</strong> den letzten fünfzig Jahren<br />

durchgeführten ›Experimentforschung‹ schlagen die Beiträge des vorliegenden<br />

Bandes zwei unterschiedliche Wege e<strong>in</strong> bei <strong>der</strong> Analyse des Begriffs <strong>›Experiment‹</strong>:<br />

E<strong>in</strong>erseits liegt bei diesen Texten <strong>der</strong> Schwerpunkt auf <strong>der</strong> epistemologischen<br />

Wirkung des wissenschaftlichen ›Experiments‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />

<strong>Literatur</strong> des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, an<strong>der</strong>erseits verweisen sie auf die Analyse <strong>der</strong><br />

ästhetischen Strategien <strong>der</strong> ›experimentellen <strong>Literatur</strong>‹, die sich <strong>in</strong> den 60er und<br />

70er Jahren als Tendenz etablierte.<br />

Dank <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Band gesammelten Beiträge gew<strong>in</strong>nt man den E<strong>in</strong>druck,<br />

dass <strong>der</strong> Begriff <strong>›Experiment‹</strong> e<strong>in</strong>e ambivalente Position <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen literaturwissenschaftlichen<br />

Diskussion e<strong>in</strong>nimmt. Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite sche<strong>in</strong>t er<br />

neuerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> gewisses Interesse zu erwecken: <strong>Das</strong> Interfac<strong>in</strong>g zwischen <strong>Literatur</strong><br />

und Wissenschaft steht im Zentrum vieler Analysen, 5 <strong>in</strong> denen die Konstellationen<br />

des ›Experimentellen‹ zwischen Wissenschaft und <strong>Literatur</strong> <strong>in</strong> un-<br />

sätzlichen geplanten Bände dieser ›<strong>Literatur</strong>geschichte des Experiments‹, wie Gamper selbst<br />

das Projekt <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung zum ersten Band bezeichnet (vgl. ebd., S. 9) werden nach<br />

Ankündigung des Verlags voraussichtlich 2010 und 2011 ersche<strong>in</strong>en.<br />

3 Michael Gamper, ‘Dichtung als »Versuch«. <strong>Literatur</strong> zwischen Experiment und Essay’, Zeitschrift<br />

für Germanistik, XVII, 3 (2007), S. 593 –611.<br />

4 Vgl. Harald Hartung, Experimentelle <strong>Literatur</strong> und konkrete Poesie (Gçtt<strong>in</strong>gen: Vandenhoeck<br />

& Ruprecht, 1975); Bodo Heimann, Experimentelle Prosa <strong>der</strong> Gegenwart (München: Oldenbourg,<br />

1978); <strong>Das</strong> Experiment <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Kunst, hrsg. von Siegfried J. Schmidt (München:<br />

F<strong>in</strong>k, 1978); Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t, hrsg. von Marcus Krause, Nicolas Pethes (Würzburg: Kçnigshausen &<br />

Neumann, 2005).<br />

5 Vgl. Nicolas Pethes, ‘<strong>Literatur</strong> und Wissenschaftsgeschichte. E<strong>in</strong> Forschungsbericht’, IASL,28<br />

(2003), S. 181–231.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 13<br />

terschiedlichen Epochen untersucht werden. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite wird er von<br />

vielen als e<strong>in</strong> Modebegriff des Naturalismus o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Avantgardeliteraturen <strong>der</strong><br />

60er und 70er Jahre abgestempelt. So zum Beispiel von Jochen Venus, <strong>der</strong> unlängst<br />

behauptete: »<strong>Das</strong> Experiment hat sich als ästhetische Kategorie nicht<br />

etablieren kçnnen«. 6 O<strong>der</strong> von Markus Krause und Nicolas Pethes, die im<br />

Vorwort zu ebenselbem, 2005 erschienenen Band die Vorsicht unterstreichen,<br />

mit <strong>der</strong> man diesen Begriff verwenden sollte:<br />

Daß es literarische Experimente gibt, wird hier […] nicht vorausgesetzt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />

Frage gestellt. Dabei gilt es, e<strong>in</strong>e voreilige Verabschiedung des Experiments als<br />

literarisch nicht umsetzbare Methode ebenso zu vermeiden wie se<strong>in</strong>e unverb<strong>in</strong>dliche<br />

metaphorische Vere<strong>in</strong>nahmung. Statt dessen ist genau zu unterscheiden,<br />

welche Elemente literarische Verfahren und Schreibweisen mit wissenschaftlichen<br />

Vorgehensweisen teilen, welche Elemente naturwissenschaftlichen<br />

Paradigmen entgegenstehen und welche Elemente zuallererst aus literarischen<br />

Szenarien gewonnen werden. 7<br />

Viele Arbeiten über das <strong>›Experiment‹</strong> und das ›Experimentelle‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong><br />

haben dies geme<strong>in</strong>sam 8 : Sie gehen von e<strong>in</strong>er (Wçrterbuch)Def<strong>in</strong>ition des ›Experiments‹<br />

aus, um dann e<strong>in</strong>e Brücke zu schlagen zur <strong>Literatur</strong>. Dennoch kçnnte<br />

man heute immer noch <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>, dass ke<strong>in</strong>e überzeugende Def<strong>in</strong>ition<br />

für die ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹ herausgearbeitet worden ist. 1997 erklärt<br />

Georg Jäger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Begriffserklärung im Reallexikon <strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong>wissenschaft:<br />

Experimentell: Literarische Verfahren auf <strong>der</strong> Suche nach neuen Ausdrucksmçglichkeiten<br />

o<strong>der</strong> überprüfbaren Erkenntnissen. Allgeme<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong> erkundendes,<br />

probierendes, ungewohntes Vorgehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> als experimentell bezeichnet,<br />

im engeren S<strong>in</strong>n wird <strong>der</strong> Begriff <strong>in</strong> Analogie zum wissenschaftlichen Experiment<br />

gebraucht. Wegen <strong>der</strong> unterschiedlichen Bedeutungen sollte <strong>der</strong> Begriffsgebrauch<br />

stets expliziert werden. 9<br />

Je<strong>der</strong> Kritiker setzt den Anfang <strong>der</strong> ›experimentellen <strong>Literatur</strong>‹ an e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en<br />

Punkt an. Georg Jäger schlägt zum Beispiel e<strong>in</strong>en Bogen von <strong>der</strong> ›Experimentalphilosophie‹<br />

<strong>der</strong> Romantiker über Nietzsche und den Naturalismus bis h<strong>in</strong><br />

6 Jochen Venus, ‘Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zur ästhetischen Kategorie des<br />

Experiments’, <strong>in</strong> Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t, S. 19.<br />

7 Marcus Krause, Nicolas Pethes, ‘Zwischen Erfahrung und Mçglichkeit. Literarische Experimentalkulturen<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t’, <strong>in</strong> Literarische Experimentalkulturen, S. 10.<br />

8 Vgl. <strong>in</strong> diesem Band die Beiträge von Silvia Bonacchi, Walter Busch und Ina Heuser.<br />

9 Georg Jäger, ‘Experimentell’, <strong>in</strong> Reallexikon <strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong>wissenschaft, hrsg. von<br />

Klaus Weimar (Berl<strong>in</strong>, New York: W. de Gruyter, 1997), S. 546–547.


14<br />

Raul Calzoni<br />

zur Avantgardeliteratur <strong>der</strong> 1950er Jahre, als dieser Begriff zum Schlagwort<br />

wurde:<br />

Bei <strong>der</strong> Rede vom Experiment im Kunstzusammenhang ist zu beachten, auf welchen<br />

Entwicklungsstand <strong>in</strong> den Naturwissenschaften sie sich jeweils bezieht.<br />

Zunächst bleibt <strong>der</strong> Begriffsgebrauch metaphorisch, da wesentliche Def<strong>in</strong>itionsmerkmale<br />

fehlen: Der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und<br />

folglich die Mçglichkeit <strong>der</strong> Überprüfung durch Wie<strong>der</strong>holung. <strong>Das</strong> Interesse am<br />

künstlerischen Experiment betrifft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur den Vorgang o<strong>der</strong> das Resultat<br />

selbst, es ist nicht funktional ausgerichtet auf Erkenntnisgew<strong>in</strong>n o<strong>der</strong> Naturbeherrschung.<br />

10<br />

In Der Begriff des Experiments <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung 11 (1968) beklagt Hans Schwerte,<br />

dass das <strong>›Experiment‹</strong> zum »modischen Gerede« geworden ist, das oft als Synonym<br />

für Avantgarde o<strong>der</strong> ›mo<strong>der</strong>n‹ verwendet wird. Schwerte spricht auch von<br />

schwatzhaftem Wortgebrauch dieses Konzepts, dem Autoren wie Hans Magnus<br />

Enzensberger, Alfred An<strong>der</strong>sch und Günter Grass e<strong>in</strong> Ende setzen wollten. <strong>Das</strong><br />

<strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung kçnnte also nichts weiter als e<strong>in</strong> schlecht formulierter<br />

metaphorischer Ausdruck se<strong>in</strong>. Aber gerade weil sich so wichtige<br />

Autoren wie Thomas Mann, Gottfried Benn und Bertolt Brecht mit dem <strong>›Experiment‹</strong><br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt haben, kçnne laut Schwerte dieser Begriff nicht<br />

mit dem H<strong>in</strong>weis ungenauen Wortgebrauchs auf die Seite geschoben werden.<br />

Es wurde oft versucht, den Begriff des ›Experimentellen‹ aus den Naturwissenschaften<br />

<strong>in</strong> den Kunstbereich zu übertragen. Übertragungen dieser Art<br />

stellen sich bei näherem Zusehen als metaphorische Operationen heraus, bei<br />

denen man bestimmte Konnotationen des Begriffs <strong>›Experiment‹</strong> als Kennzeichen<br />

für die eigene Produktion nimmt.<br />

Solche Bedeutungen s<strong>in</strong>d beispielsweise neuartig, <strong>in</strong>novativ, mit ungewissem<br />

Ausgang, nonkonformistisch. Für Siegfried Schmidt, <strong>der</strong> 1978 die Akten e<strong>in</strong>es<br />

10 Ebd. Für Jägers Begriff des ›Experiments‹ gilt, was Pethes und Krause festgestellt haben:<br />

»Daß ästhetische Produktion experimentell verfaßt sei, wird im Diskurs <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>wissenschaften<br />

immer dann <strong>in</strong> Anschlag gebracht, wenn es gilt, das Neue, An<strong>der</strong>e, Wi<strong>der</strong>ständige<br />

literarischer Produktionen zu bezeichnen. Dabei versandet die Experiment-Kategorie<br />

jedoch meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seichten Irgendwie des Ausprobierens neuer Formen und wenn<br />

ihr Status reflektiert wird, dann lediglich als metaphorischer Transfer naturwissenschaftlicher<br />

Erkenntnis auf <strong>Literatur</strong>«, Marcus Krause, Nicolas Pethes, ‘Zwischen Erfahrung und<br />

Mçglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t’, S. 7.<br />

11 Hans Schwerte, ‘Der Begriff des Experiments <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung’, <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Geistesgeschichte.<br />

Festgabe für He<strong>in</strong>z Otto Burger, hrsg. von Re<strong>in</strong>hold Grimm, Conrad Wiedemann<br />

(Berl<strong>in</strong>: Erich Schmidt Verlag, 1968), S. 387–405. Man kann nicht umh<strong>in</strong>, auf die NS-Vergangenheit<br />

von Hans Schwerte h<strong>in</strong>zuweisen, <strong>der</strong> nach dem Krieg se<strong>in</strong>en Namen än<strong>der</strong>te (er<br />

hieß ursprünglich Hans Ernst Schnei<strong>der</strong>), als <strong>Literatur</strong>wissenschaftler tätig war und von<br />

1972–1975 sogar als Rektor <strong>der</strong> RTWH <strong>in</strong> Aachen fungierte. 1995 wurde se<strong>in</strong> Fall aufgedeckt.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 15<br />

Kolloquiums zum Experiment <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Kunst herausgab, hat es ke<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n, nach e<strong>in</strong>er genauen Def<strong>in</strong>ition dieses Begriffs im Kunstbereich zu suchen.<br />

Wichtiger ist, wie dieser verwendet wird (ob apologetisch, programmatisch,<br />

o<strong>der</strong> diskrim<strong>in</strong>ierend) und was darunter zu verstehen ist. Es zw<strong>in</strong>gt sich für<br />

Schmidt folgende Frage auf: »Wer verwendet zu welchem Zweck diesen Begriff<br />

?«. Da es ke<strong>in</strong>en verb<strong>in</strong>dlichen Kanon für Kunstformen und -<strong>in</strong>halte gibt,<br />

kann <strong>der</strong> Künstler neue Formen erschließen, die für die Rezipienten grundsätzlich<br />

überraschend s<strong>in</strong>d. Zusammenfassend ließe sich vielleicht formulieren:<br />

»Den erwähnten Ersche<strong>in</strong>ungsweisen experimenteller Kunst kann vielleicht e<strong>in</strong>e<br />

generelle Intention zugeordnet werden: Grenzüberschreitung«. 12 E<strong>in</strong>e solche<br />

Überschreitung erfolgt sowohl bezüglich <strong>der</strong> Grenzen des Kunstbegriffs, als<br />

auch gegenüber den Erwartungen <strong>der</strong> Rezipienten. In <strong>der</strong> Diskussion, die am<br />

10. Oktober 1975 <strong>in</strong> Karlsruhe stattfand, versuchten die Teilnehmer e<strong>in</strong>en<br />

mçglichst klaren Begriff für <strong>›Experiment‹</strong> zu f<strong>in</strong>den. Es wurde zum Beispiel<br />

diskutiert, ob das naturwissenschaftliche <strong>›Experiment‹</strong> planmäßig und zielgerichtet<br />

o<strong>der</strong> ob es e<strong>in</strong> Wagnis, e<strong>in</strong>e riskante Unternehmung sei. Auch war es nicht<br />

klar, ob es zur Theorief<strong>in</strong>dung o<strong>der</strong> zur Theoriebestätigung dienen sollte.<br />

Deswegen betonte Gunter Gebauer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag, dass eigentlich niemand<br />

wisse, was e<strong>in</strong> <strong>›Experiment‹</strong> sei: Die Wissenschaftler selbst hätten <strong>in</strong> den empirischen<br />

Wissenschaften e<strong>in</strong>e Reihe unterschiedlicher Konzepte entwickelt.<br />

Gebauer zitiert u. a. Poppers Fallibilismustheorie. 13 W<strong>in</strong>fried Nçths Aufsatz<br />

beruft sich h<strong>in</strong>gegen auf Thomas Kuhn, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Der Struktur <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Revolutionen (1972) die Normalwissenschaft von <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Revolution unterscheidet. In <strong>der</strong> ersten werden ›Experimente‹ durchgeführt, um<br />

e<strong>in</strong>e akzeptierte wissenschaftliche Theorie zu bestätigen und zu präzisieren. In<br />

<strong>der</strong> zweiten werden ›Experimente‹ e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Typs durchgeführt, <strong>der</strong>en Ziel<br />

es ist, die Inadäquatheit e<strong>in</strong>es bestehenden Systems nachzuweisen, neue Hypothesen<br />

auszuprobieren und zu e<strong>in</strong>em neuen Paradigma zu führen – <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang analysiert Nçth das Happen<strong>in</strong>g als e<strong>in</strong> Beispiel von Paradigmenwechsel<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Normalkunst. 14<br />

In Experimentelle <strong>Literatur</strong> und konkrete Poesie (1975) behauptet Harald<br />

Hartung, dass seit Emile Zola »immer wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne experimentelle Praktiken<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> als experimentell bezeichnet worden [seien], ohne dass sich<br />

daraus e<strong>in</strong>e geschlossene Vorstellung vom literarischen Experiment gebildet<br />

12 Siegfried J. Schmidt, ‘Was heißt »Experiment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst« / »Kunst als Experimente?«:<br />

E<strong>in</strong>ige Diskussionsthesen’, <strong>in</strong> <strong>Das</strong> Experiment <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Kunst, S. 11.<br />

13 Gunter Gebauer, ‘Wissenschaftliche Experimente und experimentelle Kunst’, <strong>in</strong> Experiment<br />

<strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Kunst, S. 22–26.<br />

14 W<strong>in</strong>fried Nçth, ‘<strong>Das</strong> Happen<strong>in</strong>g als künstlerisches Experiment’, <strong>in</strong> <strong>Das</strong> Experiment <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong><br />

und Kunst, S. 32 –37.


16<br />

Raul Calzoni<br />

hätte«. 15 Hartung zählt Befürworter und Gegner (u. a. Hans Magnus Enzensberger<br />

und Alfred An<strong>der</strong>sch) dieses Begriffs auf. Er verteidigt das <strong>›Experiment‹</strong>,<br />

<strong>in</strong>dem er betont, dass die mo<strong>der</strong>ne Physik nicht mehr nach strenger Kausalität,<br />

son<strong>der</strong>n nach Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsvorhersagen handelt. Er beruft sich auf<br />

Benses ¾sthetik, nach <strong>der</strong> Kunstwerke Objekte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em relativ unwahrsche<strong>in</strong>lichen<br />

Zustand s<strong>in</strong>d, und auf se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition von ›experimenteller <strong>Literatur</strong>‹:<br />

die experimentelle <strong>Literatur</strong> [relativiert] alle Kategorien zwischen Prosa und Poesie,<br />

baut sie <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht sogar ab und zieht den l<strong>in</strong>guistisch allgeme<strong>in</strong>eren<br />

und tiefer liegenden Begriff »Text« vermittelnd vor, wie sie auch lieber vom<br />

»schreiben« als vom »dichten« spricht. Dazu kommt, daß experimentelle <strong>Literatur</strong><br />

ihre Versuche nicht wie die manieristische aus <strong>der</strong> Mçglichkeit dieses o<strong>der</strong><br />

jenes dekretierten Manuals symbolischer Funktion entwickelt, son<strong>der</strong>n vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund gewisser aus erkenntnistheoretischem Zwang hervorgegangener<br />

Theorien, die die gesamten Kommunikationsfähigkeiten des l<strong>in</strong>guistischen Materials<br />

betreffen. 16<br />

Für Bodo Heimann hat je<strong>der</strong> ›Versuch‹, ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹ zu def<strong>in</strong>ieren,<br />

mit zwei Problemen zu kämpfen: Erstens, ob die literarische Praxis e<strong>in</strong>hält, was<br />

die Theorie verspricht, und zweitens ihr Verhältnis zur Tradition. 17 Ansche<strong>in</strong>end<br />

ist das <strong>›Experiment‹</strong> e<strong>in</strong> mot-valise, das je<strong>der</strong> irgendwie auffüllt und auf se<strong>in</strong>e<br />

Reise mitschleppt. Es sollte daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn die Herausgeber<br />

dieses Bandes darauf verzichten, e<strong>in</strong>e neue Def<strong>in</strong>ition des Begriffs <strong>in</strong> diese<br />

E<strong>in</strong>leitung zu pressen. Stattdessen mçchten sie das <strong>›Experiment‹</strong> als e<strong>in</strong>e Gleichung<br />

betrachtet wissen und mit diesem Band 18 ›x-Grçßen‹ – dies ist die Anzahl<br />

<strong>der</strong> hier versammelten Beiträge – anbieten, um e<strong>in</strong> paar Variablen dieser<br />

Gleichung zu füllen. 18 <strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> lässt sich nur differential<br />

def<strong>in</strong>ieren: Es hängt erstens immer vom naturwissenschaftlichen Experimentbegriff<br />

ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich e<strong>in</strong>e ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹<br />

immer von e<strong>in</strong>er ›klassischen‹ o<strong>der</strong> ›traditionellen‹ Tradition ab, die sie<br />

15 Harald Hartung, Experimentelle <strong>Literatur</strong> und konkrete Poesie, S.5.<br />

16 Max Bense, ‘Movens. Experimentelle <strong>Literatur</strong>’, Grundlagen aus Kybernetik und Geisteswissenschaft,<br />

1, 1 (1960), S.122.<br />

17 Vgl. Heimann, Experimentelle Prosa <strong>der</strong> Gegenwart, S.9f.<br />

18 1962 wurde diese Metapher von Hans Magnus Enzensberger benutzt, <strong>der</strong> den Bezug zwischen<br />

<strong>›Experiment‹</strong> und ›Dichtung‹ e<strong>in</strong>en »simplen Bluff« nannte und Folgendes hervorhob:<br />

»S<strong>in</strong>nvoll ist e<strong>in</strong> Experiment nur, wenn die auftretenden Variablen bekannt s<strong>in</strong>d und begrenzt<br />

werden kçnnen. Als weitere Bed<strong>in</strong>gung tritt h<strong>in</strong>zu: Jedes Experiment muß nachprüfbar<br />

se<strong>in</strong> und bei se<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>holung stets zu e<strong>in</strong> und demselben, e<strong>in</strong>deutigen Resultat<br />

führen. <strong>Das</strong> heißt: e<strong>in</strong> Experiment kann gel<strong>in</strong>gen und scheitern nur <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong><br />

vorher genau def<strong>in</strong>iertes Ziel. […] Ke<strong>in</strong>eswegs kann es Selbstzweck se<strong>in</strong>: Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>härenter<br />

Wert ist gleich Null«; Hans Magnus Enzensberger, ‘Die Aporien <strong>der</strong> Avantgarde’, <strong>in</strong>E<strong>in</strong>zelheiten.<br />

Poesie und Politik (Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Suhrkamp, 1962), S. 309 f.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 17<br />

als solche erst an- und erkennen muss. Um die beiden unbekannten Grçßen<br />

dieser Gleichung zu füllen, mçchten die Herausgeber das Vorwort zum vorliegenden<br />

Band wie folgt fortsetzen: Raul Calzoni wird zunächst e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Geschichte<br />

<strong>der</strong> ›experimentellen <strong>Literatur</strong>‹ von den Anfängen bis zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

vorlegen (»<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>«), <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung<br />

(»Die <strong>Literatur</strong> im <strong>›Experiment‹</strong>«) wird sich Massimo Salgaro e<strong>in</strong>igen Experimentbegriffen<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts widmen.<br />

H<strong>in</strong>sichtlich des Themenkomplexes »<strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>« spielen<br />

die Beiträge dieses Bandes auf e<strong>in</strong>e etymologische Frage an, die so alt ist wie <strong>der</strong><br />

Begriff ›Versuch‹. Der deutschen Sprache stehen zwei Vokabeln zur Verfügung,<br />

um sich auf das ›wissenschaftliche Experiment‹ zu beziehen, deshalb werden<br />

›Versuch‹ und <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> den Beiträgen des vorliegenden Bandes als<br />

Synonyme verwendet. Nichtsdestotrotz gibt es e<strong>in</strong>ige historische, philologische<br />

und methodologische Merkmale, die den Gebrauch des aus dem Germanischen<br />

stammenden ›Versuchs‹ und des aus dem Late<strong>in</strong>ischen kommenden ›Experiments‹<br />

unterscheiden. Der erste Begriff trägt <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Sprache e<strong>in</strong>e<br />

Vieldeutigkeit <strong>in</strong> sich, die aufgrund se<strong>in</strong>er fasz<strong>in</strong>ierenden Geschichte dem<br />

›Versuch‹ <strong>in</strong>newohnt. 19 Es lohnt sich, die Geschichte des ›Versuchs/Experiments‹<br />

kurz zu rekonstruieren, obwohl man sich auf die Deutung dieses Doppelbegriffs<br />

– um es mit Mieke Bals Stichwort auszudrücken – als Travell<strong>in</strong>g Concept zwischen<br />

alchimistischem, naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem<br />

Diskurs beschränken muss. 20 In diesem S<strong>in</strong>ne ist es beson<strong>der</strong>s bedeutsam,<br />

dass <strong>der</strong> E<strong>in</strong>trag <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wçrterbuch<br />

nicht vorkommt, während das Lemma ›Versuch‹ ausgiebig besprochen<br />

wird. In Grimms Wçrterbuch fehlt <strong>der</strong> Begriff <strong>›Experiment‹</strong> zwar nicht, aber er<br />

wird erst beim zweiten Punkt des E<strong>in</strong>trags als ›Versuch‹ ausgelegt. Hier werden<br />

die zwei Vokabeln als s<strong>in</strong>nverwandte Wçrter zu folgenden schriftlichen Zeugnissen<br />

geknüpft: »vorübung, versuch, progymnasma, praeexercitamen, tentamentum,<br />

experimentum«. 21 Es geht hier um den ersten Beleg e<strong>in</strong>er annähernden<br />

Gleichstellung des germanischen ›Versuchs‹ mit dem late<strong>in</strong>ischen <strong>›Experiment‹</strong>,<br />

welche aus den Praecepta mororum utilissima (1536) von dem lutherischen<br />

Theologen, Fabel- und Kirchenlie<strong>der</strong>dichter Erasmus Alberus stammt. Diese<br />

19 Vgl. den E<strong>in</strong>trag ‘Versuch’, <strong>in</strong> Der digitale Grimm: Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm<br />

und Wilhelm Grimm. Elektronische Ausgabe <strong>der</strong> Erstbearbeitung. Hrsg. von Hans-Werner<br />

Bartz, Thomas Burch, Ruth Christmann, Kurt Gartner, Vera Hildebrandt, Thomas Schares,<br />

Klaudia Wegge (Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: Zweitausende<strong>in</strong>s, 2004).<br />

20 Vgl. Mieke Bal, Travell<strong>in</strong>g Concepts <strong>in</strong> the Humanities: A Rough Guide (Toronto: University<br />

of Toronto Press, 2002).<br />

21 ‘Versuch’, <strong>in</strong> Der digitale Grimm: Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm<br />

Grimm. Vgl. Erasmus Alberus, Praecepta morum utilissima o<strong>der</strong> Beleuchtungen <strong>der</strong> Zehn<br />

Gebote durch Bibelstellen u. Stellen aus kirchl. u. weltl. Schriftstellern <strong>in</strong> dt. Reimen<br />

(Frankfurt am Ma<strong>in</strong>: 1536), S. 22b.


18<br />

Raul Calzoni<br />

Gleichstellung br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>ige epistemologische Fragen mit sich, die mit <strong>der</strong> Hybridisierung<br />

des Wortes ›Versuch‹ durch die ›alchimistischen Experimente‹ zu<br />

tun haben: Die ersten Belege des ›Versuchs‹ als Praxis des okkultistischen und<br />

pseudo-wissenschaftlichen ›Experimentierens‹ verraten durchaus e<strong>in</strong> überwiegendes<br />

Interfac<strong>in</strong>g mit <strong>der</strong> Alchemie. Übrigens darf man nicht vergessen, dass<br />

Paracelsus e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten Mystiker war, <strong>der</strong> den Begriff zur Alchemie überwechseln<br />

ließ, wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk Opera omnia medico-chemico-chirurgica zu<br />

lesen ist: »mit solchen versuchen trifft <strong>der</strong> <strong>in</strong>ner geist etwan e<strong>in</strong> stundt, o<strong>der</strong><br />

constellation, dasz <strong>der</strong> narr ausz ihme redt«. 22<br />

Diesbezüglich ist die Aufmerksamkeit auf die alchimistischen, astrologischen<br />

und magischen ›Versuche‹ Paracelsus zu lenken, weil sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen und<br />

europäischen <strong>Literatur</strong> vom 16. bis 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und darüber h<strong>in</strong>aus ihre<br />

Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben. 23 Dazu hatten jene e<strong>in</strong>e Kultur des ›Experimentierens‹<br />

begründet, die »den manipulativen Umgang mit <strong>der</strong> Natur <strong>in</strong> hermetisches<br />

Wissen, kosmologisches Systemdenken und naturwissenschaftliche Spekulation<br />

e<strong>in</strong>bettete«. 24 Während Alchimisten wie Paracelsus und Johann Joachim Becher,<br />

<strong>der</strong>en berühmteste ›Versuche‹ mit <strong>der</strong> Transmutation von Silber und an<strong>der</strong>en<br />

geheimnisvollen Zutaten zu Gold zu tun hatten, e<strong>in</strong>e magisch orientierte ›experimentelle<br />

Methode‹ entwickelten, g<strong>in</strong>g von an<strong>der</strong>en Gelehrten e<strong>in</strong> entscheiden<strong>der</strong><br />

Impuls zur ›experimentalwissenschaftlichen Methode‹ aus. In <strong>der</strong> Zeit<br />

<strong>der</strong> schweizerischen und deutschen Magie und Alchemie von Paracelsus und<br />

Becher waren unter an<strong>der</strong>em Galileo Galilei und Robert Boyle tätig, dank <strong>der</strong>er<br />

<strong>der</strong> ›experimentellen Methode‹ e<strong>in</strong>e objektive, empirische und naturwissenschaftliche<br />

Ausrichtung gesichert wurde. 25<br />

Beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>teressant ist es <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, den historischen<br />

Moment ausf<strong>in</strong>dig zu machen, <strong>in</strong> dem diese zwei Kulturen des ›Experiments‹ <strong>in</strong><br />

Deutschland und Europa mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kontakt und Konflikt gerieten: die<br />

Aufklärung. Dank e<strong>in</strong>er auf <strong>der</strong> Vernunft gründenden Erforschung <strong>der</strong> Welt und<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit herrschte <strong>in</strong> jener Zeit die naturwissenschaftlich orientierte<br />

›experimentelle Methode‹ vor, während das magisch und alchimistisch orientierte<br />

›Experimentierverfahren‹ nur noch bei den mystischen und okkulten<br />

22 Paracelsus, Opera omnia medico-chemico-chirurgica tribus volum<strong>in</strong>ibus comprehensa (Genf:<br />

De Tourmes, 1658), Bd. 2, S. 178.<br />

23 Ulrich Ernst, Manier als Experiment <strong>in</strong> <strong>der</strong> europäischen <strong>Literatur</strong>: Aleatorik und Sprachmagie.<br />

Tektonismus und Ikonizität. Zugriffe auf <strong>in</strong>novatorische Potentiale <strong>in</strong> Lyrik und<br />

Roman (Heidelberg: W<strong>in</strong>ter, 2009).<br />

24 Michael Gamper, Zur <strong>Literatur</strong>geschichte des Experiments – e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung, <strong>in</strong>»Es ist nun<br />

e<strong>in</strong>mal zum Versuch gekommen«. <strong>Literatur</strong> und Experiment I: 1580–1790, S. 11.<br />

25 Man sollte nicht vergessen, dass Leonardo da V<strong>in</strong>ci e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> italienischen Kultur des ›Experiments‹ <strong>der</strong> Renaissance vor Galilei gespielt hat,<br />

vgl. hierzu Morris H. Shamos, Great Experiments <strong>in</strong> Physics: Firsthand Accounts from Galileo<br />

to E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> (New York: Dover Publications), S. 14 f.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 19<br />

Logen, z. B. <strong>der</strong> Freimaurer und <strong>der</strong> Illum<strong>in</strong>aten, praktiziert wurde. 26 In dieser<br />

Phase ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> franzçsischen Enzyklopädisten auf die deutsche<br />

Weltanschauung und Kultur des ›Experiments‹ entscheidend gewesen. Man<br />

kann also den Ausgangspunkt des mo<strong>der</strong>nen und ›experimentellen Denkens‹ <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> europäischen Philosophie bei Descartes, Leibniz, Sp<strong>in</strong>oza und schließlich<br />

Kant erkennen. <strong>Das</strong> Denken dieser Philosophen sollte erst an das wissenschaftliche<br />

Verfahren e<strong>in</strong>es Newton anknüpfen, damit die aufklärerische und<br />

später auch die romantische Handhabung des Begriffs <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

neueren deutschen <strong>Literatur</strong> Fuß fassen konnte. Am Anfang dieses aufklärerischen<br />

Paradigmenwechsels vom mystischen zum wissenschaftlichen ›Experimentieren‹<br />

stand die Überzeugung <strong>der</strong> franzçsischen EncyclopØdistes, die Welt<br />

anhand <strong>der</strong> Vernunft wahrnehmen zu kçnnen. Ihrem rationalen Projekt, das<br />

Lebendige <strong>in</strong> vernunftsmäßige Kategorien e<strong>in</strong>zuordnen, sollte aber das Erdbeben<br />

von Lissabon vier Jahre nach dem Ersche<strong>in</strong>en des ersten Hefts <strong>der</strong> von<br />

Di<strong>der</strong>ot herausgegebenen EncyclopØdie, ou dictionnaire raisonnØ des sciences,<br />

des arts et des mØtiers (1751 –1780) den Todesstoß versetzen. Die sich am<br />

1. November 1755 ereigneten Erdstçße bedeuteten nicht nur das Ende des Optimismus<br />

e<strong>in</strong>es Voltaire, wie aus se<strong>in</strong>em Po›me sur le disastre de Lisbonne hervorgeht,<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n jener Denkansätze <strong>der</strong> »Experimentalphilosophie«<br />

Kants 27 , »die bis heute zivilisatorische europäische Standards zur Krisenbewältigung<br />

im Leben wie im Denken darstellen«. 28<br />

Es geht hier um e<strong>in</strong>en ›experimentellen‹ und kognitiven Konstruktivismus,<br />

den Kant <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en drei Erdbebenschriften (1756) und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Versuch e<strong>in</strong>iger<br />

Betrachtungen über den Optimismus (1759) problematisierte 29 und dessen<br />

26 Es ist bekannt, dass literarische Darstellungen des okkultistischen Experimentierens noch <strong>in</strong><br />

Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789), J. W. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795–<br />

1796) und Jean Pauls Unsichtbare Loge (1793) zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d; vgl. hierzu Scott H. Abbott,<br />

Fictions of Freemasonry: Freemasonry and the German Novel (Detroit: Wayne State University,<br />

1991).<br />

27 So kennzeichnet Kant se<strong>in</strong> philosophisches System <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft (Riga:<br />

bey Johann Friedrich Hartknoch, 1787), S. 452.<br />

28 Stefen Dietzsch, ‘Denken und Handeln nach <strong>der</strong> Katastrophe: Pombal und Kant als Meister<br />

<strong>der</strong> Krise’, <strong>in</strong> <strong>Das</strong> Erdbeben von Lissabon und <strong>der</strong> Katastrophendiskurs im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />

hrsg. von Gerhard Lauer, Thorsten Unger (Gçtt<strong>in</strong>gen: Wallste<strong>in</strong>, 2008), S. 259.<br />

29 Die Texte von Voltaire und Kant werden hier zitiert nach: Die Erschütterung <strong>der</strong> vollkommenen<br />

Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen,<br />

hrsg. von Wolfgang Brei<strong>der</strong>t (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1994: Voltaire: Po›me sur<br />

le dØsastre de Lisbonne, S.58–76;Kant:Vonden Ursachen <strong>der</strong> Er<strong>der</strong>schütterungen bei Gelegenheit<br />

des Unglücks, welche die westlichen Län<strong>der</strong> von Europa gegen das Ende des vorigen<br />

Jahres betroffen hat, S. 100 –107; Geschichte und Naturbeschreibung <strong>der</strong> merkwürdigen<br />

Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres e<strong>in</strong>en Großen Teil <strong>der</strong> Erde<br />

erschüttert hat, S. 108–136; Fortgesetzte Betrachtung <strong>der</strong> seit e<strong>in</strong>iger Zeit wahrgenommenen<br />

Er<strong>der</strong>schütterungen, S. 137–143). Zur Diskussion <strong>der</strong> Schwerpunkte <strong>der</strong> Erdbebenschriften<br />

von Kant vgl. Ulrich Lçffler, Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens


20<br />

Raul Calzoni<br />

Auswirkungen auch im Denken und Werk des <strong>Literatur</strong>- und Physikexperimentators<br />

Georg Christoph Lichtenberg zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Lichtenberg, als paradigmatischer<br />

Vertreter <strong>der</strong> Aufklärung, begründete sowohl die mo<strong>der</strong>ne naturwissenschaftliche<br />

Methodik, als auch das Genre des deutschsprachigen<br />

Aphorismus. So waren se<strong>in</strong>e ›Versuche‹ im Bereich <strong>der</strong> Experimentalphysik für<br />

die Deutung des ›Experimentierens‹ als epistemologisches Verfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Literatur</strong> ausschlaggebend. 30 Diesbezüglich ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Sudelbüchern e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong><br />

Aphorismus zu f<strong>in</strong>den, <strong>der</strong> Lichtenbergs auf dem <strong>›Experiment‹</strong> basierende<br />

kritisch-analytische Denkweise erhellt:<br />

Je mehr sich bei <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Natur die Erfahrungen und Versuche häufen,<br />

desto schwanken<strong>der</strong> werden die Theorien. Es ist aber immer gut sie deswegen<br />

nicht gleich aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens die<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen bis auf ihre Zeit gehçrig zusammen zu denken und zu behalten.<br />

Man sollte die wi<strong>der</strong>sprechenden Erfahrungen beson<strong>der</strong>s nie<strong>der</strong>legen, bis sie sich<br />

h<strong>in</strong>länglich angehäuft haben, um es <strong>der</strong> Mühe wert zu machen lohnt e<strong>in</strong> neues<br />

Gebäude aufzuführen. 31<br />

Der kognitive Konstruktivismus Kants und die ›experimentelle Methode‹<br />

Lichtenbergs haben die deutsche <strong>Literatur</strong> <strong>der</strong> Aufklärung geprägt – nicht zu<br />

vergessen ist die Rolle Gotthold Ephraim Less<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Bezug auf das ›experimentelle<br />

Pr<strong>in</strong>zip‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>: »bis zur ›Emilia Galotti‹ hatten die verschiedenen<br />

Gattungen e<strong>in</strong>s geme<strong>in</strong>sam: Sie kannten Standardunterschiede. In<br />

<strong>der</strong> Lyrik bildeten Oden, Kantaten, Idyllen, Elegien, Satiren, Epigramme und<br />

an<strong>der</strong>e so etwas wie e<strong>in</strong>e ständische Gesellschaft«. 32 Mit se<strong>in</strong>em Rückbezug auf<br />

Less<strong>in</strong>gs bürgerliches Trauerspiel schaffte Helmut Heißenbüttel e<strong>in</strong>e Art Wendepunkt<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong>, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e ›experimentelle Überschreitung‹<br />

<strong>der</strong> aristotelischen Kategorien bewerkstelligt wurde. In Less<strong>in</strong>gs<br />

frühem Poem Aus e<strong>in</strong>em Gedicht an den Herrn M*** (1748) verdichtet, im<br />

Lakoon o<strong>der</strong> über die Grenzen <strong>der</strong> Malerei und Poesie (1766) theoretisch<br />

von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts (Berl<strong>in</strong>, New York:<br />

W. de Gruyter 1999), S. 341–374.<br />

30 Zur frühromantischen Entwicklung dieser experimentellen Perspektive Lichtenbergs, vgl.<br />

Ulrich Stadler, ‘Kle<strong>in</strong>es Kunstwerk, kle<strong>in</strong>es Buch und kle<strong>in</strong>e Form. Kürze bei Lichtenberg,<br />

Novalis und Friedrich Schlegel’, <strong>in</strong> Die Kle<strong>in</strong>en Formen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, hrsg. von Elmar<br />

Locher (München, Wien, Innsbruck, Bozen: Edition Sturzflüge StudienVerlag, 2001), S. 15 –<br />

35.<br />

31 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch J [1601], <strong>in</strong> Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang<br />

Promies, Bd. 2: Sudelbücher II. Materialhefte, Tagebücher (Darmstadt: Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, 1967), S. 294–295.<br />

32 Helmut Heißenbüttel, ‘Kurze Theorie <strong>der</strong> künstlerischen Grenzüberschreitung’, <strong>in</strong> Zur<br />

Tradition <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971 (Neuwied, Berl<strong>in</strong>: Luchterhand,<br />

1972), S. 21 –22.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 21<br />

durchdiskutiert und durch se<strong>in</strong>e Trauerspiele auf die Bühne gebracht, begann<br />

e<strong>in</strong> ›ur‹experimenteller Umgang mit den räumlichen und zeitlichen Künsten <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong>, welcher auch von Goethe, Schiller und Her<strong>der</strong> problematisiert<br />

wurde. 33<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach e<strong>in</strong>er ›experimentellen‹ Überschreitung <strong>der</strong> Grenzen<br />

zwischen e<strong>in</strong>em erkenntnistheoretischen und e<strong>in</strong>em naturwissenschaftlichen<br />

<strong>›Experiment‹</strong> hatte Goethe darüber h<strong>in</strong>aus 1790 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em methodologischen<br />

Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt die epistemologischen<br />

Grenzen des ›Experiments‹ ausgelotet. In diesem Essay wird <strong>der</strong> ›Versuch‹ als<br />

subjektive Erfahrung gesehen, die über das Auge abläuft, weil das Letztere als<br />

Mittler <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Wirklichkeit gedeutet wird. <strong>Das</strong> Auge wird beim<br />

›Experimentieren‹ zum kçrperlichen Vermittler zwischen dem Ich (›Subjekt‹)<br />

und <strong>der</strong> Welt (›Objekt‹), d. h. zum Ursprung jeglicher naturwissenschaftlichen<br />

Untersuchung, während die ›Erfahrung‹ als Quelle <strong>der</strong> Erkenntnis bezeichnet<br />

wird. 34 Für Goethe, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Analyse dieser Fragen <strong>in</strong> dem Essay Erfahrung und<br />

Wissenschaft (1798) weiterentwickelte, bee<strong>in</strong>flusst die subjektive Erfahrung<br />

alles, was <strong>der</strong> Mensch zustande br<strong>in</strong>gt. H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> empirischen Methode<br />

e<strong>in</strong>es Bacon, Newton und Humes betonte er deshalb die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmung als Grundlage für die menschliche Natur- und<br />

Wirklichkeitserkenntnis:<br />

Wenn von e<strong>in</strong>er Seite e<strong>in</strong>e jede Erfahrung, e<strong>in</strong> je<strong>der</strong> Versuch ihrer Natur nach als<br />

isoliert anzusehen s<strong>in</strong>d und von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite die Kraft des menschlichen<br />

Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit e<strong>in</strong>er ungeheuren<br />

Gewalt zu verb<strong>in</strong>den strebt, so sieht man die Gefahr leicht e<strong>in</strong>, welche man läuft,<br />

wenn man mit e<strong>in</strong>er gefassten Idee e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Erfahrung verb<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> irgende<strong>in</strong><br />

Verhältnis, das nicht ganz s<strong>in</strong>nlich ist, das aber die bildende Kraft des<br />

Geistes schon ausgesprochen hat, durch e<strong>in</strong>zelne Versuche beweisen will. 35<br />

Diese Stellungnahme Goethes enthält e<strong>in</strong>e Formulierung, durch die das Travell<strong>in</strong>g<br />

des ›Versuchs‹ zwischen <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen<br />

Kultur des späten 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts erklärbar wird, nämlich: die »bildende Kraft<br />

33 Zur ›Laokoondebatte‹ und zur ›Entgrenzung‹ als Grundlage des heuristischen Experimentierens<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> literarischen Theorie und Praxis des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, vgl. Monika Schra<strong>der</strong>,<br />

Laokoon – »e<strong>in</strong>e vollkommene Regel <strong>der</strong> Kunst«. ¾sthetische Theorien <strong>der</strong> Heuristik <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

zweiten Hälfte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. W<strong>in</strong>ckelmann, (Mendelssohn), Less<strong>in</strong>g, Her<strong>der</strong>, Schiller,<br />

Goethe (Hildesheim: Olms, 2005).<br />

34 Vgl. J. M. van <strong>der</strong> Laan, ‘Über Goethe, Essays und Experimente’, <strong>in</strong> Literarische Experimentalkulturen,<br />

S. 243–250.<br />

35 Johann W. Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, <strong>in</strong>Goethe Werke.<br />

Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, hrsg.<br />

von Dorothea Kuhn, Rike Wankmüller (München: Beck, 1982), S. 11.


22<br />

Raul Calzoni<br />

des Geistes«. Diese habe die Fähigkeit, die objektive Wahrnehmung <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

zu verklären und zu e<strong>in</strong>er komplett subjektiven Auffassung <strong>der</strong> Natur zu<br />

führen. 36 Der Unzuverlässigkeit des menschlichen Auges und <strong>der</strong> »bildenden<br />

Kraft des Geistes« wegen hat Goethe den Wissenschaftlern empfohlen, nicht nur<br />

e<strong>in</strong>zelne und isolierte Fälle, Phänomene und Erfahrungen, son<strong>der</strong>n den gesamten<br />

»Kreis <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge« <strong>in</strong> Betracht zu ziehen. 37 <strong>Das</strong> stellt unter an<strong>der</strong>em<br />

Goethes Def<strong>in</strong>ition des ›Versuchs‹ klar:<br />

Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht wurden, die wir selbst o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e zur gleichen Zeit mit uns machen, vorsätzlich wie<strong>der</strong>holen und die Phänomene,<br />

die teils zufällig, teils künstlich entstanden s<strong>in</strong>d, wie<strong>der</strong> darstellen, so<br />

nennen wir dieses e<strong>in</strong>en Versuch. Der Wert e<strong>in</strong>es Versuchs besteht vorzüglich<br />

dar<strong>in</strong>, dass er, er sei nun e<strong>in</strong>fach o<strong>der</strong> zusammengesetzt, unter gewissen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

mit e<strong>in</strong>em bekannten Apparat und mit <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Geschicklichkeit<br />

je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> hervorgebracht werden kçnne, so oft sich die bed<strong>in</strong>gten Umstände<br />

mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vere<strong>in</strong>baren lassen. Wir bewun<strong>der</strong>n mit Recht den menschlichen<br />

Verstand, wenn wir auch nur obenh<strong>in</strong> die Komb<strong>in</strong>ationen ansehen, die er zu<br />

diesem Endzwecke gemacht hat, und die Masch<strong>in</strong>en betrachten, die dazu erfunden<br />

worden s<strong>in</strong>d und, man darf wohl sagen, täglich erfunden werden. 38<br />

Der ›Versuch‹ kann daher e<strong>in</strong>erseits zur objektiven und naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnis <strong>der</strong> Realität führen, an<strong>der</strong>erseits »e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phantasie durchgeführtes<br />

Experiment« 39 se<strong>in</strong>. Diese Polarität zeigen die Beiträge des vorliegenden<br />

Bandes auf, welche wie<strong>der</strong>um beweisen, dass sich das <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong><br />

nur differential def<strong>in</strong>ieren lässt: Es hängt erstens immer vom naturwissenschaftlichen<br />

Experimentbegriff ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt<br />

sich e<strong>in</strong>e ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹ immer von e<strong>in</strong>er ›klassischen‹ o<strong>der</strong> ›traditionellen‹<br />

Tradition ab, die aber als solche erst erkannt werden muss. Der<br />

›Versuch‹ ist also e<strong>in</strong>e unbekannte Grçße, e<strong>in</strong>e Gleichung mit m<strong>in</strong>destens zwei<br />

Variablen. Was die erste Variable betrifft, trat <strong>der</strong> Begriff als ›Kunstwort‹ vorher<br />

im Essayismus dank des Versuchs als Vermittler von Objekt und Subjekt auf,<br />

später <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> dank <strong>der</strong> auf »verschiedenen Versuchen« basierenden<br />

36 Es geht um e<strong>in</strong> umfassend behandeltes Thema, das <strong>in</strong> Bezug auf den Begriff ›Gedankenexperiment‹<br />

im Denken <strong>der</strong> englischen Empiristen und <strong>der</strong> franzçsischen Sensualisten und<br />

Enzyklopädisten wurzelt; vgl. hierzu Inka Mül<strong>der</strong>-Bach, ‘Kommunizierende Monaden.<br />

Her<strong>der</strong>s literarisches Universum’, <strong>in</strong> S<strong>in</strong>ne und Verstand. ¾sthetische Modellierungen <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung um 1800, hrsg. von Carol<strong>in</strong>e Welsh, Christ<strong>in</strong>a Dongowski, Susanna LulØ<br />

(Würzburg: Kçnigshausen & Neumann, 2002), S. 41 –52.<br />

37 Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 10.<br />

38 Ebd., S. 14.<br />

39 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (Berl<strong>in</strong>: Wilhelm Issleib, Gustav Schuhr,<br />

1891), S. 80.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 23<br />

Wahlverwandtschaften (1809). 40 Die zweite Variable kam bereits wenige Jahre<br />

nach <strong>der</strong> Verfassung von Goethes methodologischem Aufsatz zum Vorsche<strong>in</strong>.<br />

Die ›experimentelle <strong>Literatur</strong>‹ <strong>der</strong> Frühromantiker sche<strong>in</strong>t tatsächlich den<br />

Zeitpunkt anzugeben, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> wichtiger Paradigmenwechsel zu erkennen<br />

ist. 41 Als die Frühromantiker an dieser Grundlage <strong>der</strong> »progressiven Universalpoesie«<br />

42 und an <strong>der</strong> »Poetisierung <strong>der</strong> Wissenschaften« 43 arbeiteten, wurden<br />

<strong>in</strong> Jena die Beziehungen zwischen den Dichtern und den Wissenschaftlern so<br />

eng, dass z. B. das Denken von Gelehrten wie Johann Wilhelm Ritter die literarische<br />

Produktion e<strong>in</strong>es Novalis stark prägte. 44 Der magische Galvanismus<br />

Ritters bee<strong>in</strong>flusste die frühromantische Weltanschauung so sehr, dass die<br />

Werke Friedrich von Hardenbergs zum Zeugnis e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> durchgeführten<br />

›experimentellen Methode‹ wurden, welche <strong>der</strong> Dichter über Ritters<br />

40 Vgl. Hans Otto Horch, ‘Experiment’, <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>Literatur</strong> <strong>in</strong> Grundbegriffen, hrsg. von<br />

Dieter Borchmeyer, Viktor Zmegač (Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer, 1994), S. 139 –141. In Bezug auf<br />

das epistemologische Werk des Experiments <strong>in</strong> Goethes Wahlverwandschaften, vgl. hierzu<br />

Margherita Cottone, ‘»…und <strong>in</strong> Gottes Namen, sei <strong>der</strong> Versuch gemacht!«. Il lessico delle<br />

Wahlverwandtschaften come »Zwischenraum«. Goethe: poesia e natura’, AION, IX, 1–2<br />

(1999), S. 63–76. Zum Stand <strong>der</strong> italienischen Forschung zu den Beziehungen zwischen<br />

Goethes naturwissenschaftlichen und epistemologischen Studien und se<strong>in</strong>en literarischen<br />

Werken, seien hier folgende Werke genannt: Elena Agazzi, Il prisma di Goethe. Letteratura di<br />

viaggio e scienza nell’età classico-romantica (Napoli: Guida, 1996), und Arte, scienza e<br />

natura <strong>in</strong> Goethe, hrsg. von Gian Franco Frigo, Raffaella Simili, Fe<strong>der</strong>ico Vercellone, Dietrich<br />

von Engelhardt (Tor<strong>in</strong>o: Trauben, 2005).<br />

41 Vgl. Helmut Schanze, ‘<strong>Das</strong> ästhetische Experiment zwischen Erfahrung und Wissenschaft:<br />

Empirie, Experiment, Episteme’, Diagonal. Zeitschrift <strong>der</strong> Universität Siegen, 2 (1992),<br />

S. 169–180.<br />

42 Friedrich Schlegel, [Athenäumfragment 116], <strong>in</strong> Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hrsg.<br />

von Ernst Behler, Bd. 2, Abt. 1: Charakteristiken und Kritiken (München, Pa<strong>der</strong>born:<br />

Schçn<strong>in</strong>gh, 1967), S. 182 –183. Man beachte, dass Goethe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Versuch als Vermittler<br />

von Objekt und Subjekt für e<strong>in</strong>e naturwissenschaftliche ›progressive Forschungsmethode‹<br />

plädiert, die ¾hnlichkeiten mit dem ästhetischen Ideal <strong>der</strong> Frühromantiker aufzeigt. Wie die<br />

Fragmente <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong> Schlegel, die sich ›nach <strong>der</strong> Unendlichkeit strebend‹ entwickeln, s<strong>in</strong>d<br />

die ›Versuche‹ bei Goethe progressiv, wie er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz über e<strong>in</strong>e Reihe von ›Experimenten‹<br />

schreibt, die zu »hçheren Erfahrungen« führen sollen, vgl. Goethe, Der Versuch als<br />

Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 9. In diesem S<strong>in</strong>ne vgl. auch folgende Fragmente<br />

Schlegels: »Me<strong>in</strong>e Philosophie ist e<strong>in</strong> System von Fragmenten und e<strong>in</strong>e Progreßion von<br />

Projekten. […] E<strong>in</strong> Fragment ist e<strong>in</strong> selbstbestimmter und selbstbestimmen<strong>der</strong> Gedanke«,<br />

[Fragment 857; Fragment 1333], <strong>in</strong> Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 18, Abt. 2:<br />

Schriften aus dem Nachlass. Philosophische Lehrjahre. 1796–1806 (München, Pa<strong>der</strong>born:<br />

Schçn<strong>in</strong>gh, 1963), S. 100, S. 305.<br />

43 Johannes Hegener, Die Poetisierung <strong>der</strong> Wissenschaften bei Novalis dargestellt am Prozess <strong>der</strong><br />

Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem enzyklopädischen Welterfahrens<br />

(Bonn: Bouvier, 1975).<br />

44 Zum Verhältnis zwischen Wissenschaften und <strong>Literatur</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Romantik, vgl. Romanticism<br />

<strong>in</strong> Science: Science <strong>in</strong> Europe, 1790–1840, hrsg. von Maurizio Bossi, Stefano Poggi <strong>in</strong> Zusammenarbeit<br />

mit Berend<strong>in</strong>a van Straalen (Boston: Kluwer Academic, 1994).


24<br />

Raul Calzoni<br />

und Alexan<strong>der</strong> von Humboldts Versuche 45 , Schell<strong>in</strong>gs Naturphilosophie, John<br />

Browns Elementa Medic<strong>in</strong>ae (1780), Paracelsus’ Lehre und Her<strong>der</strong>s Plastik<br />

(1778) entwickelte. 46 Über Physik, Mathematik und Her<strong>der</strong>s Theorie, nach <strong>der</strong><br />

Ideen empfunden und erfahren werden kçnnen 47 , bearbeitete Novalis se<strong>in</strong>e<br />

»Plastisirungsmethode«, bzw. »Experimentalmethode«:<br />

Er [<strong>der</strong> Mathematiker, R.C.] plastisirt die Begr[iffe] um sie zu fixiren und dadurch<br />

e<strong>in</strong>en fest bezeichneten, sichren Gang und Rückgang nehmen zu kçnnen – Warum<br />

soll dies <strong>der</strong> Phil[osoph] nicht auch thun – o<strong>der</strong> überhaupt je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne wissenschaftliche<br />

Meister – In allen W[issenschaften] soll selbstthätig plastisirt<br />

werden. Die Plastisirungsmethode ist die ächte Experimentalmethode. Mann soll<br />

nicht blos <strong>in</strong> E<strong>in</strong>er Welt – <strong>in</strong> beyden zugleich soll man zugleich thätig seyn – nicht<br />

denken, ohne zu s<strong>in</strong>nen, nicht s<strong>in</strong>nen, ohne zu denken. Die Umgekehrte, mathematische<br />

Methode bestände <strong>in</strong> Construction <strong>der</strong> Anschauungen, im Gegensatz <strong>der</strong><br />

Begriffe – <strong>in</strong> uns<strong>in</strong>nlicher, unmittelbarer Darst[ellung] <strong>der</strong> Ansch[auungen] – im<br />

activen Denken – <strong>in</strong> Bildung re<strong>in</strong>er Gedanken – <strong>in</strong> Fixirung des Anschauens (S<strong>in</strong>nens)<br />

durch Gedanken – um sich ebenfalls den sichern Progressus und Regressus, die<br />

Revision etc. mçglich zu machen. Die Begreifungs, o<strong>der</strong> Erkenntnißmeth[ode] ist<br />

nichts, als die ächte Beobachtungsmethode. 48<br />

»S<strong>in</strong>nen« und »denken« wird hier von Novalis die Macht verliehen, nach e<strong>in</strong>er<br />

symphilosophischen Erkenntnis <strong>der</strong> Natur gelangen zu kçnnen Es geht um e<strong>in</strong><br />

Ziel, zu dem im Erkenntnissystem Novalis’ nur <strong>der</strong> Poet dank se<strong>in</strong>er magischen<br />

idealistischen Gaben gelangen kann, wie <strong>der</strong> Lehrer aus den Lehrl<strong>in</strong>gen zu Sais<br />

und Kl<strong>in</strong>gsohr aus He<strong>in</strong>rich von Ofterd<strong>in</strong>gen (1802) beweisen und wie Har-<br />

45 Vgl. Johann Wilhelm Ritter, Beweis, daß e<strong>in</strong> beständiger Galvanismus den Lebensproceß <strong>in</strong><br />

dem Thierreich begleite (Weimar: Fürstl. Sächs. privil. Industrie-Comptoi, 1798); Johann<br />

Wilhelm Ritter, Beiträge zur näheren Kenntniß des Galv<strong>in</strong>ismus und <strong>der</strong> Resultate se<strong>in</strong>er<br />

Untersuchung (Jena: Fürstl. Sächs. privil. Industrie-Comptoi, 1800–1805), 2 Bde.; Alexan<strong>der</strong><br />

von Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen<br />

über den chemischen Process des Lebens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Thier- und Pflanzenwelt (Posen: Decker und<br />

Compagnie / Berl<strong>in</strong>: He<strong>in</strong>rich August Rottmann, 1797).<br />

46 Vgl. hierzu Fergus Hen<strong>der</strong>son, ‘Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff <strong>›Experiment‹</strong><br />

bei Novalis, Ritter und Schell<strong>in</strong>g’, <strong>in</strong> Novalis und die Wissenschaften, hrsg. von Herbert<br />

Uerl<strong>in</strong>gs (Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer, 1997), S. 121–128. Zur weiterführenden Analyse des ästhetischen<br />

und methodologischen Begriffs <strong>›Experiment‹</strong> bei Novalis, vgl. das aufschlussreiche<br />

Buch von Jürgen Daiber, Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische<br />

Experiment (Gçtt<strong>in</strong>gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001).<br />

47 Vgl. Johann Gottfried Her<strong>der</strong>, Plastik. E<strong>in</strong>ige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus<br />

Pygmalions bildendem Traume, <strong>in</strong>Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 8<br />

(Berl<strong>in</strong>: Weidmann, 1877), S. 71: »Ists e<strong>in</strong> Metaphysisch- und Physisch erwiesener Satz, ›daß<br />

nur kçrperliches Gefühl uns Formen gebe,‹ so müssen die Ableitungen desselben <strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />

Kunst und Wissenschaft wahr se<strong>in</strong>«.<br />

48 Novalis, Mathematische Studien zu Bossut und Murhard,<strong>in</strong>Schriften. <strong>Das</strong> Werk Friedrich von<br />

Hardenbergs, hrsg. von Richard Samuel, Bd. 3: <strong>Das</strong> philosophische Werk II (Stuttgart: W.<br />

Kohlhammer Verlag, 1968), S. 123.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 25<br />

denberg selbst betonte: »Der Po t versteht die Natur besser, wie <strong>der</strong> wissenschaftliche<br />

Kopf«. 49 Diese Überzeugung führte Novalis dazu, mit unterschiedlichen<br />

›Versuchen‹ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk zu ›experimentieren‹, und somit den Weg für<br />

die nach dem Wun<strong>der</strong>baren und dem Phantastischen orientierte Spätromantik<br />

zu bereiten. 50 Mit dem Tod Novalis’ endete die Jenaer Frühromantik und ihre<br />

magische und zugleich wissenschaftliche »Experimentalmethode«, die auf folgen<strong>der</strong><br />

Deutung <strong>der</strong> Physiologie beruhte:<br />

Physiol[ogie]. Sensibilitaet und <strong>in</strong>nrer Reitz (Seele) beziehen sich, als hçheres<br />

Organ – nicht directe auf die äußre Welt, son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong>directe mittelst des nie<strong>der</strong>n<br />

Organs – Reitzbarkeit und äußrer Reitz – o<strong>der</strong> Welt. 51<br />

Im Mittelpunkt <strong>der</strong> frühromantischen Physiologie Novalis’ befand sich also<br />

jenes Organ <strong>der</strong> Seele, das Samuel Thomas Sçmmer<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>der</strong> »Flüssigkeit <strong>der</strong><br />

Hirnhçlen« festmacht. 52 <strong>Das</strong> Werk Sçmmer<strong>in</strong>gs bee<strong>in</strong>flusste die Theorie <strong>der</strong><br />

menschlichen Physiologie <strong>der</strong> Jenaer Romantik, auch hatte es Auswirkungen auf<br />

die neurologische Forschung des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. In den Jahren, als sich die<br />

Heidelberger und Berl<strong>in</strong>er Romantik entwickelte, begann die deutsche Neurologie,<br />

neue Lçsungen zur Frage des Organs <strong>der</strong> Seele zu f<strong>in</strong>den, welche die<br />

romantische Physiologie dann umsetzte. Erst 1814 verçffentlichte <strong>der</strong> Neurologe<br />

Carl Gustav Carus se<strong>in</strong>en Versuch e<strong>in</strong>er Darstellung des Nervensystems und<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des Gehirns nach ihrer Bedeutung, Entwicklung und Vollendung,<strong>in</strong><br />

dem er sich für e<strong>in</strong>e genetische E<strong>in</strong>stellung bei <strong>der</strong> Erforschung des Nervensystems<br />

entschied und die Überzeugung ausdrückte, »dass je<strong>der</strong> Versuch e<strong>in</strong>en<br />

›Sitz‹ o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> ›Organ‹ <strong>der</strong> Seele nachzuweisen auf falschen Voraussetzungen<br />

beruhe. <strong>Das</strong> Nervensystem sollte als e<strong>in</strong> Ganzes angesehen werden: er hielt das<br />

ganze Nervensystem, also Rückenmark und Gehirn, für ›das Bestimmende und<br />

Centrale‹ des ›Thierorganismus‹«. 53 Carus’ Entdeckungen wurden <strong>in</strong> den fol-<br />

49 Novalis, <strong>Das</strong> Allgeme<strong>in</strong>e Brouillon, <strong>in</strong>Novalis. Schriften. <strong>Das</strong> Werk Friedrich von Hardenbergs,<br />

Bd. 3, S. 468. Vgl. hierzu Raul Calzoni, ‘A Never Written Treatise. Notes on Novalis’<br />

Representations of Light’, <strong>in</strong> Represent<strong>in</strong>g Light across Arts and Sciences: Theories and<br />

Practices, hrsg. von Elena Agazzi, Enrico Giannetto, Franco Giudice (Gçtt<strong>in</strong>gen: Vandenhoeck<br />

& Ruprecht unipress, 2009), S. 87–101.<br />

50 Vgl. Fre<strong>der</strong>ick Burwick, ‘Novalis: Transcendental Physics and the Si<strong>der</strong>eal Man’, <strong>in</strong> The<br />

Damnation of Newton. Goethe’s Color Theory and Romantic Perception (Berl<strong>in</strong>: W. de<br />

Gruyter, 1986), S. 102 –138.<br />

51 Novalis, <strong>Das</strong> Allgeme<strong>in</strong>e Brouillon, S. 331 –332.<br />

52 Samuel Thomas Sçmmer<strong>in</strong>g, Über das Organ <strong>der</strong> Seele (Kçnigsberg: Nicolovius, 1796).<br />

Nachgedruckt <strong>in</strong> S. T. Sçmmer<strong>in</strong>g, Werke, hrsg. von Gunter Mann, Jost Benedum, Werner F.<br />

Kümmel, Bd. 9 (Stuttgart, Basel: Schwabe & Co., 1999), S. 67.<br />

53 Stefano Poggi, ‘Neurologie, Philosophie und <strong>Literatur</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Die romantische<br />

Naturforschung und <strong>der</strong> Fall Georg Büchner’, <strong>in</strong> Der fragile Kçrper. Zwischen Fragmentierung<br />

und Ganzheitsanspruch, hrsg. von Elena Agazzi, Eva Kocziszky (Gçtt<strong>in</strong>gen: Vanden-


26<br />

Raul Calzoni<br />

genden Jahren durch die Forschung vieler Neurologen, wie z.B. Carl Friedrich<br />

Burdach und Karl Ernst von Baer, flankiert, die an<strong>der</strong>e Darstellungen des Nervensystems<br />

anboten, als sie unter an<strong>der</strong>em die Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seele<br />

und die Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Thiere offerierten. 54 Gerade diese neurologischen<br />

Studien h<strong>in</strong>terließen neben <strong>der</strong> raschen Entwicklung <strong>der</strong> Gehirnanatomie,<br />

Neurophysiologie, Mediz<strong>in</strong> und Biologie <strong>in</strong> den ersten Jahrzehnten des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts entscheidende Spuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> jener Periode.<br />

In diesem Zusammenhang ersche<strong>in</strong>t Georg Büchner als e<strong>in</strong> überaus bedeuten<strong>der</strong><br />

Schriftsteller, weil er die wissenschaftlichen Entdeckungen <strong>der</strong> bereits<br />

erwähnten Physiologen und Neurologen mit e<strong>in</strong>em ›experimentellen‹ literarischen<br />

Verfahren zu verb<strong>in</strong>den wusste. Als Beweis dafür gelten e<strong>in</strong>erseits Büchners<br />

wissenschaftliche Arbeiten, d. h. Über das Nervensystem <strong>der</strong> Barben (1836)<br />

und Über Schädelnerven (1836), und an<strong>der</strong>erseits se<strong>in</strong>e dramatischen Werke.<br />

Diese zeigen, dass Büchner wie e<strong>in</strong> ›experimentieren<strong>der</strong>‹ Neuroanatom arbeitete;<br />

wie <strong>der</strong> Doktor se<strong>in</strong>es Woyzecks (1836) wollte er den Menschen sezieren<br />

und damit »die unsterblichsten Experimente« machen:<br />

Ja, Herr Hauptmann, Sie kçnnen e<strong>in</strong>e apoplexia cerebralis kriegen, Sie kçnnen sie<br />

aber vielleicht nur auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite bekommen, und dann auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en gelähmt<br />

seyn, o<strong>der</strong> aber Sie kçnnen im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fort<br />

vegetiren, das s<strong>in</strong>d so ohngefähr Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen.<br />

Übrigens kann ich Sie versichern, dass Sie e<strong>in</strong>en von den Interessanten Fällen<br />

abgeben, und wenn Gott will, daß Ihre Zunge zum Theil gelähmt wird, so machen<br />

wir die unsterblichsten Experimente. 55<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach »den Interessanten Fällen« hat Büchner nicht nur Woyzeck<br />

zum ›Versuchskan<strong>in</strong>chen‹ des Doktors <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Drama werden lassen, son<strong>der</strong>n<br />

ihn auch zum Beweis »<strong>der</strong> doppelten Natur« des Menschen gemacht. Es geht hier<br />

um e<strong>in</strong>e Spaltung zwischen Natur und Zivilisation, die Büchner durch Woyzeck<br />

und Lenz exemplarisch darstellt und die das <strong>›Experiment‹</strong> mit dem gelehrten<br />

Pferd <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Drama hervorhebt:<br />

hoeck & Ruprecht unipress, 2005), S. 243–244. Poggi zitiert hier aus Carl Gustav Carus,<br />

Versuch e<strong>in</strong>er Darstellung des Nervensystems und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des Gehirns nach ihrer Bedeutung,<br />

Entwicklung und Vollendung (Leipzig: Dyk’sche Buchhandlung, 1814), S. 1677 f.;<br />

301; 41 und 303.<br />

54 Vgl. Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seele (Pforzheim: Flammer<br />

u. Hoffmann, 1846); Karl Ernst von Baer, Über die Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Thiere. Beobachtungen<br />

und Reflexionen, 2 Bde. (Kçn<strong>in</strong>gsberg: Bornträger, 1828); Karl Friedrich<br />

Burdach, Vom Baue und Leben des Gehirns (Leipzig: Dyk’sche Buchhandlung, 1819–1827).<br />

55 Georg Büchner, Woyzeck, <strong>in</strong>Sämtliche Werke Briefe und Dokumente, hrsg. von Henri Poschmann<br />

unter Zusammenarbeit von Rosemarie Poschmann, Bd. 2 (Frankfurt am Ma<strong>in</strong>:<br />

DKV, 1999), S. 159.


<strong>Das</strong> <strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung 27<br />

Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist e<strong>in</strong>e Person. Ei Mensch, ei thierisch<br />

Mensch und doch ei Vieh, ei bÞte. <strong>Das</strong> Pferd führt sich ungebührlich auf. So beschäm<br />

die sociØtØ. Sehn Sie das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lern Sie bey ihm. 56<br />

Man kann daher sagen, dass sich das wissenschaftliche <strong>›Experiment‹</strong> und die<br />

gesellschaftliche Kritik zum ersten Mal <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong> bei Büchner<br />

vere<strong>in</strong>igen. Darüber h<strong>in</strong>aus ist <strong>in</strong> diesem doppelt begabten Schriftsteller <strong>der</strong><br />

wahre Vorläufer des deutschen Naturalismus zu erkennen: e<strong>in</strong>er literarischen<br />

Bewegung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Drama Büchners mit dem E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> franzçsischen<br />

›experimentellen‹ Prosa <strong>in</strong> Kontakt kam und <strong>der</strong>en beste Früchte bei Arno Holz,<br />

Gerhard Hauptmann und Johannes Schlaf reiften.<br />

Man kçnnte den deutschen Realismus <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne als »Sattelzeit« 57 des<br />

wissenschaftlichen ›Experiments‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> bezeichnen. 58 Dies ließe sich<br />

dem ästhetischen Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Verklärung zuschreiben, nach dem die <strong>Literatur</strong><br />

des Realismus e<strong>in</strong>e zweite poetische Wirklichkeit zu schaffen hatte. 59 Man muss<br />

daher auf die Entstehung des deutschen Naturalismus und <strong>der</strong> »klassischen<br />

Mo<strong>der</strong>ne« warten 60 , um auf e<strong>in</strong> neues Interfac<strong>in</strong>g zwischen <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft<br />

zu stoßen, welches das wissenschaftliche <strong>›Experiment‹</strong> zur Grundlage<br />

<strong>der</strong> subjektiven und gesellschaftlichen Erkenntnis macht. 61 Deshalb s<strong>in</strong>d die<br />

56 Ebd., S. 142.<br />

57 Zur Def<strong>in</strong>ition des Begriffs »Sattelzeit« als Übergangsphase zwischen Früher Neuzeit und<br />

Mo<strong>der</strong>ne, vgl. Re<strong>in</strong>hard Koselleck, ‘Über die Theoriebedürftigkeit <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft’,<br />

<strong>in</strong> Theorie <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, hrsg. von<br />

Werner Conze (Stuttgart: Klett Cotta, 1972), S. 14 f.<br />

58 Wie Sab<strong>in</strong>e Becker <strong>in</strong> Bezug auf die <strong>Literatur</strong> des Bürgerlichen Realismus betont hat: »Der <strong>in</strong><br />

den Jahrzehnten nach 1848 wei<strong>der</strong>holt ausgesprochenen Auffor<strong>der</strong>ung, die wissenschaftliche<br />

Erkenntnis nicht nur als Grundlage, son<strong>der</strong>n als Gegenstand literarischen Schreibens<br />

heranzuziehen, ist die <strong>Literatur</strong> des Bürgerlichen Realismus mith<strong>in</strong> nicht gefolgt. Die <strong>in</strong><br />

ihrem Umfeld entwickelte Theorie realistischen Schreibens nahm naturwissenschaftliche<br />

Impulse zweifelsohne auf; doch im Thematischen ist <strong>der</strong> Bürgerliche Realismus nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ger<strong>in</strong>gen Maß von den naturwissenschaftlichen Gegenständen und Themen bee<strong>in</strong>flusst«;<br />

Sab<strong>in</strong>e Becker, Bürgerlicher Realismus. <strong>Literatur</strong> und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–<br />

1900 (Tüb<strong>in</strong>gen, Basel: Francke, 2003), S. 90.<br />

59 Vgl. Fritz Mart<strong>in</strong>i, Deutsche <strong>Literatur</strong> im bürgerlichen Zeitalter 1848–1898 (Stuttgart:<br />

Metzler, 1961) und ferner Realism and Representation: Essays on the Problem of Realism <strong>in</strong><br />

Relation to Science, <strong>Literatur</strong>e, and Culture, hrsg. von George Lewis Lev<strong>in</strong>e (Madison,<br />

London: University of Wisconsis Press, 1993).<br />

60 Erich Kle<strong>in</strong>schmidt, ‘<strong>Literatur</strong> als Experiment. Poetologische Konstellationen <strong>der</strong> ›Klassischen<br />

Mo<strong>der</strong>ne‹ <strong>in</strong> Deutschland’, Musil Forum, hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui, Rosmarie<br />

Zeller, 27 (2001/2002), S. 1–30.<br />

61 Man sollte sich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung rufen, dass <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft während <strong>der</strong> Bie<strong>der</strong>meierzeit<br />

dank Adalbert Stifter mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Kontakt traten. Zur Bedeutung <strong>der</strong> ästhetischen<br />

und naturwissenschaftlichen ›Experimente‹ Stifters, vgl. die umfassende Untersuchung<br />

von Fri<strong>der</strong>ich Sengle, Bie<strong>der</strong>meierzeit: Die deutsche <strong>Literatur</strong> im Spannungsfeld<br />

zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 3: Die Dichter (Stuttgart: Metzler,<br />

1980), S. 953 f.; vgl. ferner Wilhelm Kuhlmann, ‘Von Di<strong>der</strong>ot bis Stifter: <strong>Das</strong> Experiment


28<br />

Raul Calzoni<br />

Beiträge dieses Bandes <strong>der</strong> Wirkungsgeschichte dieses Begriffs <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschsprachigen<br />

<strong>Literatur</strong> nach dem Naturalismus gewidmet: e<strong>in</strong>em Zeitalter, <strong>in</strong> dem<br />

sich <strong>der</strong> erkenntnistheoretische Wert des – auch »<strong>in</strong> <strong>der</strong> Phantasie durchgeführten«<br />

– ›Experiments‹ dank des sehr großen E<strong>in</strong>flusses des Positivismus <strong>in</strong><br />

den Geistes- und Naturwissenschaften etabliert.<br />

aufklärerischer Anthropologie <strong>in</strong> Stifters Novelle ›Abdias‹’, <strong>in</strong> Adalbert Stifter, Dichter und<br />

Maler, Denkmalpfleger und Schulmann – Neue Zugänge zu se<strong>in</strong>em Werk, hrsg. von Hartmut<br />

Laufhütte, Karl Mosene<strong>der</strong> (Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer, 1996), S. 395 –409, und Maria Luisa Roli,<br />

‘Esperimenti della visione: Der Condor e Die Sonnenf<strong>in</strong>sternis’, <strong>in</strong> Arte e scienza nella<br />

scrittura visuale di Stifter (Lugano: Lumi›res Internationales, 2007), S. 1–31.

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