08 ― 09Speziesismus <strong>und</strong> historischerMaterialismusObwohl eine enge Verbindung zwischen Tierausbeutung <strong>und</strong> der Ausbeutung des Menschen besteht, verfügt die Tierbe freiungsbewegungüber keine politisch-ökonomische Kritik. Bezieht sie nicht die gesellschaftlichen Ursachen <strong>und</strong> Implikationender Unterdrückung von Tieren ein, stösst sie zwangsläufig an ihre Grenzen <strong>und</strong> verkennt ihr revolutionäres Potential.Obschon der Begriff des Speziesismusvon Richard Ryder geprägt wurde, hatihn erst Peter Singer durch sein einflussreichstesBuch, Animal Liberation,popularisiert. Singer defi niert den Speziesismusals ein moral isches Privileg, das auf der Spezieszugehörigkeitgegründet ist, d. h. als die Idee,dass die Interessen von menschlichen Tierenper se wichtiger sind als die Interessen von nichtmenschlichenTieren. Das ist eine verengt theoretischeDefinition des Speziesismus. AberSinger selbst führt in dem Buch auch eine historischeBeschreibung des Speziesismus ein<strong>und</strong> versucht, durch Zitationen von Aristoteles,Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes <strong>und</strong>Kant zu beweisen, dass die abendländische Kultureine im Wesentlichen speziesistische Kulturist. Das aber wirft grosse Probleme auf.Denn der Speziesismus ist eine Praxis, nicht nurein moralisches Vorur teil. Man muss deshalbeine materielle von einer ideellen Seite des Spe ziesismus unterscheiden. Bei der Lektüre vonAnimal Liberation wird nicht klar, ob Singer hierbeschreibt, wie der Speziesismus historisch alsPraxis entstanden ist oder ob er beschreibt, wieverschiedene menschliche Gesellschaften ihrkonkretes Verhalten gegenüber Tieren a posteriorigerechtfertigt haben. Singer scheint dieserUnterschied überhaupt nicht bewusst zu sein:Er stellt die Ideen der Philosophen <strong>und</strong> die realeBehandlung der Tiere nebeneinander, als obletztere eine Wirkung der ersteren sei. DerGr<strong>und</strong> für diese Konfusion <strong>und</strong> Verwechslungder materiellen <strong>und</strong> ideellen Dimension ist,dass Singer von dem abstrakten Standpunkt derbürgerlichen Ethik <strong>und</strong> nicht aus der konkretenPerspektive revolutionärer Politik spricht.Das gr<strong>und</strong>legende Problem des von Singer begründetenmetaphysischen Antispeziesimusist, dass er die historische Natur der menschlichenGesellschaft <strong>und</strong> die gesellschaftlicheNatur der menschlichen Geschichte ignoriert.Für die Geschichtsblindheit der «apolitischen»AntispeziesistInnen gibt es gute Gründe: IhreTheorie macht nur Sinn, solange wir davonab sehen, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert.Es ist nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass vieleTier rechtsaktivistInnen eine politische Veränderungder realen gesellschaftlichen Verhältnisseablehnen <strong>und</strong> stattdessen <strong>Tierbefreiung</strong>als eine moralische <strong>und</strong> individuelle Entscheidungpredigen, die «jedermann» betrifft: ganzunabhängig davon, wer man ist, an welchemOrt oder zu welcher Zeit man lebt oder ob dieses«jedermann» überhaupt existiert. Frei nachdem Motto: Sowohl die herrschenden als auchdie unterdrückten Klassen sind für Tiere nichtsanderes als «Nazis». Doch stimmt das wirklich?Tragen beide die gleiche Verantwortung für das,was heute in der Welt geschieht? Müssen wir imKampf für gesellschaftliche Ver änderung beideals «Unterdrücker» der Tiere verurteilen? Undist dies überhaupt eine sinnvolle Strategie zurVeränderung der Gesellschaft? Als historischerMaterialist hege ich Zweifel daran.Der Speziesismus als historisch-materialistischesProblem Wann ist der Speziesismusentstanden? Die Frage nach seinem Ursprungist nicht eindeutig, weil der Speziesismusbegriffeine materielle <strong>und</strong> eine ideelle Seite einschliesst.Vom materiellen Standpunkt aus be trachtet, ist der Speziesismus die Praxis, die dasTier zum Objekt unserer Bedürfnisse macht.Aber dieser Verdinglichungsprozess implizierteine ideelle Seite, nämlich die ideologischeRechtfertigung, nach der wir es für richtig halten,Tiere als blosse Gegenstände zu benutzen.Was passiert nun, wenn wir die reale Geschichteb e trachten <strong>und</strong> versuchen, die Ursprünge desSpeziesismus unter Berücksichtigung sowohlder materiellen als auch der ideellen Seite zure konstruieren? Zunächst müssen wir davonausgehen, dass wir erst in einem bestimmtenStadium der Evolution des Homo sapiens zu«herrschenden Tier en» – wie Singer es ausdrückt– geworden sind. Die Voraussetzung für diemenschliche Herrschaft über die Natur war einmächtiges soziales <strong>und</strong> symbolisches Systemzur Überwindung des magischen Kosmos derJäger-<strong>und</strong>-Sammler-Gesellschaften, in denenTöten <strong>und</strong> Getötet-Werden noch gleichstehendeMöglichkeiten waren <strong>und</strong> die Menschen sichselbst nicht als «besser» – nicht einmal als «anders»– als Tiere vorstellten.Die Geburtsst<strong>und</strong>e der materiellen Beherrschungder Natur durch den Menschen liegt inder Jungsteinzeit. Die «Erfindung» der Landwirtschaft<strong>und</strong> der Domestizierung von Pflanzen<strong>und</strong> Tieren machte eine radikale Verände r ung unserer Umwelt möglich. Sie war der ersteSchritt, die Natur zum blossen Material fürunsere Bedürfnisse zu machen, statt in einenDialog mit ihr zu treten. Mit der sogenannten«neolithischen Revolution» entwickelten dieMenschen ein anderes Verhältnis zu ihren nichtmenschlichenGegenübern. Die jungsteinzeitlichenSiedlungen führten eine systematischeKontrolle über den «biologischen Zyklus» andererSpezies ein. Solch einseitige Beziehungen –in denen die Existenz des einen Partners demanderen Partner vollständig ergeben ist – machendas aus, was wir für gewöhnlich als «Herr schaft» bezeichnen. Die «Versklavung» dernicht-menschlichen Natur ist die Bedingungsine qua non des Speziesismus, d. h. die materielleBasis, auf welcher Menschen sich als «Herren»betrachten können. Es kann nicht bestrittenwerden, dass diesem ersten Schritt eine ausserordentlicheBeschleunigung der menschlichen
Evolution folgte: Grob gesagt, zwischen 8000<strong>und</strong> 3000 v. Chr. waren die politischen, ökonomischen,wissenschaftlichen <strong>und</strong> technologischenGr<strong>und</strong>lagen für die menschliche Gesellschaftgeschaffen worden, wie sie uns von derGeschichte überliefert wurde. Es war eine vonMännern beherrschte, hierarchische Ordnung,die von der Religion <strong>und</strong> der Wissenschaft ideologischgerechtfertigt <strong>und</strong> reproduziert wurde.Die Geschichte als Geschichte der Herrschaftbegann.Doch auch wenn die jungsteinzeitliche Revolutiondie Basis unserer Herrschaft über die Natur<strong>und</strong> somit die materielle Möglichkeit der speziesistischenIdeologie geschaffen hat, so hat siediese Ideologie dennoch nicht produziert. Speziesismusist eine Ideologie, die auf bestimmtenallgemeinen Begriffen beruht. Sie bedientsich eines allgemeinen Begriffs von «Spezies»,der es ermöglicht, auf einer Seite alle Menschenunter dem Begriff «Mensch» <strong>und</strong> auf der anderenSeite alle Tiere unter dem Begriff «Tier» zufassen. Die Singerische Argumentation greifterst, nachdem dieser Unterschied sich historischdurchgesetzt hat <strong>und</strong> gewissermas senF<strong>und</strong>ament der abendländischen Rationalitätgeworden ist. Aber die universellen Begriffevon «Mensch» <strong>und</strong> «Tier» entstehen erst imgeschichtlichen Verlauf. In gewisser Hinsichtsind sie erst Resultat der Moderne.Wir haben also gesehen, dass sich der Begriffdes Speziesismus als höchst problematisch herausstellt.Seine ma terielle Seite – die physischeAusbeutung – fällt nicht mit seiner ideellenSeite – der ideologischen Rechtfertigung derUnterdrückung – zusammen. Sie bilden gareinen Chiasmus. Historisch hat die Praxis derAusbeutung der Tiere angefangen, als wir unsdiese noch nicht als etwas völlig Anderes vorstellten.Dagegen haben wir angefangen, unsereHerrschaft über die Tiere anzuprangern, als wirsie nicht mehr als unseresgleichen wahrnehmenkonnten. Warum erscheint uns der Speziesismusin einer verzerrten Form? Weil in dermetaphysischen Version des Antispeziesimusein wichtiges Detail ausgelassen wird: dass derMensch selbst ein Tier ist. Somit müssen wiruns nicht nur die Frage stellen: «Wann habenwir angefangen, die anderen Tiere zu unterdrücken?»,sondern auch: «Wann haben wirver gessen, dass wir Tiere sind?»Vor 30 000 Jahren, als die ersten Homo sapiensauf der Erde wandelten, nahm die menschlicheEntwicklung ihren Ausgang. Seitdem hat sichdie kulturelle Dimension der menschlichenExistenz, d. h. das Produkt menschlicher Arbeit<strong>und</strong> Intelligenz, in einem Masse entwickelt, wiees nie zuvor in der Natur da gewesen war. Marx<strong>und</strong> Engels schreiben in Die Deutsche Ideologie:«Man kann die Menschen durch das Bewusstsein,durch die Religion, durch was man sonstwill, von den Tieren unterscheiden. Sie selbstfangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden,sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu p roduzieren, ein Schritt, der durch ihre körperlicheOrganisation bedingt ist. Indem die Menschenihre Lebensmittel produzieren, produzieren sieindirekt ihr materielles Leben selbst.» Nurdurch einen solchen Prozess war die Entstehungdes menschlichen Selbst möglich. DieGeschichte ist der Raum dieser Autopoiesisdes Bewusstseins: Die menschliche Kultur,der «Geist», ist etwas, das wir konkret produzieren.Was Marx <strong>und</strong> Engels über den «Unterschied»zwischen Mensch <strong>und</strong> Tier schreiben,darf aber nicht als eine ontologische <strong>und</strong> statischeDifferenz verstanden werden. Sie sprecheneher von einer Aktivität, einer Handlung. Menschenunterscheiden sich – das ist wörtlich zunehmen: sich anders machen – von den anderenTieren dank ihrer Geschichte. Auf der einenSeite ist dieser Unterschied real, weil wir uns<strong>und</strong> unsere Umwelt durch die Arbeit tatsächlichverändern. Auf der anderen aber bleibt erillusorisch, weil wir immer noch Tiere sind, Teilder Natur, materielle Wesen. Der Geist, denwir schaffen, ist ein Betrug. Aber gerade dasbeweist unsere Einzigartigkeit: Der Mensch istdas Tier, das vergisst, dass es ein Tier ist.Wir sollten nicht vergessen, dass der Menschein gesellschaftliches Tier ist <strong>und</strong> dass historischeVeränderung immer als gesellschaftlicheVeränderung verstanden werden muss. Marxbetont, dass die Menschen die Gr<strong>und</strong>lagen ihrermateriellen Existenz produzieren. Dabei sprichter immer von dem Menschen als sozialem Wesen,d. h. dem realen Menschen, nicht demjenigen,den die Welt der Moral philosophie beherbergt.Aber die ma terielle Produktion ist immer durchirgendwelche Zwänge charakterisiert. Wenn eineGruppe von Menschen die Regeln der kollektivenReproduktion festlegt, wird der Einzelneimmer gezwungen, sich einzubringen. Schonvon Anfang an scheint die gesellschaftlicheOrdnung das Individuum unter eine gewisseDiktatur des Kollektivs gezwungen zu haben,obwohl die ersten Jäger-<strong>und</strong>-Sa m m le r- G e s e l l schaften gr<strong>und</strong>sätzlich egalitär waren. Abersolche Gesellschaften haben sich «entwickelt»,mehr <strong>und</strong> mehr die Form von Stämmen <strong>und</strong>chiefdoms angenommen, die soziale Strukturwurde hierarchisiert <strong>und</strong> zen tralisiert: EineZentralautorität, die gleichzeitig religiös <strong>und</strong>politisch war, fing an, die Verteilung der Ressourcenzu organisieren <strong>und</strong> zu kontrollieren.Es ist einfach, sich vorzustellen, dass eine –wahrscheinlich durch natürliche Differenzenlegitimierte – Autorität (physische Fähigkeit,Schlauheit usw.) sich von der Person, die sie innehat,abspaltet <strong>und</strong> zum Privileg wird. Gesell schaftliche Zwänge, Religion <strong>und</strong> Auto ri tätnötigten die Menschen dazu, eine ungleicheOrdnung zu akzeptierten, die ihre Unterdrückungimmer wieder reproduziert. Die gesell schaftlichen Regeln begannen von oben oktroy iert <strong>und</strong> vom Individuum als normal introjiziertzu werden. Interessant ist, dass die materielleNaturbeherrschung – wie sie oben anhand derjungsteinzeitlichen Domestizierung von Tieren<strong>und</strong> Pflanzen beschrieben wurde – zur selbenZeit begann <strong>und</strong> gesellschaftliche Produktionsformwurde, zu der sich auch der Klassenkampfals Form gesellschaftlicher Bewegung etablierthatte – d. h. nach der Geburt des Staates.Tierausbeutung <strong>und</strong> Klassengesel lschaft DieAusbeutung der Tiere <strong>und</strong> die Ausbeutung derMenschen haben sich seit ihren historischenAnfängen wechselseitig bedingt. Die Zähmungder Tiere <strong>und</strong> der Ackerbau haben den gesellschaftlichenÜberschuss (Surplus) geschaffen,der die Trennung zwischen geistiger <strong>und</strong> materiellerArbeit <strong>und</strong> die Entstehung der Klassengesellschaftermöglicht hat. Die Entwicklungder Klassengesellschaft wiederum hat dieAusbeutung der Tiere <strong>und</strong> der Menschen fürden Gewinn der herrschenden Eliten verstärkt.Auch wenn die mesopotamischen Könige denStier nicht wie ein Ding sahen, war das dem Stieraufgezwungene Joch die Voraussetzung derEx i stenz des meso po tamischen Staates, da esdie notwendige Akkumulation ermöglichte, umdie staatliche Bürokratie zu ernähren. WennTiere zum Rädchen im Herrschaftsmechanismuswerden, sind sie schon nicht mehr demMen schen überhaupt, sondern der höheren Notwendigkeitdes Staates unterworfen. Es geschiehtnur durch eine innere gesellschaftlicheHierarchie, dass das äussere Verhältnis zumTier selbst hierarchisch wird (Menschen kontrollierenMenschen, die Tiere kontrollieren).Das ist wieder ein diale k tischer Prozess: Hatdie Sklaverei des Stiers die Sklaverei des Menschenermöglicht, so hat die menschliche Sklavereidie Distanz zwischen der Spitze <strong>und</strong> derBasis der Pyramide vergrössert.Die obige historische Beschreibung ist sicherlichnoch zu allgemein gehalten. Ich denke aber,dass es wichtig ist, in dieser Richtung weiterzuarbeiten.Denn der Speziesismus ist nichtbloss ein Vorurteil, sondern eine gesellschaftlicheStruktur, die einer detaillierten soziologischen<strong>und</strong> historischen Analyse unterzogenwerden muss. Wenn wir die gesellschaftlichenUrsachen <strong>und</strong> Implikationen des Speziesismusoffenlegen, zeigt sich, dass es sich bei derAusbeutung von Tieren <strong>und</strong> der Ausbeutungvon Menschen nicht um zwei völlig getrennteoder verschiedene Formen der Unterdrückunghandelt. Im Gegenteil: die Befreiung der Tiereist mit der Befreiung der Menschen identisch.Der Kern des Problems ist die zerstörende Logikdes Kapitals, eine Logik, die bestimmtegesell schaftli che Strukturen voraussetzt (Klassenge sellschaft, wirtschaftliche Aus beu tung,Staatsgewalt). Solche Stru k turen wurden vorTausenden von Jahren durch die Unterdrückungvon Menschen <strong>und</strong> Tieren geschaffen.Der Speziesismus kann daher nur verstanden<strong>und</strong> bekämpft werden, wenn wir die unterdrückendeStruktur der Klassengesellschaft selbstin Frage stellen.Marco Maurizi ist Philosoph <strong>und</strong> Musiker ausRom. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf derPhilosophie der Geschichte aus der Perspektiveder Kritischen Theorie, des <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> derklassischen dialektischen Philosophie. Er istAutor von Büchern über Theodor W. Adorno <strong>und</strong>Nikolaus von Kues, sowie mehrerer Essays überAntispeziesismus aus einer sozialistischenPerspektive.