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Willkommen zur vielseitigsten Bildungsreise Ihres Lebens.

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grünen Pflanze, Öl und Zitrone, die die Nachwehen der<br />

Mutter abkürzen soll. Sieben Tage nach der Geburt findet<br />

das Schafopfer statt, um das Kind vor allem Übel zu<br />

bewahren, während man zahlreiche Gebete spricht und<br />

ihm einen Namen gibt. Damit ist das Kind bereit, ein Leben<br />

als Mensch zu beginnen.<br />

Das Neugeborene in Ben Jellouns Roman indes wird<br />

auf dem Friedhof von Fès ausgesetzt und von Yamna, einer<br />

ehemaligen Prostituierten, nun Bettlerin, und den<br />

Landstreichern Sindibad und Body aufgenommen. Mit<br />

dem Kind ziehen sie von Norden nach Süden durch Marokko<br />

und gelangen, wie auf einer Pilgerschaft, über<br />

Städte und Dörfer, zum Grab des Scheichs Ma-al-Aynayn:<br />

»Wie alle Scheichs war Ma-al-Aynayn ein Prophet<br />

mit Säbel und Feder. Als Mann des Südens, Sohn der<br />

Dünen, hatte er gelernt, die Majestät der Wüste und des<br />

Himmels zu achten. Er war Teil ihrer Stille und Würde.«<br />

Jeden Abend erzählt Yamna dem Kind die Geschichte<br />

von dem ehrwürdigen Scheich, nicht nur damit es einschläft,<br />

sondern auch, um seine Phantasie an<strong>zur</strong>egen.<br />

Wie bedeutsam Erzählungen für das tägliche Leben<br />

im Roman sind, wird daran deutlich, dass er ganz im<br />

Zeichen des mythischen Scheichs steht. Männer und<br />

Frauen tragen bestimmte Ereignisse immer wieder vor<br />

und halten so die mündliche Überlieferung ihrer nationalen<br />

Vergangenheit wach. Die Tradition, der Glaube,<br />

die Legenden führen zu einem mystischen Sprachrhythmus<br />

bei der Schilderung einer eigenartigen Reise, auf die<br />

sich nicht Helden, sondern Gestalten des täglichen <strong>Lebens</strong><br />

begeben, die mittellos sind und es im Leben schwer<br />

haben. Ihnen ist der tiefere Sinn der Symbolik vertraut,<br />

mit dem jedes Wort verbunden ist, aus dem uralte Weisheit<br />

spricht. Der Roman ist auch insofern ein gutes Beispiel<br />

für Ben Jellouns Schreibweise, als er hier wie in<br />

vielen seiner Texte diese Mythen geschickt mit der Romanhandlung<br />

verbindet.<br />

� Lit.: R. Belfikh: Approche sémiotique du voyage entre le réel et<br />

l’imaginaire dans deux romans marocains. ›La prière de l’absent‹<br />

de T.B.J. et ›Légende et vie d’Agoun’chich‹ de Mohammed Khair-<br />

Eddine, 1993. � C. Martini-Valat: Être, histoire et sacré dans ›Une<br />

enquête au pays de Driss Chraïbi‹ et ›La prière de l’absent‹ de<br />

T.B.J., 1995. Lucette Heller-Goldenberg<br />

L’enfant de sable<br />

(frz.; Sohn ihres Vaters, 1986, C. Kayser) – Wie ein orientalisches<br />

Märchen ist der 1985 erschienene Roman in<br />

Erzählabschnitte unterteilt: So machen es die Erzähler<br />

auf den Plätzen des Maghreb, die Zuhörer um sich scharen<br />

und von ihnen auch Geld bekommen wollen. Pro<br />

Tag erzählen sie eine Episode und laden darauf ihre Hörer<br />

ein, am nächsten Tag wiederzukommen, wenn sie die<br />

Fortsetzung erfahren wollen.<br />

Tahar Ben Jelloun �<br />

In L’enfant de sable, das ganz im Zeichen der moslemischen,<br />

vom Mann bestimmten Zivilisation steht, lässt<br />

Ben Jelloun einen dieser Märchenerzähler auf dem Platz<br />

Djemaa el Fna in Marrakesch von einer marokkanischen<br />

Familie erzählen, die bereits mit sieben Töchtern ›geschlagen‹<br />

ist. Ein Vater, der nur Töchter hat, schämt sich<br />

vor seinen Mitbürgern. Statt Feste zu sein, waren die sieben<br />

Geburten für ihn ein Grund <strong>zur</strong> Trauer. Um seine<br />

Ehre wiederherzustellen und seinen Besitz zu retten, der<br />

ohne männliche Nachkommenschaft an die bereits gierig<br />

darauf wartenden Brüder fallen würde, beschließt<br />

der Vater, das nächste Kind der Öffentlichkeit auf jeden<br />

Fall als Jungen zu präsentieren und erklärt seiner Frau:<br />

»Ich habe beschlossen, dass die achte Geburt ein Fest<br />

wird, das größte Fest, das sieben Tage und sieben Nächte<br />

dauern soll. Du wirst Mutter, eine wahre Mutter sein,<br />

eine Prinzessin; denn du wirst einen Jungen <strong>zur</strong> Welt<br />

bringen. Das neugeborene Kind soll ein Mann werden,<br />

Ahmed heißen, selbst wenn es ein Mädchen wird [...].<br />

Dieses Kind ist als Mann willkommen, und es wird<br />

durch seine Gegenwart Licht in dieses trübe Haus bringen.«<br />

Wie vorausgesehen, kommt tatsächlich wieder ein<br />

Mädchen <strong>zur</strong> Welt, das als Junge in die menschliche Gemeinschaft<br />

aufgenommen wird. Außer der Mutter und<br />

der alten Hebamme kennt niemand den wahren Sachverhalt.<br />

Als ›Ahmed‹ ins Pubertätsalter kommt, beschließt<br />

›er‹ – diesmal aus eigenem Antrieb – weiter wie<br />

ein Mann zu leben und den Schein zu wahren, wie es<br />

sein Vater gewollt hat. Dieses Abenteuer treibt er selbst<br />

nach dem Tod des Vaters noch so weit, dass er Fatima,<br />

ein hinkendes und epileptisches Mädchen heiratet, das<br />

wie er unter dem gespannten Verhältnis zwischen Seele<br />

und Körper zu leiden hat. Zuletzt schließt er sich einer<br />

Truppe von Seiltänzern in einem kleinen Wanderzirkus<br />

an.<br />

Am Ende lässt der Erzähler seine Zuhörer im Stich,<br />

nachdem er sie mehrere Tage um sich geschart hatte. So<br />

treten andere an seine Stelle und erzählen – jeder auf<br />

seine Art – das Ende dieser eigenartigen Geschichte; verschiedene<br />

Lösungsansätze werden diskutiert, bis sich<br />

auf einmal eine alte Frau in den Kreis der Erzähler einreiht:<br />

Fatouma – ›der Sohn ihres Vaters‹.<br />

Exemplarisch verweist der Roman auf das Problem<br />

der Identität des Menschen in der Auseinandersetzung<br />

mit seiner Geschlechtlichkeit. Die Sensibilität dieser<br />

feinfühligen psychologischen Analyse wird von der Tragik<br />

und Grausamkeit eines gierigen Verlangens überschattet,<br />

immer tiefer in die Geheimnisse des <strong>Lebens</strong><br />

vorzudringen. Hierfür bedient sich Ben Jelloun einer<br />

nichtlinearen Erzählweise, die dem Vortragsstil des<br />

Märchenverkünders einen großen Platz einräumt. Besonders<br />

deutlich wird dies in der Verwendung von Zauberformeln,<br />

die lyrisch die Erzählung unterbrechen. Der

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