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Elisabeth Hannover-Drück<br />

3.6.1928 - 23.9.2010<br />

Aufsätze, Reden und Vorträge<br />

- eine Auswahl


Elisabeth Hannover-Drück<br />

3.6.1928 - 23.9.2010<br />

Aufsätze, Reden und Vorträge<br />

- eine Auswahl


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Vorwort 3<br />

Veröffentlichungen 5<br />

Rede zum Grundgesetztag<br />

in der Bremischen Bürgerschaft am 23. Mai 2005 6<br />

Zur Ausstellung „75 Jahre Frauenwahlrecht 10<br />

zur Bremischen Bürgerschaft“<br />

Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 8. März 1994 im Haus<br />

der Bremischen Bürgerschaft<br />

»Ein streitbares Frauenzimmer« 12<br />

Marie Mindermann und die Revolution von 1848 in Bremen<br />

Rede zur Eröffnung der Ausstellung im <strong>Bremer</strong> Staatsarchiv 1998<br />

Die Tochter des Kapitäns,<br />

von Christine Gerdes, Bremen 2004, Rezension 16<br />

Vorwort zu der Broschüre von 19<br />

"Schattenriss“ Beratungsstelle gegen sexuellen<br />

Missbrauch an Mädchen e.V."<br />

Leserbriefe an den Weser-Kurier 20<br />

Rede zur Namensgebung für den Steg<br />

Rede zur Namensgebung für den Steg nach 22<br />

Paula Modersohn-Becker am 29. September 2007<br />

Zur Situation von Zwangsarbeiterinnen in Bremen<br />

während des zweiten Weltkriegs<br />

Vortrag vom 23.11.2000 im Rahmen einer Vortragsreihe<br />

des <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>s 25<br />

<strong>Bremer</strong> Frauen von A bis Z. –<br />

ein biografisches Lexikon. Bremen 35<br />

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung über Rosa Luxemburg<br />

im Gewerkschaftshaus Bremen 1999 39<br />

Kaiserin Friedrich und die deutsche Frauenbewegung 45<br />

ein Beitrag zum Preußenjahr 2001/2002<br />

Für Elisabeth 63<br />

Rede von Ute Gerhard anlässlich der Trauerfeier am 9.10.2009<br />

2


Vorwort<br />

Wenn das Lexikon "<strong>Bremer</strong> Frauen<br />

von A bis Z" noch einmal aufgelegt würde,<br />

dann enthielte es zahlreiche weitere<br />

Persönlichkeiten. Eine dieser Frauen wäre<br />

mit Sicherheit Elisabeth Hannover-Drück,<br />

die am 23. September 2009 im Alter von<br />

81 Jahren gestorben ist.<br />

Sie war eine der bemerkenswerten<br />

Frauen der Hansestadt; nicht nur deshalb,<br />

weil sie die Idee zum ersten bremischen<br />

Frauenlexikon hatte, seine Mitheraus-<br />

geberin war und viele seiner Artikel<br />

verfasste. Sie war auch die wichtigste<br />

Initiatorin des 1991 gegründeten Vereins<br />

"<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.". Sie war<br />

seine langjährige Vorsitzende, sie trat<br />

immer wieder als eindrucksvolle Rednerin<br />

hervor und hatte die entscheidenden<br />

Ideen zur inhaltlichen Gestaltung, Rea-<br />

lisierung und organisatorischen Durch-<br />

führung der meisten Projekte.<br />

Dabei lag ihr die Benennung einer<br />

Straße nach der Malerin Paula Becker-<br />

Modersohn besonders am Herzen. Die<br />

Benennung des Steges über das<br />

Gewässer zwischen der Kunsthalle und<br />

dem Theater am Goetheplatz am 29.<br />

September 2007 war für sie ein schlechter<br />

Kompromiss, den sie in ihrer Rede zur<br />

Einweihung ironisch kommentierte.<br />

Schon viele Jahre vor der Grün-<br />

dung des Vereins "<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />

e.V." schrieb sie wissenschaftliche und<br />

politische Bücher zu frauengeschichtlich<br />

wichtigen Themenbereichen und Perso-<br />

nen und meldete sich auch mit jour-<br />

nalistischen Texten zu Wort. Darüber<br />

hinaus übte sie den anspruchsvollen Beruf<br />

einer Deutsch-, Geschichts- und Englisch-<br />

lehrerin am Kippenberg-Gymnasium aus,<br />

hatte sechs Kinder und kümmerte sich<br />

ebenso um die Mitglieder der weiteren<br />

größeren ihrer großen Familie.<br />

Elisabeth war eine ungewöhnliche<br />

Frau. Sie beeindruckte durch die Ziel-<br />

strebigkeit und die Ausdauer, mit der sie<br />

die Projekte des Vereins vorantrieb. Sie<br />

verstand es, seine Mitglieder trotz der<br />

nicht seltenen Meinungsverschiedenheiten<br />

zusammen zu halten und sie zu<br />

gemeinsamem Handeln zu motivieren,<br />

nicht zuletzt durch die jährlichen Som-<br />

merfeste, für die sie ihren schönen Garten<br />

anbot. Und sie hatte Kultur. Das zeigte<br />

sich in ihrem Verhalten jedem Menschen<br />

gegenüber, in der ebenso liebevollen wie<br />

aufmerksamen Form ihrer Gastlichkeit und<br />

darin, dass sie sich bis ins hohe Alter<br />

hinein geschmackvoll und schön zu<br />

kleiden wusste.<br />

Ihr Tod ist für uns alle ein uner-<br />

setzlicher Verlust.<br />

Die Texte die wir anlässlich ihres<br />

ersten Todestages zusammengestellt ha-<br />

ben, dokumentieren ihre wissenschaftliche<br />

Qualität, ihre Begabung und ihr frauen-


politisches Engagement: Sie arbeitete<br />

geduldig und akribisch, um Neues und<br />

ungewohnte Sichtweisen darzulegen, sie<br />

konnte aber auch sarkastisch werden,<br />

wenn sie die Rechte von Frauen<br />

missachtet sah und sie setzte sich<br />

kämpferisch gegen Diskriminierung und<br />

Vorurteile ein.<br />

Möge die vorliegende Auswahl aus ihren<br />

Schriften dazu beitragen, dass die Erin-<br />

nerung an unsere Freundin und Mit-<br />

streiterin Elisabeth lange erhalten bleibt.<br />

<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.<br />

4


VERÖFFENTLICHUNGEN<br />

„Politische Justiz 1918 – 1933“<br />

gemeinsam mit Heinrich Hannover:<br />

Fischer Bücherei. Frankfurt am Main 1966<br />

„Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl<br />

Liebknecht“<br />

Dokumentation eines politischen<br />

Verbrechens<br />

Gemeinsam mit Heinrich Hannover<br />

Frankfurt am Main 1967<br />

„Dem Reich der Freiheit werb’ ich<br />

Bürgerinnen“<br />

Die Frauen-Zeitung von Louise Otto<br />

herausgegeben u. kommentiert von Ute<br />

Gerhard, Elisabeth Hannover-Drück und<br />

Romina Schmitter<br />

Frankfurt am Main 1980<br />

„Die Ausübung des Frauenwahlrechts<br />

in Bremen 1918-1933“<br />

Texte und Materialien zum historischpolitischen<br />

Unterricht<br />

Hrsg. Staatsarchiv Bremen. Bremen 1991<br />

„Hausgehilfinnen, Angestellte und<br />

Arbeiterinnen -Frauenerwerbsarbeit in<br />

Bremen zur Zeit der Weimarer Republik<br />

1919-1933“<br />

Texte und Materialien zum historischpolitischen<br />

Unterricht<br />

Kleine Schriften des Staatsarchivs<br />

Bremen Heft 26. Bremen 1996<br />

Politik und Arbeit<br />

in:„<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer<br />

Republik 1919-1933“<br />

Dokumentation zur Ausstellung,<br />

Hrsg. Staatsarchiv Bremen, Bremen 1987<br />

„Rosa Luxemburg“<br />

darin: Der Mord<br />

Hrsg. von Kristina von Soden<br />

Berlin Elefanten Press 1988n<br />

„Nieder die Waffen – die Hände<br />

gereicht!“ – Friedensbewegung in<br />

Bremen 1898 - 1989<br />

darin: Albert Kalthoff und die Gründung<br />

der <strong>Bremer</strong> Ortsgruppe der Deutschen<br />

Friedensgesellschaft,<br />

Aktivitäten der <strong>Bremer</strong><br />

Sozialdemokratie gegen Militarismus<br />

und Krieg vor 1914,<br />

Organisationen und Positionen der<br />

Friedensbewegung im Überblick,<br />

Aktivitäten der Deutschen<br />

Friedensgesellschaft in Bremen,<br />

Aussöhnung mit Frankreich, Polen und<br />

Dänemark<br />

Bremen 1989<br />

<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer<br />

Republik. Die Einführung des<br />

Frauenstimmrechts und die<br />

Entwicklung der weiblichen<br />

Erwerbstätigkeit<br />

„Bilder zur Frauenbewegung im<br />

19.Jahrhundert“<br />

Broschüre zur Ausstellung im Staatsarchiv<br />

Bremen. Hrsg. Staatsarchiv Bremen und<br />

ZGF, <strong>Bremer</strong>haven 1990<br />

Renate Meyer-Braun (Hrsg.):<br />

Frauen ins Parlament! Portraits<br />

weiblicher Abgeordneter in der<br />

Bremischen Bürgerschaft<br />

Darin: Elisabeth Lürssen (1880-1972)<br />

Bremen 1991<br />

„75 Jahre Frauenwahlrecht zur<br />

Bremischen Bürgerschaft“.<br />

Darin: „Zur Ausstellung“ Einleitung<br />

Dokumentation zur Ausstellung,<br />

Hrsg. vom Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>.<br />

Bremen 1994<br />

„Marie Mindermann und die Revolution<br />

von 1848 in Bremen“.<br />

Dokumentation zur Ausstellung „Ein<br />

streitbares Frauenzimmer“<br />

Erarbeitet und zusammengestellt mit<br />

Christine Holzner-Rabe, Günther<br />

Rohdenburg, Uta Gerpott<br />

Hrsg. vom <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.<br />

Bremen 1999<br />

Übersetzungen aus dem<br />

Amerikanischen<br />

Leonard Cohen: „Schöne Verlierer“<br />

Frankfurt 1970<br />

Leonard Cohen: „Das Lieblingsspiel,<br />

Frankfurt<br />

5


Rede zum Grundgesetztag in der<br />

Bremischen Bürgerschaft am 23. Mai<br />

2005<br />

Vorkämpferinnen der freiheitlichen und<br />

sozialen Demokratie<br />

Heute, am Grundgesetztag, dem<br />

23. Mai, sind wir auf Einladung der<br />

"Vereinigung zur Förderung des Peti-<br />

tionsrechts in der Demokratie" zusam-<br />

mengekommen, um der Menschen zu<br />

gedenken, die in Deutschland am Beginn<br />

der demokratischen Epoche stehen. Viele<br />

von ihnen sind weitgehend vergessen, und<br />

doch haben sie durch ihren Einsatz die<br />

Grundlage vorbereitet, auf der unsere Re-<br />

publik nach dem Zweiten Weltkrieg neu<br />

aufgebaut werden konnte.<br />

Zu meiner Freude finden wir auf<br />

dieser Ehren- und Gedenktafel den<br />

Namen einer Frau aus Bremen, und ich<br />

werde versuchen, ihren Lebensweg durch<br />

das 19. Jahrhundert darzustellen. Wer war<br />

diese Frau, die als Vorkämpferin der frei-<br />

heitlichen und sozialen Demokratie in<br />

Anspruch genommen wird? Eine politische<br />

Laufbahn war Marie Mindermann keines-<br />

wegs an der Wiege gesungen worden. Als<br />

vierte Tochter eines Drechslermeisters<br />

wurde sie im Dezember 1808 in Bremen<br />

geboren und verlebte ihre Kindheit mitten<br />

in der Altstadt, da, wo heute das Ge-<br />

richtsgebäude steht. Als Handwerker-<br />

tochter gehörte sie den "niederen Stän-<br />

den" an, keineswegs aber dem Proletariat.<br />

Nicht umsonst hatte ihr Vater sich vom<br />

einfachen Tischler zum Drechslermeister<br />

qualifiziert.<br />

Schon früh zeigte sich ihre große<br />

Begabung - sie konnte mit fünf Jahren<br />

Texte aus der Bibel flüssig vorlesen und<br />

verfasste später ihre Schulaufsätze in<br />

Gedichtform. Trotzdem wurde ihr Bil-<br />

dungsweg nach sieben Jahren an der<br />

Domschule und einem Jahr Konfirman-<br />

denunterricht jäh beendet - mehr war für<br />

ein Mädchen aus ihren Kreisen in dem<br />

rückständigen <strong>Bremer</strong> Schulsystem nicht<br />

vorgesehen. Marie hatte den Wunsch,<br />

Lehrerin zu werden, wie so viele junge<br />

Frauen, die entsprechend dem Zeitgeist in<br />

einer besseren Bildung für die Massen die<br />

Lösung für fast alle sozialen Übelstände<br />

erblickten. Trotz der Unterstützung durch<br />

ihre Mutter konnte Marie ihren Plan nicht<br />

verwirklichen. Sie sei zu zart für diesen<br />

Beruf, die Ausbildung zu teuer, warnten<br />

die pädagogischen Autoritäten. Schließlich<br />

machte der Vater mit seinem Veto alle<br />

Zukunftsträume seiner Tochter zunichte.<br />

Das war für Marie eine bittere Ent-<br />

täuschung. Ihr in der Jugend ungestillter<br />

Bildungshunger war für sie ein Leben lang<br />

Stachel und Ansporn, sich Wissen aus<br />

eigener Kraft anzueignen. Wenn sie nun<br />

auch gezwungen war, als Haustochter für<br />

ihre Eltern zu arbeiten, so nutzte sie doch<br />

mit erstaunlicher Energie jede freie<br />

Minute, um zu lernen und auch zu schrei-<br />

ben. Einige Gedichte konnte sie sogar<br />

anonym veröffentlichen.<br />

6


Maries Mutter starb im Dezember 1839,<br />

kurz darauf der Vater. Hätte er als Witwer<br />

noch länger gelebt, so wäre es Maries<br />

Aufgabe gewesen, für den Vater zu<br />

sorgen. So aber blieb sie mit 32 Jahren als<br />

nicht ganz mittellose, ungebundene Frau<br />

allein zurück. Kühn lehnte sie die<br />

Möglichkeit ab, den Gesellen des Vaters<br />

zu heiraten, ihm den Betrieb und den<br />

Meistertitel zu übertragen, wozu sie<br />

berechtigt war, und so ihre Existenz durch<br />

die Ehe abzusichern.<br />

Statt dessen zog sie mit ihrer<br />

Freundin Caroline Lacroix zusammen. Die<br />

beiden Frauen blieben bis zu Maries Tode<br />

in einer "Freundschaftsehe" verbunden. In<br />

den Revolutionsjahren begannen sie, sich<br />

für die demokratische Sache zu enga-<br />

gieren. Marie Mindermann beschrieb den<br />

Vorgang ihrer Politisierung so: .“Ich lebe<br />

mit einer Freundin sehr...abgeschieden;<br />

wir sind vorzüglich auf Lectüre ange-<br />

wiesen... Diese Lectüre war früher bell-<br />

etristisch. Seit dem Jahre 1848 aber lesen<br />

wir regelmäßig die Zeitungen, die uns vor<br />

dem angegebenen Zeitpunkte nur theil-<br />

weise ein Interesse abgewinnen konnten...<br />

Die Freiheitsbestrebungen des deutschen<br />

Volkes zogen uns unwiderstehlich an. Mit<br />

dem größten Interesse verfolgten wir<br />

jeden Aufschwung. Wir lebten geistig<br />

mitten im Volke und nahmen Theil an<br />

allem, was das Volk betraf.".<br />

Es ist eine Eigentümlichkeit der<br />

<strong>Bremer</strong> Geschichte, dass Glaubensfragen<br />

stets ein reges öffentliches Interesse<br />

fanden und in allen Schichten diskutiert<br />

wurden. So auch in der Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts. Als die neue Verfassung<br />

von 1848 glücklich in Kraft gesetzt war,<br />

wendete sich die allgemeine Aufmerk-<br />

samkeit von der großen Politik einem rein<br />

innerstädtischen Problem zu, dem sog.<br />

"<strong>Bremer</strong> Kirchenstreit" zwischen dem<br />

freireligiösen Pastor Dulon und dem streng<br />

bibelgläubigen Pastor Wimmer. Im Bereich<br />

der Religion fühlten sich die <strong>Bremer</strong>innen<br />

besonders heimisch. Als Minderjährige<br />

oder Ehefrauen waren sie in allen<br />

öffentlichen Angelegenheiten der Vor-<br />

mundschaft des Vaters oder Ehemannes<br />

unterworfen, der sog. Kuratel; aber in der<br />

Frage des religiösen Bekenntnisses waren<br />

sie frei und selbstverantwortlich. So lag es<br />

nahe, dass MM ihre ersten politischen<br />

Angriffe aus dem vertrauten kirchlichen<br />

Raum heraus führte, sich in den<br />

Gottesdiensten umhörte und Notizen<br />

machte, die sie nachher veröffentlichte,<br />

allerdings ohne ihren Namen zu nennen..<br />

Anonym zu schreiben war damals<br />

durchaus üblich, und in der <strong>Bremer</strong> Ge-<br />

sellschaft muss es ein amüsantes Rät-<br />

selraten gewesen sein, wer da wohl mit<br />

mehr als spitzer Feder so manches<br />

wunderliche Kanzelwort aufgespießt und<br />

dem Spott preisgegeben hatte. Aber der<br />

unbekannte Autor schien sich auch in der<br />

Bibel und im Kirchenrecht gut auszu-<br />

kennen, so dass die Streitschrift nicht nur<br />

nach einem Scherz aussah. MM war zu<br />

einer glühenden Anhängerin des frei-<br />

7


sinnigen Pastors Dulon geworden, der als<br />

zweiter Prediger an Liebfrauen amtierte.<br />

Die Gemeinde hatte ihn berufen. Aber er<br />

machte sich durch seine freie Art der<br />

Bibelauslegung und sein demokratisches<br />

Engagement für die Unterprivilegierten, für<br />

die er eine solide Schulbildung forderte,<br />

nicht nur Freunde. Konservative Gemein-<br />

demitglieder wollten ihn gerne wieder<br />

loswerden, zumal er beim Volk unglaublich<br />

beliebt war, das zu seinen Predigten aus<br />

ganz Bremen herbeiströmte und Blumen<br />

auf seinen Weg streute. Er war zum Gott<br />

der kleinen Leute geworden und damit<br />

gefährlich.<br />

Im Kampf um seine Reputation und<br />

Stellung suchte MM ihn durch ihre<br />

anonymen Schriften zu unterstützen, die<br />

große Furore machten. Man vermutete<br />

hinter dem unbekannten Autor die<br />

verschiedensten <strong>Bremer</strong> Persönlichkeiten.<br />

1852 wurde Dulon durch den Senat<br />

abgesetzt. Ob dieses Vorgehen recht-<br />

mäßig war, blieb umstritten, jedenfalls<br />

hatte man vollendete Tatsachen geschaf-<br />

fen und seine Anhänger eingeschüchtert,<br />

so dass sich kaum Protest erhob. In ihrer<br />

Empörung griff MM den Senat heftig an,<br />

wiederum mit einer anonymen Ver-<br />

öffentlichung. Während ihre früheren<br />

Streitschriften von den Behörden nicht<br />

beachtet worden waren, wurde jetzt<br />

Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt,<br />

um den Autor ausfindig zu machen. Die<br />

Reaktion hatte inzwischen gesiegt. Statt<br />

Pressefreiheit gab es nun ein neues<br />

„Pressgesetz“, das ehrenkränkende Äuße-<br />

rungen gegen den Senat mit Ge-<br />

fängnisstrafe bis zu 18 Monaten bedrohte.<br />

Die Polizei kam MM auf die Spur, sie<br />

wurde verhaftet und verhört, aber als sie<br />

nach anfänglichem Leugnen ihre Auto-<br />

renschaft zugab, wollte ihr niemand glau-<br />

ben, denn, so argumentierte der Unter-<br />

suchungsrichter, eine so gelehrte Schrift<br />

könne eine Frau gar nicht zustande brin-<br />

gen.<br />

Marie Mindermann wurde zu einer<br />

Haftstrafe von acht Tagen verurteilt,<br />

ersatzweise zu einer Geldstrafe von 20<br />

Talern. Sie wählte die Haft, die sie im<br />

"Detentionshaus für kleinere Verbrecher"<br />

an der Ostertorwache absaß. Nur der<br />

Verlust der Freiheit sei eine echte Strafe,<br />

meinte sie, nicht aber eine Geldbuße. Sie<br />

wollte dem Senat wohl zeigen, dass sie<br />

stark und nicht auf sein gnädiges Ent-<br />

gegenkommen angewiesen war. Noch<br />

einmal wagte sie es - nun mit voller<br />

Namensnennung - Senat, Justiz und<br />

Polizei aufs Korn zu nehmen, einfach<br />

indem sie von ihren Erlebnissen als<br />

Beschuldigte und Häftling erzählte. Die<br />

Ironie lag in den Vorgängen selbst, die für<br />

sich sprachen. Danach musste MM sich<br />

harmlosen Themen aus Natur und Heimat<br />

zuwenden. Als politisch verdächtiger Per-<br />

son war es ihr zunächst nicht einmal mehr<br />

möglich, in Bremen auch nur einen<br />

Verleger oder Drucker zu finden. Strafan-<br />

drohungen mit Entziehung der Konzession<br />

8


und Schließung der Druckerpresse taten<br />

ihre Wirkung.<br />

Marie Mindermann war als<br />

Schriftstellerin beliebt und erhielt auch<br />

offizielle Anerkennung. Trotzdem zog sie<br />

sich zunächst ganz aus der Öffentlichkeit<br />

zurück. Erst als die deutsche Frauen-<br />

bewegung sich neu zu organisieren<br />

begann, um Bildungs- und Erwerbs-<br />

möglichkeiten für Frauen zu schaffen,<br />

erging an MM die Aufforderung, auch in<br />

Bremen entsprechende Voraussetzungen<br />

herzustellen. Diesem Ruf an ihr soziales<br />

Gewissen mochte sie sich nicht entziehen.<br />

Zusammen mit Ottilie Hoffmann gründete<br />

sie 1867 den "Verein zur Erweiterung des<br />

weiblichen Arbeitsgebietes", aus dem der<br />

noch heute existierende "Frauen- Er-<br />

werbs- und Ausbildungsverein" hervor-<br />

ging. Bis 1870 gehörte Marie Mindermann<br />

dem Vorstand an.<br />

Das Leben von Marie Mindermann<br />

steht exemplarisch für eine Frauen-<br />

generation, die durch die Revolution von<br />

1848 politisiert wurde, ihre Kräfte und<br />

Fähigkeiten kennenlernte und sich in die<br />

öffentlichen Belange einzumischen be-<br />

gann. Für viele, auch für MM, war der<br />

Schritt in die Öffentlichkeit schwer und<br />

erforderte sehr viel Mut, so sehr wider-<br />

sprach er dem weiblichen Selbstver-<br />

ständnis, unauffällig und im Hintergrund zu<br />

bleiben. Aber einmal vollzogen, verlieh er<br />

auch die Kraft, sich im Kampf um die<br />

Frauenrechte zu behaupten.<br />

Marie Mindermann (1808 – 1882)<br />

9


Zur Ausstellung „75 Jahre<br />

Frauenwahlrecht zur Bremischen<br />

Bürgerschaft“ am 8. März 1994<br />

Im Haus der Bremischen Bürgerschaft<br />

Der Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />

e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht,<br />

Lebens- und Arbeitsbedingungen von<br />

Frauen und ihre Leistungen in Kunst und<br />

Gesellschaft darzustellen, sie vor dem<br />

Vergessen zu bewahren und bei gege-<br />

benem Anlass wieder ins kollektive<br />

Gedächtnis zurückzurufen. Ein solcher<br />

Anlass ist die 75. Wiederkehr des Tages,<br />

an dem die Frauen dieser Stadt zum<br />

ersten Mal das aktive und passive<br />

Wahlrecht zur <strong>Bremer</strong> Volksvertretung<br />

ausüben konnten.<br />

In vielen Ländern Europas und in<br />

den USA erhob sich der Ruf nach dem<br />

Frauenstimmrecht und sollte nicht mehr<br />

verstummen. Die in der SPD und im<br />

Stimmrechtsverein organisierten <strong>Bremer</strong>-<br />

innen beteiligten sich an dieser<br />

Kampagne, die für Deutschland im<br />

November 1918 zum Erfolg führte. Unter<br />

den 18 weiblichen Abgeordneten, die<br />

1919 in die Bremische Nationalver-<br />

sammlung einziehen konnten, befanden<br />

sich viele Stimmrechtskämpferinnen aus<br />

dem bürgerlichen und sozialistischen<br />

Lager, aber auch Frauen aus den<br />

Berufsverbänden, dem Schul- und Sozial-<br />

wesen. Alle griffen sie in ihren Rede-<br />

beiträgen die Grußformel auf, die die<br />

Gleichberechtigung symbolisiert: "Meine<br />

Herren und Damen!". Alle waren sie von<br />

der Bedeutung ihrer Aufgabe durch-<br />

drungen, vom Herkommen freilich sehr<br />

verschieden. Da saß die gutbürgerliche<br />

Akademikerin neben der ehemaligen<br />

Dienstbotin, die ihren Bildungshunger nie<br />

hatte stillen können und sich doch,<br />

ausgerüstet nur mit den Richtlinien ihrer<br />

Partei und im Glücksfall mit einer na-<br />

türlichen Rednergabe, immer wieder in die<br />

Debatten des Hohen Hauses einschalten<br />

musste. Biographie und Leistung gerade<br />

dieser Frauen bleiben bis heute<br />

beispielhaft und bewegend. Aber auch<br />

außerhalb des Parlaments arbeiteten<br />

<strong>Bremer</strong>innen für den Frieden und die<br />

Menschenrechte ihrer Schwestern.<br />

Obwohl alle Parteien heftig um die<br />

Frauen warben, betrug der Anteil der<br />

weiblichen Abgeordneten während der<br />

Weimarer Zeit nie mehr als acht bis zehn<br />

Prozent. In den Deputationen sahen sich<br />

die Frauen auf die Bereiche verwiesen, die<br />

von jeher als "spezifisch weiblich" galten.<br />

Die Frauenfeindlichkeit der National-<br />

sozialisten kam 1933 zur Geltung, als das<br />

Recht, zum Reichstag zu kandidieren, auf<br />

Männer beschränkt wurde. Die Bürger-<br />

schaft wurde wie die übrigen Länder-<br />

parlamente aufgelöst. 1946 konnten sie<br />

ihre Arbeit wieder aufnehmen in einer Situ-<br />

ation, die die Notlage von 1919 noch weit<br />

übertraf. Personell bestanden noch viel-<br />

fache Verknüpfungen zur Wiemarer Zeit.<br />

Besonders erwähnt seien hier Anna Stieg-<br />

ler und Käthe Popall, die lange Jahre in<br />

Zuchthaus und KZ verbracht hatten und<br />

10


nun ihre Kraft erneut der parlamentari-<br />

schen Arbeit widmeten.<br />

Nach dem verlorenen Krieg waren die<br />

Frauen beim Wegräumen der Trümmer<br />

jeder Art und als sozial kompetente<br />

Personen bei der Wiederherstellung der<br />

elementaren Lebensgrundlagen sehr<br />

gefragt. Käthe Popall trat als erste Frau<br />

als Gesundheitssenatorin in die Landes-<br />

regierung ein, konnte sich aber gegen den<br />

Widerstand der Ärzteschaft und als<br />

Kommunistin im heraufziehenden Kalten<br />

Krieg nur bis 1948 im Amt halten. Mit der<br />

Normalisierung der Verhältnisse ging die<br />

"Stunde der Frauen" zu Ende; der<br />

überparteiliche <strong>Bremer</strong> Frauenausschuss<br />

verlor an Einfluss. Erst 1951 wurde erneut<br />

eine Frau in den Senat gewählt, die für<br />

sechs Legislaturperioden blieb.<br />

Dann folgte von 1975 bis 1983 noch<br />

einmal eine "frauenlose Zeit". Zwar stieg<br />

der Anteil von weiblichen Abgeordneten<br />

auf ca. 14%, aber frische Impulse mussten<br />

von außen kommen. Die Neue Frauen-<br />

bewegung startete 1971 spektakulär mit<br />

dem uralten Thema § 218; dem kulturellen<br />

und sozialen Leben der Stadt prägten<br />

feministische Phantasie und Kreativität<br />

unverkennbare neue Akzente auf.<br />

Wo stehen wir heute? Die Frau-<br />

enquote in Parlament und Senat ist kräftig<br />

angestiegen: die Fraueninteressen werden<br />

durch eigens geschaffene Gremien ver-<br />

treten und sind in Gesetzen verankert -<br />

aber stehen sie manchmal nicht nur auf<br />

dem Papier? Konservative Familienpolitik<br />

verhindert eine Liberalisierung des Abtrei-<br />

bungsrechts, und die neue Arbeitslosigkeit<br />

verweist Frauen zurück an den Herd: die<br />

Rezession bedroht viele autonome Frau-<br />

enprojekte, die dringender gebraucht wer-<br />

den als je zuvor. Das Frauenwahlrecht ist<br />

längst errungen, aber ausruhen dürfen wir<br />

uns auf unseren Lorbeeren nicht. Die<br />

Ausstellung möge im Sinne eines "Erin-<br />

nerns für die Zukunft" den Frauen Stolz,<br />

Mut und Kraft für die kommenden Auf-<br />

gaben vermitteln.<br />

»Ein streitbares Frauenzimmer«.<br />

Elisabeth und Petra Brödner beim Aufbau der<br />

Ausstellung<br />

11


Marie Mindermann und die Revolution<br />

von 1848 in Bremen<br />

Rede im Staatsarchiv zur Eröffnung der<br />

Ausstellung 1998<br />

Wenn wir die Fülle der Gedenk-<br />

veranstaltungen zum Jubiläumsjahr vor<br />

allem im Süden der Republik vor unserem<br />

geistigen Auge Revue passieren lassen,<br />

so drängt sich die Frage auf: Ist das alles<br />

nur Kostüm und Theater, patriotische<br />

Pflichtübung, etwas aus grauer Vorzeit,<br />

was uns wenig mehr angeht? Daniela<br />

Kruse hat mit ihrem Plakat zur Ausstellung<br />

eine andere Auffassung vertreten: Die von<br />

ihr gestaltete Marie Mindermann trägt ein<br />

Janusgesicht, eines, das der Vergan-<br />

genheit verhaftet, ein anderes, das<br />

unserer Gegenwart zugewandt ist. Dass<br />

Frauen sich 1848 für die Demokratie<br />

engagierten und sich in Vereinen zusam-<br />

menschlossen, hat sich langsam herum-<br />

gesprochen. In den zeitgenössischen<br />

»Fliegenden Blättern« schlug sich dieses<br />

Engagement in recht eindeutiger Weise<br />

nieder. Da ist Eulalia dargestellt, wie sie<br />

ihren Kapotthut zubindet und dem mit der<br />

Schlafmütze des deutschen Michels ge-<br />

schmückten Gatten einen schreienden<br />

Säugling in den Arm drückt: »Ludewig, gib<br />

acht auf das Kind - ich gehe in meinen<br />

Club!« Was könnte moderner sein als<br />

diese Szene? Was der Gatte erwidert,<br />

dass sie lieber zu Hause bleiben und ihre<br />

Strümpfe stopfen solle, gehört allerdings<br />

der Vergangenheit an, denn zerrissene<br />

Strümpfe werden heutzutage wegge-<br />

worfen. Aber im Ernst: Wer die<br />

Ausstellungshalle betritt, dem fällt als<br />

erstes die Fahne Schwarz-Rot-Gold ins<br />

Auge, die verbotenen Farben, 1848 im<br />

Triumph aus den Verstecken geholt und<br />

zum Symbol der Demokratiebewegung<br />

erhoben - es ist die Fahne der Bundes-<br />

republik Deutschland. Einen zentralen<br />

Platz nimmt die »Verfassung des<br />

Bremischen Staates« von 1849 ein - die<br />

größte Errungenschaft der Volksbe-<br />

wegung aus den Märztagen. Unschwer<br />

wird der Betrachter erkennen, wie eng<br />

verwandt die »Rechte der Bremischen<br />

Staatsgenossen« unseren Grundrechten<br />

sind.<br />

Wenn wir in den »Forderungen des<br />

deutschen Volkes« lesen:<br />

• Schutz und Gewährleistung der Arbeit<br />

• Ausgleich des Missverhältnisses zwi-<br />

schen Kapital und Arbeit<br />

- sind das nicht aktuelle Themen? Und<br />

welche Ironie der Geschichte: Die Unab-<br />

hängigkeit Bremens stand auch damals<br />

auf dem Spiel; nicht wegen übermäßiger<br />

Verschuldung der Stadt, sondern wegen<br />

übermäßiger Liberalität zu einer Zeit, als<br />

die Revolution längst gescheitert war und<br />

Reaktion in allen Deutschen Staaten die<br />

Oberhand bekam. da galt in Bremen<br />

immer noch die März-Verfassung von<br />

1849, herrschte Pressefreiheit, hatte ein<br />

Netzwerk von Helfershelfern der verfolgten<br />

Demokraten angeblich seinen konspi-<br />

rativen Mittel- punkt in Bremen, das von<br />

seiner geographischen Lage her auch<br />

12


esonders geeignet war, den mit Haft-<br />

befehl Gesuchten die Flucht nach dem<br />

britischen Helgoland, nach London oder<br />

nach Übersee zu ermöglichen. Wenn dem<br />

Treiben der Demokraten nicht ein Ende<br />

gesetzt werde, ließ Bürgermeister Johann<br />

Smidt verlauten, drohe Bremen die Bun-<br />

desexekution und damit der Verlust der<br />

staatlichen Selbständigkeit. Das zog, da-<br />

mals wie heute, und so gelang es Smidt,<br />

den <strong>Bremer</strong>n die März-Errungenschaften<br />

nach und nach wieder zu entwinden.<br />

Anderes in der Ausstellung er-<br />

scheint uns sehr fern und fremd. Da ist<br />

das Schulsystem, über das Pastor Dulon<br />

in der Bürgerschaft sagte: »Kaum in den<br />

abgelegensten Dörfern des preußischen<br />

Staates würden Sie so schlechte Schulen<br />

finden wie hier in der reichen Stadt Bre-<br />

men!« Hierarchisch nach Gesellschafts-<br />

klassen gegliedert, hielt es die »niederen<br />

Stände« zuverlässig unten und das<br />

weibliche Geschlecht in der Sphäre des<br />

Hauses fest.<br />

Marie Mindermann, Tochter eines<br />

Drechslermeisters und hoch begabt, wie<br />

sich früh schon zeigte, hat es am eigenen<br />

Leibe erfahren. Nach der Klippschule für<br />

kleine Kinder besuchte sie sieben Jahre<br />

lang die Domschule und anschließend den<br />

Konfirmandenunterricht - das war alles,<br />

was ihr an Bildung gewährt wurde. Ihren<br />

Wunsch, Lehrerin zu werden, mochten<br />

weder der Domprediger Dr. Kottmeier<br />

noch die bekannte Pädagogin Betty Gleim<br />

unterstützen.<br />

Was ihr für ihre eigene Person<br />

gelang, selbständig sich weiterzubilden<br />

und sich den Zugang zu den »Quellen des<br />

Wissens« zu eröffnen, das forderte sie<br />

zeitlebens für alle Menschen und geißelte<br />

den Hochmut der Gebildeten, die sich als<br />

Folie für ihre Verfeinerung das Volk roh<br />

und dumm erhalten wollten.<br />

Erstaunen wird es vor allem junge<br />

Menschen, welche Bedeutung der für die<br />

<strong>Bremer</strong> Gesellschaft hatte. In der Kirche<br />

engagierten sich viele Frauen, denn der<br />

Bereich der Religion war einer der weni-<br />

gen Freiräume, die Frauen besaßen. Stan-<br />

den sie im bürgerlichen Leben unter<br />

Kuratel, d.h. unter der Vormundschaft des<br />

Vaters oder Ehemannes, so galt dies nicht<br />

für das religiöse Bekenntnis. Hier waren<br />

die Frauen selbstverantwortlich. Marie<br />

Mindermann neigte, wie ihre Biographin<br />

berichtet, »der freiesten Religionsansicht«<br />

zu. Die wurde auf der Kanzel von Unser<br />

Lieben Frauen vertreten von Pastor<br />

Rudolph Dulon, und deshalb war sie seine<br />

Anhängerin. Er war es auch, zu dessen<br />

Unterstützung sie anonym zur Feder griff,<br />

als der konservativ gesinnte Teil der<br />

Gemeinde den für Demokratie begei-<br />

sterten Pastor wieder loswerden wollte.<br />

Drei Schriften ohne Namensnennung ließ<br />

sie zu seiner Verteidigung erscheinen, und<br />

es wurde in Bremen viel spekuliert, wer<br />

der mit so viel Witz und Ironie, auch mit<br />

erstaunlichen Bibel- und Kirchenrechts-<br />

kenntnissen begabte Anonymus sei.<br />

13


Als Dulon 1852 in einem rechtlich<br />

sehr umstrittenen Akt des Senats seines<br />

Amtes enthoben worden war, wurde Marie<br />

Mindermanns Ironie sehr bitter: »Nicht<br />

wahr, der Senat hat Mut, viel Mut? -<br />

Gegenüber dem Proteste, von mehr als<br />

der Hälfte der wahlfähigen Bürger unter-<br />

zeichnet, gegenüber der eindringlichen<br />

Bitte von fast 6.000 Frauen und Jung-<br />

frauen, gegenüber der Protestaktion der<br />

aufgelösten Bürgerschaft, gegenüber dem<br />

Gesuch der Majorität der Gemeinde Unser<br />

Lieben Frauen, gegenüber der Eingabe<br />

von mehreren Mitgliedern der- selben<br />

Gemeinde - hat der Senat den Mut, im<br />

wohlerwogenen Interesse des ganzen<br />

Staates einseitig vorzugehen; hat der<br />

Senat den Mut - Bitten und Proteste mit<br />

dem Absetzungsdekret zu beantworten.<br />

Natürlich wiederum im wohlerwogenen<br />

Interesse des Staats!« Der Wind hatte<br />

umgeschlagen, ein neues, repressives<br />

Pressegesetz machte es möglich: Inten-<br />

sive polizeiliche Nachforschungen führten<br />

schließlich auf die Spur der Person, von<br />

der der Senat sich verunglimpft fühlte.<br />

Marie Mindermann bekannte sich not-<br />

gedrungen als Autorin der »Briefe über<br />

Bremische Zustände« - doch nun folgte<br />

das Satyrspiel in diesem Drama: Der<br />

Richter wollte ihr keinen Glauben<br />

schenken, daß sie die Schrift verfaßt habe<br />

- denn so etwas könne ein Frauenzimmer<br />

nicht schreiben.<br />

Warum sie ihren Namen nicht<br />

genannt hatte, begründete Marie Minder-<br />

mann so: »Ich mochte meinen Namen<br />

nicht der Öffentlichkeit preisgeben, weil ich<br />

- ein Weib war und meinem innersten<br />

Wesen das öffentliche Auftreten wider-<br />

strebte; ich schämte mich ein Handwerk<br />

zu treiben, das nur Männer betreiben<br />

sollten«,... und an anderer Stelle: »Wes-<br />

halb schweigen denn die Herren der<br />

Schöpfung und ballen die Hände hin-<br />

terrücks? Ich habe geschrieben, weil es<br />

kein Anderer that. Wie soll es besser<br />

werden, wenn ein Jeder seinen Mund mit<br />

einem siebenfachen Siegel verschließt?«<br />

Pastor Dulon besaß eine riesige<br />

Gemeinde, die in seine Predigten strömte<br />

und ihn enthusiastisch feierte. Als aber der<br />

Senat mit der Absetzung vollendete Tat-<br />

sachen geschaffen hatte, war Dulons<br />

Anhängerschaft im Nu in alle Winde<br />

verflogen. Einzig und allein Marie Minder-<br />

mann riskierte Kopf und Kragen zu seiner<br />

Verteidigung. Sie handelte aus der mora-<br />

lischen Verantwortung heraus, Unrecht<br />

auch Unrecht nennen zu wollen. Freilich<br />

hatte sie gehofft, unerkannt zu bleiben, als<br />

sie aber aus der Anonymität heraustreten<br />

mußte, verteidigte sie sich klug, mit Mut<br />

und Stolz. Diese so bescheidene Frau<br />

nahm Verhör, Verurteilung und die Haft,<br />

die sie anstelle einer Geldstrafe wählte,<br />

unerschrocken auf sich und ließ sich auch<br />

von der Verachtung der <strong>Bremer</strong> Damen-<br />

welt für ihr unweibliches Verhalten nicht<br />

beeindrucken; ja sie wagte noch einmal,<br />

nun mit voller Namensnennung, Polizei,<br />

Justiz und Senat aufs Korn zu nehmen,<br />

einfach indem sie in den »Eigenthüm-<br />

14


lichkeiten der <strong>Bremer</strong> Neuzeit« von ihren<br />

Erlebnissen als Beschuldigte und Häftling<br />

erzählte. Die Ironie lag diesmal in den<br />

Vorgängen selbst, die für sich sprachen.<br />

Danach mußte sich Marie Mindermann<br />

unverfänglichen Themen aus Natur und<br />

Alltag zuwenden. Als »politisch ver-<br />

dächtiger Person« war es ihr zunächst<br />

nicht einmal mehr möglich, in Bremen<br />

auch nur einen Verleger oder Drucker zu<br />

finden. Strafandrohungen mit Entziehung<br />

der Konzession oder Schließung der Druk-<br />

kerpresse taten ihre Wirkung.<br />

1848 wurden die Grundlagen für<br />

unsere heutige Gesellschaftsordnung ge-<br />

schaffen. Das gilt auch für die Frauen. Das<br />

Leben von Marie Mindermann steht exem-<br />

plarisch für eine Generation, die, durch die<br />

Revolution von 1848 politisiert, ihre Kräfte<br />

und Fähigkeiten kennenlernte und sich in<br />

die öffentlichen Belange einzumischen<br />

begann. Für viele, auch für Marie Minder-<br />

mann, war der Schritt in die Öffentlichkeit<br />

schwer, so sehr widersprach er dem weib-<br />

lichen Selbstverständnis; aber einmal voll-<br />

zogen, verlieh er den Frauen auch die<br />

Kraft, sich im Kampf um ihre Rechte zu<br />

behaupten. Als die in der Zeit der Reaktion<br />

unterdrückte deutsche Frauenbewegung<br />

sich ab 1865 wieder in Vereinen zu<br />

organisieren begann, um Bildungs- und<br />

Erwerbsmöglichkeiten für Frauen zu<br />

schaffen, erging an Marie Mindermann die<br />

Aufforderung, auch in Bremen ent-<br />

sprechende Voraussetzungen herzustel-<br />

len. Ihre Scheu, an die Öffentlichkeit zu<br />

treten, hatte sie abgelegt. Zusammen mit<br />

Ottilie Hoffmann gründete sie 1867 den<br />

»Verein zur Erweiterung des weiblichen<br />

Arbeitsgebietes«, aus dem der bis heute<br />

bestehende »Frauen-Erwerbs und Ausbil-<br />

dungsverein« hervorging.<br />

„Wäre das Sturmjahr von 1848<br />

nicht dazwischengebraust wie ein Orkan,“<br />

so wäre Marie Mindermann eine beliebte<br />

und anerkannte, aber zurückgezogen leb-<br />

ende Schriftstellerin geblieben wir wüßten<br />

vermutlich heute nichts mehr von ihr.<br />

Blick in die Ausstellung im Staatsarchiv<br />

15


Die Tochter des Kapitäns<br />

von Christine Gerdes, Bremen 2004<br />

Rezension<br />

Mit der Wahl ihres Titels setzt<br />

Christine Gerdes zwei Assoziationen frei.<br />

Es geht um ein Frauenschicksal, und weil<br />

diese Frau als Tochter ihres Vaters<br />

vorgestellt wird, offenbar um ein Schicksal<br />

aus einer Zeit, in der der Vater un-<br />

angefochtenes Oberhaupt der Familie war<br />

und den Lebensweg seiner Kinder<br />

maßgeblich bestimmte. Und wenn dieser<br />

Vater ein Kapitän war, so kommt der<br />

lokale Aspekt mit herein: die existentielle<br />

Verbundenheit der Familie mit dem<br />

Wasser, mit dem Fluss, mit dem Meer. Die<br />

"Tochter" in dieser historischen Erzählung<br />

ist Margarethe Lameyer, ihr Vater der<br />

Kapitän Lüder Wieting. Ausgangs- und<br />

Endpunkt des Lebenswegs der Marga-<br />

rethe ist Vegesack, hier schließt sich der<br />

Ring.<br />

Für die Autorin war Vegesack<br />

keineswegs der Ausgangspunkt ihrer<br />

persönlichen Geschichte, wurde sie doch<br />

im fernen Oberschlesien geboren; doch<br />

die Liebe zu ihrer zweiten Heimat spricht<br />

aus jeder Zeile ihres Buches. Frau Gerdes<br />

ist eine profunde Kennerin der Lokal-<br />

geschichte und hat sich dieses Wissen in<br />

jahrelanger Forschungsarbeit in den Ar-<br />

chiven und Bibliotheken erworben; das<br />

Quellen- und Literaturverzeichnis am Ende<br />

ihrer Veröffentlichung legt eindrucksvoll<br />

Zeugnis davon ab. Die Ergebnisse solcher<br />

langwierigen Recherchen bleiben oft nur<br />

einem kleinen Kreis Gleichgesinnter<br />

zugänglich. Frau Gerdes hat es als<br />

unbefriedigend empfunden, dass alles<br />

Erarbeitete nur in der berühmten<br />

Schublade landen und dort verstauben<br />

sollte. Es war ein glücklicher Entschluss,<br />

die Form der historischen Erzählung zu<br />

wählen, die es erlaubt, anknüpfend an<br />

eine bestimmte Person und deren<br />

Schicksal allgemeine Zeitgeschichte mit<br />

ins Spiel zu bringen und diese, durch die<br />

Augen der Heldin betrachtet, lebendig und<br />

anschaulich zu machen.<br />

Wer wird schon nach einem<br />

historischen Standardwerk über die<br />

Franzosenzeit in Bremen greifen, wenn<br />

nicht ein ganz spezielles fachliches<br />

Interesse ihn dazu veranlassen würde?<br />

Wer aber durch die amüsante Schilderung<br />

von Frau Gerdes erfährt, wie die listigen<br />

<strong>Bremer</strong> Behörden den Geburtstag Napo-<br />

leons, dessen Stern schon im Sinken war,<br />

groß mit öffentlicher Illumination und<br />

Festivitäten feierten, keineswegs aus<br />

Begeisterung für Napoleon, sondern um<br />

die immer noch in Bremen regierende<br />

französische Besatzungsmacht milde zu<br />

stimmen, der wird das gerne lesen und<br />

nicht mehr vergessen, zumal wenn ihm die<br />

Autorin mitteilt, dass im Rahmen dieses<br />

Festes Margarethe Wieting und ihr<br />

späterer Ehemann Friedrich Lameyer sich<br />

bei einem ersten Tanz unsterblich<br />

ineinander verliebten? Und so sind auch<br />

alle anderen historischen Details immer<br />

mit Personen verknüpft, seien es die<br />

16


Vegesacker Kinder, die bei der Ankunft<br />

eines Schiffes um die Wette zum Hafen<br />

liefen, um die angelandeten Waren zu<br />

inspizieren, oder die Torfbauern zu<br />

beobachten, wenn sie auf ihren flachen<br />

Kähnen mit den dunkeln Segeln den<br />

Brennstoff für die kalte Jahreszeit aus dem<br />

Teufelsmoor heranschafften.<br />

Durch den Umzug der Familie<br />

Wieting nach Bremen und die Romanze<br />

zwischen dem Senatorensohn Friedrich<br />

Lameyer und der Kapitänstocher Mar-<br />

garethe werden die Standesschranken in<br />

der konservativen <strong>Bremer</strong> Gesellschaft<br />

deutlich, die in ihren ersten Kreisen tra-<br />

ditionell unter sich blieben und die ehe-<br />

lichen Verbindungen zwischen ihren<br />

Kindern zu arrangieren pflegten. Ein-<br />

drucksvoll ist aber auch die selbst-<br />

verständliche Hilfsbereitschaft zwischen<br />

den verwandten Familien. Zu Beginn des<br />

19 Jahrhunderts stand die Medizin vielen<br />

Krankheitsbildern noch hilflos gegenüber,<br />

so dass für uns Heutige erschreckend oft<br />

junge Frauen nach der Geburt eines<br />

Kindes, junge Männer an Infek-<br />

tionskrankheiten starben, die verwaisten<br />

Kinder wurden von den Verwandten<br />

aufgezogen und ausgebildet. Andererseits<br />

zeigt sich am Beispiel des Senators<br />

Lameyer, dass Aufklärung und fort-<br />

schrittliches Denken diese Standes-<br />

schranken auch zu überwinden wussten,<br />

so dass M. Z. durch ihre Eheschließung<br />

voll akzeptiertes Mitglied einer der ersten<br />

Familien Bremens wurde. Man blieb in den<br />

ersten Kreisen traditionell unter sich; die<br />

Ehen wurden zwischen den eigenen<br />

Kindern arrangiert, wobei neben den<br />

Gefühlen der jungen Leute auch die<br />

Wahrung und Mehrung des Familienbe-<br />

sitzes eine große Rolle spielte. Die jungen<br />

Mädchen erhielten Gelegenheit, in den<br />

großbürgerlichen Häusern ihrer Tanten die<br />

Hauswirtschaft und das Repräsentieren zu<br />

erlernen.<br />

Diese gut funktionierende Sozial-<br />

ordnung konnte auch ein aufgeklärter und<br />

fortschrittlich denkender Mann wie Senator<br />

Lameyer nicht ohne Skrupel durchbre-<br />

chen. Dass sein Sohn eine Kapitänstoch-<br />

ter heiraten wollte, war nicht standes-<br />

gemäß. Als der Senator sich aber ent-<br />

schlossen hatte, das junge Paar zu<br />

unterstützen, war es zweifellos seinem<br />

hohen Ansehen zu verdanken, dass<br />

Margarethe mit ihrer Eheschließung zum<br />

voll akzeptierten Mitglied in einer der<br />

ersten Familien Bremens wurde.<br />

Die Damen der <strong>Bremer</strong> Ge-<br />

sellschaft sorgten nicht nur für das Wohl<br />

ihrer Angehörigen. Sie empfanden es als<br />

ihre Christenpflicht, den Armen zu helfen,<br />

und schlossen sich zu diesem Zweck in<br />

Vereinen zusammen. Ein solcher Frauen-<br />

verein, der armen Witwen Arbeit ver-<br />

mittelte, ihre Töchter in den weiblichen<br />

Handarbeiten ausbildete und auch eine<br />

Suppenküche betrieb, gründete sich 1837<br />

auch in Vegesack, zu einer Zeit, als<br />

Margarethe Lameyer wieder dort lebte. In<br />

17


diesem Zusammenhang erfahren wir von<br />

der stetigen Vergrößerung Vegesacks und<br />

der zunehmenden Beliebtheit der schönen<br />

Grundstücke am hohen Ufer, wo sich auch<br />

bremische Familien jetzt gerne wenigstens<br />

für den Sommer niederließen. Zugleich<br />

aber sank die Bedeutung Vegesacks als<br />

Hafenplatz, es wurde von <strong>Bremer</strong>haven<br />

überflügelt, und so wandten sich ge-<br />

schäftstüchtige Unternehmer dem Ausbau<br />

des Fremdenverkehrs zu. Unmittelbar<br />

neben Margarethes Anwesen entstand ein<br />

Hotel mit Restaurationsbetrieb, das sich<br />

bald großer Beliebtheit erfreute, zumal<br />

durch die Eröffnung der Eisenbahnstrecke<br />

Bremen-Vegesack die Hansestadt sehr<br />

viel näher gerückt war.<br />

Noch viele Informationen zur<br />

Lokalgeschichte ließen sich dem vor-<br />

liegenden Text entnehmen; sie machen in<br />

meinen Augen einen großen Reiz der<br />

Erzählung aus. Aber die Autorin ist nicht<br />

nur getreue Chronistin, sie besitzt auch<br />

eine dichterische Ader, die sie einsetzt,<br />

wenn es um Träume, um große Gefühle<br />

der Begeisterung oder der Trauer geht.<br />

Dadurch gewinnt Christine Gerdes’ Werk<br />

auch eine poetische Dimension. Wenden<br />

wir uns aber der Hauptperson Margarethe<br />

zu. Was sie in ihrem langen Leben von<br />

1793 bis 1867 erfahren hat an un-<br />

beschwerter Kindheit, glücklicher Verei-<br />

nigung und Zusammenarbeit mit dem<br />

geliebten Mann, an Freude bei der Geburt<br />

der Kinder, an Geborgenheit in gesi-<br />

cherten und geachteten Verhältnissen,<br />

das war nicht von langer Dauer. Den<br />

heiteren Jahren im Auftakt des Lebens, da<br />

alles zu gelingen schien, folgten bittere<br />

Erfahrungen, Jahre, in denen gesund-<br />

heitliche und wirtschaftliche Sorgen die<br />

junge Frau, bald junge Witwe mit vier<br />

kleinen Kindern, nie verließen. Tiefer<br />

Schmerz um den verlorenen Ehemann<br />

und um den Verlust des Landgutes<br />

Trochel, das doch ihre gemeinsame<br />

Lebensaufgabe gewesen war und das sie<br />

trotz Aufbietung der letzten Kräfte nicht<br />

hatte halten können, bestimmte für lange<br />

Zeit ihre Gefühle. Freilich hatte sie das<br />

Glück, wieder in den Schoß der Kapi-<br />

tänsfamilie und in das schöne Anwesen<br />

am hohen Ufer in Vegesack zurückkehren<br />

zu können. Aber Freude hatte ihr das<br />

Schicksal nicht mehr zugedacht. Krankheit<br />

und Tod ihrer drei Söhne, schließlich auch<br />

noch des geliebten einzigen Enkelkindes<br />

musste sie erleben, ehe der Tod sich<br />

endlich auch ihrer erbarmte.<br />

Danken wir der Autorin, die es<br />

verstanden hat, dieses exemplarische<br />

Frauenleben dem Dunkel des Vergessens<br />

zu entreißen. Ich wünsche dem Buch viele<br />

Leserinnen und Leser.<br />

18


Vorwort zu der Broschüre von<br />

"Schattenriss“ Beratungsstelle<br />

gegen sexuellen Missbrauch an<br />

Mädchen e.V."<br />

In einer älter werdenden Gesell-<br />

schaft wie der unseren sind viele Men-<br />

schen gezwungen, sich mit der Verteilung<br />

ihres Nachlasses zu beschäftigen. Das ist<br />

kein Thema, das einen besonders moti-<br />

viert, aber trotzdem ist es notwendig, sich<br />

damit auseinander zu setzen, zumal ge-<br />

rade die ältere Generation in den Jahren<br />

des Aufschwungs und des Wohlstandes<br />

oft recht beachtliche Vermögenswerte für<br />

sich realisieren konnte. Welche rechtlichen<br />

Möglichkeiten jede und jeder einzelne hat,<br />

um diese Frage nach eigenen Wünschen<br />

zu regeln, dazu bietet die vorliegende<br />

Broschüre Hilfestellung in sehr klarer, gut<br />

verständlicher Form.<br />

Da ist zunächst die Rede von den<br />

Verpflichtungen, die wir als Erblasserinnen<br />

und Erblasser zu erfüllen haben und die<br />

automatisch in Kraft treten, wenn kein<br />

Testament vorhanden ist. Durch das<br />

Abfassen eines Testamentes aber können<br />

die eigenen Interessen zur Geltung<br />

gebracht werden. Nach der Abfindung der<br />

berechtigten Personen bleibt noch etwa<br />

die Hälfte Ihres Vermögens zur freien<br />

Verfügung. Sie können diese Werte einer<br />

beliebigen Person oder auch Institution,<br />

wie z.B. "Schattenriss", zukommen lassen.<br />

Es ist wohl überflüssig, eine Organisation<br />

wie "Schattenriss" ausführlich vorzustellen.<br />

Durch ihren engagierten Einsatz für<br />

mißbrauchte Frauen und Mädchen hat sie<br />

sich seit vielen Jahren fest im öffentlichen<br />

Bewußtsein verankert. Als ältere Frau, als<br />

Mutter und Großmutter frage ich mich oft,<br />

ob es "zu meiner Zeit" auch so viel<br />

Missbrauch und Kindesentführungen ge-<br />

geben hat, wie sie uns täglich in den<br />

Medien dargestellt werden, oder ob die<br />

neuen Möglichkeiten der Technik, wie z.B.<br />

im Internet Kinderpornographie zu konsu-<br />

mieren, auch vielen Nachahmungstaten<br />

zugrunde liegen. So viel steht fest, dass<br />

die Welt für unsere Kinder und Enkel<br />

keineswegs sicherer geworden ist und die<br />

präventive wie auch die nachsorgende<br />

Betreuung von Heranwachsenden notwen-<br />

dig ist und bleibt. Angesichts der rigorosen<br />

Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand<br />

sollten wir alle uns fragen, wieweit wir als<br />

verantwortungsbewusste Bürgerinnen und<br />

Bürger in die Bresche springen und die<br />

segensreiche Arbeit von "Schattenriss"<br />

finanziell unterstützen können, vielleicht<br />

auch durch Berücksichtigung in unserem<br />

Testament.<br />

19


Leserbriefe an den Weser-Kurier<br />

Die Senatorin für Frauen ist tot - nur<br />

Männer trauern?<br />

Bei den Trauerfeiern für Hilde Adolf<br />

haben die Spitzenpolitiker von Bremen<br />

und <strong>Bremer</strong>haven gesprochen, aber keine<br />

Frau. Hilde Adolf war Senatorin für<br />

Frauen, außerdem für Arbeit, Gesundheit,<br />

Jugend und Soziales. Sie hatte als Leiterin<br />

eines solchen Mammutressorts die Wahl,<br />

den Bereich Frauen neben all den<br />

anderen von Amts wegen zu verwalten,<br />

oder sich dieser Aufgabe mit voller<br />

Überzeugung und mit ganzem Herzen zu<br />

widmen. Dass es Hilde Adolf ernst war mit<br />

der Förderung und Gleichberechtigung<br />

von Frauen, geht aus ihrer Vergangenheit<br />

als Frauenbeauftragte von <strong>Bremer</strong>haven<br />

und aus vielen Äußerungen und Trauer-<br />

anzeigen hervor. Sie hat zweifellos einen<br />

Schwerpunkt ihrer Arbeit bei den Frauen<br />

gesetzt, was auch nahe lag, denn die<br />

Bereiche Gesundheit, Jugend und Sozia-<br />

les sind ja seit alters "weibliche" Auf-<br />

gabengebiete, in denen viele Frauen tätig<br />

sind.<br />

Ich will den männlichen Rednern<br />

keineswegs absprechen, dass sie von<br />

echten Gefühlen der Erschütterung und<br />

Trauer bewegt waren, aber sicherlich wäre<br />

es im Sinne von Hilde Adolf gewesen,<br />

wenn auch eine ihrer Kampf- und Weg-<br />

gefährtinnen gleichberechtigt zu ihrem<br />

Gedenken das Wort ergriffen hätte.<br />

Frauen, die vom Gefühl und von der<br />

Kompetenz her dazu in der Lage waren,<br />

gibt es genug.<br />

Elisabeth Hannover-Drück<br />

Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>, 29.1.2002<br />

Dieser Leserbrief wurde nicht abgedruckt.<br />

Zum Leserbrief "Kaderpolitik"<br />

vom 4. Juli 2003<br />

Herr Eller vom Verein "Väterauf-<br />

bruch" befürchtet, dass die feministische<br />

Kaderpolitik im Lande Bremen die<br />

paritätische Besetzung von Senatskom-<br />

missionen verhindert, in der Tat wird diese<br />

Einschätzung von den Ereignissen nach<br />

der Bürgerschaftswahl bestätigt. An den<br />

Koalitionsverhandlungen war nur ein ein-<br />

ziger Mann, "Herr" Elisabeth Motschmann,<br />

beteiligt. Entsprechend fiel das Ergebnis<br />

aus: nur ein männlicher Kandidat, "Herr"<br />

Karin Röpke, wurde gewählt. Auch bei den<br />

Staatsräten sind alle Posten bis auf zwei<br />

von Frauen besetzt, und das, obwohl der<br />

Senat sich darauf verpflichtet hat, das<br />

Prinzip des gendermainstreaming bei allen<br />

Amtshandlungen zu beachten.<br />

Das kommt eben davon, dass in<br />

Bremen "gender" mit "Frau" übersetzt<br />

wird. Und so kann der politische Femi-<br />

nismus mit Stolz auf die jetzt bei der<br />

Regierungsbildung erreichte beste Frau-<br />

enquote seit 1984 hinweisen. Sollte da<br />

weiterhin eine Bremische Zentralstelle für<br />

20


die Verwirklichung der Gleichberechtigung<br />

der Frau vonnöten sein? Es ist höchste<br />

Zeit, dass das Wort "gender" in Bremen<br />

endlich wieder mit "Mann" übersetzt wird!<br />

Elisabeth Hannover-Drück<br />

Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />

Bremen, 4. 7 2003<br />

Rede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des<br />

<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> in der ZGF 2006<br />

21


Rede zur Namensgebung für den<br />

Steg über den See bei der<br />

Kunsthalle nach Paula Modersohn-<br />

Becker am 29. September 2007<br />

Wenn ich zu meinem kurzen<br />

Redebeitrag eine Überschrift finden sollte,<br />

so würde ich so formulieren: Der lange<br />

steinige Weg zum Steg.<br />

Der Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>, der<br />

1991 gegründet wurde, hat sich die Auf-<br />

gabe gestellt, die Leistungen von <strong>Bremer</strong><br />

Frauen in allen Lebensbereichen, in<br />

Berufen und Vereinen, in der Politik und in<br />

der Kunst zu erforschen und einer breiten<br />

Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir haben<br />

Ausstellungen zu großen Themen ge-<br />

macht, so 1994 zu „75 Jahren Frauen-<br />

wahlrecht zur bremischen Bürgerschaft“<br />

und 1998 eine Ausstellung im Staatsarchiv<br />

zum 150. Jahrestag der Revolution von<br />

1848 in Bremen.<br />

Mit Hilfe der Stiftung „Wohnliche<br />

Stadt“ konnten wir erreichen, dass an allen<br />

Straßen, die nach Frauen benannt sind,<br />

die Schilder durch Legenden ergänzt<br />

wurden, die die Bedeutung der betreffen-<br />

den Frau kurz umreißen.<br />

Bei der Vorbereitung dieser Aktion<br />

wurde uns deutlich, dass nur etwa 10%<br />

des <strong>Bremer</strong> Straßennetzes Frauen<br />

gewidmet sind – inzwischen mag sich der<br />

Anteil etwas vergrößert haben, denn in<br />

letzter Zeit wurden relativ viele Straßen<br />

nach Frauen benannt. Aber bis zum<br />

heutigen Tage fehlte e i n Name: der von<br />

Paula Modersohn-Becker.<br />

Dieser unwürdige Zustand war<br />

schon länger bekannt. 1996 wurde für den<br />

Bredenplatz bei der Martinikirche ein<br />

neuer Name gesucht. Auf Anregung der<br />

Landesfrauenbeauftragten Ulrike Hauffe<br />

wandten wir uns an den Bausenator mit<br />

dem Vorschlag, den Platz nach Paula<br />

Modersdoshn-Becker zu benennen. Das<br />

hätte auch Sinn gemacht, weil der Platz in<br />

unmittelbarer Nähe zum Paula Moder-<br />

sohn-Becker Museum in der Böttcher-<br />

straße liegt.<br />

Damals hatten wir mit unserem<br />

Vorstoß keinen Erfolg, aber als 2006 das<br />

Gedenkjahr für Paula seine Schatten<br />

vorauszuwerfen begann, haben wir den<br />

alten Plan noch einmal aufgegriffen. Und<br />

siehe da, der Bredenplatz, der bislang<br />

immer mit der Skulptur eines Mannes<br />

geschmückt war, auf dessen Mütze eine<br />

Möwe saß, hatte in der Zwischenzeit Mann<br />

und Möwe und auch sein Namensschild<br />

eingebüßt und schien also nur auf unsere<br />

Initiative zu warten.<br />

Doch auf Nachfrage stellte sich<br />

heraus, dass das Areal nicht mehr im<br />

Besitz der Stadt Bremen ist und vollstän-<br />

dig mit einem Hotel bebaut werden soll.<br />

Nun war guter Rat teuer. Unsere<br />

Absicht, Paula Modersohn-Becker an<br />

22


epräsentativer Stelle durch eine Straße<br />

oder einen Platz zu ehren, stieß allgemein<br />

auf offene Ohren. Aber wo sollte sich<br />

dieser Traum verwirklichen lassen? In<br />

einem Neubaugebiet an der Peripherie der<br />

Stadt sicher nicht, und im Zentrum sind<br />

natürlich alle Örtlichkeiten benannt. Ein<br />

Versuch, ein Stück der Kulturmeile für<br />

Paula umzuwidmen, war schon 2001 am<br />

Widerstand der Anrainer gescheitert.<br />

Da fiel unser Blick auf den Steg,<br />

der das Cafe Kuckuck an der Kunsthalle<br />

mit der Villa Ichon verbindet, auf den<br />

kurzen, unscheinbaren Steg, der doch die<br />

Aufmerksamkeit des Betrachters sofort<br />

fesselt, weil er souverän auf ein Geländer<br />

verzichtet, und nur durch eine Kette von<br />

Lichtern begrenzt, die sich bei Dunkelheit<br />

im Wasser spiegeln, über den Wallgraben<br />

führt.<br />

Solch ein kühnes Bauwerk, das<br />

eine der schönsten Stellen der Wallan-<br />

lagen für den Fußgänger erschließt und<br />

auch eine direkte Verbindung zum Denk-<br />

mal für Paula bilden wird, verdient es, den<br />

Namen einer mutigen Künstlerin zu<br />

tragen, so meinten wir.<br />

Der Beirat Mitte nahm unseren<br />

entsprechenden Antrag einstimmig an.<br />

Wesentliche Hilfe und Unterstützung er-<br />

hielten wir in allen Fragen, die die<br />

Finanzierung, die künstlerische Gestaltung<br />

und die Organisation betrafen, durch die<br />

Städtische Galerie Buntentor.<br />

Aber es gab auch Bedenken. Die <strong>Bremer</strong><br />

Wallanlagen sind ein ehrwürdiges, über<br />

200 Jahre altes Gartenkunstwerk von<br />

hohem Rang , und die Mitarbeiter von<br />

Stadtgrün wachen darüber, dass der<br />

ursprüngliche Charakter der Anlage nicht<br />

durch willkürliche Eingriffe gestört wird, So<br />

mussten wir unsere Pläne in einigen<br />

Punkten revidieren.<br />

Jetzt aber möchte ich den Mit-<br />

arbeitern von Stadtgrün danken, dass sie<br />

die Bronzetafeln an beiden Enden des<br />

Stegs angebracht und die heutige Na-<br />

mensgebung ermöglicht haben.<br />

Nicht nur räumlich verbindet der<br />

Steg das Theater am Goetheplatz mit der<br />

Kunsthalle, er weist auch symbolisch auf<br />

die enge Beziehung zwischen darstel-<br />

lender und bildender Kunst hin und fügt<br />

sich so als ein würdiges Glied in die<br />

<strong>Bremer</strong> Kulturmeile ein.<br />

Ich wünsche dem Steg viele<br />

Besucher, die auch, wenn das Gedenkjahr<br />

vorüber sein wird, sich gerne der großen<br />

Malerin Paula Modersohn-Becker erin-<br />

nern.<br />

23


Elisabeth Hannover-Drück bei ihrer Rede zur Einweihung<br />

24


Zur Situation von Zwangsarbeiterinnen<br />

in Bremen während des Zweiten<br />

Weltkriegs<br />

Vortrag vom 23.11.2000 im Rahmen<br />

einer Vortragsreihe des <strong>Bremer</strong><br />

<strong>Frauenmuseum</strong>s<br />

Was ist unter Zwangsarbeit im<br />

Zweiten Weltkrieg zu verstehen? In der<br />

Antwort auf eine Kleine Antrage der<br />

Grünen in der Bürgerschaft gab der Senat<br />

im Dezember 1986 folgende Definition:<br />

"Zwangsarbeiterinnen sind Menschen, die<br />

mit Gewalt oder unter Androhung von<br />

Gewalt zu Arbeitsleistungen für private<br />

Betriebe, Einzelpersonen oder staatliche<br />

und kommunale Stellen gezwungen wur-<br />

den und außerhalb regulärer Arbeits-<br />

bedingungen standen."<br />

Man kann also unter diesen Begriff<br />

viele Gruppen subsumieren: KZ-Häftlinge<br />

ebenso wie Kriegsgefangene oder andere<br />

ausländische Arbeitskräfte, soweit sie<br />

nicht aus freiem Entschluss in Deutsch-<br />

land tätig waren. In meinen Ausführungen<br />

werde ich mich auf den Versuch be-<br />

schränken, ein Bild der Situation von<br />

polnischen und russischen Frauen, die<br />

während des zweiten Weltkriegs zwangs-<br />

weise in Bremen gearbeitet haben, auf-<br />

grund der noch vorhandenen Quellen und<br />

der Sekundärliteratur zu entwerfen und<br />

aufzuzeigen, unter welchen Umständen<br />

diese Frauen nach Bremen gekommen<br />

sind und wie sich ihre Lebens- und Ar-<br />

beitsbedingungen hier gestaltet haben.<br />

Die Einschränkung auf diese Gruppe<br />

begründe ich damit, daß für die weiblichen<br />

KZ-Häftlinge bereits seit 1988 mit der<br />

Veröffentlichung von Dr. Hartmut Müller<br />

über "Die Frauen von Obernheide" eine<br />

eingehende Dokumentation vorliegt, und<br />

daß es in den anderen Volkstumsgruppen,<br />

die in Bremen zum Einsatz kamen, wie<br />

Italiener, Franzosen, Belgier, Holländer,<br />

Dänen, Norweger, Tschechen, Slowaken,<br />

eine namhafte Anzahl von Frauen nicht<br />

gegeben hat.<br />

Wie sind die Polinnen und später die<br />

Russinnen nach Bremen gekommen?<br />

Der Arbeitseinsatz von polnischen<br />

Frauen und Männern in der deutschen<br />

Landwirtschaft und im Bergbau hat eine<br />

lange Tradition, und nach dem Ende des<br />

Blitzkrieges gegen Polen im September<br />

1939 waren bei der dort herrschenden<br />

Arbeitslosigkeit viele bereit, wie üblich ins<br />

Reich zu gehen, um zu verdienen. Sie<br />

wurden auch so aufgenommen wie früher,<br />

nämlich als Saisonarbeiter, nicht als<br />

feindliche Ausländer. Das erweckte den<br />

Argwohn und die tiefsitzenden Ängste der<br />

Parteiideologen, die keine größere Sorge<br />

kannten als die vor der "Durchrassung"<br />

deutschen Blutes mit fremdvölkischem,<br />

insbesondere slawischem. Die auslän-<br />

dischen Arbeitskräfte wurden sämtlich<br />

dem Reichsführer SS und Chef der<br />

deutschen Polizei, Heinrich Himmler,<br />

unterstellt, und das Reichssicherheits-<br />

hauptamt (RSHA) versuchte mit immer<br />

25


neuen Verordnungen, das Leben der<br />

Fremdarbeiterinnen in Deutschland bis ins<br />

einzelne zu regeln, um den befürchteten<br />

Gefahren von Sabotage, Spionage und<br />

Fraternisierung mit der deutschen Bevöl-<br />

kerung entgegenzutreten.<br />

Hier wird das Dilemma der<br />

deutschen Führung mit dem Einsatz der<br />

Ausländer schon deutlich: Man brauchte<br />

die fremden Arbeitskräfte dringend für die<br />

deutsche Kriegswirtschaft, fürchtete aber<br />

auch ihr massenhaftes Hereinströmen ins<br />

Reich. Soweit es sich um "germanische"<br />

Volksgruppen handelte, wie Holländer,<br />

Flamen, Dänen und Norweger, waren sie<br />

willkommen; soweit es um Verbündete wie<br />

Italiener oder Ungarn ging, musste man<br />

trotz aller Befürchtungen die Regeln der<br />

freundschaftlichen Verbundenheit einhal-<br />

ten. Selbst den nichtgermanischen<br />

Kriegsgegnern aus Frankreich zollte man<br />

Respekt und erträgliche Arbeitsbedin-<br />

gungen. Aber gegenüber den "rassisch<br />

nicht wertvollen Randvölkern" aus dem<br />

Osten, denen man im zukünftigen Europa<br />

unter deutscher Oberhoheit nur die Rolle<br />

von Arbeitssklaven zugedacht hatte, trieb<br />

der Rassenwahn seine übelsten Blüten.<br />

Der deutsche Bürokratismus machte sich<br />

durch immer neue Verordnungen und<br />

Ergänzungen zu den Verordnungen<br />

unentbehrlich in der Hoffnung, daß durch<br />

Paragraphen und die Androhung von<br />

Strafen jedes menschliche Verhalten in<br />

den Griff zu bekommen und jede<br />

Widersetzlichkeit im Keim zu ersticken sei.<br />

Denn angestrebt war. "die Arbeitskraft der<br />

polnischen Zivilarbeiter im größtmöglichen<br />

Umfang für die deutsche Wirtschaft<br />

einzuspannen, trotzdem aber alle Gefah-<br />

ren abzuwenden, die für die Sicherheit<br />

und den rassischen Bestand des deut-<br />

schen Volkes entstehen:" (Himmler nach<br />

Marßolek-Ott, S. 412)<br />

Bremen gehörte mit Hamburg und<br />

Kiel zum Wehrkreis X, dem rüstungsinten-<br />

sivsten im Deutschen Reich. 80 % der<br />

bremischen Produktion bildeten Rü-<br />

stungsgüter, herausragend waren der<br />

Flugzeug- und Schiffbau. Die Folge waren<br />

die schon im Mai 1940 einsetzenden<br />

Luftangriffe, ca. 170 im Verlauf des<br />

Krieges, eine 70%-ige Zerstörung der<br />

Stadt und, um auf unser spezielles Thema<br />

zu kommen, eine reichliche Versorgung<br />

mit fremdvölkischen Arbeitskräften. Wie<br />

viele es insgesamt waren, steht nicht fest,<br />

vorsichtigen Schätzungen zufolge müßten<br />

es während des gesamten Krieges ca.<br />

70.000 gewesen sein. Ein genaueres<br />

Ergebnis erbrachte eine Zählung vom<br />

September 1944, bei der die Insassen der<br />

rund 200 in Bremen existierenden Lager<br />

erfasst wurden. Es handelte sich zu<br />

diesem Zeitpunkt um 38.567 Personen,<br />

um 12.653 Frauen und 25.914 Männer;<br />

die männliche Gruppe war also doppelt so<br />

stark wie die weibliche. Dazu kamen noch<br />

im Privatquartier Wohnende und in der<br />

Landwirtschaft Beschäftigte.<br />

26


Im Februar 1940 traf der erste Transport<br />

mit 110 polnischen Zivilarbeitern in<br />

Bremen ein. Wieweit die Menschen zu-<br />

nächst freiwillig kamen, wie von den<br />

Behörden immer wieder behauptet wurde,<br />

sei dahingestellt. Aber schon bald, als sich<br />

die Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor<br />

allem auch die Verdienstmöglichkeiten, als<br />

sehr viel schlechter erwiesen als ver-<br />

sprochen und das Leben der Zivilarbeiter<br />

durch die sog. "Polenerlasse" streng<br />

reglementiert wurde, versuchten viele<br />

nach Hause zurückzukehren, wo sie die<br />

Illusionen der eventuell noch Interes-<br />

sierten zunichte machten. Die Rekru-<br />

tierung weiterer Arbeitskräfte konnte nur<br />

noch zwangsweise erfolgen. Von April<br />

1940 an galt im Generalgouvernement,<br />

d.h. in dem von der Wehrmacht besetzten<br />

Teil Polens, für alle Jahrgänge zwischen<br />

1915 und 1925 Arbeitsdienstpflicht in<br />

Deutschland. Jede Woiwodschaft hatte<br />

eine bestimmte Anzahl von Personen zu<br />

stellen. Dementsprechend wurden junge,<br />

kräftige Leute nachts aus den Betten<br />

geholt und den Transporten zugeordnet.<br />

Da aber schon viele Kandidaten vor-<br />

sichtshalber in die Wälder geflüchtet<br />

waren und die Kontingente nicht zusam-<br />

menkamen, ging man dazu über, durch<br />

Razzien solche Personen, die sich gerade<br />

auf der Straße bewegten, einzufangen und<br />

mit ihnen die Transporte aufzufüllen. (erst<br />

vor wenigen Wochen erzählte eine alte<br />

Dame bei einer Veranstaltung der<br />

Deutsch-Polnischen Gesellschaft, wie sie<br />

als junges Mädchen in Krakau<br />

nichtsahnend in solch eine Razzia geriet<br />

und sich zwei Tage später in Nordhausen<br />

im Harz als Zwangsarbeiterin wiederfand.)<br />

Was erwartete die Polinnen in Bremen?<br />

Nach oft demütigenden ärztlichen<br />

Untersuchungen und Entlausungsaktionen<br />

wurden die Neuankömmlinge, nach<br />

Geschlechtern getrennt, in Lagern unter-<br />

gebracht, die teils auf dem Firmengelände<br />

der Großbetriebe, teils in zweckent-<br />

fremdeten Schulen. Restaurants, Kino-<br />

sälen oder Fabrikhallen eingerichtet wor-<br />

den waren. Das Leben der "Zivilarbeiter<br />

und -arbeiterinnen polnischen Volkstums",<br />

wie die amtliche Bezeichnung lautete, war<br />

genau geregelt. (M.-Ott. S. 409). Streng<br />

verboten war das Verlassen des Aufent-<br />

haltsortes. Während der nächtlichen<br />

Sperrstunden durfte auch die Unterkunft<br />

nicht verlassen werden. Die Benutzung<br />

öffentlicher Verkehrsmittel war nur in<br />

Ausnahmefällen erlaubt, jeder gesellige<br />

Umgang mit der deutschen Bevölkerung,<br />

insbesondere der Besuch von Theatern,<br />

Kinos, ja sogar der Gottesdienst war ver-<br />

boten, Gaststättenbesuch und Tanzver-<br />

gnügen nur in eigens für Polen reser-<br />

vierten Lokalen erlaubt. Wer mit einer<br />

deutschen Frau oder einem deutschen<br />

Mann geschlechtlich verkehrte, sollte mit<br />

dem Tode bestraft werden. Die den<br />

Arbeiterinnen und Arbeitern übergebenen<br />

Abzeichen, ein großes P auf einem qua-<br />

dratischen Stück Stoff, mußten auf<br />

sämtlichen Kleidungsstücken auf der rech-<br />

27


ten Brustseite gut sichtbar angenäht<br />

werden - eine Vorwegnahme der Stigmati-<br />

sierung durch die „Judensterne“ um an-<br />

derthalb Jahre.<br />

Eingerahmt wurden diese drako-<br />

nischen Verbote von moralischen<br />

Appellen. Das Großdeutsche Reich gebe<br />

jedem, der freiwillig zur Arbeit nach<br />

Deutschland gekommen sei, Lohn und<br />

Brot, wenn er seine Arbeit zufrieden-<br />

stellend verrichte. Wer jedoch nachlässig<br />

sei und die Bestimmungen mißachte,<br />

werde unnachsichtig zur Rechenschaft<br />

gezogen, was eine Anzeige bei der Po-<br />

lizei, Überstellung an die Gestapo,<br />

Überweisung ins Arbeitserziehungslager<br />

oder ins KZ bedeutete. Die Verordnung<br />

wurde den Gestapostellen "nur zum<br />

Dienstgebrauch", "nur zur mündlichen<br />

Weitergabe" zugeleitet. Darüber zu spre-<br />

chen oder zu schreiben war strengstens<br />

verboten.<br />

Grundsätzlich galten diese Anwei-<br />

sungen auch für die sogenannten Ost-<br />

arbeiterinnen und Ostarbeiter, die im<br />

Verlauf des Russlandfeldzugs aus der<br />

Sowjetunion nach Deutschland gebracht<br />

wurden; aber ihr Status war noch schlech-<br />

ter und dem der sowjetischen Kriegs-<br />

gefangenen angenähert, was sich vor<br />

allem in einer völlig unzureichenden<br />

Ernährung niederschlug. Ihre Lager waren<br />

mit Stacheldraht umzäunt, sie durften sie<br />

nur unter Bewachung verlassen. Sie<br />

wurden nicht in Russland angeworben,<br />

sondern zwangsweise ins deutsche Reich<br />

überführt, was ihnen den treffenden Na-<br />

men "Zivilgefangene" eintrug. Auch sie<br />

mußten sich durch ein Abzeichen mit der<br />

Aufschrift "Ost" kenntlich machen. Bei den<br />

Transporten waren mehr als die Hälfte<br />

Frauen und Mädchen. (Herbert S. 178)<br />

Zu diesen Rahmenbedingungen<br />

kamen durch immer neue Verordnungen<br />

der bremischen Polizei noch weitere<br />

Einschränkungen hinzu, so z.B. in der 5.<br />

Polizeiverordnung vom Februar 1942 das<br />

Verbot zu fotografieren oder Fotoapparate<br />

zu besitzen, Fahrräder zu benutzen oder<br />

zu besitzen, die öffentlichen Grünanlagen<br />

zu betreten, in der Öffentlichkeit polnische<br />

Lieder zu singen. In den Ortsteilen nördl-<br />

ich der Lesum war das Betreten der<br />

Kaufläden nur zu bestimmten Stunden<br />

erlaubt, und auf den Bürgersteigen durften<br />

nicht mehr als zwei ausländische Per-<br />

sonen nebeneinander gehen - das spiegelt<br />

den Unmut der einheimischen Bevöl-<br />

kerung wider, die sich im Umfeld der<br />

<strong>Bremer</strong> Wollkämmerei von der großen<br />

Anzahl der Fremdarbeiterinnen bereits an<br />

den Rand gedrängt sah.<br />

Die Größe und Ausstattung der<br />

Lager und der Arbeitseinsatz, der ab-<br />

verlangt wurde, unterschied sich erheblich.<br />

Entscheidend war auch. wie die Vorge-<br />

setzten und das Aufsichtspersonal sich<br />

verhielten. Da gab es sadistisch veran-<br />

lagte Personen, die ihre Macht genüsslich<br />

ausspielten, schlugen und prügelten; aber<br />

28


auch solche, die ein Auge zudrückten,<br />

wenn die jungen Mädchen von einem<br />

Sonntagnachmittagsurlaub nicht pünktlich<br />

zurückkamen, die von der Arbeit er-<br />

schöpften Frauen heimlich eine Ruhe-<br />

pause verschafften oder ihr Leistungssoll<br />

herabsetzten. Wir hören von korrupten<br />

Küchenleiterinnen, die von den spärlichen<br />

Rationen noch die nahrhaftesten Bestand-<br />

teile abzweigten, aber auch von Vorar-<br />

beitern, die sich für eine etwas bessere<br />

Ernährung "ihrer" Frauen einsetzten und<br />

Abfälle beim Schlachthof und zusätzliche<br />

Suppen auf der Arbeitsstelle organisierten.<br />

Die Unterbringung in den Lagern<br />

war mehr oder weniger schlecht. Zwei-<br />

oder dreistöckige Betten in völlig über-<br />

füllten, stickigen Räumen waren die Regel.<br />

Die zuständigen Behörden setzten die<br />

Frauen bei der Errichtung von Luftschutz-<br />

bunkern, in der Zementindustrie, beim<br />

Straßen- und Brückenbau, beim Amt für<br />

Kanalisation und Abfuhrwesen, beim Sied-<br />

lungsbau, beim Gartenbauamt, und vor<br />

allem auch bei der Beseitigung von<br />

Fliegerschäden ein. Diese Aufgabe wurde<br />

immer wichtiger, je mehr die Luftangriffe<br />

zunahmen. Im Januar 1943 waren 400<br />

Ostarbeiterinnen bei der Enttrümmerung<br />

beschäftigt: Im Januar 1944 war dieser<br />

Einsatz so vordringlich geworden, daß<br />

selbst die Zuweisung einer einzigen<br />

Ostarbeiterin für eine andere Tätigkeit<br />

nicht genehmigt wurde. Alle neu ein-<br />

getroffenen Arbeitskräfte durften nur beim<br />

Bunkerbau und bei der Beseitigung von<br />

Fliegerschäden eingesetzt werden (StaB<br />

4,29/1 - 1275).<br />

Wenn auch alle die genannten<br />

Aufgabenfelder Schmutz- und Schwer-<br />

arbeit bedeuteten, so war der Einsatz bei<br />

der Enttrümmerung darüber hinaus noch<br />

sehr gefährlich. Blindgänger, einstürzende<br />

Mauern und Gewölbe bedrohten die<br />

Räumtrupps. Andererseits war es bei<br />

solchen Einsätzen möglich, Lebensmittel<br />

oder auch Kleidung in den Ruinen zu<br />

suchen und sich anzueignen. Daß dies<br />

ohne Rücksicht auf die drohende<br />

Lebensgefahr oft geschah, zeugt von dem<br />

Leidensdruck und der großen Not. Die<br />

beste Gelegenheit dazu gab es während<br />

des Fliegeralarms und der Bomben-<br />

angriffe, denn dann befand sich außer den<br />

Zwangsarbeitern kaum noch jemand auf<br />

der Straße. Den „rassisch minderwertigen“<br />

Slawen war der Zugang zu den Bunkern<br />

grundsätzlich verwehrt. Selbst die Per-<br />

sonen, die beim Bunkerbau beschäftigt<br />

waren, mußten bei Alarm den Schutzraum<br />

verlassen. Wohl gab es bei den einzelnen<br />

Lagern behelfsmäßige sog. Erdbunker, die<br />

aber kaum Schutz boten. Bei einem<br />

Luftangriff am 12. Oktober 1944 sind in<br />

Hastedt Polinnen und Russinnen, die bei<br />

der Großwäscherei Hayungs beschäftigt<br />

waren, in einem solchen Erdbunker ver-<br />

schüttet worden und umgekommen. Die<br />

Auferstehungsgemeinde, deren Kirche<br />

jetzt auf diesem Gelände steht, hat die<br />

Vorgänge von damals ausführlich doku-<br />

mentiert. Teilweise verlangten die Arbeit-<br />

29


geber auch, daß die Arbeit während des<br />

Fliegeralarms nicht unterbrochen werden<br />

durfte. Was das an Angst und auch an<br />

Aggressionen bei den Betroffenen aus-<br />

lösen mußte, kann sich jeder vorstellen.<br />

Die Entlohnung der Arbeiterinnen<br />

aus dem Osten war zu Beginn so niedrig,<br />

daß einzelne Firmen sich um die billigen<br />

Hilfskräfte rissen. Dieser unmittelbaren<br />

Bereicherung wurde schnell ein Riegel<br />

vorgeschoben, indem die Differenz<br />

zwischen dem Tariflohn und den<br />

tatsächlich ausgezahlten Löhnen von den<br />

Arbeitgebern als "Sozialausgleichsab-<br />

gabe" oder "Ostarbeiterabgabe" an den<br />

Fiskus abgeführt werden mußte. Von den<br />

Bruttolöhnen, die sich jedenfalls in den<br />

untersten Lohngruppen am Tariflohn<br />

orientierten, wurden für Unterkunft und<br />

Verpflegung 1,50 RM pro Tag einbehalten,<br />

so daß der auszuzahlende Betrag sich<br />

schließlich nur noch auf 5 oder 10 Pfen-<br />

nige täglich belief. Von diesem "Verdienst"<br />

mussten oft noch Fahrtkosten, Bekleidung<br />

und Schuhe finanziert werden.<br />

Im Januar 1943 war mit der verheerenden<br />

Niederlage der 6. Armee vor Stalingrad<br />

der Wendepunkt des Krieges erreicht. Auf<br />

vielen Gebieten begann man umzu-<br />

steuern; so auch in der Ausländerpolitik.<br />

Nun setzte man die Arbeitskräfte aus dem<br />

Osten nicht mehr nur für ungelernte<br />

Schwerarbeit ein, sondern entsprechend<br />

ihrer beruflichen Qualifikation, was sich für<br />

die Betriebe als sehr günstig erwies; ja<br />

man begann sogar, geeignete Personen<br />

zu Fachkräften auszubilden. Da jetzt nach<br />

Leistungslohn bezahlt wurde, waren die<br />

auszuzahlenden Summen höher. Eine<br />

Chance, diese Beträge an die Familien in<br />

der Heimat zu transferieren, bestand<br />

praktisch nicht, war auch aus öko-<br />

nomischen Gründen nicht gewollt. Teil-<br />

weise wurde der Lohn in Lagergeld<br />

ausgezahlt, teilweise wurde das Geld vom<br />

sog. "Ostarbeitersparen" aufgesogen. Der<br />

Tag, an dem diese Sparguthaben realisiert<br />

werden konnten, kam freilich nie, so daß<br />

sämtliche Arbeitsverhältnisse sich als<br />

krasse Ausbeutung darstellen.<br />

Wenn die deutschen Unternehmen<br />

sich auch nicht direkt am Billiglohn ihrer<br />

Beschäftigten bereichern konnten, weil<br />

das Finanzamt die Gewinnspanne kassier-<br />

te, so hatten sie doch enorme Vorteile<br />

durch die Ausweitung ihrer Geschäfts-<br />

tätigkeit, wie sie mit Hilfe der Fremd-<br />

ländischen möglich war. So mancher<br />

Betrieb, der in den 30er Jahren einen<br />

bescheidenen Umfang hatte, ging aus<br />

dem Einsatz in der Kriegswirtschaft auf<br />

Dauer gestärkt und vergrößert hervor.<br />

Auch der Staat hat durch den Einsatz der<br />

Ostarbeiterinnen in seinen Eigenbetrieben<br />

und durch ein erhöhtes Steueraufkommen<br />

kräftig an den Fremdarbeitern verdient.<br />

Bei der schweren Arbeit und der<br />

völlig unzureichenden Versorgung kam es<br />

zu häufigen Krankmeldungen. Die Arbeit-<br />

geber waren misstrauisch und sprachen<br />

30


von „Faulkranken“, die angeblich alle<br />

etwas mit dem Magen hätten, was nicht<br />

verwundere, da sie auch verdorbene<br />

Lebensmittel“ in sich reinstopften"<br />

(Mutschke S. 47).<br />

Wie die Versorgung der Kranken<br />

sich gestaltete, hing sehr von der<br />

Einstellung des medizinischen Personals<br />

ab. Soweit sie sich an ihr Berufsethos<br />

erinnerten, suchten sie ihren Patienten<br />

durch Krankschreibungen eine Atempause<br />

zu verschaffen. Für Schwerkranke gab es<br />

zentrale Krankenstationen. Zu Anfang des<br />

Krieges wurden die nicht mehr Ar-<br />

beitsfähigen in ihre Heimat zurück-<br />

geschickt; in den Jahren danach aber<br />

unterzog man die Kranken mehreren<br />

Kontroll-Untersuchungen, ob sie nicht<br />

doch noch als Arbeitskräfte wieder-<br />

hergestellt werden könnten, und es fanden<br />

kaum mehr Rücktransporte statt.<br />

Etwas Ähnliches kann von den<br />

schwangeren Frauen gesagt werden. In<br />

den Akten ist häufig die Rede von dem<br />

"nicht unbedingt erfreulichen Kindersegen"<br />

bei Russinnen und Polinnen (StaB 4,29,'l -<br />

1271). Waren Schwangerschaften bei<br />

deutschen Frauen höchst erwünscht nach<br />

dem Motto: "Der Führer braucht<br />

Soldaten!", so missbilligte man bei den<br />

Zivilarbeiterinnen vor allem die „bedroh-<br />

liche Stärkung des fremden Volkstums“<br />

und den Ausfall der Arbeitskraft. Zunächst<br />

wurden die Schwangeren nämlich in ihre<br />

Heimat zurückgeschickt, später aber<br />

vermutete man, wahrscheinlich nicht ganz<br />

zu Unrecht, daß eben diese Aussicht auf<br />

Heimkehr für so manche Schwangerschaft<br />

ursächlich war. Deshalb wurde vom<br />

Rücktransport abge-sehen, und die<br />

Betriebe, die viele Frauen beschäftigten,<br />

aufgefordert, innerhalb ihrer Lager Ein-<br />

richtungen für die Geburtshilfe und die<br />

Betreuung der Neugeborenen zu schaffen.<br />

An einem Zuwachs der slawischen<br />

Völker konnte auf deutscher Seite kein<br />

Interesse bestehen. Es galt, die Arbeits-<br />

kraft der fremdländischen Frauen optimal<br />

auszubeuten, wobei Kinder nur hinderlich<br />

sein konnten, da ihre Betreuung nicht nur<br />

Zeit, sondern auch Nahrung und Be-<br />

kleidung kosten würde.<br />

Im <strong>Bremer</strong> Umland gab es diverse<br />

"Ausländerkinder-Pflegestätten", wo die<br />

Aufzucht der Säuglinge erfolgen sollte. Die<br />

Mütter wehrten sich aber vehement<br />

dagegen, ihre Kinder dort abzugeben, weil<br />

die Sterblichkeitsrate erschreckend hoch<br />

war. 50 % bis 90 % der Säuglinge endeten<br />

kläglich, verhungerten oder starben wegen<br />

mangelnder Sorgfalt in der Pflege. In<br />

Bremen scheint es ein solches Heim nicht<br />

gegeben zu haben. Der Betriebsführer der<br />

Firma "Weser-Flug" sprach im Januar<br />

1943 bei einer Versammlung der Lager-<br />

führer seine Überzeugung aus, daß die<br />

russische Mutter ihr Kind niemals in eine<br />

solche Pflegestätte weggeben würde.<br />

Deshalb hatte der Betrieb eine eigene<br />

31


Entbindungsstation und Kinderkrippe ein-<br />

gerichtet (StaB 4.29/1 - ä271).<br />

Damit war es freilich nicht getan.<br />

Es gab auch schon ältere Kinder in den<br />

Lagern, die mit ihren Familien nach<br />

Bremen gekommen waren. Diese Kinder<br />

mußten beaufsichtigt und beschäftigt<br />

werden, brauchten Unterkunft, Nahrung<br />

und Bekleidung, bis sie schließlich im Alter<br />

von 14, manchmal aber auch schon von<br />

12 Jahren zur Arbeit herangezogen<br />

werden konnten. Der noch unproduktive<br />

Nachwuchs aber war den Behörden ein<br />

Dorn im Auge, und die schwangeren<br />

Frauen wurden sehr nachdrücklich auf die<br />

Möglichkeit einer Abtreibung hingewiesen<br />

- all das in krassem Gegensatz zur<br />

deutschen Bevölkerungspolitik, die Ab-<br />

treibungen mit der Todesstrafe bedrohte.<br />

Die Haltung gegenüber den<br />

„Fremdvölkischen“ wandelte sich im<br />

Verlauf des Krieges. Hatte man zu Anfang<br />

die Zivilarbeiter aus dem Osten nur für<br />

Schwerarbeit in Steinbrüchen, zur Trok-<br />

kenlegung von Mooren, zum Straßenbau<br />

etc. heranziehen wollen, ganz im Sinne<br />

einer "Vernichtung durch Arbeit", so wurde<br />

es doch bald notwendig, sie auch in der<br />

Industrie einzusetzen trotz großer Angst<br />

vor Geheimnisverrat und Sabotage. Man<br />

stellte dann aber doch mit Erstaunen fest,<br />

wie diszipliniert gerade die "sowjetischen<br />

Untermenschen" arbeiteten, welch hohe<br />

Leistung insbesondere die Russinnen<br />

erreichten, nämlich 50-75 % der Leistung<br />

eines deutschen Arbeiters und 90-100 %<br />

der Leistung deutscher Frauen - und wie<br />

gut ausgebildet viele waren. Und noch<br />

einen Vorteil boten die Ostarbeiterinnen:<br />

Es gab für sie keine Schutzvorschriften<br />

wie für die deutschen Frauen, die z.B.<br />

keine Nachtarbeit leisten durften. So<br />

wurden die Ostarbeiterinnen zu den<br />

idealen Beschäftigten, die man hem-<br />

mungslos ausbeuten konnte. (Herbert S.<br />

324)<br />

Durch Leistungslohn, durch Prämi-<br />

en und Urlaubsvergünstigungen suchte<br />

man die Menschen bei Laune zu halten.<br />

Die Bemühungen um eine bessere<br />

Ernährung waren allerdings nicht von<br />

Erfolg gekrönt, weil auch die Versorgung<br />

der deutschen Bevölkerung schlechter<br />

wurde. Aber man versuchte, für mehr<br />

Abwechslung zu sorgen, Künstler aus den<br />

Lagerinsassen zu rekrutieren, die in der<br />

Freizeit für ein buntes Programm sorgen<br />

sollten. Weihnachten, Neujahr und Ostern<br />

durften nach dem russischen Kalender<br />

begangen werden, ja sogar ein Wett-<br />

bewerb "Noch schönere Lager" wurde<br />

ausgeschrieben, so grotesk das klingen<br />

mag (StaB 4,29/1 -1271).<br />

Überliefert wird aber auch, daß<br />

einzelne <strong>Bremer</strong>innen und <strong>Bremer</strong><br />

versucht haben, das Los der fremden<br />

Frauen etwas zu lindern. So war es ohne<br />

großes Aufsehen zu erregen möglich,<br />

oben auf die gefüllten Mülltonnen kleine<br />

Päckchen mit Lebensmitteln zu legen.<br />

32


Kinder mit Liebesgaben zu den Frauen zu<br />

schicken oder einen Korb mit Äpfeln<br />

zufällig an der richtigen Stelle fallen zu<br />

lassen, erforderte schon mehr Mut und<br />

Geschicklichkeit. Männer hatten als Auf-<br />

sichtskräfte oder Vorgesetzte bei der<br />

Arbeit die Möglichkeit, sich schützend vor<br />

die ihnen Anvertrauten zu stellen. Immer,<br />

wenn ich bei der Beschäftigung mit der<br />

tristen Materie auf solche Zeugnisse von<br />

Menschlichkeit gestoßen bin, war es ein<br />

Lichtblick und ein Aufatmen, aber bald hat<br />

mich wieder die bange Frage beschlichen,<br />

ob diese Einzelfälle uns nur deshalb so<br />

ausführlich geschildert werden, weil sie so<br />

selten waren. Über den Umfang der<br />

Hilfeleistungen werden wir nie Klarheit<br />

erhalten, aber wenn wir uns vor Augen<br />

führen, wie jeder, der sich zur Hilfe<br />

entschlossen hat. sich selbst und seine<br />

Familie, seine Kinder, in Gefahr brachte,<br />

so wiegt jedes kleine Beispiel schwer.<br />

Stimmen, dass Ostarbeiter streng,<br />

aber gerecht behandelt werden müßten,<br />

dass es sinnlos sei, durch Prügel eine<br />

höhere Leistung erzwingen zu wollen,<br />

dass berechtigte Klagen nicht bestraft,<br />

sondern ausgeräumt werden müßten,<br />

hatte es immer gegeben. (StaB 4.29 i -<br />

1271). Als aber das Kriegende näher-<br />

rückte, trat zu solchen Überlegungen die<br />

Angst: Wie würden sich die Ausländer, die<br />

im Jahre 1944 rund ein Drittel der <strong>Bremer</strong><br />

Wohnbevölkerung ausmachten, dann ver-<br />

halten? Würden sie sich für erlittenes<br />

Unrecht an ihren Peinigern und an den<br />

Einheimischen rächen? Gab es doch<br />

schon Hinweise auf ein neues<br />

Selbstbewußtsein der „Fremdländischen“.<br />

Von jungen Russinnen, die bei Borgward<br />

arbeiteten, wird berichtet, daß sie im März<br />

1944 ihren Vorarbeiter baten, ihnen rote<br />

Stofffarbe zu besorgen - zu welchem<br />

Zweck, das verrieten sie nicht. "Und am 8.<br />

März, dem Internationalen Frauentag,<br />

kamen diese sowjetischen Frauen alle -<br />

weit über 100 - morgens bei Arbeitsbeginn<br />

eine Treppe herunter - alle mit roten Kopf-<br />

tüchern, wie eine rote Welle - gingen<br />

durch die Halle und an ihre Arbeitsplätze.<br />

So feierten sie den 8. März 1944! Es war<br />

eine Heldentat.... Diese Demonstration hat<br />

auf die deutschen Arbeiter einen großen<br />

Eindruck gemacht." (Marßolek-Ott, S.<br />

422).<br />

Ob diese Loyalität zu ihrer sowjet-<br />

russischen Heimat den jungen Frauen ein<br />

Jahr später, als der Krieg zu Ende ging<br />

und die Zwangsarbeiterinnen auf die eine<br />

oder andere Weise wieder den Heimweg<br />

antraten, genutzt und sie vor dem Vorwurf<br />

bewahrt hat, sie hätten den Feind mit ihrer<br />

Hände Arbeit unterstützt - wir wissen es<br />

nicht. Wohl aber ist bekannt, daß für viele<br />

dieser "displaced persons", dieser entwur-<br />

zelten Menschen, die Leidenszeit mit dem<br />

Ende des Krieges noch nicht vorüber war,<br />

dass sie für ihren Zwangseinsatz in<br />

Deutschland noch zusätzlich bestraft<br />

wurden.<br />

33


Benutzte Literatur und Quellen<br />

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Bonn 1999<br />

Inge Marßolek - Rene Ott: Bremen im 3.<br />

Reich. Bremen 1986<br />

Hartmut Müller; Die Frauen von<br />

Obernheide. Bremen 1988<br />

Peter Mutschke: Zwangsarbeit.<br />

Ungedruckte Magisterarbeit Bremen 1986<br />

.<br />

Raimond Reiter: Tötungsstätten für<br />

ausländische Kinder im 2. Weltkrieg.<br />

Hannover 1993<br />

StaB 4,29/1 - 1271, 1275, 1276, 1278.<br />

Verordnung Himmlers über die Kennzeichnung polnischer Zwangsarbeiterm<br />

Gesamtzeitraum 1939 bis 1945 leisteten insgesamt ca. 1,6 Mio polnische Zivilisten und ca.<br />

300.000 polnische Kriegsgefangene in Deutschland Zwangsarbeit.<br />

34


<strong>Bremer</strong> Frauen von A bis Z. - ein<br />

biografisches Lexikon. Bremen 1991<br />

Das <strong>Bremer</strong> Frauenlexikon wurde im<br />

Rahmen der Feministischen Geschichts-<br />

werkstatt von belladonna erarbeitet. Bei<br />

einem ersten Treffen von Interessentinnen<br />

im Jahre 1990 war überlegt worden,<br />

welches Thema bearbeitet werden sollte.<br />

Ich machte damals den Vorschlag, ein<br />

Nachschlagewerk über <strong>Bremer</strong> Frauen<br />

zusammenzustellen.<br />

Bei meiner Arbeit im Staatsarchiv<br />

hatte ich die beiden Bände „Bremische<br />

Biographien des 19. Jahrhunderts“ und<br />

den nachfolgenden Band „Bremische<br />

Biographien von 1912 - 1962 “ als sehr<br />

hilfreich gerne benutzt. Nur war meine<br />

Suche nach Biographien von Frauen in<br />

diesen zu 97% bedeutenden Männern<br />

gewidmeten Wälzern kaum einmal von<br />

Erfolg gekrönt. Dass in den Jahren 1912<br />

bis 1962 neben 544 Männern nur 21<br />

Frauen der Erwähnung wert befunden<br />

wurden, entspricht nicht der historischen<br />

Realität, sondern dem spezifischen Blick-<br />

winkel der Verfasser.<br />

Die Ausstellung des Staatsarchivs<br />

„<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer Republik<br />

1918 – 1933“ hatte schon 1987 deutlich<br />

gemacht, wie viele Frauen auch hierzu-<br />

lande nach der Erringung des Stimmrechts<br />

und des Zugangs zu allen Berufen wich-<br />

tige Beiträge zum öffentlichen Leben<br />

geleistet haben. Ihre Spuren im<br />

Gedächtnis ihrer Familien, in Bürger-<br />

schaftsprotokollen und Tageszeitungen, in<br />

Werkverzeichnissen und Vereinsakten<br />

auszugraben, war in vielen Fällen echte<br />

Pionierarbeit, und die Ergebnisse sollten<br />

nicht wieder verloren gehen. So entstand<br />

der Plan zu einem speziellen Frauen-<br />

lexikon, und die Gruppe hat sich ans Werk<br />

gemacht, das nach einem guten Jahr<br />

vorlag und gleich nach seinem Erscheinen<br />

zu einem Bestseller wurde.<br />

Das Frauenlexikon ist keine<br />

Veröffentlichung des <strong>Bremer</strong> Frauen-<br />

museums. Es entstand kurz vor der<br />

Gründung unseres Vereins unter der<br />

Leitung von Hannelore Cyrus, die als<br />

Herausgeberin firmiert Neben ihr werden<br />

als Herausgeberinnen folgende Frauen<br />

genannt, die heute unserem Verein<br />

angehören: Christine Holzner-Rabe, Edith<br />

Laudowicz, Renate Meyer-Braun und ich.<br />

Außerdem haben die Vereinsfrauen<br />

Romina Schmitter und Sabine Toppe<br />

wichtige Beiträge geleistet. Da das<br />

Lexikon seit vielen Jahren vergriffen ist,<br />

haben wir die von den genannten Frauen<br />

geschriebenen Porträts und denen, die<br />

uns ihre Genehmigung dazu gaben, ins<br />

Internet gestellt., um sie auf diese Weise<br />

weiterhin zugänglich zu machen.<br />

Das Lexikon stellt mit Ausnahme<br />

der Gräfin Emma von Lesum, nur Frauen<br />

des 19. und 20. Jahrhunderts dar, da die<br />

35


Quellenlage für die frühere Zeit sich als zu<br />

dürftig erwies.<br />

Obwohl die Auswahl stark vom<br />

Wissen und den Interessen der<br />

Mitarbeiterinnen geprägt wurde, so glaube<br />

ich doch, dass wir den genannten<br />

Zeitraum fast vollständig erfasst haben.<br />

Die wenigen Lücken, die moniert wurden,<br />

wären leicht zu füllen, wenn eine<br />

Neuauflage des Buches in Aussicht<br />

stünde, aber leider sind wir momentan<br />

nicht in der Lage, uns diese Arbeit<br />

vorzunehmen.<br />

Eingeteilt sind die Texte nach den<br />

Berufen und Tätigkeiten, denen die<br />

Frauen ihre Reputation verdanken, d.h.<br />

den Autorinnen, Künstlerinnen, Päda-<br />

goginnen, Politikerinnen und den<br />

<strong>Bremer</strong>innen in Verbänden und verschie-<br />

denen Berufen. Die einzelnen Lebens-<br />

bilder sind von unterschiedlicher Länge,<br />

zum großen Teil durch Porträtfotos<br />

ergänzt. Die Nennung der benutzten<br />

Literatur am Rand der jeweiligen Texte ist<br />

sehr benutzerfreundlich und wird hof-<br />

fentlich noch so manche Leserin zu<br />

weiteren Nachforschungen anregen.<br />

Das Verdienst des Lexikons<br />

besteht nicht in der kurzgefassten<br />

Darstellung altbekannter <strong>Bremer</strong> Persön-<br />

lichkeiten, die selbstverständlich nicht<br />

ausgeklammert werden konnten, sondern<br />

vielmehr im Erinnern an Frauen, die wenig<br />

bekannt, schon halb vergessen und von<br />

der endgültigen Tilgung aus dem<br />

kollektiven Gedächtnis bedroht sind.<br />

Diesem Schicksal sind Frauen schnell<br />

unterworfen. Wer viele Biographien gele-<br />

sen hat, weiß ein Lied davon zu singen,<br />

dass die Persönlichkeit und das Agieren<br />

der Väter meist ausführlich beschrieben<br />

wird, während von den Müttern entweder<br />

gar nicht oder nur am Rande die Rede ist.<br />

Das erklärt sich daraus, dass das tägliche<br />

Wirken und Sorgen der Hausfrau unin-<br />

teressant ist, das gelegentliche Auftreten<br />

der Väter bei besonderen Anlässen ent-<br />

weder Abwechslung und Vergnügen oder<br />

Furcht und Schrecken bedeutet und sich<br />

tief ins Gedächtnis eingegraben hat.<br />

Besonders vom Vergessen bedroht sind<br />

alleinstehende Frauen, von denen oft nicht<br />

einmal ein Bildnis überliefert ist, weil nach<br />

ihrem Tode niemand mehr ein Interesse<br />

daran findet. Auch bei den Frauen aus<br />

proletarischem Milieu steht es schlecht um<br />

die Überlieferung.<br />

Autorinnen<br />

Gemeinsam ist fast allen im<br />

Lexikon erwähnten Schriftstellerinnen die<br />

Herkunft aus gut bürgerlichem Haus. Da<br />

sind die Damen, die als Ehefrauen Ge-<br />

dichte und Novellen, häufig auch Erin-<br />

nerungsbilder aus der eigenen Kindheit zu<br />

Papier brachten und veröffentlichten.<br />

Heraus ragen zwei Frauen, die in der Mitte<br />

des 19. Jh. sich in der 48er Revolution<br />

einen Namen machten: Louise Aston, die<br />

geschiedene Frau, die die freie Liebe<br />

propagierte, Männerhosen trug und an<br />

36


den Kämpfen um Schleswig-Holstein<br />

teilgenommen hatte. Sie war keine<br />

<strong>Bremer</strong>in, heiratete aber den <strong>Bremer</strong> Arzt<br />

Eduard Meier, den sie in ihr Schicksal als<br />

Verfemte und allerorten Ausgewiesene mit<br />

hineinzog.<br />

Ein anderes Beispiel weiblicher<br />

Einmischung mit der Feder zeigt die<br />

Tochter eines <strong>Bremer</strong> Tischlermeisters,<br />

Marie Mindermann, die die Ehe ausschlug,<br />

mit anonymen Schriften in den <strong>Bremer</strong><br />

Kirchenkampf eingriff und für ihre Über-<br />

zeugung ins Gefängnis ging, danach aber<br />

mit unpolitischen Gedichten und Erzäh-<br />

lungen ihren Unterhalt verdienen musste.<br />

Wegen ihrer Reformideen wurde<br />

die Lehrerin Tami Oelfken in der NS-Zeit<br />

aus dem Beruf gedrängt, und nachdem sie<br />

in die Schriftstellerei ausgewichen war,<br />

auch mit Schreibverbot belegt. Unter<br />

Pseudonym für deutsche Zeitungen im<br />

Ausland schreibend und ständig auf der<br />

Flucht vor der Gestapo konnte sie sich nur<br />

mühsam über Wasser halten. Eine<br />

Rehabilitierung nach 1945 blieb ihr<br />

versagt, weil sie als Sozialistin im<br />

Adenauerdeutschland Anstoß erregte. Ihr<br />

Werk ist für das Lesepublikum noch zu<br />

entdecken Zu großer Bekanntheit ge-<br />

langten zwei Heimatdichterinnen, Anna<br />

Andresen und Alma Rogge, die in enger<br />

Verbundenheit mit ihrer bäuerlichen<br />

Herkunft und der plattdeutschen Sprache<br />

ihre Werke schufen.<br />

Künstlerinnen<br />

117 Seiten sind im Frauenlexikon<br />

Künstlerinnen gewidmet. 60 Namen wer-<br />

den genannt und mit teils sehr kurzen,<br />

teils ausführlichen Texten gewürdigt. Ge-<br />

meinsames Merkmal ist ihre bürgerliche<br />

Herkunft, es sind Frauen aus <strong>Bremer</strong> Pa-<br />

trizierfamilien darunter.<br />

Da die Kommentatorin vor dieser<br />

Fülle kapitulieren muss, möchte ich mich<br />

auf folgende Randbemerkung beschrän-<br />

ken: Vor zwei Wochen war ich zu Besuch<br />

in Freiburg im Breisgau, einer Stadt im<br />

Süden unserer Republik, ausgesprochen<br />

weit von Bremen entfernt. Wer beschreibt<br />

mein Erstaunen, als ich in einem neu<br />

organisierten Stadtteil auf den Paula-<br />

Modersohn-Platz stieß! Was in ihrer<br />

Heimatstadt Bremen nicht gelungen ist,<br />

diese weltweit bekannte Künstlerin,<br />

vermutlich die bekannteste <strong>Bremer</strong>in über-<br />

haupt, im öffentlichen Raum in ange-<br />

messenem Rahmen zu präsentieren, ist<br />

nun in Freiburg, das meines Wissens<br />

keine besondere Beziehung zu Paula hat,<br />

Wirklichkeit geworden. Dass die Namens-<br />

gebung den Mädchennamen der Künst-<br />

lerin verschweigt und damit ihr Werk in<br />

den Dunstkreis ihres Mannes Otto Moder-<br />

sohn verlegt, ist zwar ein schmerzlicher<br />

Schönheitsfehler. Trotzdem freue ich mich,<br />

dass die BürgerInnen der Schwarzwald-<br />

metropole ihren Gesichtskreis so entschei-<br />

dend erweitert haben.<br />

37


Doch was ein Fortschritt für<br />

Freiburg ist, ist eine Schande für Bremen.<br />

Wir sollten in unseren Bemühungen nicht<br />

nachlassen, diesen Schandfleck aus der<br />

<strong>Bremer</strong> Agenda zu tilgen!<br />

Von Elisabeth Hannover-Drück wurden<br />

folgende Porträts geschrieben:<br />

Marie Therese Cabisius<br />

Anna Elisabeth Dittrich<br />

Elisabeth Forck<br />

Tusnelde Forck<br />

Johanne Kippenberg<br />

Berta Johanna Lürssen<br />

Elisabeth Lürssen<br />

Johanne Roselius<br />

Anna Schomburg<br />

Maria Schröder<br />

Anna Vietor<br />

Cecilie Brickenstein<br />

Elise Kesselbeck<br />

Henny Sattler<br />

Meta Sattler<br />

Emmalene Bulling<br />

38


Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung<br />

über Rosa Luxemburg im Gewerk-<br />

schaftshaus Bremen 1999<br />

Es ist mir eine Freude und Ehre,<br />

dass ich heute, am 9. November 1999,<br />

einige Worte zur Eröffnung der Aus-<br />

stellung über Rosa Luxemburg im <strong>Bremer</strong><br />

DGB-Haus sagen kann.<br />

Bitte erwarten Sie nicht, dass mir in<br />

wenigen Minuten eine vollständige Wür-<br />

digung dieser außergewöhnlichen Frau,<br />

ihres Kampfes und ihrer Wirkung gelingen<br />

könnte. Ich werde versuchen, einige Ge-<br />

sichtspunkte aufzuführen, die mir wichtig<br />

und charakteristisch erscheinen.<br />

Zunächst wurde ich stutzig, als ich<br />

vom Datum der Eröffnung hörte: Was hat<br />

Rosa Luxemburg mit dem 9. November,<br />

diesem Schicksalstag der Deutschen, zu<br />

tun?<br />

Ganz aktuell ist ja heute das<br />

Gedenken an den Fall der Mauer vor zehn<br />

Jahren - an einen Glücksfall in der<br />

deutschen Geschichte. Verfolgen wir aber<br />

dieses Datum durch den Lauf unseres<br />

Jahrhunderts, so stoßen wir auf<br />

Umbruchssituationen und Ereignisse mit<br />

düsterer Vorbedeutung, die alle eng<br />

miteinander verknüpft sind.<br />

Der 9. Nov. 1918 war der Tag, an<br />

dem der Kaiser abdankte und gleich<br />

zweimal die Republik, die "deutsche"<br />

durch Philipp Scheidemann und die "freie<br />

sozialistische" durch Karl Liebknecht<br />

ausgerufen wurde. Damit kündigten sich<br />

schon die blutigen Auseinandersetzungen<br />

um die neue Staatsform an: Sollte<br />

Deutschland parlamentarische Republik<br />

oder Räterepublik werden? Es war auch<br />

der Tag, der Rosa Luxemburg nach<br />

zweieinhalb Jahren "Schutzhaft" endlich<br />

die Freiheit wiedergab, und an dem ihre<br />

letzte aktive Lebensphase begann.<br />

Den Hitlerputsch vom 8./9. No-<br />

vember 1923 hat sie nicht mehr erlebt,<br />

den Versuch Hitlers, mit einem Marsch auf<br />

Berlin den "Novemberverbrechem" die<br />

Macht zu entreißen, ebenso wenig die<br />

Reichspogromnacht vom 9./10. November<br />

1938.<br />

In diese Reihe gehört auch das<br />

Attentat auf Hitler vom 8. November 1939,<br />

verübt von dem Schreiner Georg Eisler,<br />

um den Krieg zu verhindern. Diese Tat<br />

eines Einzelgängers ist erst in den letzten<br />

Jahren eindeutig dem deutschen Wider-<br />

stand zugerechnet und allgemein bekannt<br />

gemacht worden.<br />

Judenpogrome hat es zu Rosa<br />

Luxemburgs Zeiten in Deutschland nicht<br />

gegeben, wohl aber Antisemitismus und<br />

rassistische Hetze. Trotzdem mochte das<br />

Kaiserreich den in Rußland und Russisch-<br />

Polen lebenden Juden als ein Hort der<br />

Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Ord-<br />

nung erscheinen, während ihre Heimat-<br />

länder immer wieder von Judenver-<br />

folgungen erschüttert wurden., so z.B.<br />

Polen durch das Pogrom von 1881.<br />

Damals war Rosa Luxemburg zehn Jahre<br />

39


alt; die Familie lebte in Warschau. Sie<br />

gehörte zu den assimilierten Juden, hielt<br />

sich vom jüdischen Gemeindeleben und<br />

den altüberkommenen religiösen Bräu-<br />

chen fern, ohne allerdings zum Christen-<br />

tum zu konvertieren. Im Hause sprachen<br />

die Luxemburgs nicht jiddisch, sondern<br />

polnisch, russisch und deutsch. Besonders<br />

Rosas Mutter begeisterte sich für die<br />

Literatur der deutschen Romantik und für<br />

Friedrich Schiller.<br />

Für Rosa Luxemburg war ihre<br />

jüdische Abstammung kein Thema, mit<br />

dem sie sich öffentlich auseinandergesetzt<br />

hätte. Die zionistische Bewegung erntete<br />

nur ihren Spott, denn sie war grundsätzlich<br />

gegen die Aufteilung der Menschen nach<br />

Rassen und Nationen und die Gründung<br />

entsprechender neuer Staatsgebilde.<br />

Es war in den letzten Jahren viel<br />

die Rede von der "doppelten Behin-<br />

derung", jüdisch und weiblich zu sein.<br />

Aber auch diese "Behinderung" durch ihr<br />

Geschlecht hat Rosa Luxemburg ignoriert,<br />

wohl mitbedingt durch die Tatsache, daß<br />

sie eine hervorragende, der ihrer Brüder<br />

gleichwertige Schulbildung genossen hat-<br />

te, wie es für die Töchter emanzipierter<br />

jüdischer Familien viel früher üblich war<br />

als für ihre christlichen Schwestern, und<br />

daß sie studieren konnte. Gleichzeitig mit<br />

ihr waren auch deutsche Frauen an der<br />

Universität in Zürich eingeschrieben, z.B.<br />

die Hamburgerin Anita Augspurg, die<br />

später als eine der führenden Frauen-<br />

rechtlerinnen von sich reden machte.<br />

Rosa Luxemburg hat keinen Kontakt zu<br />

der gleichfalls Jura Studierenden gesucht<br />

und sich nie in der Theorie für die Rechte<br />

der Frauen eingesetzt, wenn auch ihre<br />

ganze Lebenspraxis ein Ringen war um<br />

gleichwertige Anerkennung in der Männer-<br />

gesellschaft. Aber als starke Persönlichkeit<br />

von großer Durchsetzungskraft und<br />

scharfer Intelligenz, von unbändigem<br />

Kampfgeist und frappierender Zivilcourage<br />

hat sie ihre Weiblichkeit wohl nie als<br />

Defizit betrachtet. Ihr als Marxistin ging es<br />

nicht um den Gegensatz der Ge-<br />

schlechter, sondern um den Gegensatz<br />

zwischen Arbeit und Kapital, nicht um die<br />

Frauen allein, sondern um das Proletariat.<br />

Viele Menschen kennen Rosa<br />

Luxemburg weniger als Politikerin, son-<br />

dern von einer anderen Seite, die land-<br />

läufig als "weiblich" eingestuft wird und in<br />

Rosas an Facetten reicher Persönlichkeit<br />

große Bedeutung hatte. Viele haben sich<br />

bewegen lassen von ihren Briefen aus<br />

dem Gefängnis, in denen sich ihr tiefes<br />

Mitgefühl mit der im Krieg und durch den<br />

Krieg geschundenen und leidenden<br />

Kreatur ausspricht, aber auch ihre an-<br />

steckende Freude an allen Erscheinungen<br />

der Natur vor ihrem Zellenfenster, seien es<br />

Pflanzen, Insekten oder Vögel.<br />

Ursprünglich hatte Rosa Luxem-<br />

burg Naturwissenschaften studieren wol-<br />

len und nicht Nationalökonomie und<br />

Statistik. Sie verfügte über ein umfang-<br />

reiches botanisches Wissen, das sie<br />

ständig vervollkommnete und erweiterte.<br />

40


Auch dies betrieb sie mit der ihr eigenen<br />

Vehemenz, so daß sie eines Tages aus<br />

Ärger in Ohnmacht fiel, weil sie Name und<br />

Familie einer auf den Wiesen von<br />

Lichterfelde gefundenen Pflanze nicht<br />

bestimmen konnte.<br />

Leidenschaftlichkeit war Rosa<br />

Luxemburgs Wesensmerkmal; sie prägte<br />

auch ihre Beziehungen zu Kampf-<br />

genossen und politischen Gegnern, zu<br />

Freundinnen und Liebhabern. Feinde<br />

fürchteten die gnadenlose Schärfe ihres<br />

Urteils, die Verhöhnung durch ihre treff-<br />

sichere Ironie; aber auch verdiente<br />

Parteigenossen zitterten vor diesem<br />

"Hecht im Froschteich der deutschen<br />

Sozialdemokratie".<br />

Karl Kautsky beschrieb die Wirkung<br />

der jungen Frau, die 1898 mit 27 Jahren<br />

nach Berlin kam und sofort in der Partei<br />

eine Rolle zu spielen begann, folgen-<br />

dermaßen: "Meisterin des Wortes und der<br />

Feder, reich belesen, mit starkem<br />

theoretischen Sinn, scharfsinnig und<br />

schlagfertig, mit einer geradezu fabel-<br />

haften Unerschrokkenheit und Respekt-<br />

losigkeit, die sich vor niemand beugte,...<br />

erregte sie schon bei ihrem ersten<br />

Auftreten allgemeine Aufmerksamkeit und<br />

gewann die begeisterte Zustimmung, ja<br />

stellenweise geradezu schwärmerische<br />

Bewunderung derjenigen, deren Sache sie<br />

vertrat, sowie den bittersten Haß<br />

derjenigen, gegen die sie den Kampf<br />

aufnahm."<br />

Die Deutsche Sozialdemokratie<br />

galt um die Jahrhundertwende als die<br />

bedeutendste Partei der Internationale.<br />

Um sich hier ein vielversprechendes<br />

Wirkungsfeld zu eröffnen, hatte Rosa<br />

Luxemburg durch eine Scheinehe die<br />

deutsche Staatsangehörigkeit erworben.<br />

Doch sie störte sich an der Saturiertheit<br />

der Partei und der Gewerkschaften, die<br />

nach der Aufhebung des Sozialisten-<br />

gesetzes sich zu Massenorganisationen<br />

mit fester bürokratischer Struktur und<br />

wohlgefüllten Streikkassen entwickelt<br />

hatten. Die großen alten Männer an der<br />

Spitze, die wie Petrefakte aus der hero-<br />

ischen Phase der Partei im 19. Jahr-<br />

hundert in die neue Zeit hineinragten,<br />

genossen in der Welt und in den eigenen<br />

Reihen fraglose Autorität, wogegen der<br />

Feuergeist Rosa Luxemburgs aufbe-<br />

gehrte. "Man muß Bebel und die anderen<br />

Greise vorwärtsstoßen", war ihre Über-<br />

zeugung, und wenn ihr mit dem Verdikt:<br />

"Du Gelbschnabel, ich könnte Dein Groß-<br />

vater sein", der Mund verboten werden<br />

sollte, so bedeutete das für sie nur das<br />

Eingeständnis, daß besagter Großvater<br />

mit seinen logischen Gründen auf dem<br />

letzten Loch pfeife. Die alte Garde der<br />

"Parteiphilister" wußte ihre Leistungen für<br />

die SPD wohl zu schätzen. Sie war eine<br />

hinreißende Rednerin, eine erfolgreiche<br />

Agitatorin, aber auch eine viel beachtete<br />

Theoretikerin zu Fragen der National-<br />

ökonomie und der politischen Strategie<br />

und wurde als einzige Frau als Dozentin<br />

an die Parteischule berufen.<br />

41


Trotzdem blieb das gegenseitige<br />

Verhältnis immer zwiespältig. Niemand<br />

war vor Rosas scharfer Zunge sicher.<br />

Weder aus Pietät noch aus "Kamerad-<br />

schaftlichkeit" war sie zu irgendwelchen<br />

Kompromissen bereit, und als der alte<br />

Bebel sich erbot, ihre Schulden zu<br />

begleichen, fasste sie das als patri-<br />

archalische Gönnerhaftigkeit auf, die sie<br />

empörte.<br />

Um der Gerechtigkeit willen<br />

müssen wir anerkennen, daß die SPD, die<br />

damals ein breites Spektrum von<br />

politischen Strömungen umfaßte, der<br />

radikalen Linken Rosa Luxemburg eine<br />

Plattform bot, von der aus sie für ihre<br />

großen Themen, die dem Zeitgeist der<br />

wilhelminischen Epoche total wider-<br />

sprachen, eintreten konnte. Sie kämpfte<br />

gegen Militarismus, Aufrüstung und Rekru-<br />

tenschinderei, gegen das deutsche Welt-<br />

machtstreben und die Kriegsgefahr. Dem<br />

nationalistischen Selbstbestimmungsrecht<br />

der Völker setzte sie den Internati-<br />

onalismus entgegen. "Die Heimat des<br />

Proletariers ist die Internationale", so<br />

lautete ihr Diktum. Mit den Genossen gab<br />

es Machtspiele, bald scherzhaft unter-<br />

schwellig ausgetragen, bald in bitteren<br />

Ernst und heftige Auseinandersetzungen<br />

mündend, die einen endgültigen Bruch<br />

herbeiführten. Mit ihren Freundinnen aber<br />

blieb Rosa Luxemburg. über die Jahre hin<br />

treu verbunden. Sie entstammten alle dem<br />

sozialistischen Milieu, waren Kampfgefähr-<br />

tinnen wie Clara Zetkin, Mitarbeiterinnen<br />

und Seelentrösterinnen, die aber auch<br />

harsche Kritik erdulden mußten, wenn sie<br />

den Erwartungen Rosas nicht entsprachen<br />

und sich kleinmütig zeigten. Doch ließ sie<br />

es nie zum Äußersten kommen, sondern<br />

lenkte mit unwiderstehlichem Charme im<br />

letzten Augenblick immer wieder ein.<br />

Nicht so gegenüber dem pol-<br />

nischen Revolutionär Leo Jogiches, ihrer<br />

großen Liebe aus der Studienzeit in<br />

Zürich. Auch in ihren privaten Bezie-<br />

hungen zu Männern war sie kompro-<br />

misslos und fordernd, obwohl sie sich<br />

bewußt war, keine besonders vorteilhafte<br />

Erscheinung zu sein.<br />

Mit ihrem Hüftleiden, ihrer winzigen<br />

Statur und ihrer sehr ausgeprägten Nase<br />

entsprach sie keineswegs dem weiblichen<br />

Schönheitsideal. Luise Kautsky urteilte;<br />

"Ihr Äußeres war klein und wäre un-<br />

scheinbar gewesen, hätten nicht ihre<br />

schönen leuchtenden Augen, das feine<br />

Oval des Gesichts, der schöne Teint und<br />

das reiche dunkle Haar sowie haupt-<br />

sächlich der Ausdruck von Intelligenz sie<br />

verschönt." Weil Jogiches dem Enga-<br />

gement für die Weltrevolution den Vorrang<br />

vor allem Privaten gab, trennte sich Rosa<br />

nach Jahren des sehnsüchtigen, doch ver-<br />

geblichen Hoffens und Werbens gänzlich<br />

von ihm.<br />

Ihre enge Beziehung zu Kostja<br />

Zetkin und ihre Freundschaft mit Hans<br />

Diefenbach zerstörte der erste Weltkrieg.<br />

Dass nicht nur diese ihrem Herzen so<br />

nahestehenden jungen Männer, sondern<br />

auch Millionen unbekannter Soldaten<br />

42


täglich der Todesgefahr im Schützen-<br />

graben ausgesetzt waren, dass die von ihr<br />

erhoffte internationale Solidarität der<br />

Proletarier in Uniform bei Kriegsbeginn in<br />

Patriotismus umgeschlagen, ihr jahre-<br />

langer Kampf vergeblich gewesen war,<br />

dass schließlich die deutschen Sozial-<br />

demokraten geschlossen den Kriegs-<br />

krediten zugestimmt hatten - diese Erfah-<br />

rungen haben sie zutiefst erschüttert.<br />

Die Frau, die aktiv an der<br />

russischen Revolution von 1905 teil-<br />

genommen und damals bekannt hatte:<br />

"Ich lebe am fröhlichsten im Sturm", war<br />

fast für die gesamte Dauer des Krieges<br />

zur Tatenlosigkeit in Gefängnis- und<br />

Festungshaft verdammt. In den engen, oft<br />

übelriechenden Zellen wehrte sie sich mit<br />

privater und politischer Korrespondenz<br />

gegen die Verzweiflung.<br />

Mit der "Juniusbroschüre" legte sie<br />

1915 eine prophetische Vorausschau auf<br />

das Kriegsende vor, entstanden im<br />

Weibergefängnis in Berlin. Ihre kritischen<br />

Anmerkungen zur Oktoberrevolution in<br />

den "Spartakusbriefen" enthalten die<br />

vielzitierten Sätze, die ihr Verständnis<br />

eines demokratischen Sozialismus kurz<br />

umreißen: "dass ohne freie ungehemmte<br />

Presse, ohne ungehindertes Vereins- und<br />

Versammlungsleben gerade die Herr-<br />

schaft breiter Volksmassen undenkbar ist.<br />

Freiheit nur für die Anhänger der<br />

Regierung, nur für die Mitglieder einer<br />

Partei... ist keine Freiheit. Freiheit ist<br />

immer nur die Freiheit des anders<br />

Denkenden...". Diese Abhandlung schrieb<br />

sie im Breslauer Gefängnis.<br />

Am 9. November 1918 wurde Rosa<br />

Luxemburg aus der Haft entlassen. Sie<br />

war krank und durch ein Magenleiden<br />

geschwächt, aber, wie Clara Zetkin es<br />

ausdrückte: "Die kleine, zerbrechliche<br />

Rosa war die Verkörperung beispielloser<br />

Energie. Sie forderte jeden Augenblick das<br />

Höchste von sich und erhielt es. Wenn sie<br />

unter einer Anstrengung zusammen-<br />

zubrechen drohte, so 'erholte' sie sich bei<br />

einer noch größeren Leistung. Bei Arbeit<br />

und Kampf wuchsen ihr Flügel."<br />

Sie reiste nach Berlin, eilte vom<br />

Bahnhof direkt in die Redaktion der „Roten<br />

Fahne". In den ihr noch verbleibenden<br />

Wochen setzte sie alle Kraft daran, in<br />

Artikeln und Flugschriften immer wieder<br />

aufs neue die Ziele der Revolution und<br />

Wege zu ihrer Verwirklichung aufzuzeigen.<br />

Wie stets betonte sie die führende Rolle<br />

der Massen, aber auch die Notwendigkeit,<br />

daß das Proletariat noch viele praktische<br />

Erfahrungen im Kampf am Arbeitsplatz<br />

machen und den Klassenkampf hinaus<br />

aufs Land tragen müsse, denn nur mit der<br />

Zustimmung der großen Mehrheit des<br />

deutschen Volkes könne die Revolution<br />

gelingen. Es kann nicht meine Aufgabe<br />

sein, hier den Verlauf der Novem-<br />

berrevolution zu skizzieren. Innerhalb die-<br />

ses insgesamt tragischen Geschehens<br />

spielte sich die persönliche Tragödie der<br />

Rosa Luxemburg ab. Ihre letzten Lebens-<br />

tage waren von der Entscheidung ver-<br />

43


düstert, die sie wider besseres Wissen an<br />

den verfehlten und aussichtslosen Berliner<br />

Aufstand zugunsten des Polizeipräsi-<br />

denten Eichhorn fesselte. Zu früh war<br />

nach ihrer Überzeugung losgeschlagen<br />

worden, aber sie blieb zusammen mit Karl<br />

Liebknecht in einer Art von Nibelungen-<br />

treue an der Seite der bereits im Kampf<br />

stehenden Arbeiter.<br />

Die beiden verließen Berlin nicht,<br />

obwohl sich Agitation und Mordhetze<br />

gegen sie bedrohlich steigerten. Als sie<br />

am 15. Januar 1919 in ihrem letzten Zu-<br />

fluchtsort in Wilmersdorf verhaftet wurden,<br />

konnten sie sich keine Illusionen über ihr<br />

Schicksal machen. Beide wurden noch am<br />

gleichen Abend von Angehörigen der<br />

Garde-Kavallerie-Schützendivision<br />

umgebracht, der Leichnam von Rosa<br />

Luxemburg im Landwehrkanal versenkt.<br />

"Ordnung herrscht in Berlin", so<br />

hatte sie ihren letzten Artikel in der "Roten<br />

Fahne" überschrieben. "Ihr stumpfen<br />

Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand<br />

gebaut. Die Revolution wird sich morgen<br />

schon wieder rasselnd in die Höhe richten<br />

und zu eurem Schrecken mit Posau-<br />

nenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich<br />

werde sein!"<br />

Übertragen wir diese Worte von der<br />

Wiederkunft auf die Person, die sie einst<br />

niederschrieb, so werden wir uns bewußt,<br />

wie aktuell Rosa Luxemburgs Vermächtnis<br />

gerade heute wieder ist. Ihr Kampf, so will<br />

mir scheinen, ist noch nicht ausgekämpft.<br />

Die Revolution wird sich morgen schon<br />

wieder rasselnd in die Höhe richten und zu<br />

eurem Schrecken mit Posaunenklang<br />

verkünden: Ich war, ich bin, ich werde<br />

sein!"<br />

Dieses Bild Rosa Luxemburg hing über dem<br />

Schreibtisch von Elisabeth<br />

44


Kaiserin Friedrich und die deutsche<br />

Frauenbewegung<br />

ein Beitrag zum Preußenjahr 2001/2002<br />

Das sogenannte "Preußenjahr" hat<br />

in der Hansestadt keinen großen Widerhall<br />

gefunden. Wen wird das wundernehmen,<br />

waren die <strong>Bremer</strong> doch immer auf ihre<br />

Selbständigkeit stolz und bedacht; der<br />

Beitritt zum Norddeutschen Bund im Jahre<br />

1866 und der Anschluß der ehemaligen<br />

Freihandelszone an den Zollverein waren<br />

schwer umkämpfte Entscheidungen.<br />

Unser kulturelles Leben wird seit<br />

einiger Zeit von gewissen Jahreszahlen<br />

gelenkt, die aus den Tiefen der Ge-<br />

schichte ausgegraben, allgemein postuliert<br />

und dementsprechend thematisiert und<br />

gefeiert werden. Vielleicht ist es in unserer<br />

Zeit, in der wir in der Fülle des Wissens-<br />

werten, des Sehens- und des Hörens-<br />

werten untergehen, ganz hilfreich, wenn<br />

unsere zerstreute Aufmerksamkeit jeweils<br />

auf eine bestimmte Person, ein beson-<br />

deres Werk, eine bestimmte Epoche ge-<br />

lenkt und gebündelt wird. Wir erhalten<br />

dadurch die Chance, nicht nur Ver-<br />

gessenes wieder ins Gedächtnis zu rufen,<br />

sondern unser Verständnis auch zu<br />

erweitern, da solche Jubiläen regelmäßig<br />

Forschung und Lehre neu beflügeln. Dass<br />

durch eine solche Fokussierung des<br />

öffentlichen Interesses auf ein Thema so<br />

manches, was ebenfalls Beachtung ver-<br />

diente, marginalisiert wird und untergeht,<br />

sei nur am Rande bemerkt.<br />

So manchem Bildungsbürger mag noch im<br />

Kopf gewesen sein, dass es im Jahre<br />

1999 Goethes 250. Geburtstag zu feiern<br />

galt; dass wir aber 2001 an den Kurfürsten<br />

von Brandenburg denken sollten, der sich<br />

vor 300 Jahren zum König in Preußen<br />

gekrönt hatte, das mußte uns als Anlaß<br />

zum Jubiläum erst einmal gesagt werden.<br />

Königreiche und ihre tonan-<br />

gebenden Personen bildeten in den<br />

letzten Jahrzehnten keineswegs den<br />

bevorzugten Gegenstand historischer<br />

Forschung; deshalb waren die preu-<br />

ßischen Herrscher und insbesondere ihre<br />

Gemahlinnen im öffentlichen Bewusstsein<br />

kaum mehr präsent. Der Dokumentarfilm<br />

über Wilhelm II. "Majestät brauchen Son-<br />

ne" schlug 2001 eine erste Bresche in das<br />

allgemeine Desinteresse. Wilhelms Mutter<br />

Victoria, die spätere Kaiserin Friedrich,<br />

wurde im Film mit einem sehr harten Urteil<br />

über ihren Sohn zitiert, das aufhorchen<br />

ließ.<br />

Internationale Aufmerksamkeit wur-<br />

de Victoria durch eine vom Hause Hessen<br />

veranstaltete Tagung in Kronberg im Tau-<br />

nus zuteil: Am 5. August 1901 war die<br />

Kaiserin in ihrem Witwensitz Schloss<br />

Friedrichshof in Kronberg gestorben, ein<br />

weiterer Gedenktag im Preußenjahr, un-<br />

serer Zeit und unserem Gefühl näher als<br />

die Krönung von 1701.<br />

In der feministischen Geschichts-<br />

schreibung hat Victoria immer eine ge-<br />

wisse Rolle gespielt, galt sie doch als<br />

Förderin der deutschen Frauenbewegung.<br />

45


Ich war gespannt darauf, ob das<br />

Preußenjahr mehr Licht in diese Bezie-<br />

hung bringen würde.<br />

Victoria oder Vicky, wie ihr<br />

Kosename lautete, wurde am 20.<br />

November 1840 auf Schloß Windsor gebo-<br />

ren. Ihre Mutter, Queen Victoria, war durch<br />

mehrere überraschende Todesfälle unver-<br />

hofft zur Thronerbin geworden und hatte<br />

als 18jährige 1837 die Regierung im briti-<br />

schen Empire angetreten. Die Historiker<br />

nennen ihre bis 1901 andauernde Herr-<br />

schaft das liberale Zeitalter Englands, eine<br />

Epoche der größten Prosperität und der<br />

fortschrittlichen Entwicklungen im Innern<br />

und nach außen. England war unum-<br />

stritten die führende Weltmacht. Die<br />

Queen heiratete 1840 den Prinzen Albert<br />

von Sachsen-Coburg-Gotha, einen Mann,<br />

den sie vergötterte, und der, als zweiter<br />

Sohn aus kleinem Fürstenhause, sich in<br />

die Rolle des Prinzgemahls ohne<br />

politischen Einfluß fügen mußte, bald aber<br />

weitreichende Pläne für eine unblutige<br />

Einigung und Demokratisierung Deutsch-<br />

lands und für eine englisch-deutsche<br />

Allianz entwickelte. Zunächst aber fand<br />

sein Ehrgeiz in der Ausbildung seiner<br />

ältesten Tochter eine lohnende Aufgabe.<br />

Vicky war hoch begabt. Sie wuchs<br />

dreisprachig auf, und ihr fabelhaftes Ge-<br />

dächtnis erlaubte ihr bis ins Alter, alles<br />

einmal Gelesene jederzeit zur Verfügung<br />

zu haben. Ihr Vater forderte die Erledigung<br />

von Aufgaben, die weit über ihr Alter<br />

hinausgingen und sie auf die Rolle einer<br />

regierenden Fürstin vorbereiten sollten. Er<br />

nahm sie beispielsweise mit ins Parlament<br />

und ließ sie anschließend den Inhalt der<br />

vorgetragenen Reden schriftlich zusam-<br />

menfassen. Vor der Eröffnung der Welt-<br />

ausstellung in London im Jahre 1851 hatte<br />

Albert seiner Tochter sämtliche Exponate<br />

so genau erklärt, dass die Zehnjährige den<br />

Auftrag übernehmen konnte, den Prinzen<br />

Friedrich Wilhelm von Preußen durch die<br />

Ausstellung zu führen. Sollte diese Begeg-<br />

nung schon mit gewissen Hintergedanken<br />

arrangiert worden sein, so war ihr ein<br />

durchschlagender Erfolg beschieden:<br />

Friedrich Wilhelm, im Familie-<br />

nkreise Fritz genannt, der 20-jährige hü-<br />

nenhafte und als Idealbild männlicher<br />

Schönheit gepriesene Prinz verliebte sich<br />

in die klein gewachsene, etwas pumme-<br />

lige, noch recht kindliche Vicky. Sehr zur<br />

Freude der beiden Elternpaare bat<br />

Friedrich vier Jahre später um Vickys<br />

Hand.<br />

Weniger positiv waren die Reak-<br />

tionen auf diese Verlobung in England und<br />

in Preußen. Die Times beklagte, dass "die<br />

Tochter Englands" an das preußische<br />

Königshaus gegeben werde, das sein<br />

Verfassungsversprechen von 1848 dem<br />

Volke nicht gehalten habe und überdies<br />

mit dem erzreaktionären Zarenreich<br />

verbündet sei. Die Ultrakonservativen in<br />

Preußen waren entsetzt. Bismarck<br />

befürchtete einen starken englischen<br />

Einfluss auf den Berliner Hof, während die<br />

46


liberalen Kräfte gerade auf diesen Einfluss<br />

große Hoffnungen setzten.<br />

Für die allzu junge Braut gab es<br />

noch eine Wartefrist von zwei Jahren bis<br />

zu ihrem 17. Geburtstag. "Mein höchster<br />

Begriff von irdischer Glückseligkeit ist, Dir<br />

eine gute Frau sein zu können", schrieb<br />

sie an ihren Verlobten; aber andererseits<br />

fürchtete sie auch den Abschied von den<br />

Eltern und das steife Hofzeremoniell in<br />

Berlin. Die glückliche Ehe, die Vicky und<br />

Fritz 30 Jahre lang führen sollten, war in<br />

der von Mißtrauen und Ablehnung ver-<br />

gifteten Atmosphäre am preußischen Hof<br />

das emotionale Refugium für die vielfach<br />

gescholtene und verkannte Prinzessin.<br />

Am 8. Februar 1858 zog das junge<br />

Paar feierlich in Berlin ein, Vicky bei<br />

beißender Kälte tief dekolletiert im offenen<br />

Wagen. Das Publikum jubelte, doch am<br />

preußischen Hofe fürchtete man die<br />

"Engländerin", von der man nicht wusste,<br />

ob sie sich rasch in eine Preußin verwan-<br />

deln würde.<br />

Dem stand vieles entgegen.<br />

Preußen war im Vergleich mit der Welt-<br />

macht England wenig entwickelt; allein<br />

schon das Fehlen von Badezimmern im<br />

königlichen Schloss schockierte die junge<br />

Frau und begründete bei ihr die unselige<br />

Gewohnheit, die Vorzüge ihres Heimat-<br />

landes bei jeder Gelegenheit zu betonen.<br />

Sich diplomatisch zu verhalten, wider-<br />

sprach Vickys Temperament. Die häufigen<br />

Besuche der Eltern und Brüder in Berlin,<br />

die nicht abreißende Korrespondenz mit<br />

Vater und Mutter, die ihre junge Tochter<br />

nicht aus ihrer Obhut entlassen konnten<br />

und viele Anforderungen, auch politischer<br />

Art, an sie stellten, waren für Vicky nicht<br />

nur erfreulich. Sie überforderten die junge<br />

Prinzessin und brachten sie in Gegensatz<br />

zu ihrer Berliner Umgebung, die diese<br />

engen Beziehungen mit Argwohn beob-<br />

achtete.<br />

Bei ihrer Ankunft in Berlin wurde<br />

Vicky von allen Seiten bedeutet, daß eine<br />

Frau am Hofe sich niemals in die Politik<br />

einmischen dürfe. Sie aber war dazu<br />

erzogen worden, sich eine politische<br />

Meinung zu bilden und sie auch zu<br />

vertreten. Dagegen fand ihre Schwieger-<br />

mutter Augusta, - damals noch<br />

Kronprinzessin, dann Königin in Preußen<br />

und schließlich deutsche Kaiserin -, dass<br />

die junge Prinzessin recht wenig Schliff<br />

besaß und das Hofzeremoniell kaum<br />

beherrschte. Augustas Versuchen, Vicky<br />

nach ihren Vorstellungen zu formen,<br />

widersetzte sich die junge Frau aber<br />

heftig. Sie empfand die von Augusta sehr<br />

geliebten und häufig veranstalteten Di-<br />

ners, bei denen der Hofstaat nachmittags<br />

um vier Uhr in voller Abendtoilette erschei-<br />

nen mußte, und die anschließenden Bälle<br />

als "geistlos und öde", zumal sie kein<br />

Nachtmensch war und immer mit dem<br />

Einschlafen kämpfen mußte. Dazu kam,<br />

dass sie in den Jahren von 1859 bis 1872<br />

acht Kinder zur Welt brachte, was aber<br />

keineswegs bedeutete, dass sie während<br />

ihrer Schwangerschaften von den höfi-<br />

47


schen Verpflichtungen befreit gewesen<br />

wäre.<br />

Vickys Ideal war ein zwangloses<br />

Familienleben auf dem Lande, wie sie es<br />

aus ihrem Elternhaus gewohnt war. Ihrer<br />

Mutter schrieb sie über das "Käfigleben"<br />

am Berliner Hof: "Aus Vergnügen, The-<br />

ater, Gesellschaften etc. mache ich mir<br />

nichts, hasse und fliehe das alles viel-<br />

mehr. Die frivole, nutzlose Existenz, die<br />

man hier führt, in ihrer tötenden Mono-<br />

tonie, finde ich geradezu vernichtend für<br />

Geist und Körper." Augusta war als<br />

Weimarer Prinzessin mit liberalen<br />

Vorstellungen aufgewachsen und hatte die<br />

Heirat zwischen Vicky und Fritz sehr<br />

protegiert, weil sie sich in ihrer<br />

Schwiegertochter eine Mitstreiterin erhoff-<br />

te. Da sich aber Temperament und Le-<br />

bensweise der Princess Royal so gar nicht<br />

ihren Wünschen anbequemen wollten,<br />

wandelte sich Augustas anfängliche<br />

Sympathie für Vicky in Ablehnung.<br />

Der Widerstreit zwischen ihren<br />

englischen Überzeugungen und den<br />

preußischen Traditionen und Empfind-<br />

lichkeiten sollte Vickys Leben in tragischer<br />

Weise überschatten und beeinflussen, so<br />

auch bei der Geburt des Thronfolgers<br />

Wilhelm am 27. Januar 1859. Deutsche<br />

Ärzte und englische, von der Queen vor-<br />

sichtshalber in das "rückständige Berlin"<br />

geschickt, standen sich bei der Nieder-<br />

kunft der 18-jährigen Prinzessin miss-<br />

trauisch gegenüber. Auch der fort-<br />

schrittlich gesinnte werdende Vater war<br />

anwesend. Wegen der Steißlage des<br />

Kindes brachten die extrem schmerz-<br />

haften Wehen, denen die junge Frau über<br />

viele Stunden ausgesetzt war, keinen<br />

Fortschritt beim Geburtsvorgang.<br />

Die Queen, selbst neunfache<br />

Mutter, hatte sich zeitlebens gegen der<br />

"Weiber Schicksal" empört, immer wieder<br />

"wie Kühe oder Hunde" zu schmerzhaften<br />

Geburten verdammt zu sein. Sie gehörte<br />

zu den ersten Frauen, die sich unter<br />

Chloroform entbinden ließen, und machte<br />

so diese Methode der Schmerzbe-<br />

kämpfung populär. Dementsprechend hat-<br />

te sie ihrem Leibarzt Sir James Clark eine<br />

große Flasche Chloroform nach Berlin<br />

mitgegeben, aber man zögerte lange,<br />

Vicky diese Erleichterung zu gewähren.<br />

Zur Leitung der Entbindung hatte<br />

der König Prof. Dr. Martin, den renom-<br />

miertesten Frauenarzt Berlins, bestimmt.<br />

Weil ein Diener die Nachricht an Professor<br />

Martin, dass er sofort im Palast erscheinen<br />

möge, nicht persönlich überbracht, son-<br />

dern der Post anvertraut hatte, kam Martin<br />

mit zehnstündiger Verspätung zu der<br />

Niederkunft, zu einem Zeitpunkt, als kaum<br />

jemand noch an das Überleben von Mutter<br />

und Kind glaubte. Martin wagte den<br />

rettenden Eingriff, das Kind im Mutterleib<br />

zu drehen und auf die Welt zu holen. Bei<br />

diesen Manipulationen wurde das Nerven-<br />

geflecht der linken Schulter so nachhaltig<br />

beschädigt, dass der linke Arm auf Dauer<br />

gelähmt und 15 cm kürzer blieb als der<br />

rechte. Vicky empfand zunächst das<br />

48


Hochgefühl, ihre erste Pflicht als Lan-<br />

desmutter erfüllt und die Thronfolge<br />

gesichert zu haben. Bald aber wandelte<br />

sich ihre Freude in Beschämung und<br />

Schuldbewusstsein. Dass ihr Sohn nicht<br />

vollkommen war. empfand sie als per-<br />

sönliches Versagen. Wie sollte ein<br />

Behinderter in Preußen regieren, wo die<br />

Könige Offiziere waren und sich ihrem<br />

Volk hoch zu Roß als Heerführer zeigten?<br />

Wilhelm wurde zum Sorgenkind, er, auf<br />

dem so viele Hoffnungen ruhten. Genau<br />

wie seiner Mutter war auch Wilhelm<br />

bereits eine Rolle in dem großen Plan<br />

zugedacht, den Prinzgemahl Albert mit<br />

anderen Angehörigen des Hauses Coburg<br />

für Deutschland und Europa entwickelt<br />

hatte, dem Coburger Plan. Die nationale<br />

Einigung Deutschlands unter Führung<br />

Preußens, die in den Kämpfen der 48er-<br />

Revolution nicht gelungen war, aber<br />

weiterhin als große Aufgabe dem 19.<br />

Jahrhundert gestellt blieb, hoffte man auf<br />

unblutigem Wege zu erreichen.<br />

Voraussetzung dafür war die<br />

Umwandlung Preußens, dem sein König<br />

Ende 1848 eine Verfassung ohne<br />

angemessene Volksvertretung aufoktro-<br />

yiert hatte, in eine konstitutionelle Monar-<br />

chie nach englischem Muster. Wenn die<br />

liberalen Kräfte sich durchsetzen könnten,<br />

würde Preußen "moralische Eroberungen<br />

in Deutschland machen", als deutsche<br />

Vormacht eine unwiderstehliche Anzie-<br />

hungskraft auf die kleineren Staaten<br />

ausüben und so die Vereinigung auf der<br />

Grundlage einer liberalfortschrittlichen<br />

Gesinnung möglich werden. Eine Allianz<br />

der beiden germanischen Völker England<br />

und Deutschland sollte dann dem Frieden<br />

in Europa eine sichere Grundlage geben.<br />

Die Eheschließung zwischen Vicky und<br />

Fritz schien schon ein Meilenstein auf<br />

diesem Wege, zeigte sich der preußische<br />

Thronfolger doch als Mann von liberaler<br />

Gesinnung. Die junge Frau an seiner Seite<br />

sollte ihn in seinen Bestrebungen unter-<br />

stützen, die Wende in der preußischen<br />

Politik mit herbeiführen und ihren ältesten<br />

Sohn im Sinne des Coburger Planes<br />

erziehen.<br />

49


Wäre Fritz im Jahre 1862, als sein<br />

Vater an Abdankung dachte, Vickys Rat<br />

gefolgt und hätte nach der Krone<br />

gegriffen, so hätte der Coburger Plan eine<br />

Chance gehabt, verwirklicht zu werden.<br />

Statt dessen wurde Bismarck, Gegner aller<br />

liberalen Bestrebungen, preußischer<br />

Ministerpräsident. In Victoria sah er die<br />

"englische Spionin am preußischen Hofe",<br />

die es auszuschalten galt, zumal sie nach<br />

allgemeiner Überzeugung ihren Fritz völlig<br />

beherrschte. Erbarmungslos machte Bis-<br />

marck sie zur Zielscheibe seiner Intrigen<br />

und Verleumdungen und zusammen mit<br />

ihrem Mann zum Opfer seiner Ausgren-<br />

zungspolitik. Doch das Kronprinzenpaar<br />

blickte noch voll Hoffnung in die Zukunft.<br />

Vickys großes Ziel war es, ihren Sohn auf<br />

seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Sie<br />

konfrontierte Wilhelm, der als Kind viele<br />

schmerzhafte Prozeduren zur Behandlung<br />

seines Armes über sich hatte ergehen<br />

lassen müssen, als Jugendlichen mit den<br />

höchsten Anforderungen. Wenn sie ihm<br />

auch in Briefen an ihre Mutter voll<br />

Bitterkeit jede Begabung und alle guten<br />

Charaktereigenschaften absprach, so ver-<br />

suchte sie diese Mängel durch immer<br />

neue Anregungen zu kompensieren, wel-<br />

che dickleibigen Wälzer er neben seinem<br />

12-Stundentag als Schüler lesen, wie er<br />

sich in den Fremdsprachen vervollkom-<br />

mnen, wie viele Briefe er ihr schreiben<br />

sollte. Das Ende vom Lied war, dass der<br />

ursprünglich zärtliche Sohn, der davon<br />

träumte, mit seiner Mutter auszufahren<br />

und ihre schönen Hände zu küssen, mit<br />

Ablehnung auf ihre Ansprüche reagierte<br />

und ins Lager der Gegner seiner Eltern<br />

hinüber gezogen wurde.<br />

Zu diesen Gegnern zählten in<br />

erster Linie Bismarck, der mächtigste<br />

Mann in Preußen, mit seinen Partei-<br />

gängern, später auch Wilhelm I. und seine<br />

Gemahlin Augusta. Sie erblickten in den<br />

liberalen Auffassungen des Kronprin-<br />

zenpaares eine große Gefahr für den<br />

preußischen Staat. Man ging so weit, auf<br />

einen Ausschluß Friedrichs von der<br />

Thronfolge hinzuarbeiten. Bismarck be-<br />

gann schon frühzeitig, das Ansehen von<br />

Fritz und Vicky systematisch zu unter-<br />

graben und dafür zu sorgen, dass ihre<br />

50


Verdienste, z.B. Friedrichs überragende<br />

Erfolge als Heerführer in den Kriegen<br />

gegen Dänemark, Österreich und Frank-<br />

reich, niemals die gebührende Würdigung<br />

fanden. Ebenso erging es Vicky, die sich<br />

um die Einrichtung von Lazaretten und<br />

gute Pflege für die Verwundeten geküm-<br />

mert hatte.<br />

Schließlich hat das Schicksal im<br />

Sinne der Konservativen eingegriffen . Als<br />

Fritz nach 3O jähriger Wartezeit an den<br />

Stufen des Thrones im März 1888 Kaiser<br />

wurde, war er an Kehlkopfkrebs auf den<br />

Tod erkrankt und hatte nur noch 99 Tage<br />

zu regieren. Das Leiden des Kronprinzen<br />

hatte wieder zu einem Medizinerstreit<br />

geführt. Während die deutschen Ärzte<br />

frühzeitig die Diagnose "Krebs" stellten,<br />

zog Vicky den englischen Spezialisten<br />

Mackenzie heran. Dieser glaubte, das<br />

Übel durch Aufenthalt in guter Luft<br />

bekämpfen zu können. Als seine Diagnose<br />

sich als falsch erwies, war es zu spät für<br />

eine Operation, was wiederum Victoria<br />

angelastet wurde.<br />

Für die Brutalität, mit der der<br />

Kampf gegen Fritz und Vicky geführt<br />

wurde, nur zwei Beispiele: Noch zu<br />

Lebzeiten des alten Kaisers wurden dem<br />

schwer kranken Fritz bestimmte königliche<br />

Entscheidungsrechte entzogen und auf<br />

seinen Sohn übertragen, was einer Vor-<br />

wegnahme seines Todes gleichkam.<br />

Kaum hatte Friedrich III: am 15. Juni 1888<br />

im Neuen Palais in Potsdam die Augen für<br />

immer geschlossen, besetzte und durch-<br />

suchte auf Befehl des neuen Kaisers<br />

Wilhelm II. eine Abteilung Bewaffneter das<br />

Schloss, um zu verhindern, dass wichtige<br />

Dokumente nach England geschafft<br />

werden könnten. Vicky hatte allerdings<br />

vorgesorgt und schon im Mai die Tage-<br />

bücher ihres Mannes nach England<br />

schmuggeln lassen.<br />

Für Victoria bedeutete der Tod des<br />

geliebten Gatten das jähe Ende ihres<br />

Einflusses und ihrer Hoffnungen, politisch<br />

wirken zu können. Nach dem Tod der<br />

Kaiserin Augusta im Januar 1890 hatte<br />

Vicky damit gerechnet, deren Rolle als<br />

Schutzherrin des Roten Kreuzes und der<br />

Vaterländischen Frauenvereine zu über-<br />

nehmen; Wilhelm II. aber überging seine<br />

Mutter und übertrug diese Aufgabe seiner<br />

jungen Frau. Außerdem verlangte er, dass<br />

Victoria das Neue Palais verlassen sollte.<br />

Nach langem Suchen errichtete sich die<br />

Kaiserin Friedrich, wie sie sich jetzt nann-<br />

te, ihren Witwensitz in Kronberg im Tau-<br />

nus, wo Schloss Friedrichshof, heute<br />

Schlosshotel, noch in seiner ursprüng-<br />

lichen Einrichtung zu besichtigen ist. Zu<br />

der architektonischen Gestaltung des<br />

Gebäudes und der Ausschmückung der<br />

Räume trug Victoria dank ihrer künst-<br />

lerischen Begabung und ihres erlesenen<br />

Geschmacks Entscheidendes bei. Sie rich-<br />

tete sich ein Atelier ein, wo sie als<br />

leidenschaftliche und sehr talentierte<br />

Malerin ihrer Lieblingsbeschäftigung nach-<br />

ging. Auch wurde ihr die Genugtuung,<br />

dass sie in dem begrenzten Umfeld der<br />

kleinen Taunusgemeinde viel von dem auf<br />

51


den Weg bringen konnte, was ihr immer<br />

als Verbesserungen in den Bereichen<br />

Bildung, Kultur, Hygiene und Kranken-<br />

pflege am Herzen gelegen hatte. Das<br />

Victoria-Pensionat und eine Schule der<br />

englischen Fräulein wurden gegründet, die<br />

Volks-Bibliothek, die Kronberger Maler-<br />

kolonie entstanden, Elektrifizierung, Was-<br />

serversorgung und Kanalisation wurden<br />

durch den Bau des Schlosses voran-<br />

getrieben, die medizinische Versorgung<br />

durch den Einsatz von Victoria-<br />

Schwestern und ein Krankenhausprojekt<br />

verbessert. Reiche Frankfurter Familien<br />

siedelten sich an und begründeten damit<br />

die heutige Qualität des Ortes als Promi-<br />

nentenquartier. Zahlreiche Berühmtheiten,<br />

vor allem auch die eigenen Kinder mit<br />

ihren Familien genossen die Gastfreund-<br />

schaft der Kaiserin Friedrich. Auch<br />

Wilhelm II. näherte sich der Mutter wieder<br />

und erschien dann und wann zu Besuch.<br />

Am 5. August 1901 ist die Kaiserin<br />

Friedrich in Kronberg gestorben. In ihrem<br />

Nachruf bezeichnete Helene Lange sie als<br />

"die erste Fürstin, die ihren vollen Einfluss<br />

für die Frauenbewegung einsetzte, zu<br />

einer Zeit, in der die Acht weiter Kreise<br />

noch schwer auf ihr lastete."<br />

Es ist schwierig, den Ursprung der<br />

deutschen Frauenbewegung auf ein<br />

bestimmtes Jahr zu fixieren. Als beim<br />

Übergang von der handwerklichen zur<br />

maschinellen Produktion in den vom<br />

Textilgewerbe abhängigen Regionen<br />

schwere Notzeiten anbrachen, waren auch<br />

die Frauen betroffen, die sich bislang<br />

durch Spinnen, Weben, Stricken, Sticken<br />

und Klöppeln einen bescheidenen Ver-<br />

dienst hatten erarbeiten können. Am<br />

bekanntesten wurde der Aufstand der<br />

schlesischen Weber im Jahre 1844, der für<br />

viele andere Notlagen stellvertretend<br />

steht. Die Niederschlagung dieser<br />

Hungerrevolte durch preußisches Militär<br />

empörte schon die Zeitgenossen und<br />

wurde in der Presse kritisch kommentiert.<br />

Dabei lenkte die aus bürgerlichen Kreisen<br />

stammende Schriftstellerin Louise Otto die<br />

Aufmerksamkeit auf das Los der freige-<br />

52


setzten Arbeiterinnen, die sich und ihre<br />

Kinder nicht mehr ernähren konnten.<br />

Das soziale Engagement, der<br />

Kampf um das "Recht der Frauen auf<br />

Erwerb" war eine der Wurzeln der<br />

deutschen Frauenbewegung, die durch die<br />

48er Revolution einen gewaltigen Auf-<br />

schwung nahm. Frauen auf den Barri-<br />

kaden, Freischärlerinnen hoch zu Ross mit<br />

der Pistole im Gürtel erregten viel<br />

Aufsehen, waren aber doch nur einzelne.<br />

In vielen Städten entstanden 1848 Frau-<br />

envereine, die die Männer in ihrem Kampf<br />

unterstützten; in Frauenzeitungen wurde<br />

das revolutionäre Gedankengut verbreitet.<br />

Die bedeutendste, von Louise Otto<br />

redigierte, erschien unter dem Motto:<br />

"Dem Reich der Freiheit werb ich<br />

Bürgerinnen!" Aus den Zuschriften der<br />

Leserinnen lässt sich noch heute das<br />

ausgedehnte Netzwerk der Frauenini-<br />

tiativen rekonstruieren. Neben den<br />

politisch ausgerichteten demokratischen<br />

Vereinen gab es solche, die sich für<br />

Frauenbildung einsetzten oder für eine<br />

Assoziation der Arbeiterinnen. All diese<br />

Bestrebungen fielen ab 1849/50 der<br />

Reaktion zum Opfer wie auch die Zeitung<br />

von Louise Otto. Um dieses gefährliche<br />

Presseorgan auszuschalten, wurde eigens<br />

die sogenannte "Lex Otto" erlassen,<br />

wonach Frauen Zeitschriften nicht mehr<br />

verantwortlich redigieren durften. Noch<br />

härter traf die Frauen das Verbot, sich in<br />

politischen Vereinen zu organisieren, ja<br />

sogar die Anwesenheit von "Frauens-<br />

personen, Schülern und Lehrlingen" bei<br />

politischen Veranstaltungen war nicht<br />

mehr erlaubt und bildete einen Grund zur<br />

Auflösung der Versammlung.<br />

Als die Frauen nach Lockerung der<br />

reaktionären Verbote vorsichtig begannen,<br />

sich neu zu organisieren, war Victoria<br />

bereits Kronprinzessin in Preußen. Im<br />

Oktober 1865 hatte der "Leipziger Frauen-<br />

bildungsverein", dem auch Louise Otto<br />

angehörte, zu einer Frauenkonferenz ein-<br />

geladen, auf der die Gründung des<br />

"Allgemeinen Deutschen Frauenvereins"<br />

(ADF) beschlossen wurde. Dieses Ereignis<br />

steht am Beginn der organisierten deut-<br />

schen Frauenbewegung.<br />

Bemerkenswert ist, dass Louise<br />

Otto einen der eingeladenen, den Frauen-<br />

bestrebungen wohlwollend gegenüber-<br />

stehenden Herrn bat, die Konferenz zu<br />

eröffnen. Der lehnte ab mit der Begrün-<br />

dung, dass die Frauen ihre Sache selber<br />

führen müssten, sonst sei sie von vorn-<br />

herein verloren. Wenn es damals auch<br />

große Überwindung kostete, als Frau in<br />

der Öffentlichkeit zu sprechen, so man-<br />

gelte es Louise Otto sicher nicht an dem<br />

nötigen Mut; sie wußte aber, dass sie<br />

keine gute Rhetorikerin war und deshalb<br />

der Sache schaden könnte. An ihre Stelle<br />

trat als "zündende Rednerin", wie sie<br />

allgemein eingeschätzt wurde, in Zukunft<br />

Auguste Schmidt, Freundin von Louise<br />

Otto, mit der gemeinsam sie die Vereins-<br />

zeitschrift "Neue Bahnen" herausgab.<br />

53


Der Grundsatz: "Alles für die<br />

Frauen durch die Frauen" fand in den<br />

Statuten des ADF den Niederschlag, dass<br />

nur Frauen und Mädchen dem Verein<br />

beitreten konnten, Männer aber nur als<br />

Ehrenmitglieder mit beratender Stimme<br />

geduldet waren. Dies war ein revolutionär<br />

feministischer Ansatz in einer Zeit, als die<br />

Vorstände von Frauenvereinen aus Män-<br />

nern zu bestehen pflegten. Der Aus-<br />

schluss von Männern aus dem ADF ging<br />

vielen Frauen zu weit und wurde auch von<br />

den liberal gesinnten Kreisen abgelehnt.<br />

Doch Louise Otto beharrte auf dem<br />

emanzipatorischen Grundsatz der weibli-<br />

chen Selbsthilfe.<br />

Als Vereinszweck wurde die<br />

Förderung der Bildung von Frauen und die<br />

Durchsetzung ihres Rechts auf Erwerb<br />

proklamiert. Alle Hindernisse, die der<br />

weiblichen Arbeit im Wege standen,<br />

sollten beseitigt werden. Dabei war vor al-<br />

lem an Frauen aus dem bürgerlichen<br />

Mittelstand gedacht, für die es an standes-<br />

gemäßen Verdienstmöglichkeiten man-<br />

gelte, während die Proletarierinnen ohne<br />

ideologische Hürden jede noch so<br />

schwere, schmutzige oder gar sittlich<br />

anrüchige Arbeit annehmen konnten bzw.<br />

mussten. Louise Otto lag es am Herzen,<br />

auch die Arbeiterinnen in den ADF<br />

einzubeziehen, aber die proletarischen<br />

Frauen schufen sich bald ihre eigenen<br />

Organisationen und formierten sich zur<br />

sogenannten proletarischen Frauenbe-<br />

wegung, die uns im Zusammenhang mit<br />

der Kronprinzessin und späteren Kaiserin<br />

nicht zu interessieren braucht.<br />

Berufsmöglichkeiten für die Töchter<br />

des Mittelstandes zu schaffen, war auch<br />

das Ziel des im Jahre 1866 in Berlin<br />

gegründeten "Vereins zur Förderung der<br />

Erwerbsfähigkeit des weiblichen Ge-<br />

schlechts", des nach seinem Initiator<br />

benannten "Lette-Vereins". Unumwunden<br />

bekannte Lette: "Was wir nicht wollen und<br />

niemals, auch nicht in noch so fernen<br />

Jahrhunderten wünschen und bezwecken,<br />

ist die politische Emanzipation und<br />

Gleichberechtigung der Frauen." Wer das<br />

anstrebe, setze sich in Widerspruch mit<br />

den 1.OOO-jährigen Einrichtungen aller<br />

Staaten, mit der "Natur und Bestimmung<br />

des Weibes und mit der göttlichen<br />

Weltordnung. Der alte Satz: "Das Weib<br />

schweige in der Gemeinde", gelte für alle<br />

Zeiten, auch in der Politik.<br />

Das Angebot von qualifizierten<br />

Ausbildungsgängen für seine Töchter<br />

entsprach den Wünschen des liberalen<br />

Bürgertums. Schon in der konstituierenden<br />

Sitzung des Vereins erklärten 300 Berliner<br />

Honoratioren ihren Beitritt. Sie befanden<br />

sich in höchster Gesellschaft: Kronprin-<br />

zessin Victoria übernahm das Protektorat,<br />

und auch der Kronprinz fühlte sich dem<br />

Verein eng verbunden, was zu dessen<br />

Attraktivität sehr beitrug. Er wurde von den<br />

zahlungskräftigen Mitgliedern, auch von<br />

Victoria selbst, finanziell gut ausgestattet.<br />

Die Leitung hatte ein Ausschuss von 20<br />

54


Männern, die fünf Frauen in den<br />

Ausschuss hinzuwählen konnten. "Der<br />

Lette-Verein war ein von Männern<br />

initiierter und verwalteter Verein zum<br />

Wohle der Frauen, wobei die Männer<br />

bestimmten, worin das Wohl der Frauen<br />

bestand," so das Fazit von Ute Gerhard.<br />

Überdies ging es nur um das Wohl der<br />

Frauen aus den gehobenen Ständen.<br />

Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen auf<br />

dem Lande und Dienstboten waren, im<br />

Unterschied zum ADF, ausdrücklich vom<br />

Vereinszweck ausgenommen. Als Vorbild<br />

diente die "Society for employment of<br />

women", die Lette bei seinen Erkun-<br />

dungsreisen in England kennengelernt<br />

hatte. Im Lette-Verein betrachtete man die<br />

Frauenfrage nur als "Brotfrage", die durch<br />

Bereitstellung von Erwerbsmöglichkeiten<br />

gelöst werden konnte. Damit sollte auch<br />

weitergehenden Emanzipationswünschen<br />

der Frauen die Spitze abgebrochen<br />

werden. (Trotz allem sei Herrn Lette Dank:<br />

Wir sitzen hier in den Räumen des<br />

Frauen-Erwerbs- und Ausbildungsvereins,<br />

der unter dem Namen "Verein zur<br />

Erweiterung des weiblichen Arbeitsge-<br />

bietes" 1867 nach dem Vorbild des Lette-<br />

Vereins in Bremen gegründet wurde. Er<br />

kann heute auf das stolze Alter von 135<br />

Jahren zurückblicken.) Der ADF betonte<br />

im Gegensatz zu Lette die weit über die<br />

Sicherung des Unterhalts hinausgehenden<br />

Ziele der Frauenemanzipation, ihre ideale<br />

Seite, wonach die Frauen sich nicht nur<br />

beruflich ausbilden, sondern all ihre Kräfte<br />

entwickeln sollten, um für die "Kultur-<br />

aufgabe der Frau", ihr einflußreiches<br />

Wirken in der Öffentlichkeit, gerüstet zu<br />

sein.<br />

Doch die Kriege gegen Dänemark,<br />

Österreich und Frankreich mobilisierten<br />

die Frauen in anderer Weise. Königin<br />

Augusta von Preußen gründete 1866 den<br />

ersten Vaterländischen Frauenverein, der<br />

es sich zur Aufgabe machte, die Pflege in<br />

den Lazaretten zu verbessern, Verbands-<br />

material herzustellen und andere Hilfs-<br />

dienste für das Heer zu leisten. Innerhalb<br />

von drei Jahren wuchs die Zahl der<br />

Vaterländischen Frauenvereine auf nahe-<br />

zu 300, die sich dann unter dem Zeichen<br />

des Roten Kreuzes zusammenschlossen.<br />

In den Vorständen saßen vorwiegend<br />

Männer, und zwar hohe Offiziere und<br />

Regierungsbeamte; die Damen waren von<br />

Adel. Im Kriegsfall übernahm die Ge-<br />

neralität die Leitung. Die Aufgaben und<br />

Anforderungen, die der Krieg an die Für-<br />

stinnen stellte, sprachen Vicky unmittelbar<br />

an, war England doch berühmt für seine<br />

tüchtigen, von Florence Nightingale<br />

geschulten Krankenschwestern. Englische<br />

Hygienevorschriften, die an erster Stelle<br />

das Erfordernis nach frischer Luft<br />

umfassten, wollte Vicky in den deutschen<br />

Lazaretten einführen, womit sie aber bei<br />

ihrer Schwiegermutter auf Ablehnung<br />

stieß. Vicky verließ deshalb Berlin und<br />

baute in Bad Homburg ein Musterlazarett<br />

nach ihren Vorstellungen auf. Zusammen<br />

mit ihrer Schwester Alice, die den Groß-<br />

herzog von Hessen und bei Rhein<br />

55


geheiratet hatte und in Darmstadt<br />

residierte, leistete die Kronprinzessin<br />

wertvolle organisatorische Arbeit. Da sie<br />

aber den König nicht um Erlaubnis gefragt<br />

hatte, ob sie Berlin mit ihren Kindern<br />

verlassen dürfe, wurde sie in rauem Ton<br />

zurückbefohlen.<br />

Die Vaterländischen Frauenvereine<br />

werden nicht zur Frauenbewegung ge-<br />

rechnet, im Gegenteil, sie gruben den<br />

emanzipatorischen Bestrebungen für eine<br />

geraume Zeit das Wasser ab. Mit patri-<br />

otischer Begeisterung, als 1871 mit der<br />

Reichsgründung die Einigung Deutsch-<br />

lands endlich vollzogen war, ist es zu<br />

erklären, dass die Vaterländischen Frau-<br />

envereine bald 12mal so viele Mitglieder<br />

zählten wie die Ortsgruppen des ADF.<br />

Auch Victoria, die im Grunde ihres Her-<br />

zens den Krieg verabscheute, hat sich von<br />

den militärischen Erfolgen, die zum Teil<br />

auch ihrem Fritz zu verdanken waren,<br />

umstimmen lassen. Sie war vielleicht nie<br />

so sehr Preußin wie zur Zeit des 70er-<br />

Krieges, vollendete sich doch jetzt der<br />

Coburger Plan, der politische Auftrag, mit<br />

dem sie nach Preußen gekommen war,<br />

wenn auch unter anderen Vorzeichen.<br />

Dass Deutschlands Einigung durch<br />

"Eisen und Blut" erreicht worden war und<br />

Deutschlands Größe auf seinem Militär-<br />

apparat basierte, beeinflusste auch die<br />

deutsche Frauenbewegung. Als sich aus<br />

der Schweiz die Frauengruppe der<br />

"Internationalen Friedens- und Freiheits-<br />

liga" mit einer Friedensbotschaft an die<br />

deutschen und französischen Frauen<br />

wandte, wurde diese Adresse nicht nur<br />

vom Lette-Verein, sondern auch vom ADF<br />

abgelehnt. Louise Otto hatte im Jahre<br />

1870 den barbarischen Kulturzustand, in<br />

dem Kriege noch möglich seien, beklagt<br />

und darauf zurückgeführt, dass den<br />

Frauen zu wenig Einfluss im öffentlichen<br />

Leben zugestanden werde. Sie forderte<br />

einmal mehr gleiche Rechte für alle, auch<br />

wenn die Frauen keinen Kriegsdienst<br />

leisteten. Solche Auffassungen und pol-<br />

itischen Forderungen wurden aber auch<br />

im ADF immer weiter in den Hintergrund<br />

gedrängt. Die Verbesserung der Mäd-<br />

chenbildung wurde nun zum Hauptan-<br />

liegen der bürgerlichen Frauenbewegung.<br />

Die Mädchenbildung lag im 19.<br />

Jahrhundert noch sehr im Argen, und<br />

wenn wir von der Situation in Bremen<br />

ausgehen, so können wir sie als kata-<br />

strophal bezeichnen. Erst 1844 war hier<br />

die allgemeine Schulpflicht eingeführt<br />

worden, und die Zustände an den 20<br />

städtischen und kirchlichen Schulen bilde-<br />

ten einen Hauptbeschwerdepunkt in der<br />

48er-Revolution. Daneben bestanden 80<br />

private Anstalten, viele davon winzige<br />

Winkelschulen. Die Mädchenbildung, so-<br />

weit sie über den Elementarunterricht<br />

hinausging, war nur privat organisiert. Um<br />

1848 gab es in Bremen 13 private Schulen<br />

für Töchter, an deren Spitze Frauen<br />

standen. Ein Seminar zur Ausbildung von<br />

Lehrern war 1810 gegründet worden, zu<br />

dem Mädchen jedoch nicht zugelassen<br />

56


waren. Junge Frauen, die den Beruf der<br />

Lehrerin ergreifen wollten, konnten sich<br />

zwar an dieser Anstalt prüfen lassen; aber<br />

für sie bestand die doppelte Benach-<br />

teiligung, dass sie weder eine geregelte<br />

Schulbildung genießen noch sich in einem<br />

zielgerichteten Lehrgang auf ihr Amt vor-<br />

bereiten konnten, so dass das Bestehen<br />

des Examens fast einem Glücksspiel<br />

gleichkam.<br />

Im Jahre 1859 wurde August<br />

Kippenberg aufgefordert. Seminarkurse für<br />

angehende Lehrerinnen anzubieten. Aus<br />

diesen Anfängen entwickelte sich die 1870<br />

eröffnete "Höhere Mädchenschule von A.<br />

Kippenberg". Sie umfasste neun Jahr-<br />

gänge von den Sechs- bis zu den 15-<br />

jährigen. Danach war die Weiterbildung<br />

zur Lehrerin auf dem Seminar möglich.<br />

Unterrichtet wurde in 16 Fächern, wobei<br />

die Naturwissenschaften etwas stief-<br />

mütterlich behandelt wurden. Angestrebt<br />

war eine lebensnahe Bildung und eine<br />

gründliche Vorbereitung für den "weib-<br />

lichen Beruf“, womit die Aufgaben der<br />

Mutter und Gattin gemeint waren.<br />

Etwa 30 Lehrkräfte, vorwiegend<br />

Frauen, arbeiteten an der Schule. Am<br />

Seminar aber, also auf der Oberstufe,<br />

unterrichteten fast nur Männer, die<br />

hauptamtlich an Knabenschulen angestellt<br />

waren, unter ihnen einige mit aka-<br />

demischer Bildung. Vergleichbare Ver-<br />

hältnisse gab es auch in den anderen<br />

deutschen Ländern. Die an Mädchen-<br />

schulen unterrichtenden Herren schlossen<br />

sich in einem Verband zusammen, denn<br />

sie waren an einer Absicherung ihrer<br />

Stellung interessiert. 1762 hatte Rousseau<br />

postuliert, dass die Erziehung der Frauen<br />

ganz im Hinblick auf die Männer ge-<br />

schehen müsse, denn, so seine Begrün-<br />

dung, die Frau sei eigens geschaffen, um<br />

dem Manne zu gefallen. Noch über 100<br />

Jahre später äußerte sich 1872 eine in<br />

Weimar tagende Versammlung von<br />

Mädchenschullehrern im Rousseauschen<br />

Sinne mit dem Satz, der inzwischen eine<br />

traurige Berühmtheit erlangt hat: "Es gilt,<br />

dem Weibe eine der Geistesbildung des<br />

Mannes in der Allgemeinheit der Art und<br />

der Interessen ebenbürtige Bildung zu<br />

ermöglichen, damit der deutsche Mann<br />

nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und<br />

Engherzigkeit seiner Frau an dem<br />

häuslichen Herde gelangweilt und in<br />

seiner Hingabe an höhere Interessen<br />

gelähmt werde."<br />

Doch als die Mädchenschullehrer<br />

1876 erneut in Köln zusammenkamen,<br />

stand im Mittelpunkt der Debatte die von<br />

August Kippenberg vertretene These,<br />

dass die Mitwirkung von wissenschaft-<br />

lichen Lehrerinnen auf der Oberstufe der<br />

Mädchenschulen "unentbehrlich" sei. Da-<br />

mit griff er eine Forderung der Frauen-<br />

bewegung auf, die den Grundsatz vertrat:<br />

"Frauen sollen durch Frauen erzogen<br />

werden." Voraussetzung eines solchen<br />

Einsatzes von Lehrerinnen auf der<br />

Oberstufe war, ihnen den Weg in eine<br />

reguläre Ausbildung von Staats wegen zu<br />

eröffnen. Kippenbergs Vorstoß fand wenig<br />

57


Gegenliebe; das "unentbehrlich" wurde zu<br />

einem "wünschenswert" verwässert.<br />

Es sollte noch elf Jahre dauern, bis<br />

eine entsprechende Petition an das<br />

Preußische Kultusministerium und das<br />

Abgeordnetenhaus eingereicht wurde,<br />

flankiert durch die berühmte "Gelbe<br />

Broschüre" der engagierten Lehrerin<br />

Helene Lange, in der sie die ganze Misere<br />

des Mädchenschulwesens in Deutschland<br />

dargestellt hatte. Diese Broschüre löste<br />

einen Sturm der Entrüstung aus, nicht<br />

über die geschilderten Zustände, sondern<br />

über die bildungspolitischen Forderungen<br />

der Frauen, hinter denen man eine Um-<br />

wälzung der gesellschaftlichen Ordnung<br />

witterte. Langfristig ging es um eine<br />

geregelte Vorbereitung auf das Abitur und<br />

um die Zulassung von Frauen zum<br />

Studium auch an deutschen Universitäten,<br />

nachdem die deutschen Studentinnen<br />

jahrelang hatten nach Zürich ausweichen<br />

müssen.<br />

Die Frauenbewegung hatte schon<br />

in der 48er-Revolution die Förderung der<br />

Volksbildung auf ihre Fahnen geschrieben.<br />

In den patriotischen 70er Jahren war<br />

dieses Ziel etwas in den Hintergrund<br />

getreten, und erst Ende der 80er Jahre<br />

erstarkte die Bewegung wieder. Im Sinne<br />

ihrer Kulturaufgabe sollten Frauen in allen<br />

Bildungsinstitutionen, angefangen bei den<br />

Fröbelschen Kindergärten, und nach den<br />

Vorstellungen von Kronprinzessin Victoria<br />

auch in den Kadettenanstalten, tätig sein<br />

und sie als Lehrerinnen mit ihrer "geistigen<br />

Mütterlichkeit" durchdringen.<br />

Das Bildungsthema war Vicky auf<br />

den Leib geschneidert, war doch ihr<br />

eigenes Leben so ganz auf das Erwerben<br />

von Bildung ausgerichtet. Hier konnte sie<br />

wieder einmal auf ihr Heimatland als<br />

Vorbild verweisen, wo eine breite<br />

Volksbildungsbewegung, die sogenannte<br />

"adult education" zur Harmonisierung der<br />

Klassengegensätze beitrug. Auch die<br />

Forderungen von Frauenrechtlerinnen<br />

nach höherer Bildung und Univer-<br />

sitätsstudium waren aufgegriffen worden,<br />

hatten zur Entstehung von High Schools<br />

für Mädchen und in den 70er Jahren zur<br />

Gründung der drei Ladies' Colleges<br />

Newnham, Girton und Holloway geführt,<br />

die Studienmöglichkeiten für Frauen<br />

anboten und "selbstverständlich" unter<br />

weiblicher Leitung standen. Große<br />

Hoffnungen verknüpften sich bei den<br />

Vorkämpferinnen der Frauenbildung in<br />

Berlin mit dem öffentlichen Eintreten des<br />

Kronprinzenpaares für ihre Ziele. Doch<br />

endete Vickys kurze Regierungszeit schon<br />

wieder, als die Frauenbildungsbewegung<br />

in ihre erfolgreichste Phase eintrat.<br />

Welche Möglichkeiten der Einfluss-<br />

nahme hatte die Kronprinzessin? Wenn<br />

sie das Protektorat für eine Schule oder<br />

für einen Verein übernahm, so bedeutete<br />

das eine große gesellschaftliche Auf-<br />

wertung und war mit namhaften<br />

Geldspenden aus ihrer Privatschatulle<br />

58


verknüpft, was weitere Geldspenden nach<br />

sich zog. Vicky hat fast alle Frauen-<br />

initiativen in Berlin unterstützt. In einem<br />

Brief an ihren Sohn Wilhelm entwickelte<br />

sie 1879 ihre Pläne: Verbesserung von<br />

Schulen, Krankenhäusern und Wohnun-<br />

gen der Armen, Museen und Akademien<br />

gründen, Förderung der Kunst und der<br />

Künstler, Berlin durch Parks, Gärten und<br />

Plätze attraktiv gestalten, Kirchen und den<br />

Kirchengesang verschönern. Ein solches<br />

Engagement war für eine Fürstin im 19.<br />

Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Wodurch<br />

das Kronprinzenpaar aber hervorstach,<br />

das war sein unerschrockenes Eintreten<br />

für gesellschaftlich geächtete oder wenig<br />

angesehene Gruppen. Zur Zeit von anti-<br />

semitischen Ausschreitungen in Berlin z.B.<br />

besuchten Vicky und Fritz demonstrativ<br />

den Gottesdienst in einer Berliner Syna-<br />

goge, Fritz in voller Uniform. Zu den<br />

Empfängen im Kronprinzenpalais wurden<br />

auch Juden geladen, ebenso wie<br />

Bankiers, Künstler und Gelehrte, die alle<br />

bisher nicht als hoffähig gegolten hatten.<br />

1872 unterstützte das Kronprinzenpaar<br />

eine Petition an den Reichstag, wonach<br />

Frauen zum Dienst bei Post, Telegra-<br />

phenanstalten und Eisenbahn Zugang<br />

finden sollten. Als die "Gelbe Broschüre"<br />

zunächst nur Empörung auslöste, sorgte<br />

Victoria durch ihr öffentlich bekundetes<br />

starkes Interesse dafür, dass die Schrift<br />

wenigstens zur Kenntnis genommen und<br />

beantwortet wurde.<br />

Ohne Vorurteile arbeitete Victoria<br />

in ihrem "Vertrautenkreis" mit bürgerlichen<br />

Frauen zusammen. Zu dieser Runde, in<br />

der viele Projekte vorbesprochen wurden,<br />

gehörten Helene Lange, Minna Cauer,<br />

Henriette Schrader-Breymann, auch eine<br />

<strong>Bremer</strong>in, Hedwig Heyl, geborene Crüse-<br />

mann, Anna Schepeler-Lette und viele<br />

andere, alles Personen, die der bürger-<br />

lichen Frauenbewegung zuzuordnen sind<br />

und zum Teil durch ihre Männer der<br />

besten Berliner Gesellschaft angehörten.<br />

Mit einer Louise Otto sich an einen Tisch<br />

zu setzen, hätte Victoria niemals wagen<br />

können, sie hätte es auch nicht gewollt.<br />

Was hat nun Victoria tatsächlich bewirken<br />

können? Auf ihr Engagement geht die<br />

Gründung des Victoria-Lyzeums in Berlin<br />

zurück, das nach dem Muster von<br />

Newham eingerichtet war.<br />

Victoria schickte Luise Fuhrmann<br />

zu Florence Nightingale, wo diese sich das<br />

Rüstzeug holte, um anschließend deut-<br />

sche Krankenschwestern, die Victoria-<br />

Schwestern, im Sinne Nightingales aus-<br />

zubilden. Bald folgte die Gründung des<br />

Vereins für häusliche Krankenpflege.<br />

1888, während ihrer Regierungszeit,<br />

vermittelte die Kaiserin Helene Lange<br />

einen Studienaufenthalt in England, damit<br />

sie sich einen Begriff von den dortigen<br />

Bildungseinrichtungen machen konnte. Als<br />

Lange zurückkam, trat ihr Victoria tränen-<br />

überströmt als Witwe entgegen mit den<br />

resignierenden Worten: "Ich habe keinen<br />

Einfluss mehr."<br />

59


Hatten die Frauen einst auf aller-<br />

höchste Unterstützung für ihre Pläne<br />

gehofft, so wurde es jetzt geradezu prekär,<br />

sich mit der Kaiserin Friedrich zu<br />

verbünden, der so viel Ablehnung, vor<br />

allem durch den eigenen Sohn, entge-<br />

genschlug. Andererseits war die<br />

Frauenbewegung inzwischen so erstarkt,<br />

dass sie auch ohne Protektion auf ihrem<br />

Wege weitergehen konnte. Victoria blieb<br />

der Bildungsbewegung verbunden. Sie<br />

wohnte persönlich der Eröffnung der "kei-<br />

neswegs hoffähigen" Realkurse für Frauen<br />

bei, die die Bildung der höheren Töchter<br />

auf eine konkrete naturwissenschaftliche<br />

Grundlage stellen sollten; sie sandte ein<br />

Begrüßungstelegramm zur Gründung des<br />

Allgemeinen Deutschen Lehrerin-<br />

nenvereins im Jahre 1890, zu dessen<br />

Zielsetzungen sie sich öffentlich bekannte<br />

- "eine einzigartige Auszeichnung", wie<br />

Helene Lange kommentierte.<br />

Zu der im Oktober 1895 abge-<br />

haltenen Vorstandssitzung des Bundes<br />

deutscher Frauenvereine in Frankfurt am<br />

Main kam Victoria vom nahegelegenen<br />

Kronberg herüber, um teilzunehmen.<br />

Selten ist über eine historische Persön-<br />

lichkeit so widersprüchlich geurteilt worden<br />

wie über Kaiserin Friedrich. "Von der<br />

Parteien Gunst und Hass verwirrt,<br />

schwankt sein Charakterbild in der<br />

Geschichte", sagt Schiller über Wallen-<br />

stein. Das lässt sich auf Victoria über-<br />

tragen. John C. G. Röhl, einer der besten<br />

Kenner des Lebens von Wilhelm II.,<br />

schrieb über Victoria: "Diese liberale,<br />

intelligente, belesene, selbstbewusste,<br />

perfektionistische, leidenschaftliche und<br />

willensstarke Frau bildete das<br />

Kernproblem im Leben des letzten<br />

deutschen Kaisers." Dass die Kaiserin<br />

Friedrich eine hochintelligente und<br />

gebildete Frau war, ein brillanter Geist,<br />

wird niemand bestreiten. Mit dem Selbst-<br />

bewusstsein der Princess Royal machte<br />

sie sich zunächst daran, ihren Mann<br />

politisch zu erziehen. Sie setzte diplo-<br />

matische Kommuniques für ihn auf, die er<br />

abschreiben sollte! An ihrem 6. Hoch-<br />

zeitstag lobte sie ihn: "Welchen Sprung<br />

hast du in diesen sechs Jahren gemacht!"<br />

Sie werde nicht ruhen, bis er für die ganze<br />

Welt ein Muster geworden sei. Friedrich,<br />

der Schwächere in dieser Ehe, akzeptierte<br />

Vickys Belehrungen, war sie ihm doch<br />

eine große Stütze in Zeiten von Hoff-<br />

nungslosigkeit und Depressionen, unter<br />

denen er häufig litt.<br />

Anders aber verhielt sich Sohn<br />

Wilhelm. Als er nach langem Drängen der<br />

Mutter ihr endlich einen Brief geschrieben<br />

hatte, hielt sie ihm vor, dass es nicht<br />

"Meine liebe Mama"; sondern "Meine sehr<br />

liebe Mama" heißen müsse, und auch die<br />

Unterschrift "Dein Dich liebender Sohn"<br />

wurde beanstandet, sie müsse "Dein<br />

gehorsamer Sohn" lauten. Auch Ortho-<br />

graphie und Handschrift genügten ihren<br />

Ansprüchen nicht, Ansprüchen, die sich an<br />

ihrer eigenen Erziehung und an ihren<br />

Fähigkeiten orientierten und ihr ein<br />

60


Verständnis für die Schwächen anderer<br />

unmöglich machten.<br />

Leidenschaftlich war sie von der<br />

Richtigkeit ihrer Überzeugungen erfüllt.<br />

Eine ihrer vertrauten Freundinnen, Marie<br />

von Bunsen, bezeichnete es als die Tragik<br />

von Victorias Schicksal, dass sie<br />

Selbstverschulden niemals einsah. Immer<br />

sei sie für die Benachteiligten eingetreten,<br />

oft aber waren Ort und Zeitpunkt für ihre<br />

Kampagnen schlecht gewählt. Sie habe<br />

mehr Temperament als taktisches Ge-<br />

schick besessen und sich auf viele<br />

Auseinandersetzungen eingelassen, in de-<br />

nen sie unterliegen mußte. Das hätte einer<br />

zukünftigen Kaiserin nicht passieren<br />

dürfen. Sie sei ein Vollblutmensch ge-<br />

wesen, mit Leidenschaft ihre Ansichten<br />

vertretend, mit Erbitterung und Tränen<br />

über das Unrecht klagend. Von schönen,<br />

edlen Grundsätzen ausgehend, habe sie<br />

sich eine Welt erbaut, und was nicht<br />

hineinpasste, schonungslos verworfen.<br />

So stand sie auch in der Gefahr,<br />

sich durch das Eintreten für die bür-<br />

gerlichen Frauen und deren teils vehe-<br />

ment bekämpfte Aktivitäten zu kom-<br />

promittieren. Sie folgte aber auch in<br />

diesem Punkt nur ihrer Überzeugung. Der<br />

liberale Geist, der sie in gleicher Weise<br />

wie die Frauenbewegten erfüllte, machte<br />

sie zu natürlichen Bundesgenossen. Die<br />

Hochschätzung von Bildung und Aus-<br />

bildung war Victoria in Fleisch und Blut<br />

übergegangen. Sie schilderte 1891, wie<br />

sie sich seit Jahren um die Einrichtung<br />

eines Damen- Colleges bemüht habe,<br />

aber Wilhelm II. bezeichne Frauenbildung<br />

als unnötig, und schreibt dann folgendes:<br />

"Wenn Frauen nur eine Art von höheren<br />

Dienerinnen bleiben, muss die ganze<br />

Nation darunter leiden. Aber selbst-<br />

süchtige Männer sind töricht genug zu<br />

glauben, dass sie auf unwissenden<br />

Frauen leichter herumtrampeln können." In<br />

der Unterordnung der Frau sah sie den<br />

Hauptgrund des deutschen Nationalismus<br />

und Militarismus, des deutschen Fremden-<br />

hasses und der Ablehnung liberaler Werte.<br />

In Deutschland sei die Frau "nicht die<br />

Gefährtin ihres Mannes bei allen seinen<br />

Geschäften, ...nicht seine Rathgeberin,...<br />

steht nicht auf derselben Bildungsstufe als<br />

er, theilt nicht die Interessen der Männer<br />

und ist im Hause nicht die unumschränkte<br />

Herrin." Nehme eine Frau sich diese<br />

Rechte heraus, so werde sie "als ge-<br />

fährlich, herrschsüchtig, lächerlich, ver-<br />

dreht angesehen, und es wird ihr der Krieg<br />

gemacht!" Was man am Berliner Hof<br />

wünsche, sei eine Prinzessin, die sich in<br />

alles fügt, sich gut anzieht, hübsch<br />

aussieht, mit jedem ein banales Wort zu<br />

reden weiß und in ihrem eigenen Haus<br />

eine Puppe ist, wie eine Türkin im Harem.<br />

Victoria hat sich oft mit bitteren Worten<br />

über die deutschen Frauen beklagt, die<br />

kleinbürgerliche Ansichten pflegten und es<br />

nicht verstanden hätten, sich eine<br />

angesehenere Stellung zu erobern.<br />

Der für die bürgerliche Frauen-<br />

bewegung zentrale Gedanke der Müt-<br />

terlichkeit lag Vicky sehr nahe. Sie liebte<br />

61


ihre Kinder zärtlich, war ständig um sie,<br />

und fünf von ihnen hat sie auch selbst<br />

gestillt, was ihr bei den drei Ältesten nicht<br />

gestattet worden war. "Immer ein Baby an<br />

der Brust oder eines erwarten, sonst ist es<br />

nicht nett", schrieb sie an die Queen, die<br />

entsetzt war über die Ansichten ihrer<br />

Tochter. Auch das Konzept der "geistigen<br />

Mütterlichkeit", der Lebensentwurf vieler<br />

Lehrerinnen, fand ihr Verständnis. Weiter<br />

aber ging ihr Engagement nicht; die<br />

Forderungen der Radikalen nach dem<br />

Frauenstimmrecht und der völligen Gleich-<br />

berechtigung waren ihr fremd.<br />

Wenn wir abschließend hören, wie<br />

Victoria ihr Verständnis von Frauen-<br />

emanzipation umreißt, so werden wir<br />

feststellen, dass sie stets im Bezugs-<br />

rahmen von Ehe und Familie verharrt und<br />

der Frau eine dienende Rolle zuschreibt:<br />

"Obwohl es nicht notwendig oder wün-<br />

schenswert ist, dass wir die Männer<br />

kopieren oder ihre Berufe ergreifen,<br />

können wir doch unser Leben bereichern<br />

und nützlicher für unsere Ehemänner und<br />

Familien, für unsere Häuslichkeit und<br />

unser Land sein, wenn wir ausgebildet<br />

sind und solide Kenntnisse haben. Es ist<br />

so viel zu tun auf der Welt, dass ich nicht<br />

einsehe, warum Frauen nicht mithelfen<br />

sollten, so gut sie es können, und je<br />

besser sie erzogen sind, desto fähiger<br />

werden sie dazu sein."<br />

Die Abbildungen stammen aus<br />

dem Buch: Frederick Ponsonby: Briefe der<br />

Kaiserin Friedrich, Berlin 1929<br />

62


Rede von Ute Gerhard anlässlich der<br />

Trauerfeier am 9.10.2009<br />

Für Elisabeth<br />

Viele von uns, auch ich, haben mit<br />

Elisabeths Tod eine gütige, kluge und<br />

unersetzliche Freundin verloren. Und es<br />

geht uns sicher allen so, dass wir erst mit<br />

ihrem so unerwarteten, plötzlichen Tod<br />

begreifen, wie viel sie uns bedeutete, was<br />

wir ihr verdanken, - ja, was ich ihr noch<br />

hätte sagen mögen und wie sehr ich sie<br />

geschätzt und gemocht habe. Sie war mir<br />

eine „Schwester(n)seele“, eine die „ganz<br />

verstand“, die zuhörte, teilnahm und riet,<br />

mit der mich Erfahrungen und Interessen<br />

verbanden, und die immer da war, sich<br />

schon im voraus kümmerte, weil sie<br />

wusste, was einer/m gut tut. Die<br />

Bezeichnung „Schwesterseele“ findet sich<br />

in Paula Becker-Modersohns Tagebuch,<br />

eine Formulierung, die in der ‚hohen Zeit’<br />

der alten Frauenbewegung um 1900<br />

populär wurde. Und es kommt mir so vor,<br />

als ob zwischen Paula Becker und<br />

Elisabeth eine gewisse Seelenver-<br />

wandtschaft bestand: in der Radikalität,<br />

auch unbequeme Wahrheiten<br />

auszudrücken, verbunden mit Warmher-<br />

zigkeit, einem tiefen Mitgefühl und einer<br />

praktischen Nüchternheit. In ihrer Tage-<br />

bucheintragung vom 31.3.1902 spricht<br />

Paula von der „Illusion, dass es eine<br />

Schwesterseele gäbe“, „…ein Wesen zu<br />

finden, das versteht. Und ist es vielleicht<br />

doch besser ohne diese Illusion…? Dies<br />

schreibe ich in mein Küchen-<br />

Haushaltsbuch am Ostersonntag 1902,<br />

sitze in meiner Küche und koche<br />

Kalbsbraten.“<br />

Zum ersten Mal begegnet bin ich<br />

Elisabeth vor knapp 40 Jahren, in der neu<br />

eröffneten <strong>Bremer</strong> Uni, gleich im ersten<br />

oder zweiten Semester 1970/71, im Kreis<br />

mehrerer Frauen, die in der Regel bereits<br />

eine akademische Ausbildung hinter sich<br />

hatten, doch nun nach oder mit Kindern<br />

und Haushalt ihre brachliegenden intel-<br />

lektuellen Kräfte anwenden und erweitern<br />

wollten, d.h. in die Wissenschaft oder<br />

einen akademischen Beruf drängten. Es<br />

war die Frauengeneration, die nach dem<br />

Krieg wohl gleichberechtigt hatte studieren<br />

können, für die jedoch Mutterschaft zu-<br />

gleich die Aufgabe der eigenen Ambi-<br />

tionen und selbstverständlich den Rück-<br />

zug an Heim und Herd bedeutete, wäh-<br />

rend ihre Partner, Ehemänner, gleichzeitig<br />

in ihren bürgerlichen Berufen durchaus<br />

reüssierten. In dieser Konstellation war die<br />

Revolte der Frauen angelegt, und doch<br />

war die Situation bei Elisabeth ja eigentlich<br />

eine andere, durchaus außergewöhnliche:<br />

sie hatte schließlich neben ihren sechs<br />

Kindern bereits in der Mitte der 1960er<br />

Jahre zusammen mit Heinrich Hannover<br />

zwei wichtige, die Vergangenheit not-<br />

wendig erhellende und politisch wirksame<br />

Bücher geschrieben, über die „Politische<br />

Justiz“ in der Weimarer Republik (1966)<br />

und über den „Mord an Rosa Luxemburg<br />

und Karl Liebknecht“ (1967) – wie hatte<br />

sie das nur geschafft! In der Widmung, die<br />

63


sie Klaus Gerhard, dem „1. Feministen in<br />

Bremen“, wie sie charmant hinzufügte,<br />

1973 in das geschenkte Exemplar der<br />

‚Politischen Justiz’ schrieb, heißt es: und<br />

E. Hannover – denn „ein historisches<br />

Buch, an dem eine Frau mitgeschrieben<br />

hat, das kauft doch kein Mensch!“<br />

(Originalton Fischer-Verlag 1965).<br />

Elisabeth war eine Verbündete von<br />

Anfang an. Dank des allgemeinen gesell-<br />

schaftlichen Aufbruchs, der von neuen<br />

sozialen und politischen Bewegungen<br />

getragen wurde, war unsere erste kleine<br />

gemeinsame Revolte nur konsequent,<br />

wenn auch recht ungehörig: Der freund-<br />

liche Gastprofessor, der extra aus Freiburg<br />

angereist war, um an der Reform-<br />

universität einen Kurs zur Geschichte der<br />

Frauenbewegung anzubieten, wurde von<br />

uns bereits in der dritten Seminarstunde<br />

abgesetzt. Wir übernahmen Planung und<br />

Diskussion der Lektüren, denn von nun an<br />

„machten wir unsere Geschichte selbst.“<br />

Das ist wörtlich zu nehmen, von da<br />

an hat uns die Frauenbewegung getragen,<br />

haben wir sie mitgestaltet, gab es viele<br />

gemeinsame Projekte, bei denen Elisa-<br />

beth Ideengeberin, oft die treibende Kraft,<br />

die methodisch und inhaltlich fundierte<br />

Historikerin war, deren kritischen Verstand<br />

und deren politische Radikalität man nur<br />

anfangs wegen ihrer allzu großen<br />

Zurückhaltung und Bescheidenheit<br />

unterschätzen konnte. Aus den ersten<br />

Frauengruppen, die Privates als Poli-<br />

tisches und damit Veränderbares er-<br />

kannten, bildete sich Mitte der 70er Jahre<br />

eine Arbeitsgemeinschaft und ein Freun-<br />

dinnen-Trio mit Elisabeth, Romina<br />

Schmitter und mir heraus, das uns nun<br />

mehr als 30 Jahre verbunden, gestärkt<br />

und beflügelt hat. – Es ist übrigens ein<br />

Missverständnis, wenn diese kollektiven<br />

Lernprozesse der Frauenbewegung als<br />

männerfeindlich bezeichnet werden, im<br />

Gegenteil, sie entlasteten von individuellen<br />

Schuldvorwürfen in den Geschlechter-<br />

beziehungen. – Nach ersten gemein-<br />

samen Weiterbildungsveranstaltungen in<br />

der Volkshochschule zu Frauenthemen<br />

haben wir zu dritt 1979 im Syndikat-Verlag<br />

eine gekürzte Ausgabe der „Frauen-<br />

Zeitung“ von Louise Otto herausgegeben<br />

unter dem Titel „Dem Reich der Freiheit<br />

werb’ ich Bürgerinnen“, eine Quelle, die<br />

unseren Blick auf die Anfänge der<br />

Frauenbewegung in Deutschland gründ-<br />

lich veränderte.<br />

Von da an hat dieses Freundin-<br />

nennetz getragen über alle Entfernungen<br />

und biographischen Veränderungen<br />

hinweg, Elisabeth war inzwischen am<br />

Kippenberggymnasium eine für viele<br />

Schülerinnen und Schüler rettende und<br />

inspirierende Lehrerin. Als ich an die<br />

Universität Frankfurt berufen wurde,<br />

hatten wir gerade einen Auftrag vom<br />

Staatsarchiv erhalten, eine erste Aus-<br />

stellung zum Frauenwahlrecht vorzu-<br />

bereiten. Elisabeth und Romina<br />

übernahmen dies und begannen bald, als<br />

64


abgeordnete Lehrerinnen mehrere Aus-<br />

stellungen sowie „Texte und Materialien<br />

zum historisch-politischen Unterricht“ zu<br />

erarbeiten. Elisabeths Werk sind die<br />

umfangreichen Quellenbände mit Kom-<br />

mentaren zur Ausübung des Frauen-<br />

wahlrechts sowie zur Frauenerwerbsarbeit<br />

in Bremen in der Weimarer Republik.<br />

Außerdem schrieb sie viele Texte u.a. für<br />

die Ausstellung über die Friedens-<br />

bewegung in Bremen (1898 bis 1958) oder<br />

1998, zum 150-jährigen Gedenken an die<br />

1848er Revolution, nun schon gemeinsam<br />

mit dem „<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>“, die im<br />

Blick auf Bremens Geschichte überaus<br />

lesenswerte Dokumentation über Marie<br />

Mindermann. Zwischendurch hat sie z.B.<br />

für die Feministischen Studien immer<br />

wieder englische Texte übersetzt und war<br />

bis vor kurzem Beirätin der Redaktion<br />

dieser interdisziplinären Zeitschrift.<br />

Ihre beachtliche Zahl von Beiträgen<br />

in Sammelbänden, ihre wunderbaren<br />

Vorträge, insbesondere die vielen bio-<br />

graphischen Portraits bedeutender, aber<br />

vergessener Frauen kann ich hier nicht<br />

aufführen, manches mag da noch in ihrem<br />

Computer schlummern. Allen Texten<br />

gemeinsam ist ihr klarer, prägnanter und<br />

geistvoller Stil, die gründliche historische<br />

Recherche, ein feiner Humor, der, eine<br />

Geschichte erzählend, zu fesseln<br />

verstand, und ihr leidenschaftliches<br />

Interesse aufzuklären, mit diesen<br />

Frauengeschichten für mehr Gerechtigkeit<br />

zu streiten. Beim neuerlichen Lesen<br />

kommt es mir so vor, als ob sie in den<br />

Portraits der in ihrer Zeit ungewöhnlichen,<br />

begabten und beeindruckenden Frauen,<br />

die so vielfältige Aufgaben der Sorge für<br />

andere, der Erziehung und Bildung mit<br />

öffentlichem Wirken in ihrer Person<br />

vereinigten – wie etwa Johanne Kippen-<br />

berg, Marie Mindermann oder die Kaiserin<br />

Friedrich – manche Selbstbeschreibung<br />

mitgeliefert hat.<br />

Den Rahmen für ihre Aktivitäten<br />

bildete seit 1991 der Verein „<strong>Bremer</strong><br />

<strong>Frauenmuseum</strong>“, den sie mitbegründet hat<br />

und dessen langjährige Vorsitzende sie<br />

war. Der Verein hat es sich zur Aufgabe<br />

gemacht, die Leistungen von <strong>Bremer</strong><br />

Frauen in allen Lebensbereichen, in Kunst<br />

und Gesellschaft zu erforschen, sie vor<br />

dem Vergessen zu bewahren. Auch<br />

hierbei hat Elisabeth nicht nur glänzende<br />

Reden gehalten, Artikel und Briefe ge-<br />

schrieben und an die Türen der<br />

Amtsstuben geklopft, sie hat darüber<br />

hinaus bei den jährlichen Sommerfesten<br />

noch im August dieses Jahres in ihr Haus<br />

und ihren Garten eingeladen. Ja, ich darf<br />

nicht unerwähnt lassen, was für eine<br />

wundervolle Gastgeberin Elisabeth war.<br />

Auch seitdem sie allein lebte, hat sie<br />

gegen alle gesellschaftliche Konvention<br />

und Trends eine Kultur der Gastlichkeit<br />

gepflegt, wobei das köstlich zubereitete<br />

Mahl nur das Entrée zu lebhaften, immer<br />

spannenden Gesprächen war. Denn sie<br />

verstand es, Themen zu setzen, zu<br />

65


moderieren und auch die heftigsten De-<br />

batten amüsant zu Ende zu führen.<br />

Eine ihrer nachhaltigsten und<br />

erfolgreichsten Initiativen im <strong>Bremer</strong><br />

<strong>Frauenmuseum</strong> war die Aktion zur Be-<br />

schilderung der <strong>Bremer</strong> Straßen mit<br />

Frauennamen und ihre Ergänzung durch<br />

Legenden. Inzwischen hat sich die Zahl<br />

der so benannten Straßen auf 57 erhöht,<br />

gibt es sogar einen Senatsbeschluss, der<br />

vorsieht, in Zukunft vermehrt Frauen-<br />

namen zu führen. Wir erinnern uns alle,<br />

wie schwierig es war, für die wohl<br />

inzwischen berühmteste <strong>Bremer</strong>in Paula<br />

Becker-Modersohn eine angemessene<br />

Lokalität zu finden. In ihrer Rede zur<br />

Einweihung des „Paula Modersohn-<br />

Becker-Steges“ in den Wallanlagen<br />

zwischen Kunsthalle und Theater be-<br />

schrieb Elisabeth mit feiner Ironie den<br />

„langen steinigen Weg zum Steg“ und<br />

wusste selbst aus dieser Verlegenheit<br />

Trost zu spenden, indem sie vorschlug:<br />

„Der kurze, unscheinbare Steg, der doch<br />

die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort<br />

fesselt, weil er souverän auf ein Geländer<br />

verzichtet, nur durch eine Kette von<br />

Lichtern begrenzt, die sich bei Dunkelheit<br />

im Wasser spiegeln, … verdient es, den<br />

Namen einer mutigen Künstlerin zu tragen<br />

Zuletzt noch eine Besonderheit: Bei all<br />

ihren Auftritten und Unternehmungen,<br />

ihren Geburtstagen und in der schweren<br />

Zeit ihrer Krankheit waren ihre Töchter –<br />

im Wechsel oder mindestens eine –<br />

dabei, helfend oder mit einem Blumen-<br />

strauß. Das war sehr beeindruckend und<br />

das war für Elisabeth wichtig, darüber<br />

haben wir noch ganz zuletzt gesprochen.<br />

Deshalb bin ich sicher, dass Ihr vier sowie<br />

Eure Kinder das Erbe Eurer Mutter auf die<br />

eine oder ganz andere Weise weiter<br />

tragen, fortführen werdet. Das ist für uns<br />

alle heute der einzige Trost.<br />

Elisabeth Hannover-Drück<br />

3.6.1928 – 23.9.2010<br />

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