Recht & GesellschaftSeit Maastricht ist eine "Gemeinsame AußenundSicherheitspolitik" (GASP) als Standbeinder Europäischen Union institutionalisiert.Wilfried Graf wird in einer dreiteiligenJURIDIKUM-Serie den politischen status quo,Szenarien zur Regierungskonferenz 1996und Auswirkungen auf Souveränität undNeutralität der Staaten Europas beleuchten.DIE GEMEINSAME AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK DER EUDer Wille zurSupermacht IDie EG als komplexe internationale Integrationneuer Qualität war von Beginnan ein schlechter Kompromiß auf Kosten derDemokratie in den nationalen Mitgliedstaaten.Die EU droht ein noch schlechtererKompromiß zu werden - im besonderenaber auf Kosten des Friedens.Jede Kontroverse um die gemcinsameAußen- und Sicherheitspolitik der EU konfrontiertuns mit der scheinbaren Polaritätder Bilder, die dabei beschworen werden.Einerseits das Bild von der Friedensleistungnach innen, durch eine funktionalistischeVerflechtung chemaliger Feinde, die einenzwischenstaatlichen Krieg zwischen ihnenunmöglich erscheinen läßt. Andererseits dasBild von einer zukünftigen Supcrmacht, mitder zentralisierten Verfügung über enormeaußenpolitische und verteidigungs politischeKapazitäten, die dann auch zum Einsatz gebrachtwerden könnten. Diese Bilder widerspiegelneine strukturelle Ambivalenz, dieden Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozessenin der EG/E U selbst zugrundeliegt.Dies hat vor allem mit den Widersprücheneines schrittweisen Übergangs vonkonföderalen zu föderalen Strukturen imMaastricht-Projekt zu tun. Dabei wird heutezwar eine bundesstaats-ähnliche Konstruktionals Leitbild noch keineswegs von allenBeteiligten akzeptiert, aber umgekehrt ist einebloß staatenbund-ähnliche Konstruktionbereits überwunden.Der Vertragsentwurf für die MaastrichterGipfelkonferenz im Dezember 1991 beinhaltetebereits den Hinweis auf eine EuropäischeUnion (EU) mit "föderalem Ziel".Er mußte aber wegen des britischen Vetosgeändert - oder besser: umgeschrieben -werden. Im endgültigen Vertragswerk, dasim Februar 1992 signiert wurde, ist dic Redevon "einer immcr engeren Union". DasMaastricht-Projekt bedeutet einen qualitativenSprung am Schnittpunkt einer bislanghaupsächlich wirtschaftlichen Integrationhin zu ciner zukünftig hauptsächlich politischenIntegration mit zwei Haupthebeln -einheitliche Währung und gemcinsame Sicherheit.Gegenwärtig ist Maastricht ein politisch-kulturellesMobilisierungs - undTransformationsprojekt, mit einer widersprüchlichenDoppelstruktur aus konföderalenund föderalen Elementen, das Weichenst};:)lungenin Richtung einer föderalen Uniorrdurchzusetzen versucht. Mit einer einheitlichenWährung und mit einer gemeinsamenVerteidigung wäre die EU eine bundesstaats-ähnlicheKonstruktion, wenn auch -anders als die sprachlich homogenisiertenUSA - multinational.Eine Konföderation (wic die EG) ist diebeste Formel für Frieden zwischen Staaten,weil 12 Länder mit individueller AußenundSicherheitspolitik nur schwerlich einegemeinsame Aktion gegen ein drittes Landrichten können. Eine Föderation (wie diezukünftige EU) kann dagegen leicht eineFormel für Aggresion gegcn andere Länderwerden.In Konjiideratiotlell können die Mitgliedsstaatengleichbe<strong>recht</strong>igte Beziehungen eingehenund ein System für Konfliktlösunguntereinander bilden. Dieses System funktioniertam besten, wenn die Teilnehmerländerungefähr gleich groß sind, was bei derEU nicht der Fall ist. Aber eine Konföderationwird kein inneres System aufbauen, dassie so weit stärkt, daß sie selbst ein ilkteurauf der Weltbühne wird und entsprechendhandelt. Interne Debatten und Veto<strong>recht</strong>ekönnen verhindern, daß Konföderationenzum Mittel des Krieges greifen.Eine Fiirleratioll hat größere Freiheit,nach außen hin zu handeln als jedes Mitgliedsland,weil ci ne starke Arbeitsteilungzwischen Zentrum und Peripherie bestcht.Das Zentrum steuert die Finanz-, AußenundVerteidigungspolitik im Auftrag sämtlicherMitgliedsländer, die Peripherie steuertdie Lokalpolitik. Auf lange Sicht kann jedocheine Föderation so sehr die Wirkungeiner Zwangsjacke annchmen, daß sie jahrhundertealteSpannungen zwischen cinzelnenMitgliedsländern nicht mehr absorbierenkann. Die Erfahrung zeigt, daß multinationaleFöderationen zusammenbrechen,wie es in der Sowjetunion, Jugoslawien undder Tschechoslowakei in den letzten Jahrengeschehen ist (und Rußland folgt wohl baldnach)." (vgl. Galtung)Die GASP alsideologischer Hebel •.•Einerseits hat die "Gemeinsame AußenundSicherheitspolitik" (GASP) im MaastrichterVertragswerk noch intergouvernementalenCharakter. Andererseits bleibt sienicht mehr formell von den EG-Institutionengetrennt, sondern wird eng an die institutionelleStruktur des EG-Vertragssystemsangegliedert. An die Stelle der bisher weitgehendunverbindlichen außen- und sicherheitspolitischenKoordination treten ver-.bindliche Grundsätze und allgemeinc Leitlinien.Bei den Zielsetzungen rangiert dieUnion immer primär vor den Mitglicdstaaten,z.B. wird von der Sicherheit und den Interessen"der Union und ihrer Mitgliedstaaten"gesprochen. In den Bereichen, in denen"wichtige gemeinsame Interessen" bestehen,beschließt der Rat "GemeinsameAktionen", die für die Regierung~n der Mitgliedstaatenvcrbindlich sind. Dicse Beschlüssemüssen einstimmig erfolgen, jedoch"bei der Annahme einer gemcinsamen Aktionund in jcdem Stadium ihres Verlaufs bestimmtder Rat die Fragen, über die mit qualifizierterMehrheit zu entscheiden ist." (ArtikelJ. 3 [2])In der "Erklärung zu den Abstimmungenim Bereich der GASP" in der Schlußakte desUnionsvertrags wird die Einstimmigkeitsregelidcologisch unterlaufen: "Die Konferenz·kommt überein, daß die Mitgliedstaaten beiEntscheidungen, die Einstimmigkeit erfordern,soweit wie möglich davon absehen, dieEinstimmigkeit zu verhindern, sofern einequalifizierte Mehrheit für die betreffendeEntscheidung besteht."Mit Artikel./.4 (2) ersucht die Union "dieWesteuropäischc Union (WEU), die integralerBestandteil der Entwicklung der EuropäischcnUnion ist, die Entscheidunge~und Aktionen der Union, die verteidigungspolitiseheBezüge haben, auszuarbeiten undSeite 10JURIDIKUMNr 3/94
durchzuführen." Die verteidigungspolitischenFragen müssen laut Artikel J.4 (4) mitder im Rahmen der NATO festgelegten Politikvereinbar sein (was eine Politik derNeutralität verunmöglicht), brauchen abervorerst nicht mit qualifizierten Mehrheitenentschieden werden (was den Briten undFranzosen erlaubt, die Souveränität über ihrenukleare Abschreckung zu bewahren).Doch "kann dieser Artikel ... 1996 ... revidiertwerden." (Artikel J.4 [6])Bis dahin kann der Übergang von konföderalenzu föderalen Entscheidungsprozessenim Maastrichter Vertrag noch nicht legistischgelöst werden. Er wird aber auf zweifacheWeise massiv ideologisch vorangetrieben:einerseits durch den besonderen undumfassenden Stellenwert, der dem Politikfeld"Sicherheit" - und damit der Konstruktionäußerer Bedrohungsbilder undFeindbilder - für den Aufbau der Union gegebenwerden, andererseits durch die Konstruktioneines primären Gesamtinteressesder Union. Die GASP verpflichtet die Mitgliedstaatenzu einer Art vorauseilender Gefolgschaftskultur,die an den "demokratisehenZentralismus"der Breschnew-Doktrinerinnert und einen freiwilligen Verzicht aufjede politische Autonomie bürokratisch erzwingenwill:Al1ikel1. J (4): " Die Mitgliedstaaten llllten·tiit-z,e7ldie Auflm- ulld Sitherheitspolitik der lIllioll aktivulld vorbehaltlos im Geist der Loyalität lwd gege1lJritigenSolidarität. Sie ettthalten sith jederH {{1Idlullg; die dm InteresseIl der lIllioll zuwiderläujioder ihrer Wirksamkeit als kohäreme Kmjiill dm illtematiollalm Beziehullgell schadm kb"1l11-te. Der Rat trägt fiir die Eillhaltzmg dieserGrulldsätze Sorge. "Manfred Rotter ist darin <strong>recht</strong>zugeben,"daß die GASP nicht nur die Aufgabe hat,die Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedsstaatensozusagen untereinander zukoordinieren, sondern - das halte ich für besonderswichtig - die Europäische Union alseigenen, und zwar neuen Akteur auf der internationalenEbene zu installieren. Es werdenalso nicht nur die Mitgliedstaaten entlangeiner gemeinsamen Linie auf der internationalenEbene koordiniert auftreten, sondernes ist vorgesehen, daß die EuropäischeUnion als neue - vielleicht müßte man sagen- Großmacht agieren wird" (Rotter 106 f.).Die GASP ist also ein konföderales Instrumentarium,deren Sinn aber darin besteht,ein quasi föderales Instrumentariumaufzubauen, mit dem die EU als vereinheitlichterAkteur "mit einer Stimme" auf derWeltbühne vortreten kann - vor allem auchin der UNO, in der KSZE und bei den NATO-Partnern. Vor dem Hintergrund und mitcjem Rohmaterial der äußerst brisanten Konfliktkonstellationenin Europa lind in derWelt wird die GASP eine ideologischeSchlüsselrolle für die Herausbildung eines"Euro-Super-Nationalismus" und der Konstruktioneines" Willens zur Supermacht"bekommen.Nr 3/94Voraussichtlich werden zwischen derGipfelkonferenz 1996 und dem Auslaufendes WEU-Vertrags 1998 das derzeit aus französischen,deutschen und belgisehen Streitkräftengebildete "Eurokorps" der WEUund die WEU dem EU-Rat unterstellt werden.Dieser kann als eigenständiger Akteurdiesen "europäischen Pfeil der NATO"dann auch "out of area" zum Einsatz bringen- im Rahmen einer komplexen Arbeitsteilungeiner konföderalen nordwestlichen Militär-Kooperation- sowohl allein als auch gemeinsammit NATO, UNO, KSZE. Dabeizeichnen sich drei Einsatzfelder ab: "Peaceenforcement" in Oste uropa, schnelle Eingreiftruppen in den südlichen AKP-Staaten(Länder aus dem afrikanischen, karibischenund pazifischen Raum, die mit der EG handelspolitischeAbkommen abgeschlossen haben),sowieUnterstützung von "Menschen<strong>recht</strong>s" -Interventionen, Bestrafungsaktionenund vorbeugenden MIC-Aktionen (MiddleIntensity Conflict) auf globaler Ebene.••• und troianisches PferdDie GASP ist vorerst ein Kompromiß zwischender Unterordnung der EU unter dieNATO - d.h. der britischen KonföderationsStrategie - und dem Aufbau einer autonomenWEU - d.h. der französischen Föderations-Strategie.Deshalb muß die GASP einstweilenmit der NATO-Strategie vereinbarbleiben und wird die WEU als europäischerPfeiler der NATO organisiert. Beide Strategienverteidigen die nationale Souveränitätüber die Atomwaffen als Faustpfand, umden Gefahren einer deutschen Resouveränisierungzu begegnen. Zugleich stellt dasfranzösisch-deutsche Eurokorps einen Kompromißhinsichtlich dieser Resouveränisierungswünschedar. Die Anerkennung Kroatienswar ein Nachgeben der Franzosen undBriten, um den Aufbau einer einheitlichenund kohärenten GASP nicht zu gefährden.Der Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismusim Osten hat den deutsch-französischenKompromiß aber empfindlich erschüttertund ihm längerfristig vielleicht überhauptden Boden entzogen. Die deutscheStrategie setzt vor allem auf eine rasche Erweiterungder EU und ein "System konföderalerZusammenarbeit" mit Osteuropa.Die katholisch ostmitteleuropäische Strategieder " Internationalisierung" der ethno-nationalenSouveränisierungs-Strategien gegenüberden orthodox-postkommunistischenFöderationen kommt der deutschen Strategieentgegen. Und umgekehrt.Für Jacques Attali ist das Ziel der französischenStrategie, über den Maastrichter Vertrageine europäische föderale Union durchzusetzen(Szenario 1), objektiv schon seit1989 verspielt. Um Maastricht radikal umzusetzen,müßte wahrscheinlich nicht nur aufdie Neutralen, sondern auch auf Großbritannienverzichtet werden.Mit der Entscheidung zur EU-Erweiterung,zunächst mit den Neutralen, beginntJURIDIKUMRecht & Gesellschaftein System konföderaler Zusammenarbeitbis an die Grenzen Rußlands (Szenario 2).Es wird die geopolitische Strategie inDeutschland stark begünstigen und dieideologische Hegemonie Frankreichs in derEuropapolitik endgültig untergraben.Falls das "System konföderaler Zusammenarbeit"sich durchsetzt, ohne substantielleUmsetzung des Maastrichter Vertrags,prognostiziert Attali in der Folge eine weitereRegression der Integrationspolitik, mit einereuroatlantischen Union als transatlantischeFrc;ihandelszone (Szenario 3), die wiederumdie Briten stark begünstigen, aberEuropa in völlige Abhängigkeit von denUSA bringen würde.In diesen drei Szenarios gibt es drei verschiedenePerspektiven für die GASP: Szenario1, mit der WEU als immer autonomererPfeiler der NATO, bei sinkendem Einflußder USA. Szenario 2, mit wenig Möglichkeitenfür eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitikund stärkerem Einfluß derUSA. Schließlich Szenario 3, mit einer völligenUnterordnung unter die NATO .Wie allerdings Johan Galtung, Edgar Morinu.a. seit langem gezeigt haben, liegt dereinzig realistische Weg zu europäischer undglobaler Sicherheit in einer institutionalisiertenKooperationsgemeinschaft mit den historischenFeinden Kerneuropas. Nur eine kontinentaleUnion als eine paneuropäischeKonföderation kann auch Rußland und dieTürkei integrieren und dadurch eine wirklicheFriedensordnung - mit einer konföderalengesamteuropäischen Sicherheitsstruktur,die die Grenzen im Osten nicht mehr öko nomistischoder kulturell bestimmt - schaffen.Nach Attali wird dieses jetzt scheinbar völligutopische Szenario 4, das bereits von Gorbatschowund Mitterand ins Spiel gebracht wurde,längerfristig realisierbar werden, weil esauch im strategischen Interesse der USA liegenkönnte, die ein stabiles Europa als Partnerbrauchen.Solange ein gesamteuropäisch vernetztes,strukturell angriffsunfähiges System kooperativerSicherheit - als europäische Regionalorganisationder UNO - nicht funktioniert,heißt es, dafür zu arbeiten. Die Neutralenkönnen das nicht im Rahmen der GASP - alsoheißt es im EWR zu bleiben oder einenEU-Beitritt ohne GASP zu erkämpfen.LiteratlIr: Jal"qlles Attali, Ellrope(s), Fayard, Paris1994; illmifred Rotter, Östen-eiths kiiliftige Siehe/heitspolitik,ill: Elke Relliter Manfred Satter (Redaktioll),Niemals Frieden? Allalvse lI1ld Betrachtungelt zur We/torrl!ulIIg,&hlllhejt 72/1994; Johctlt Galtlillg, Erotopia.Die Zltklllift ei1les KOlltillellts, POl1lledia, Wien1993; Reillhardt Rummel, Toward Politira! Ullion.P/cwillg {/ (;olllmon FOI-eigll {md Semrity PoliC!' in theEaropealt (;Ollllllllity, Nomos, Baden-Badelt 1992; DieterSeltgha{/s, Wohill driftet die Welt, editioll sllhrkttlllp,Frallkfll111994Wilfried Graf ist Mitarbeiter des ÖsterreichischenStudienzentrums für Frieden und Konfliktläsung aufBurg Schlaining (ÖSFK) und sicherheitspolitischer Referentim Grünen Parlamentsklub.Seite 11