Der Ministerpräsi<strong>de</strong>nt Polens, Josef Cyrankiewicz, und <strong>de</strong>r Ministerpräsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r DDR, Otto Grotewohl, in Görlitz auf <strong>de</strong>m Wegzur Unterzeichnung <strong>de</strong>s Grenzabkommens. Deutsches Bun<strong>de</strong>sarchiv/Bild 183-R87570Das ungeliebte Abkommen - 60 Jahre Görlitzer VertragANDREAS NEUMANN-NOCHTENDamit Polen nach diesem Krieg seine Sicherheit erhaltenkann, müssen die Deutschen aus Ostpreußen,Schlesien und Westpommern vertrieben wer<strong>de</strong>n,aus Gebieten, die immer die Ausgangsgebiete für die<strong>de</strong>utschen Angriffe nach Osten waren. Dann besteht für diepolnische, aber zwangsweise germanisierte einheimischeBevölkerung die Möglichkeit zur Rückkehr ins Polentumund zur Befreiung von <strong>de</strong>r eingewan<strong>de</strong>rten <strong>de</strong>utschenBevölkerung.“(Hilary Minc im Februar 1944, polnischer Wi<strong>de</strong>rstandskämpferund Kommunist - zwischen 1949 und 1954 Vorsitzen<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanungin Polen.)Die Demokratie wird in Deutschland nur dann lebensfähigsein, wenn das <strong>de</strong>utsche Volk <strong>de</strong>n Lebensraumbehält, <strong>de</strong>n es seiner Größe nach zu beanspruchenhat. In einem um ein Drittel verkleinerten Hauskann ein 65-Millionen-Volk nicht leben. Die Grenze kanndaher auch nicht die O<strong>de</strong>r-Neiße-Grenze sein. Um ein sogroßes Volk zu ernähren, benötigt man einen ausreichen<strong>de</strong>nLandbesitz o<strong>de</strong>r eine Industriekapazität, die uns in die Lageversetzt, durch Export unserer Erzeugnisse und <strong>de</strong>n Importvon Lebensmitteln die Ernährung sicherzustellen.(Otto Grotewohl am 11. 11. 1945 auf einer Festveranstaltung<strong>de</strong>r SPD zum Jahrestag <strong>de</strong>r Revolution von 1918.)Die <strong>de</strong>rzeitige kommunistische Regierung, die <strong>de</strong>rBevölkerung <strong>de</strong>r Sowjetzone aufgezwungen wur<strong>de</strong>,hat in einem Vertrage mit <strong>de</strong>r polnischen Regierungdie Festlegung <strong>de</strong>r O<strong>de</strong>r-Neiße-Linie als endgültigeGrenze zwischen Deutsch-and und Polen garantiert. Die Regierung<strong>de</strong>r Deutschen Bun<strong>de</strong>srepublik erkennt diese Festlegungnicht an. Die sogenannte Regierung <strong>de</strong>r Sowjetzonehat keinerlei Recht, für das <strong>de</strong>utsche Volk zu sprechen. Alleihre Abre<strong>de</strong>n und Vereinbarungen sind null und nichtig.Die Entscheidung über zur Zeit unter polnischer undsowjetischer Verwaltung stehen<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsche Ostgebietekann und wird erst in einem mit Gesamt<strong>de</strong>utschland abzuschließen<strong>de</strong>nFrie<strong>de</strong>nsvertrage erfolgen. Die <strong>de</strong>utsche Bun<strong>de</strong>sregierungals Sprecherin <strong>de</strong>s gesamten <strong>de</strong>utschenVolkes wird sich niemals mit <strong>de</strong>r allen Grundsätzen <strong>de</strong>sRechts und <strong>de</strong>r Menschlichkeit wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n Wegnahmedieser rein <strong>de</strong>utschen Gebiete abfin<strong>de</strong>n.Die Bun<strong>de</strong>sregierung wird bei künftigen Frie<strong>de</strong>nsverhandlungenfür eine gerechte Lösung dieser Frage zwischeneinem wirklich <strong>de</strong>mokratischen Polen und einem<strong>de</strong>mokratischen Gesamt<strong>de</strong>utschland eintreten.“(Aus <strong>de</strong>r Regierungserklärung von Bun<strong>de</strong>skanzler KonradA<strong>de</strong>nauer im Deutschen Bun<strong>de</strong>stag am 9. Juni 1950.)I.Drei Zitate stehen am Beginn dieser historischen Skizze,die <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n lassen, daß das Görlitzer Abkommen inunter an<strong>de</strong>ren Vorzeichen zustan<strong>de</strong> kam, als es <strong>de</strong>ssenWortlaut vermuten läßt.Der zuerst zitierte Hilary Minc steht mit seiner lange vorKriegsen<strong>de</strong> aufgemachten For<strong>de</strong>rung in einer langen Traditionskette,die im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt ihren Anfang nahm. Derpolnische Historiker Wilhelm Bogus³awski äußerte sich imVorwort seiner vierbändigen „Geschichte <strong>de</strong>s nordwest-
107MELDUNGENlichen Slawentums bis zur Mitte <strong>de</strong>s 13. Jahrhun<strong>de</strong>rts“ <strong>de</strong>rgestalt,daß er die rechtmäßige Grenze zwischen Germanenund Slawen seinen Lesern in Erinnerung rufen wolle.Dabei kam er zu <strong>de</strong>m wenig überraschen<strong>de</strong>n Ziel, daß <strong>de</strong>rGrenzverlauf eigentlich nicht an Saale und Elbe zu suchensei, son<strong>de</strong>rn noch viel weiter westlich läge. ‘Wenig überraschend’<strong>de</strong>shalb, weil kaum ernsthafte Wissenschaftlichkeit,als vielmehr politische Interessen ihm die Fe<strong>de</strong>r führten.Kurz vor <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s I. Weltkrieges, im Jahre 1917erschien in Moskau eine Broschüre <strong>de</strong>s polnischenJournalisten Boles³aw Jakimiak. Er stellte darin Überlegungenan, wie die „Germanisierungsprozesse“ vergangenerJahrhun<strong>de</strong>rte rückgängig zu machen seien. Die <strong>de</strong>utscheBesiedlung <strong>de</strong>s Ostens vollzog sich seiner Meinung nach in<strong>de</strong>r Weise, „daß das zahlenmäßig verhältnismäßig kleine,nur aus einer Handvoll Stämmen ... hervorgegangene undzwischen Rhein und Weser sie<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsche Volk mitHilfe von Intrigen und Winkelzügen, teilweise auch mitHilfe einer besseren Bewaffnung und einer besseren Organisation,schrittweise ein um das vielfache größeresTerritorium seiner Herrschaft unterwarf, das nicht sein eigeneswar ... und <strong>de</strong>r alteingesessenen slawischen Bevölkerungdieses Territoriums seine Sprache aufzwang ... Manbe<strong>de</strong>nke, daß es ein Volk, welches <strong>de</strong>rart räuberischenInstinkten gehorcht und das bei <strong>de</strong>r Entnationalisierung <strong>de</strong>rBevölkerung <strong>de</strong>r einverleibten Gebiete <strong>de</strong>rart rücksichtslosvorgeht, kein zweites Mal auf <strong>de</strong>m Erdball gibt.“ Jakimiakwar es auch, <strong>de</strong>r als erster die O<strong>de</strong>r-Neiße-Linie als möglichenWestrand einer „neuen slawischen Nation“ benannte.Es wäre an dieser Stelle wichtig einen Exkurs, die „PolnischeWestforschung“ (polska myœl zachodnia - PolnischerWestgedanke) betreffend, einzuflechten. Diese entwickeltesich nach <strong>de</strong>m I. Weltkrieg im Zuge <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rgewonnenenEigenstaatlichkeit Polens. Zwischen <strong>de</strong>n Kriegenging es <strong>de</strong>r „Westforschung“ darum, Spuren slawischerKultur westlich <strong>de</strong>s gegenwärtigen Lebensraumes zu erforschen.Nach <strong>de</strong>m II. Weltkrieg beschränkte sie sich in ersterHinsicht darauf, die Polonisierung <strong>de</strong>r durch die O<strong>de</strong>r-Neiße-Grenzehinzugewonnenen Gebiete historisch zu legitimieren.Soviel statt eines Exkurses.Das von Minc hervorgehobene Sicherheitsbedürfnisseiner Nation ist allerdings nach <strong>de</strong>n äußerst leidvollenErfahrungen <strong>de</strong>r Jahre 1939-1945 nur allzu verständlich.Dennoch muß konstatiert wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-polnischeGrenzverlauf an O<strong>de</strong>r und Neiße eben nicht nur einErgebnis stalinscher Großmachtpolitik und alliierten Stillehaltensgewesen ist, son<strong>de</strong>rn daß er bereits viele Jahre früherin <strong>de</strong>n Köpfen nationalistisch gesinnter Polen konkreteGestalt angenommen hatte.II.Otto Grotewohl sprach aus, was damals die ganze ost<strong>de</strong>utscheNation bewegte. Auch nach <strong>de</strong>r Zwangsvereinigungvon SPD und KPD zur SED blieben die Genossen in ihrerHaltung zur Ostgrenze <strong>de</strong>r von Grotewohl ausgesprochenenRichtlinie treu. Es ging sogar soweit, daß die Lan<strong>de</strong>sleitung<strong>de</strong>r SED Mecklenburg-Vorpommern - hier warenbeson<strong>de</strong>rs viele Flüchtlinge zu betreuen - zu <strong>de</strong>nLandtagswahlen 1947 mit <strong>de</strong>m Slogan antrat: „Für dieRevision <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ostgrenzen - für die EinheitDeutschlands“. Daß die SED mit <strong>de</strong>m für damalige Verhältnissetraumhaften Ergebnis von reichlich 63 Prozentaus <strong>de</strong>r Wahl hervorging, <strong>de</strong>utete Grotewohl als Bestätigung<strong>de</strong>r festen Haltung seiner Partei zur Frage <strong>de</strong>r Grenzziehung.Erst im letzten Viertel <strong>de</strong>r 40er Jahre beginnt diesePosition aufzuweichen. Zum einen mag dabei die Erkenntniseine Rolle gespielt haben, daß die westlichen Besatzungszonenin keiner Weise an einem geeinten Deutschlandunter sozialistischem Vorzeichen Moskauer Prägunginteressiert waren. Ebenso aber trat immer <strong>de</strong>utlicher zutage,daß Stalin mitnichten seiner Einflußsphäre wirklichenHandlungsspielraum einräumen wollte. Vielmehr drängteer auf die Schaffung eines osteuropäischen Blocksystemsund ließ keinen Zweifel daran, daß die SBZ <strong>de</strong>ren„Speerspitze“ gegen <strong>de</strong>n Imperialismus wer<strong>de</strong>n sollte. ImZuge dieser Neuorientierung begann sich auch die Sprache<strong>de</strong>r SED hinsichtlich <strong>de</strong>r Grenzziehung zu Polen zu än<strong>de</strong>rn.Auf <strong>de</strong>m 2. Deutschen Volkskongreß waren daher seitensOtto Grotewohls ganz und gar neue Töne zu vernehmen:„Durch die Schaffung eines freundschaftlichen Verhältnissesmit <strong>de</strong>m polnischen Nachbarn kann aber auch dieMöglichkeit wachsen, die Erträge und Erzeugnisse <strong>de</strong>runter die Verwaltung Polens gestellten Gebiete für die Verbesserung<strong>de</strong>r Lebensverhältnisse auch <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Volkenutzbar zu machen.“Fraglos ging es auch hier um Machterhalt. MehrereTreffen in Moskau hatten <strong>de</strong>r Führung in Berlin <strong>de</strong>utlichwer<strong>de</strong>n lassen, daß es Stalin allein um die inner<strong>de</strong>utscheGrenze ging, als „Bollwerk gegen <strong>de</strong>n Imperialismusanglo-amerikanischer Prägung“. Die Rolle, die dieSiegermächte <strong>de</strong>s I. Weltkrieges einst <strong>de</strong>m neu geschaffenenStaat Polen zugedacht hatten, Gewährsmann gegen <strong>de</strong>naufkommen<strong>de</strong>n Bolschewismus zu sein, fiel nun mit umgekehrterStoßrichtung <strong>de</strong>r Sowjetischen Besatzungszone zu.Allmählich erkannten die Genossen um Walter Ulbricht,daß sie, mehr noch als die Regieren<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rer neu geschaffener„Volks<strong>de</strong>mokratien“, Politiker von MoskausGna<strong>de</strong>n waren. Diese Erkenntnis führte zu einer weiteren:es war nicht mehr notwendig um Zustimmung und Anerkennungim eigenen Volk zu ringen, zumal hinsichtlich <strong>de</strong>rverlorenen Ostgebiete. Wie sehr sie in <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>de</strong>reigenen Position richtig lagen, haben die Ereignisse <strong>de</strong>sJunis 1953 hinlänglich bewiesen.III.Es ist müßig darüber zu spekulieren, mit wieviel HerzblutKonrad A<strong>de</strong>nauer seinerzeit um <strong>de</strong>n Erhalt <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenOstgebiete gerungen hat. Er selbst, in keiner Weise vonFlucht und Vertreibung betroffen, verstand sich als Interessenvertreter<strong>de</strong>s gesamten <strong>de</strong>utschen Volkes. Daß sich diesesSelbstverständnis nicht nur auf die Menschen diesseitund jenseits <strong>de</strong>s sich abzeichnen<strong>de</strong>n „Eisernen Vorhangs“bezog, son<strong>de</strong>rn auch auf die territoriale Integrität