KINDERBETREUUNG RUND UM DIE UHREinerseits gab die fest vorgegebene Tagesstrukturierung sowieder Bildungs- und Erziehungsplan Eltern wie Erziehern undzum Teil auch den Kindern einen stabilen zeitlichen Rahmen<strong>für</strong> den Tagesablauf, den Wochen- und Jahresrhythmus vor,der Struktur, Orientierung und Verlässlichkeit im Alltag bot,andererseits konnten in diesem straffen, von der Vorstellungder Planbarkeit der Erziehung geleiteten Zeitkorsett individuelleBedürfnisse, der Wunsch nach kontinuierlicher emotionalerZuwendung durch wichtige Bezugspersonen sowieunterschiedliche Entwicklungstempi einzelner Kinder nichtausreichend berücksichtigt werden ( hierzu auch Israel, 2008).Empirische Studien zur Entwicklungder Kinder in der WochenkrippeEmpirische Studien zur Unterbringung von Kleinkindern inden verschiedenen Betreuungsformen wurden seit dem systematischenAufbau der Kinderbetreuung in den 1950er Jahrendurchgeführt. Von Anfang an zeigten die Ergebnisse, dass Kinder,die in Heimen oder in Wochenkrippen betreut wurden,deutliche Entwicklungsrückstände gegenüber den sogenanntenTageskindern oder Kindern, die in der Familie aufwuchsen,hatten.In einer Studie, deren Daten zwischen 1971-1974 an 6.425Säuglingen und Kleinkindern erhoben worden waren(Schmidt-Kolmer 1977), wurden Entwicklungsmerkmale insechs verschiedenen Bereichen – Selbstbedienung, motorischeEntwicklung, Spieltätigkeit, Sprache und Denken, musischeEntwicklung und soziales Verhalten – untersucht. DieErgebnisse sind in Abb. 2 dargestellt.Abb.2 Einfluss des Tages- und Wochenaufenthaltes derKinder auf ihre Entwicklung in den einzelnen Bereichen(aus: Schmidt-Kolmer 1977, 170)Erfasst wurden daneben die soziale Situation des Kindes, dieFamilienverhältnisse, und Merkmale der Krippen, in denendie Kinder untergebracht waren.Auffallend waren die sozialen Unterschiede der Kinder, die inWochenkrippen betreut wurden. In den Wochenkrippen gabes zudem den höchsten Prozentsatz an erkrankten Kindern.Schmidt-Kolmer sah die Ursachen von Entwicklungsverzögerungenvor allem in der Isolierung der Wochenkinder von derFamilie und dem gesellschaftlichen Alltag, aber auch in derBildungs-und Erziehungsarbeit in den Einrichtungen.1985-1988 wurde erneut eine repräsentative Untersuchungvon Entwicklungsstand und Gesundheitszustand von Kindernin verschiedenen Betreuungseinrichtungen durchgeführt(Zwiener 1994). Auch hier zeigte sich, dass tägliche Aufenthaltsdauernvon mehr als 9,5 Stunden entwicklungsbeeinträchtigendwirkten. Dieses Datenmaterial ist erst zumTeil ausgewertet und könnte <strong>für</strong> weitere entwicklungspsychologischeund sozialwissenschaftliche Forschungen zur Betreuungszeitvon Kleinkindern genutzt werden (vgl. Rathje 2004).ELKE GROSSERArndt, G. (2001): Das wissenschaftliche Werk Eva Schmidt-Kolmers(25. 06. 1913–09. 08. 1991) unter besonderer Berücksichtigungihrer Beiträge zum Kinder- und Jugendgesundheitsschutzin der DDR. Diss. Univ. Greifswald. http://ub-ed.ub.uni-greifswald.de/opus/volltexte/2006/235/[Datum des Zugriffs:12. 10. 2013].Bendt, U. (2001 ff): Wochenkrippen und Kinderwochenheime inder DDR. In: Krenz, A. (Hrsg.): Handbuch <strong>für</strong> Erzieherinnen inKrippe, Kindergarten, Kita und Hort. Ausgabe 65.Israel, A. (2008): Frühe Kindheit in der DDR. In: Kinderanalyse.Zeitschrift <strong>für</strong> die Anwendung der Psychonanalyse in Psychotherapieund Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters. 16. Jg.H. 2., 100-127.Jugel, M., Spangenberg, B., Stollberg, R. (1978): Schichtarbeitund Lebensweise. Berlin.Krenz Arnim (Hrsg.) (2001 ff): Handbuch <strong>für</strong> Erzieherinnen inKrippe, Kindergarten, Kita und Hort.Rathje, U. (2004): Kinderkrippen in der DDR – Daten aus einemForschungsprojekt. http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/5036/ssoar-hsr-2004-no_1__no_107-rathjekinderkrippen_in_der_ddr_-.pdf?sequence=1.[Datum des Zugriffs:01.10.2013]Schmidt-Kolmer, E. (Hrsg.) (1977): Zum Einfluss von Familie undKrippe auf die Entwicklung von Kindern in der frühen Kindheit.Berlin.Wolle, S. (1999): Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaftin der DDR 1971-1989. Berlin.Zwiener, K. (1994): Kinderkrippen in der DDR. Materialien zum5. Familienbericht. Band 5. DJI München.30 ZPM NR. 23, DEZEMBER 2013
KINDERBETREUUNG RUND UM DIE UHRSchlafen im KinderhausEin Blick in die Kibbuz-VergangenheitDer Anfang: Gleichheitsideal und Armut„The kibbutz is known as being one of the very few utopianexperiments that have succeeded in establishing a radicallydifferent way of living and of raising children” (Aviezer u. a.1949, 99). Collectiv sleep arrangements (…) constitute probablythe most distinctive characteristics of kibbutz practices incollective child raising” (ebd. 101). Diese Praxis, so die Autoren,habe sich jedoch als zu radikal erwiesen (113). Sie wurdeseit Mitte des vorigen Jahrhunderts in mehr und mehr Kibbuzimabgeschafft.In den Kibbuzim, ländlichen Kommunen, die seit 1909 zur jüdischenBesiedlung des Landes gegründet wurden, sollte dasIdeal der Gleichheit voll verwirklicht werden. Das Aufwachsender Kinder in Kinderhäusern, anfangs wegen der Primitivitätder Behausungen, dem Bedarf an Arbeitskräften bei der Kultivierungdes Landes sowie zum Schutz und zur ausreichendenVersorgung der Kinder notwendig, wurde bald bewusstesMittel zur Verwirklichung einer sozialistischen Utopie. In denersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden die Kibbuz-Kinder gleich nach der Geburt im Säuglingshaus betreut, dieMütter kamen nur in den ersten sechs Monaten zum Stillenins Babyhaus. Die Zwei- bis Vierjährigen, die Fünf- bis Siebenjährigensowie die Acht- bis Zwölfjährigen wohnten in altershomogenorganisierten Kinderhäusern. Danach wechselte dieAltersgruppe zusammen ins Jugendhaus. Gemeinsam aßenund schliefen, spielten und lernten die Kinder. Bei den Elterndurften sie nur zwei Stunden am Nachmittag verbringen.„Wenn die Kinder, so meinten die Gründer, nicht mehr imemotionalen Mittelpunkt der Mütter stehen würden, könnteder Konflikt zwischen emotionaler Bindung der Mütter anihre Kinder einerseits und dem Streben nach Selbstverwirklichungim Beruf andererseits endlich positiv gelöst werden.Denn diesen inneren Konflikt sahen sie als wichtigstes Hindernisauf dem Weg zur Gleichheit an“. (Vonholdt 2009).Der Wandel: „Gegenrevolution der Mütter“Wie veränderte sich dieses Kindheitsprogramm im Laufe derJahrzehnte, woran scheiterte es schließlich? Schon in den1920er Jahren gab es Eltern, die Bedenken gegen die langeTrennung von ihren Kindern äußerten und den wöchentlichenWechsel der Nachtwachen kritisierten. Anfang der 1950erJahre, als Spiro (1958) seine Beobachtungsstudien in mehrerenKibbuzim begann, konnte er bereits von einer Gegenrevolutionder Mütter, die schon im Kibbuz aufgewachsenwaren („Sabra“-Mütter) , sprechen. Diese Mütter – die Väterwerden in der hier zitierten Literatur nicht erwähnt – verändertendann in den 1960er und 1970er zunehmend die Formder Betreuung der Kinderbetreuung. „Die Mütter setzten esdurch, dass ihre Kinder nicht mehr gleich nach der Geburt insBabyhaus kamen, sondern von den Müttern zuhause versorgtwurden, bis sie acht Monate alt waren. Die Mütter reduziertenihre Arbeitszeit und nahmen zusätzlich <strong>für</strong> alle Kinder imVorschulalter noch eine Stunde Extra-Arbeitspause, die„Stunde der Liebe”, wie man es nannte. Anders als in den erstenJahrzehnten durften die Eltern jetzt jederzeit in die Kinderhäuserkommen, um ihre Kinder zu sehen. Verbrachtendie Kinder anfangs täglich zwei Stunden mit ihren Eltern, sowaren es 1975 täglich vier bis fünf Stunden, in denen dieEltern ihren Kindern ungeteilte Aufmerksamkeit gaben. AmAbend aßen die Kinder auch nicht mehr im Kinderhaus, sonderngemeinsam mit den Eltern im Gemeinschaftsraum.Samstags und feiertags verbrachten sie den ganzen Tag mitihren Eltern und oft auch mit den Großeltern. Am Abendbrachten die Eltern, und nicht mehr die Erzieherinnen, dieKinder zu Bett. (…) Die Frauen taten jetzt Dinge, die eine Generationzuvor noch undenkbar gewesen waren: Sie machtenden Kindern auch an ihrem freien Tag das Frühstück,nähten <strong>für</strong> sie und backten Kuchen <strong>für</strong> die Familie. Anders alsdie Gründer sahen die Sabras die Fürsorge <strong>für</strong> ihre Familieund Kinder nicht mehr als Hindernis auf dem Weg zur Emanzipation,sondern als Quelle tiefer Selbsterfüllung“ (Vonholdt2009, im Anschluss an Spira).Das kollektive Schlafen wurde in den 1970er und 1980er Jahrenzunehmend abgeschafft. Zu Beginn der 1990er Jahreschliefen die Kinder nur noch in drei der damals 260 Kibbuzimim Kinderhaus (Aviezer u. a.1994, 101). Die Kinder verbrachtenjetzt nicht mehr von ihrer täglichen Zeit imKinderhaus als Kinder in anderen israelischen Kindertagesstätten.Damit verlagerte sich auch mehr Verantwortung <strong>für</strong>die Kinder von den Erziehern zu den Eltern.In ihrem Rückblick auf den Wandel der Kibbuzerziehung erklärenAriezer u. a.(1994) den Wandel zum einen mit der besserenökonomischen Situation der Kibbuzim, die sich auch inbesseren Wohnungen auswirkte, und zum anderen mit geringererIdentifikation mit der Kibbuz-Ideologie sowie einemTrend zur Familienorientierung bei den nachwachsenden Generationen.Zum anderen weisen sie auf den Zusammenhangmit dem internationalen Wandel der Erziehungskonzepte hin.Während bis in die 1940er Jahre die Kibbuz-Erziehung auf versorgungspraktischeund spirituelle Ziele konzentriert war, tratenspäter die Bedürfnisse der Kinder und die Wahrnehmungdes Kindes als Subjekt in den Vordergrund. Die KibbuzimZPM NR. 23, DEZEMBER 2013 31