10Benjamin Britten: „Four Sea Interludes“in der es um den Fischer Peter Grimes aus Aldeburghgeht, einen moralisch fragwürdigen Charakter,der immer tiefer ins Verderben driftet.Dieser Außenseiter hat sich selbst nicht im Griff,und er pflegt seine Lehrjungen hemmungsloszu schinden. Als einer der ihm anvertrauten Jugendlichenmit dem Boot vom Kurs abkommtund verdurstet, macht man Grimes für seinenTod verantwortlich; als dann noch ein zweiter,von Grimes zur Eile bei der Arbeit angetrieben,von einer Klippe stürzt und stirbt, bricht ein Tribunalüber den Fischer herein. Er wird aus derDorfgemeinschaft verstoßen und endet im Wahnsinn.Ausgerechnet diese problematische Figur, derjede Heldenhaftigkeit abgeht, entflammte BrittensOpernambitionen: Noch in Amerika entwarfer gemeinsam mit Peter Pears, der für dieTitelrolle ausersehen war, erste Skizzen zurHandlung und Dramaturgie; nach seiner Heimkehrbat er dann den befreundeten SchriftstellerMontagu Slater um die Ausarbeitung alsLibretto. So eigenartig seine Sympathie für denverkommenen Fischer auf den ersten Blick anmutet:Mit dem Los des Außenseiters konntesich Britten bestens identifizieren. Zum einen,weil er als Homosexueller einer damals nochweithin stigmatisierten Minderheit angehörte,zum anderen aber, weil auch sein Pazifismus vonder Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt wurde– schließlich war der Zweite Weltkrieg in vollemGange, während Britten an seinem „Grimes“arbeitete. „Als Kriegsdienstverweigerer standenwir außerhalb der Menge“, schilderte Brittendie Lage, wie sie sich ihm und Pears darstellte.„Nicht, dass wir körperlich gelittenhätten, aber wir fühlten natürlich einen enormenDruck. Ich glaube, dass dieses Gefühl unsteilweise dazu bewog, aus Grimes eine Figurmit Einsichten und Konflikten zu machen –einen gequälten Idealisten.“Die See und die SeeleDie Uraufführung des „Peter Grimes“, die gleichnach Ende des Zweiten Weltkriegs, am 7. Juni1945 im Sadler’s Wells Theatre in London stattfand,geriet zu einem Sensationserfolg – undauch bis heute ist dieses Werk die bekanntesteund meistgespielte Oper Brittens geblieben.Besondere Bewunderung fanden von Anfang andie sechs instrumentalen Zwischenspiele, derenbühnentechnische Bewandtnis zwar in derÜberbrückung der Umbaumaßnahmen zwischenden einzelnen Akten bzw. Szenen bestehenmochte, aber die doch viel mehr sind. Denn mitdieser dramatischen und visionären Orchestermusiksetzt Britten zum einen der Landschaftund Natur Suffolks ein tönendes Denkmal, vomAufgang der Sonne bis zur sternklaren Nacht,von der friedvollen Majestät des Ozeans bis zuden entfesselten Sturmgewalten, und würdigtdamit zugleich, wie er selbst bekannte, „denewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihrLeben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzen“.Zum anderen jedoch ergründet Britten dieNatur im doppelten Sinne, nämlich die Naturum uns und die Natur in uns, indem jedes derZwischenspiele ein Psychogramm der Gesellschaftoder des gedemütigten und verzweifeltenTitelhelden zeichnet.Nur sechs Tage nach der Uraufführung der Operstellte Britten vier der „Interludes“ als ausgekoppelteSuite für den Konzertgebrauch vor.
Benjamin Britten: „Four Sea Interludes“11Dabei änderte er die Abfolge der Stücke dahingehend,dass der ursprünglich im ersten Aktplatzierte Satz „Storm“ als Finale nun den effektvollenAbschluss bildet und damit gleichzeitigden Sturm der Gefühle symbolisiert, der denFischer Grimes in den Abgrund reißt. Am Beginnjedoch steht „Dawn“, ein Klanggemälde derMorgendämmerung an einem grauen, kalten undböigen Tag, in dem Britten in den Streichern undHolzbläsern die Möwen schreien und die Wellenaufrauschen lässt, während eherne Bläser akkordedie unermessliche Weite und Gewalt des Ozeanssuggerieren. Ganz anders begegnet uns die Seeam „Sunday Morning“ im Sonnenschein, wennsich das strahlende Licht auf der spiegelndenWasseroberfläche bricht und Glocken, zunächstimitiert von den Hörnern und Fagotten, zum Kirchgangrufen. Und doch lassen einige abgründigeTakte erahnen, dass sich die „fromme“ Gemeinde,die sich hier versammelt, alsbald zum Richterüber ein Menschenschicksal erheben wird. Ähnlichunterläuft Britten im dritten Satz („Moonlight“)die Erwartungen, die man wohl an einverträumtes Mondscheinidyll richten würde.Zwar lässt er die tiefen Streicher, Fagotte undHörner im ruhevollen Schreitgang und mit schattigenNachtklängen beginnen, doch von fernherwird in Flöten und Harfe, später auch im Xylophon,ein Wetterleuchten hörbar, Vorbote einesheranrückenden Gewitters, das sich am Endeindes wieder zu verziehen scheint. Die eigentlicheEntladung folgt im stürmischen Finale,wenn Britten die Gewalten des Meers in einemorchestralen Orkan entfesselt und damit – zumindestin der Suite – den buchstäblichen Untergangseines gebrochenen Helden markiert,der hinausfährt auf die offene See, um seinemLeben ein Ende zu setzen.