Dimitri Liebsch: Wahrnehmung, Motorik, Affektbzw. Extrapolationen ermöglichen, die dann wiederum – in gewisser Weise –getestet werden können.Was das letzte Bordmittel aus der analytischen Philosophie betrifft,den expliziten Einsatz logischer Mittel, sei hier lediglich ein Detail erwähnt,das der Klärung von Begriffen verwandt ist. Bei zentralen Elementen seinerTheorie verwendet Carroll viel Arbeit auf das angemessene Definitionsverfahren.Bei der Definition bewegter Bilder, auf die ich im Folgenden noch genauereingehen werde, legt Carroll beispielsweise Wert darauf, ausschließlichnotwendige Bedingungen <strong>für</strong> das Vorliegen bewegter Bilder anzugeben (vgl.CARROLL 1995: <strong>17</strong>3f. / 2008: 54f.). Das bedeutet, dass diese Bedingungen zwarerfüllt sein müssen, dass aber selbst dann, wenn sie erfüllt sind, immer nochnicht ausgemacht ist, ob es sich bei dem Gegenstand, der diese Bedingungenerfüllt, tatsächlich schon um ein bewegtes Bild handelt. Man kann sich nursicher sein, dass es sich nicht um ein bewegtes Bild handelt, wenn diese Bedingungennicht erfüllt sind. Dieses aufwendige logische Arrangement bringteinen gewissen Spielraum mit sich, den man sich leicht an einer Anekdoteaus der Philosophiegeschichte vergegenwärtigen kann: Platon soll vor seinenSchülern den Menschen als zweifüßiges, ungefiedertes Tier definiert haben,woraufhin Diogenes einen gerupften Hahn quasi als Menschen mit in dieAkademie brachte (DIOGENES LAERTIUS 2008: VI, § 40). Begreift man aberZweifüßigkeit, Ungefiedertsein und Tiersein nur als notwendige Bedingungen,ist Diogenes’ Scherz witzlos – keiner wird dann auf den Gedanken kommenkönnen, das Vorliegen dieser Eigenschaften sei bereits hinreichend <strong>für</strong>Menschsein.Um noch auf die letzte hier relevante Facette in der Methode, auf denKognitivismus, zu sprechen zu kommen: Carroll beschreibt die Kognitivistennicht als einheitliche Schule mit einheitlicher Theorie, sondern als Gruppevon Forschern, die durchaus konfligierende ›small scale theories‹ entwickeln,sich aber in Bezug auf einen wesentlichen Aspekt ihres Ansatzes einig sind:the emphasis that it places on the efficacy of models that exploit the role of cognitiveprocesses, as opposed to unconscious processes, in the explanation of cinematiccommunication and understanding (CARROLL 1996b: 321).Mit seinem Eintreten <strong>für</strong> den Kognitivismus opponiert Carroll gegen die Psychoanalysein der ›grand theory‹ auf doppelte Weise. Einerseits macht er sich<strong>für</strong> den empirischen Test von Hypothesen stark. Andererseits weist er – ausgerechnetmit Rekurs auf Freuds Traumdeutung – darauf hin, dass Psychoanalysenur <strong>für</strong> die Erklärung des Irrationalen zuständig sei. Wo hingegen wiebeim Film ein Zustand oder ein Verhalten durch Hinweis auf Organisches,Rationales oder das normale Funktionieren von Kognition und Wahrnehmungerklärt werden könne, gebe es <strong>für</strong> sie nichts zu tun. Der Kognitivismus verdrängtdemnach – wohlgemerkt im nicht-freudschen Sinne – die Psychoanalyse;und er bedient sich, wie auch die Phänomenologie, aus der aktuellenForschung der Psychologie, Physiologie usw.<strong>IMAGE</strong> | Ausgabe <strong>17</strong> | 1/2013 136
Dimitri Liebsch: Wahrnehmung, Motorik, Affekt6. Der Körper in Carrolls ›piecemeal theories‹Während der Körper oder der Leib <strong>für</strong> Sobchack das zentrale und bereitsdurch ihre Methode vorgegebene Thema ist, handelt es sich bei ihm <strong>für</strong>Carroll um ein Thema neben anderen, das gemäß des ›piecemeal theorizing‹auch keinen festen systematischen Ort hat, sondern in unterschiedlichen Kontextenimmer wieder neu zum Gegenstand wird. Abgesehen von seiner Dissertation,die sich allerdings dem Körper im Film widmet und deshalb hiernicht berücksichtigt wird, sind das vor allem die Ontologie und – teils im Anschlussan seine Studie The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heartvon 1990 – einige Bemerkungen zu den Affekten.a) Körper und Ontologie. Carroll hat sich seit 1995 dreimal zu filmontologischenFragen geäußert und damit u.a. beabsichtigt, den Film im System derKünste zu situieren (vgl. CARROLL 1995: 156 / 1996b: 49 / 2008: 54). Für alle indiesem Zusammenhang entstandenen Texte trifft zu, dass sie – inspiriert vonAndré Bazins berühmter Essay-Sammlung Qu’est-ce que le cinéma? – dieFrage »what is cinema?« aufgreifen (vgl. CARROLL 1995: 155 / 1996b: 49 / 2008:53). Angesichts dessen überrascht es, dass sich Carrolls Texte anders als dieArbeiten Sobchacks nicht auf den Film im engeren Sinne bzw. auf das DispositivKino und den dort projizierten Film konzentrieren, sondern deutlich abstrakteransetzen. Anstatt ein bestimmtes physisches Medium legt CarrollsOntologie eine Funktion zugrunde: den Eindruck von Bewegung zu vermitteln.Die Gattung der Artefakte, denen diese Funktion zu eigen ist, nenntCarroll ›bewegte Bilder‹; und das Medium Film gilt dabei als eine wichtige,aber eben nur als eine der Arten dieser Gattung:This function can be implemented in an indefinite number of media – celluloidbasedfilm, most obviously, but also video, broadcast TV, handmade cartoon flipbooks, CGI, and truth be told, who knows what successive generations will invent?(CARROLL 2008: 63).In seiner ausführlichen Definition der bewegten Bilder finden sich ursprünglichvier, später fünf notwendige Bedingungen, wobei sich gemäß der erwähntenMedienpluralität – anders als bei Sobchack – die Projektion nichtdarunter befindet. Dass Carroll sich auf notwendige Bedingungen beschränkt,verschafft ihm einen gewissen Spielraum. Er kann einräumen, dass Grenzfällewie das Daumenkino oder die von präkinematographischen Apparaten erzeugtenEffekte (etwa des Zootrops, das Bewegungsverläufe im Inneren einersich bewegenden Trommel zeigen konnte) zwar alle Bedingungen erfüllen; ermuss solche Grenzfälle deswegen aber noch nicht automatisch als bewegteBilder akzeptieren. Damit stellt sich natürlich die Frage: Warum will er sienicht als bewegte Bilder akzeptieren? Carroll versucht hier einen Ausgleich zufinden zwischen einer möglichst allgemeinen systematischen Beschreibungauf der einen Seite und der Alltagssprache und dem Commonsense auf deranderen Seite: Daumenkino und Zootrop sind schließlich nicht das, »that peopleusually have in mind when they talk about motion pictures« (CARROLL2008: 75; vgl. ferner 1995: <strong>17</strong>3f.).<strong>IMAGE</strong> | Ausgabe <strong>17</strong> | 1/2013 137
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