Dimitri Liebsch: Wahrnehmung, Motorik, AffektZu Carrolls Verteidigung könnte man nun vorbringen, dass es sich bei seinerOntologie ja nicht einfach um eine Ontologie des Films handelt, sondern umeine des ›bewegten Bildes‹. Diese Verteidigung ist meines Erachtens jedochnicht überzeugend. Unter eine Gattung wie ›bewegtes Bild‹ müssten schließlichalle Arten subsumiert werden können – und darunter müsste sich auchdas finden können, was üblicherweise Gegenstand der Rezeption vor demFernseher oder im Kino ist. (Der Bequemlichkeit halber werde ich derartigeArtefakte im Folgenden ›Filme im alltäglichen Sinne‹ nennen.) Außerdemhandelt es sich bei dem Gros der in Carrolls Ontologie verhandelten Fälleausgerechnet um Filme im alltäglichen Sinne, also um Casablanca oder dieHBO-Serie Rom, und nur bei einem Bruchteil um reine ›bewegte Bilder‹ ohneTon (wie etwa Experimentalfilme oder Artefakte aus der Kinetoskopie).Carrolls Ontologie müsste also Filme im alltäglichen Sinne thematisierenkönnen und in der Tat spricht sie sie ja auch an. Damit stellt sich allerdingsdie Frage, auf welche Weise sie es tut. Die Antwort ist einfach: Carrolls Ontologiethematisiert solche Filme eben nur so weit, wie es sich bei ihnen um›bewegte Bilder‹ handelt. Akustische Eigenschaften entgehen ihr. Anders gesagt:Carrolls ›bewegte Bilder‹ verhalten sich zu Filmen im alltäglichen Sinnenicht allein wie die Gattung zu einer Art, sondern zugleich – und in dieserReihenfolge! – wie der Teilaspekt zum Ganzen.An diesem Punkt könnte man <strong>für</strong> Carroll vorbringen, dass seine DefinitionFilme ja keineswegs zur Gänze thematisieren muss und nicht verpflichtetist, alle Eigenschaften von Filmen im alltäglichen Sinne zu nennen. Gemäßihrer Struktur nennt die Definition ja lediglich die notwendigen Bedingungen,also die Bedingungen, die vorliegen müssen, damit etwas als ›bewegtes Bild‹bezeichnet werden kann; und selbstverständlich ist der Ton nichts, was etwaszu einem ›bewegten Bild‹ macht. Formal ist es also korrekt, wenn CarrollsOntologie vom Ton absieht. Sind damit aber alle wesentlichen Eigenschaftenvon Filmen im alltäglichen Sinne schon genannt? Auch hier ist die Antworteinfach, sie lautet: nein – und das nicht nur in Hinsicht auf Fernsehformatewie Nachrichten oder Talk-Shows. Man stelle sich nur vor, was von einerKomödie Eric Rohmers übrig bliebe ohne das ewige Parlando ihrer Heldinnenund Helden. Und was würde aus Der weiße Hai ohne die Musik von JohnWilliams und vor allem ohne das bedrohliche Zwei-Ton-Motiv in den tiefenStreichern und Bläsern, das man hört, selbst wenn man den Hai nicht sieht?Ungeachtet ihrer Meriten, verschiedene Medienarten unter die Gattungder ›bewegten Bilder‹ subsumieren zu können, ist Carrolls Ontologie derMultimodalität, wie sie sich beim Film im alltäglichen Sinne findet, nicht angemessen.Um dieser gerecht zu werden, wäre ein anderes Definitionsverfahrensinnvoll, das etwa die Filme im alltäglichen Sinne als »Prototypen« verstünde(vgl. HOLENSTEIN 1985: 194ff.). 10 Auf diese Weise könnten dann jeneArtefakte auch theoretisch fokussiert werden, die de facto ohnehin im Zentrumvon Carrolls Ontologie stehen; und erst dann könnte Carrolls Ontologie10Dass im ästhetischen Kontext die Angabe von notwendigen (und gegebenenfalls auch hinreichenden)Bedingungen nicht alternativlos ist und dass vielmehr eine Pluralität von Definitionsverfahrenbesteht, die unterschiedliche Zwecke erfüllen, zeigt grundsätzlich Strube 1993: 29-39.<strong>IMAGE</strong> | Ausgabe <strong>17</strong> | 1/2013 144
Dimitri Liebsch: Wahrnehmung, Motorik, Affektihrer eigenen Zielsetzung gerecht werden und den Film im Kontext der anderenKünste situieren.In diesem Zusammenhang will ich abschließend noch eine begrifflicheEigenheit kommentieren. Anders als der im Deutschen seltene Ausdruck›bewegtes Bild‹ erfüllen im Englischen ›moving pictures‹, ›motion pictures‹,›moving images‹ und die Kurzform ›movies‹ zwei unterschiedliche Aufgaben.Diese Ausdrücke können erstens und im Wortsinne einen rein visuellen Gegenstandbezeichnen, aber zweitens ebenfalls pars pro toto den Film im alltäglichenSinne meinen. Carroll redet über das erste, aber in Ausdrücken, dieauch <strong>für</strong> das zweite verwendet werden. Was das Defizit seiner Definition betrifft,so ist Carroll offenbar dieser sprachlichen Eigenheit aufgesessen – oderaber er beutet sie bewusst aus, um das Defizit zu kaschieren. Da Carroll inseiner Ontologie den normalen Sprachgebrauch und den Commonsensedurchaus respektiert und reflektiert, wie seine Diskussion der GrenzfälleDaumenkino und Zootrop gezeigt hat, ist die zweite Option allerdings wahrscheinlicher.Durch die Konfrontation der Phänomenologie Sobchacks und der analytischenPhilosophie Carrolls sind im Vorhergehenden die Leistungen undGrenzen der beiden Ansätze deutlich geworden, jedenfalls soweit sie die Rolle/ndes Körpers <strong>für</strong> den Film thematisieren. Erstaunlicherweise liegen dieSchwächen der beiden (bei Sobchack sind es gravierende, bei Carroll sind eskleinere) genau in den Bereichen, die man prima facie zu ihren Stärken gezählthätte: Die Phänomenologie Sobchacks hat Probleme, dem PhänomenFilm gerecht zu werden, und Carrolls Ontologie vermag ausgerechnet bei derWahl des Definitionsverfahrens nicht zu überzeugen. Positiv festhalten lässtsich, dass eine substanzielle philosophische Auseinandersetzung mit bewegtenBildern (im weitesten, also die talkies einschließenden Sinne) den Bereichdes rein Optischen weit überschreiten muss. Dabei geht es weniger darum,dass zu dem Gesehenen parallele taktile Qualitäten – womöglich imaginativ –in gewisser Weise hinzugefühlt werden können. Entscheidend ist vielmehr,erstens die in der Wahrnehmung tatsächlich miteinander und mit der Motorikinteragierenden Sinne zu berücksichtigen und zweitens zu verfolgen, wie dasMosaik der vom bewegten Bild dargebotenen Modalitäten (auch in zeitlicherHinsicht) zusammengesetzt ist. Da es sich bei diesen Bildern um bewegtehandelt und sie daher auf vielfältige Weise und besonders körperlich wirkenkönnen, ist schließlich und drittens nicht zu vergessen, dass ›motion pictures‹auch »e-motion pictures« sind (CARROLL 2008: 147).LiteraturBAUDRY, JEAN-LOUIS: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat (1970). In:Eikon. Internationale Zeitschrift <strong>für</strong> Photographie und Medienkunst, 51993, S. 36-43.<strong>IMAGE</strong> | Ausgabe <strong>17</strong> | 1/2013 145
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