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Utopie - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Auf dem Feldweg<br />

Kaum eine Stunde später: Die Sonne ist aufgegangen, ich lächle<br />

entspannt und schau auf meinen Tacho, 100 km/h und meine<br />

Abfahrt kommt. Am Ortseingang drei Schilder, zuerst Dittichenrode,<br />

dann Sackgasse und als Letztes begrüßt mich eine 30.<br />

Gleich bin ich zu Hause auf unserem Bauernhof am Südrand<br />

des Harzes, zu Füßen Kaiser Barbarossas. Die 130 Einwohner<br />

kenne ich alle und auch jedes Gebäude, 56 an der Zahl, die<br />

Hälfte davon Scheunen. Hier leben mehr Tiere als Menschen,<br />

alle Wege aus diesem verschlafenen Örtchen enden zwischen<br />

weiten Feldern, die im Sommer in vollem Korn stehen, oder<br />

in Wäldern, durch die ich oft stundenlang mit den Hunden<br />

gehe, keine Menschenseele weit und breit. Handys funktionieren<br />

erst gar nicht, bzw. nur bei günstigem Wind. Wenn die<br />

Sonne untergeht, glüht das ganze Tal vor mir und die Nacht<br />

gibt Milliarden kleiner Lichter frei. Jeden Stern sehe ich, die<br />

Glühwürmchen tanzen, in der Ferne am Hügel auf der anderen<br />

Seite ein Lagerfeuer. Mittendrin stehen auf einem kleinen Hügel<br />

unsere Pferde. Meine Schwester Franzi betreibt einen Hof<br />

für Verhaltens- und Bewegungstherapie, wo Menschen durch<br />

den Kontakt mit Tieren geholfen wird und man immer ein offenes<br />

Ohr hat.<br />

Wenn die Sonne untergeht, glüht das ganze Tal<br />

vor mir und die Nacht gibt Milliarden kleiner<br />

Lichter frei<br />

Gerade wird Winnie, eine bildschöne Tinkerstute, für die erste<br />

Reitstunde vorbereitet. Sie bleibt ganz ruhig stehen, genießt<br />

es, wenn Schweif und Mähne gekämmt werden, sie gestriegelt<br />

wird und schaut mich mit einem braunen und einem blauen<br />

Auge zufrieden an. Gleich wird Sina reiten. Sie ist an den Rollstuhl<br />

gebunden und kann nicht klar sagen, wie sie sich fühlt.<br />

Doch das Strahlen in den Augen hat sie mit allen kleinen und<br />

großen Reitern gemein, wenn sie voller Stolz ein so großes Tier<br />

lenken darf, dieses auf sie aufpasst und jede Unsicherheit spürt.<br />

Nun sind beide fertig und es geht los. Franzi sitzt hinter ihr<br />

auf dem Pferd und muss sie halten. Langsam bewegt sich der<br />

Tross Richtung Reitplatz, verschwindet aus meinem Sichtfeld.<br />

Da höre ich Sina laut aus ganzem Herzen lachen. Am Ende der<br />

Reitstunde wird sie alleine auf dem großen Rücken liegen, ganz<br />

langsam die sonst von Krämpfen angespannte Hand öffnen<br />

und sich bei Winnie für das Vertrauen bedanken. Auch für die<br />

Eltern bedeutet es viel, hier zu sein. Sie können durchatmen,<br />

die schwere Verantwortung und die Sorgen für eine kurze Zeit<br />

einmal loslassen und alles diesem wunderbaren, weiß-braungescheckten<br />

und ruhigen, großen Tier überlassen. Und so, wie<br />

sich Sinas Muskeln entspannen, lösen sich auch ihre tiefen Falten.<br />

Und die Freude steckt an. Die Uhr scheint hier langsamer<br />

zu gehen; wird etwas mehr Zeit benötigt, dann ist sie da.<br />

Inzwischen hat mich Monty entdeckt, ein 45 Kilogramm leichter<br />

afrikanischer Löwenjagdhund. Ich muss aufpassen, dass er<br />

mich bei seiner stürmischen Begrüßung nicht umwirft, denn<br />

ich bin richtig müde und muss erst einmal ins Bett. Ich erinnere<br />

mich, wie ich schon als kleines Kind hier geschlafen habe und<br />

wie ungewohnt es damals war, gar nichts zu hören, außer Vogelgezwitscher<br />

und bellenden Hunden. Draußen fängt jetzt der<br />

Tag an und meiner geht zu Ende. Wenn ich wieder aufstehe,<br />

bin ich erholt und ruhig, auch wenn ich weiß, dass dann Ausmisten<br />

an der Reihe ist und ich noch den einen oder anderen<br />

Text für die Uni zu lesen habe. Was hier im Garten aber gar<br />

nicht schwer fällt.<br />

Gegenseitige Liebe, Wertschätzung und Vertrauen zwischen<br />

Franzi und ihrem großen Wallach Wheatus<br />

Muss ich mich entscheiden?<br />

Muss ich mich nun entscheiden? Ich merke für mich, dass ich<br />

beides brauche. Natürlich ist es schön, morgens gleich alles zu<br />

bekommen, was ich am Vortag bestellt habe. Auch die Herausforderung,<br />

schnell Entscheidungen zu treffen und Verantwortung<br />

zu tragen, macht Spaß. Doch würde ich es dafür aufgeben,<br />

mit Menschen in Kontakt zu treten, um nur noch Nachtschichten<br />

zu schieben? Sieht die Zukunft denn so aus, dass ich mein<br />

Leben bei Facebook in eine Wolke lade und meine Freunde<br />

sehen, wie es mir geht und wo ich war, während ich schlafe?<br />

Keine Zeit mehr zu haben, um danke zu sagen und schön, dass<br />

es dich gibt, für einen Schulterklopfer oder eine Umarmung?<br />

Wir Menschen werden immer älter, haben viel mehr Jahre zur<br />

Verfügung und haben doch viel weniger Zeit. Mein Freund<br />

Gunnar hat schon recht gehabt, ich muss mich jetzt noch nicht<br />

entscheiden und wenn ich einmal eine Richtung eingeschlagen<br />

habe, kann ich immer noch schauen, ob es die richtige ist, war<br />

oder sein wird. Die Zukunft bleibt also spannend und unberechenbar,<br />

auch wenn DHL mir jetzt schon sagen möchte, wie<br />

viele Pakete zu Weihnachten wahrscheinlich verschickt werden.<br />

Und, liebe Freunde, bestellt mal schnell noch bei Zalando die<br />

neuen Reitstiefel. Ich sorge dafür, dass sie morgen da sind und<br />

dann geht es zur Erholung auf den Reiterhof. n<br />

Weitere Informationen unter:<br />

8 www.dp-dhl.com/de/logistik_populaer/aus_den_unternehmensbereichen/hub_leipzig.html<br />

8 www.reit-therapiehof-billhardt.de<br />

Reportage<br />

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