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Utopie - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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18<br />

Homestory<br />

Im Frühtau der Zukunft<br />

Zwischen Kaffeekapselautomaten und Mikrostrahlenpointern<br />

Von Emilia Miguez<br />

er Strand und mein Blick aufs Meer lösen sich auf.<br />

Es ertönt mein Lieblingslied. Die Massage setzt ein,<br />

ich mache die Augen auf. Ich starre an die Decke, wo<br />

meine To-Do-Liste in schwarzen und roten Buchstaben<br />

leuchtet. „Es ist 8 Uhr. Sie sind gerade aus der Traumphase<br />

erwacht. Stehen Sie auf und kleiden Sie sich an. Nach der<br />

Zahnsäuberung begeben Sie sich zum Kapselautomaten und<br />

nehmen Ihr Frühstück ein.“ Weiter möchte ich jetzt noch nicht<br />

denken und befehle dem System: „Stopp!“. Die sanfte Stimme<br />

setzt aus. Nun hört auch die Massage auf, nur die Musik tüdelt<br />

weiter. Ich nehme den vom System vorgeschlagenen blauen<br />

anti-transpiranten Overall vom Reinigungsständer, anscheinend<br />

gibt es heute viel zu tun. Am Mikrostrahlenpointer wähle ich<br />

Zahnreinigung, einige grüne Strahlen tasten für wenige Sekunden<br />

mein Gebiss ab. Ratlos stehe ich danach vor dem Kapselautomaten.<br />

Aus den verschiedenen Frühstückmenus wähle ich<br />

ein eiweißhaltiges mit viel Kalzium, dazu Koffeinstärke fünf.<br />

Ich fühle mich nach einer starken Koffeindosis heute Morgen.<br />

Dem System funktioniere ich mal wieder nicht schnell genug.<br />

Es erinnert mich mahnend: „Sie haben noch 15 Minuten bis<br />

zur Lektüreeinheit! Sie haben heute noch keinen Pflichtpunkt<br />

bearbeitet!“ Mein Blick huscht kurz zur Wand, an der wieder<br />

meine To-Do-Liste leuchtet. Uff, ziemlich lang heute, einzelne<br />

Punkte leuchten rot. Ein kurzes Signal ertönt, und schon fällt<br />

eine braune Frühstückskapsel in meine Hand. Nach meinem<br />

ausgiebigen Urlaubstraum scheint mir ein Gespräch mit meiner<br />

Freundin, auch Studentin der Medienwissenschaften, ein guter<br />

Start in den Tag: „Verbindung - Sheela.“<br />

An der Wand erscheinen meine 25 Mitstudierenden<br />

und ein Herr im weißen Overall<br />

Das System wählt und an meiner Wand erscheint Sheela, in<br />

ihrem Sessel sitzend, schon einen Text für die Lektüreeinheit<br />

scannend. Sie nimmt die Scanbrille ab und schaut mich fragend<br />

an: „Na, was ist denn los heute Morgen? Hast du mal<br />

wieder geträumt? Stell mal lieber Filmgeschichte ein, dann bist<br />

du traumhaft auf die Lektüreeinheit vorbereitet.“ Ich starre Sie<br />

nur an. Was habe ich auch erwartet? Sheela ist eine Musterstudentin<br />

und würde nie an dem Auswahlhebel für den Traummodus<br />

herumspielen. Trotzdem verstehen wir uns gut. „Ich weiß<br />

doch“, sage ich leicht genervt. „Das System hat mich gestern<br />

Abend auch schon darauf hingewiesen. Du scannst schon wieder<br />

fleißig?! Ich habe noch nicht mal richtig auf meine To-Do-<br />

Liste geschaut.“ Nebenbei tippe ich im Navigationsmenü an<br />

der Wand auf „Text“. Die Klappe in der Decke geht auf und die<br />

Scanbrille fällt in meinen Schoß.<br />

Ich setze sie kurz auf, ein Text zu „Star Wars“ flitzt an meinen<br />

Augen vorbei. Gelangweilt nehme ich sie wieder ab. Mir ist gerade<br />

eingefallen, weshalb das System mir den blauen Overall<br />

vorgeschlagen hat: „Gestern ist mir was echt Blödes passiert.“<br />

Sheela runzelt skeptisch die Stirn. „Ich war mit dem Citycruiser<br />

unterwegs und habe den Autopiloten ausgeschaltet. Ohne<br />

macht es mehr Spaß! Beim Einparken habe ich dann das Eingangstor<br />

meines Nachbarn gerammt. Jetzt ist eine Delle drin<br />

und dafür entschuldigt habe ich mich auch noch nicht.“<br />

„Blick in die Zukunft“<br />

Ich schaue auf die leuchtendroten Wörter auf meiner Liste.<br />

Deutlich blinkt mir „Reparatur und Entschuldigung“ entgegen.<br />

Sheela stöhnt kurz: „Dass du auch immer so unvernünftig sein<br />

musst! Bleib doch einfach mal in deinem Life-Room. Du siehst<br />

ja, mir passiert so ein Mist nie. Hast du dich schon informiert,<br />

wie man eine Delle repariert?“ Mein fragender Blick lässt darauf<br />

schließen, dass ich das natürlich noch nicht getan habe. Es ist<br />

echt ‘ne harte Strafe, einem den Assistenzroboter wegzunehmen.<br />

Jetzt muss ich das selbst reparieren. Das System erinnert<br />

mich an einen weiteren unangenehmen Punkt: „Sie haben noch<br />

fünf Minuten bis zum Beginn der Lektüreeinheit. Bitte scannen<br />

Sie Ihre Textinformationen.“<br />

Nun setzt pünktlich die Wirkung des Koffeins ein und ich bin<br />

bereit, mich auf den Text zu konzentrieren. „Willst du nach der<br />

Einheit zu mir kommen? Und wir versuchen das gemeinsam?<br />

Täte dir auch mal ganz gut, deinen Life-Room zu verlassen!“<br />

Wir setzen unsere Scanbrillen auf. „Die Lektüreeinheit beginnt.<br />

Sie werden mit Ihren Kommilitonen und dem Professor für<br />

Filmgeschichte vernetzt“. An der Wand erscheinen meine 25<br />

Mitstudierenden und ein Herr im weißen Overall. Alle haben<br />

schon ihre Scanbrillen auf und der Professor fängt pünktlich<br />

an, den Text zu kommentieren, der über unsere Brillengläser<br />

schnellt. n

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