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Grundschule aktuell 122

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Thema: Kritische Stellen in der Lernentwicklung<br />

Hans Brügelmann<br />

Omibus und Popapier<br />

Zum Umgang mit der Einsicht, dass Kinder nicht einfach lernen,<br />

was wir versuchen, sie zu lehren<br />

Ein Grundschulkind erzählt seiner Mutter, am nächsten Tag müsse es sich für<br />

die Schule fein machen, denn der »Erdbeerschorsch« komme zu Besuch. Was<br />

soll sich auch ein achtjähriges Kind unter einem »Erzbischof« vorstellen, und ist<br />

nicht auch ein »Kuhfürst« für Kinder dieses Alters plausibler als ein »Kurfürst«?<br />

Spätestens seit dem »weißen Neger Wumbaba« in der Trilogie kindlicher Verhörer<br />

von Axel Hacke und Michael Sowa (2010) wissen wir, was aus kulturellem<br />

Erbe – wie eben dem »weißen Nebel wunderbar« in Matthias Claudius’ Gedicht<br />

»Der Mond ist aufgegangen« – in Kinderköpfen werden kann.<br />

Wenn schon situative Wahrnehmungen<br />

derart stark gefiltert<br />

werden, verwundert es<br />

nicht, dass auch das Lernen von komplexeren<br />

Leistungen nicht bloße Kopie<br />

kundiger Lehre ist. Kinder lernen nicht<br />

einfach das, was wir ihnen vorgeben,<br />

wir können sie nicht durch Perfektionierung<br />

unserer Methoden sozusagen<br />

»lernen machen«, wie eine »evidenzbasierte<br />

Steuerung« des<br />

Bildungssystems und<br />

des Unterrichts naiv unterstellt<br />

(vgl. zur Kritik:<br />

Bellmann / Müller 2011).<br />

Doch genau so haben es<br />

viele DidaktikerInnen<br />

lange Zeit gesehen. Sie<br />

haben versucht, Lernen effektiver zu<br />

machen, indem sie für die Kinder »Stoffe<br />

elementarisiert« haben.<br />

Einer dieser Wege war fach(wissenschaft)lich<br />

orientiert: Der Psychologe<br />

Jerome Bruner (1970) etwa setzte auf<br />

das Prinzip »structure of the discipline«.<br />

Auf dieser Grundlage wurden um 1970<br />

Curricula vor allem für den Sachunterricht<br />

in der <strong>Grundschule</strong> und für<br />

die Naturwissenschaften in der Sekundarstufe<br />

entwickelt. FachexpertInnen<br />

identifizierten grundlegende Konzepte<br />

und Verfahren in ihren Disziplinen,<br />

und DidaktikerInnen übersetzten diese<br />

in kleinschrittige Lehrgänge »vom<br />

Einfachen zum Schweren«. Aber ist für<br />

LernerInnen dasselbe elementar wie für<br />

die SpezialistInnen eines Fachs – und<br />

damit »einfach«? Wer sich beispielsweise<br />

die nach diesem Prinzip entwickelten<br />

– linguistisch durchaus begründeten –<br />

silbenanalytischen Ansätze für das Lesen-<br />

und Schreibenlernen ansieht, bekommt<br />

Zweifel (vgl. Brinkmann 2013).<br />

Einen anderen Weg sind PsychologInnen<br />

gegangen – und gehen ihn auch<br />

heute noch: Sie gliedern komplexe Fähigkeiten<br />

kompetenter Personen – wie<br />

Rechnen- oder Rechtschreibenkönnen<br />

– in Teilleistungen und ihre Voraussetzungen.<br />

Dann übersetzen sie diese<br />

Grundschulkinder füllen die »black<br />

box« einer Handkurbel-Brotschneidemaschine,<br />

vergleichen ihre unterschiedlichen<br />

Lösungen und (er-)finden<br />

auf diese Weise das Prinzip der<br />

Übersetzung (Möller 1998, S. 97).<br />

Module ebenfalls in Aufgabensequenzen:<br />

»vom Teil zum Ganzen«. Aber ist<br />

ein Teil – ohne Kontext und damit ohne<br />

Bedeutung für das Kind – wirklich<br />

leichter zu lernen? Buchstabenfolgen in<br />

Laute zu übersetzen und anschließend<br />

zu »synthetisieren« gelingt nur schwer<br />

ohne eine Sinnerwartung. Diese ihrerseits<br />

ist auf einen inhaltlichen Kontext<br />

angewiesen. Hinzu kommt das Problem<br />

der Integration von Teilleistungen,<br />

denn diese fügen sich nicht von selbst<br />

zu alltagstauglichen Kompetenzen zusammen.<br />

Dennoch: Beide Sichtweisen können<br />

heuristisch hilfreich sein – als Bezugspunkte<br />

für die Entwicklung von Aufgaben<br />

und von didaktischen Materialien.<br />

Als Vorschriften oder Blaupausen für<br />

Unterricht taugen sie dagegen nicht.<br />

Dazu muss der Blick radikal gewendet<br />

werden: von der Optimierung des Lehrens<br />

zum besseren Verständnis des Lernens<br />

und seiner Unterstützung.<br />

Eine solche Sichtweise hat schon seit<br />

den 1920er Jahren der Entwicklungspsychologe<br />

Piaget entwickelt. Ihn faszinierten<br />

die Fehler der Kinder als intelligente<br />

Lösungsversuche auf ihrem<br />

jeweiligen Entwicklungsstand. Und dies<br />

so sehr, dass er sich Jahrzehnte mit ihren<br />

Versuchen beschäftigte, die Welt mit<br />

Hilfe ihrer <strong>aktuell</strong> verfügbaren Vorstellungen<br />

für sich »auf die Reihe zu bringen«:<br />

»Während das Denken des Kindes<br />

früher gewöhnlich nur negativ durch<br />

Fehler, Mängel und Minderleistungen<br />

bestimmt wurde, durch die es sich vom<br />

Denken des Erwachsenen unterscheidet,<br />

hat Piaget versucht, die qualitative Eigenart<br />

des kindlichen Denkens positiv zu<br />

charakterisieren« (Vygotski<br />

1972, S. 17 f.).<br />

Diese Deutung von kindlichen<br />

Fehlern war eine kopernikanische<br />

Wende in<br />

der Entwicklungspsychologie<br />

– mit Folgen auch für<br />

die Didaktik. So haben Selter<br />

/ Spiegel (1997) ihre Erfahrungen mit<br />

rechnenden Kindern auf vier Formeln<br />

gebracht, von denen die ersten beiden an<br />

dieser Stelle gut als Zwischenfazit passen:<br />

Kinder rechnen anders als Erwachsene<br />

– und sie rechnen auch anders, als<br />

Erwachsene meinen, dass sie rechnen.<br />

Piagets Ansatz, Kinder als Sinnsucher<br />

und als – auf ihre eigene Weise – kompetente<br />

Teilhaber an unserer Kultur zu<br />

betrachten, verändert die Perspektive<br />

auf Lehren und Lernen grundlegend. So<br />

hat in der Forschung zum naturwissenschaftlichen<br />

Denken von Kindern lange<br />

Zeit die Vorstellung von »mis-concepts«<br />

dominiert, die es auszutilgen gelte. Inzwischen<br />

werden die Begriffe und Erklärungen<br />

der Kinder als »pre-concepts«<br />

ernst genommen, als kognitive Filter,<br />

durch die neue Erfahrungen verarbeitet<br />

werden (vgl. für den naturwissenschaftlichen<br />

Unterricht die Beiträge zu Duit<br />

12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>122</strong> • Mai 2013

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