Freiräume
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 08/2015
Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 08/2015
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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />
Ausgabe 08/2015<br />
FREIRÄUME<br />
FREIRÄUME<br />
1
FREIRÄUME<br />
Wie hängen<br />
<strong>Freiräume</strong> mit<br />
Vertrauen zusammen?<br />
Ob <strong>Freiräume</strong> gewährt werden, hängt eng mit dem<br />
Vertrauen in eine Person zusammen. Das wird nicht<br />
nur im Privaten so erlebt, sondern spielt auch in der<br />
Arbeitswelt eine große Rolle. Diese <strong>Freiräume</strong> am<br />
Arbeitsplatz sind bekanntlich Biotop für neue<br />
Ideen und Innovation und werden in der<br />
Managementliteratur unter dem Begriff Empowerment<br />
geführt. Verschiedene Maßnahmen wie u. a.<br />
die Teilhabe der Mitarbeiter an Entscheidungen,<br />
Übernahme von Verantwortung und ständiges<br />
Weiterlernen sollen die Motivation und<br />
die Fähigkeiten des Einzelnen stärken,<br />
was wiederum der gesamten<br />
Organisation zugute<br />
kommt.<br />
Wird es enger<br />
auf der Welt?<br />
Wo wird<br />
die Welt am<br />
stärksten wachsen?<br />
Das stärkste Bevölkerungswachstum<br />
ist für die heutigen Entwicklungsländer<br />
vorhergesagt. Auf dem afrikanischen<br />
Kontinent soll sich die Zahl der Menschen<br />
bis 2050 verdoppeln. In Europa hingegen<br />
ist bis 2050 ein Rückgang der<br />
Bevölkerung um ca. 100 Millionen<br />
Menschen (von 742 Mio.<br />
auf 639 Mio.)<br />
prognostiziert.<br />
Impressum und Offenlegung<br />
Medieninhaber und Herausgeber<br />
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),<br />
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0<br />
www.oeamtc.at<br />
ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301<br />
Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter<br />
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.<br />
Rechtsgeschäftliche Vertretung<br />
DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor<br />
Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor<br />
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh<br />
Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),<br />
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)<br />
Chefin 2 vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA<br />
Was ist<br />
unter <strong>Freiräume</strong>n<br />
zu verstehen?<br />
In der Landschaftsplanung versteht man<br />
unter <strong>Freiräume</strong>n unbebaute Stellen.<br />
Abseits dieser städteplanerischen Verwendung<br />
des Begriffes definiert der Duden Freiraum als<br />
„Möglichkeit zur Entfaltung eigener Kräfte<br />
und Ideen (für eine Person oder Gruppe)“.<br />
Die Nutzung solcher <strong>Freiräume</strong> ist<br />
wiederum abhängig von Freiheit,<br />
worunter Unabhängigkeit,<br />
Ungebundenheit<br />
verstanden<br />
wird.<br />
Die Erde umfasst<br />
149,4 Millionen km2 Land (29,3 % der<br />
gesamten Oberfläche). An dieser Zahl wird<br />
sich in den nächsten 100 Jahren nicht<br />
viel ändern. Die Bevölkerung hingegen<br />
wird stark wachsen: Laut UNO von<br />
heute 7,1 Milliarden Menschen auf<br />
9,6 Milliarden im Jahr 2050 und<br />
10,9 Milliarden im Jahr 2100.<br />
Statistisch steht somit jedem<br />
Menschen weniger Platz<br />
zur Verfügung.<br />
Was kann<br />
Freiheit in der Kunst<br />
bedeuten?<br />
„Der Zeit ihre Kunst– der Kunst ihre Freiheit“<br />
ist der Leitspruch der Wiener Secession und steht<br />
unter der Goldkuppel zu lesen. Das Zitat stammt vom<br />
ungarisch-österreichischen Schriftsteller Ludwig Hevesi<br />
(1843–1910). Es ist Ausdruck des Geistes der Künstlervereinigung<br />
rund um Gustav Klimt, Koloman Moser,<br />
Carl Moll u. a., die sich im Fin de Siècle, im Übergang<br />
zum 20. Jahrhundert, gegen das konservative<br />
Kunstdiktat des damaligen Künstlerhauses stellten.<br />
Die Künstler vereinigung wollte eine ganzheitliche Kunst<br />
realisieren, d. h. disziplinenübergreifend eine Synthese<br />
verschiedener Bereiche wie etwa Architektur,<br />
Malerei, Medizin erarbeiten. Bis heute ist<br />
die Secession ein Ausstellungshaus<br />
für zeitgenössische<br />
Kunst.<br />
Essen im Park –<br />
woher kommt<br />
das Wort Picknick?<br />
Es ist nicht restlos geklärt, ob<br />
Engländer oder Franzosen das Picknick<br />
erfunden haben. Daher ist auch nicht ganz<br />
eindeutig zu sagen, wo das Wort<br />
seinen Ursprung hat. Naheliegend ist die<br />
Theorie, dass Picknick eine französische<br />
Kreation ist: pique-nique von<br />
„piquer“ (stechen oder stehlen) und<br />
„nique“ (Kleinigkeit). Das Picknick<br />
hat es bis ins Japanische<br />
geschafft und wird dort<br />
als pikunikku<br />
bezeichnet.<br />
Ist Freiheit<br />
berechenbar?<br />
Nein, sagt der<br />
österreichische Ökonom<br />
und Wirtschaftsnobelpreisträger<br />
Friedrich von Hayek:<br />
„Sie sichert uns keinerlei bestimmte<br />
Möglichkeiten, sondern überlässt<br />
es uns zu entscheiden, was wir aus<br />
den Umständen machen,<br />
in denen wir uns<br />
befinden.“<br />
Was ist<br />
der Zweck<br />
der Freiheit?<br />
Nach dem Ökonom Friedrich<br />
von Hayek sei es der Zweck der Freiheit,<br />
eine neue, nicht voraussagbare<br />
„Möglichkeit von Entwicklungen zu<br />
schaffen“. Deshalb könnten wir auch nicht<br />
wissen, was wir durch die Beschränkung<br />
der Freiheit verlieren. Gewiss ist jedoch,<br />
dass gerade Beschränkungen häufig<br />
der Ausgangspunkt sind, um<br />
wiederum neue <strong>Freiräume</strong><br />
zu suchen.<br />
Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz, Ancuta Barbu, Thomas Berg,<br />
Catherine Gottwald, Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche,<br />
Mag. Astrid Kuffner, MMag. Ursula Messner, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,<br />
DI Anna Várdai, Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA<br />
Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger<br />
Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA<br />
Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba<br />
Druck Hartpress<br />
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.<br />
Ausgabe 08/2015, erschienen im Oktober 2015<br />
Download www.querspur.at
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Heute<br />
Freie Räume<br />
Trotz Individualisierung erleben wir weniger<br />
persönlichen Freiraum. Muss das sein?<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Raum auf Zeit<br />
Wie die temporäre Nutzung von<br />
Gebäuden, Baustellen oder Brachen<br />
eine Stadt beleben.<br />
Von Thomas Berg<br />
Vom Gaspedal<br />
Der Freiraum der Straße wird für<br />
die Zukunft neu defi niert.<br />
Von Daniela Müller<br />
Der Streber ist der neue Rebell<br />
Haben Jugendliche heute mehr<br />
<strong>Freiräume</strong> als früher?<br />
Von Daniela Müller<br />
Die Seele baumeln lassen<br />
Wo <strong>Freiräume</strong> messbar werden.<br />
Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer<br />
Morgen<br />
Unerwartet mehr möglich!<br />
Von heute auf morgen ein anderes Leben.<br />
Von Astrid Kuffner<br />
Nicht der Output,<br />
sondern die Wirkung zählt<br />
OTELO Gründer Martin Hollinetz<br />
über seine Innovationslabore am Land.<br />
Von Catherine Gottwald<br />
Mit Abstand am besten<br />
Abstand zwischen Fahrzeugen wird auch<br />
in Zukunft wesentlich sein. Am Boden wie<br />
auch in der Luft.<br />
Von Thomas Berg<br />
Selbstbestimmt als Ideal<br />
DJane Susanne Rogenhofer, alias<br />
Sweet Susie, im Interview über Musik<br />
und ihre befl ügelnde Wirkung im<br />
Gemeindebau.<br />
Von Catherine Gottwald<br />
Der Heuhaufen sucht mit<br />
Predictive Analytics sagen voraus,<br />
was wir morgen kaufen werden.<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Startups<br />
Spannende Ideen zum Thema <strong>Freiräume</strong>.<br />
Von Ancuta Barbu<br />
Foto: © Karin Feitzinger<br />
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Foto: © Karin Feitzinger Foto: © Otelo<br />
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Foto: © inbloon<br />
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FREIRÄUME<br />
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Foto: © Karin Feitzinger
TROTZ FORTSCHREITENDER INDIVIDUALISIERUNG MACHT SICH DAS GEFÜHL<br />
BREIT, DASS DIE PERSÖNLICHEN FREIRÄUME KLEINER WERDEN. DA IST ETWAS<br />
DRAN, DOCH ES LIEGT IN DER HAND DES EINZELNEN, DAGEGEN VORZUGEHEN.<br />
Von Ruth Reitmeier<br />
Die einen meinen, man müsse sie sich<br />
nehmen, erkämpfen, ausverhandeln;<br />
die anderen sprechen davon, dass<br />
sie quasi allgegenwärtig sind und<br />
man sich nur auf sie einlassen muss.<br />
Die Rede ist von <strong>Freiräume</strong>n. Beide<br />
Sichtweisen treffen zu, und echte<br />
<strong>Freiräume</strong> liegen wohl irgendwo<br />
dazwischen.<br />
WAS MENSCHSEIN<br />
BEDEUTET, IST EINE<br />
KERNFRAGE DER<br />
PHILOSOPHIE<br />
Eine freundliche, lockere Begrüßung<br />
auf dem Gang des Instituts für Philosophie<br />
der Universität Wien. Georg<br />
Stenger gestaltet seine Rolle nicht<br />
in der Tradition des professoralen<br />
Habitus. Er trägt Poloshirt und Jeans,<br />
Krawatte binden kann er nicht, wie er<br />
betont, und er schätzt einen kollegialen<br />
Umgang auf Augenhöhe. Er hat<br />
den Lehrstuhl für „Philosophie in einer<br />
globalen Welt“ inne. „Jede Kultur prägt<br />
ihre Philosophie und umgekehrt, beide<br />
bedingen einander gegenseitig, sie<br />
gehen auseinander hervor“, sagt er.<br />
Um das zu verstehen, muss man sich<br />
so Essenzielles fragen, wie etwa was<br />
Mensch(sein) bedeutet. Ein Beispiel:<br />
Das japanische Wort ningen bedeutet<br />
nicht nur Mensch, so wie es in unserem<br />
Kulturkreis verstanden wird,<br />
sondern auch „zwischen Mensch<br />
und Mensch“ – die Bedeutung von<br />
ningen umfasst auch das Zwischenmenschliche.<br />
Die Seinsstruktur des<br />
Menschen ist also vielschichtig.<br />
Japaner verstehen sich als Teil eines<br />
Ganzen, als Teil der Natur. Dies ist<br />
freilich grundlegend anders als in der<br />
christlich-westlichen Tradition, wo<br />
Natur und Kultur in Opposition zueinander<br />
stehen, wo Natur zivilisiert und<br />
beherrscht werden soll. „Macht Euch<br />
die Erde untertan“, lautet Gottes Auftrag<br />
an den Menschen in der Genesis.<br />
OHNE FREIHEIT<br />
KEIN FREIRAUM<br />
Der Kampf um <strong>Freiräume</strong> ist die Geschichte<br />
der westlichen Welt,<br />
Freiraum ist gewissermaßen das Ergebnis<br />
von Freiheit. „Dies ist uns<br />
nicht in den Schoß gefallen, darum<br />
haben wird jahrhundertelang gekämpft“,<br />
betont Ulrike Ackermann,<br />
Gründerin des John Stuart Mill Instituts<br />
für Freiheitsforschung in Heidelberg.<br />
Wenn viele Menschen trotz fortschreitender<br />
Individualisierung das<br />
bange Gefühl nicht loswerden, dass<br />
es enger wird, dass es immer weniger<br />
<strong>Freiräume</strong> gibt, so liegen sie damit<br />
nicht falsch. Das Paradoxe daran:<br />
Das Problem ist selbstverschuldet,<br />
zumal viele Menschen unter Bedingungen<br />
der Digitalisierung <strong>Freiräume</strong><br />
freiwillig aufgeben. Ackermann kennt<br />
den Wert der Freiheit, hatte sie doch<br />
ihren Verlust am eigenen Leib zu spüren<br />
bekommen. In den 1970er Jahren,<br />
mit osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen<br />
verbandelt, brachte sie<br />
immer wieder Dokumente über die<br />
Grenze. 1978 wurde sie von der<br />
tschechoslowakischen Polizei aufgegriffen<br />
und inhaftiert. Sie verbrachte<br />
mehrere Wochen, auf ihren Prozess<br />
wartend, im Gefängnis und konnte<br />
letztlich nur durch geheimdiplomatische<br />
Beziehungen freikommen.<br />
EXHIBITIONISMUS IN<br />
SOZIALEN NETZWERKEN<br />
IST DER AUSWUCHS<br />
INDIVIDUELLER FREIHEIT<br />
Umso irritierter beobachtet Ackermann,<br />
wie Menschen ihre <strong>Freiräume</strong><br />
geradezu freiwillig aufgegeben. In<br />
ihrem 2013 erschienen Buch „Im Sog<br />
des Internets“ analysiert sie Öffentlichkeit<br />
und Privatheit im digitalen<br />
Zeitalter. Die Privatsphäre sei unbedingt<br />
schützenswert, zumal gerade<br />
sie so viele Handlungsfreiräume biete.<br />
Via Social Media wird aber immer<br />
mehr Privates mintunter exhibitionistisch<br />
geteilt. Da ist am Ende nicht<br />
mehr viel übrig, das unangetastet,<br />
intim oder gar geheim bleibt. Durch<br />
das Transparentmachen des Privatund<br />
Innenlebens feiert der Einzelne<br />
öffentlich seine Individualität, doch<br />
dies sei ein Trugschluss. Tatsächlich<br />
büßt er dabei an Autonomie ein und<br />
wird zur Anpassung genötigt. Beim<br />
digitalen Voten gibt es ähnlich wie<br />
bei kommunistischen Wahlen schließlich<br />
nur den Like-Button. Wer alles<br />
offenlegt, engt letztlich seine <strong>Freiräume</strong><br />
und auch seine Wahlfreiheit ein.<br />
DAS SMARTPHONE<br />
ALS MITTEL<br />
ZUR EINFALT<br />
Wer sich von Algorithmen verschlingen<br />
lässt, wird Teil einer Monokultur,<br />
die den Daumen stets befürwortend<br />
hochhält. Konkret: Wer sich etwa von<br />
seinem Smartphone auf einen nach<br />
persönlichen Vorlieben optimierten<br />
Stadtrundgang mitnehmen lässt, wird<br />
letztlich wenige Überraschungen erleben.<br />
Es ist also nur scheinbar eine<br />
ganz exklusive Tour. Der Smartphone-<br />
Reisende wird genauso über standardisierte<br />
Pfade durch die Stadt geschleift<br />
wie andere Reisegruppen<br />
auch. Denn er beschreitet vorfabrizierte<br />
Wege, beraubt der Möglichkeit,<br />
sich auf wirklich Neues, Fremdes, Unbekanntes<br />
einzulassen. Doch gerade<br />
in der spontanen Entdeckung entstehen<br />
<strong>Freiräume</strong>.<br />
„Es ist ein Wunsch nach Gemeinschaft“,<br />
beurteilt Ackermann den<br />
Trend zur virtuellen Extrovertiertheit,<br />
„es ist eine Reaktion auf die Angst, in<br />
einer unübersichtlicher werdenden<br />
Welt verloren zu gehen“. Die Politikwissenschaftlerin<br />
plädiert dafür, sich<br />
dies unbedingt bewusst zu machen.<br />
FREIRÄUME<br />
5
Jeder Mensch sollte quasi für sich<br />
selbst Technologiefolgenabschätzung<br />
betreiben. Denn, um <strong>Freiräume</strong> zu<br />
verteidigen, braucht es heute digitale<br />
Selbstbestimmung. Freiraum ist in<br />
diesem Sinne auch ein Schutzraum für<br />
die Freiheit. „Wir müssen herausfi n-<br />
den, wie Autonomie unter den neuen<br />
Bedingungen aussieht“, sagt Ackermann.<br />
So sei es rat- und heilsam, ein<br />
paar Geheimnisse zu hüten, nicht alles<br />
offenzulegen, auszuplaudern, und<br />
sei es nur, um nicht nonstop die Fassade<br />
wahren zu müssen.<br />
DIE BÜHNE DES<br />
LEBENS HAT<br />
ZWEI SEITEN<br />
Der kanadische Soziologe Erving<br />
Goffman unterschied, wie Menschen<br />
auf der „Vorder-“ oder der „Hinterbühne“<br />
ihres Lebens agierten: Was<br />
sich auf der Vorderbühne abspielt,<br />
das ist offi ziell, für alle sichtbar. Man<br />
weiß, dass man beobachtet wird, und<br />
spielt eine Rolle. Die Hinterbühne hingegen<br />
ist ein Ort des inoffi ziellen, nur<br />
für Eingeweihte und Beteiligte sichtbaren<br />
Geschehens. Dort fühlt man<br />
sich unbeobachtet und kann sich<br />
auch einmal erlauben, aus der Rolle<br />
zu fallen. Es geht darum, die Hinterbühne<br />
als echte Privatsphäre zu verteidigen.<br />
ORTE DER<br />
WEITERENTWICKLUNG<br />
UND INNOVATION<br />
„Selbstverständlich hängen Freiheit<br />
und Freiraum zusammen. Freiraum ist<br />
Handlungsraum“, betont Ackermann.<br />
<strong>Freiräume</strong> seien Orte der Innovationskraft<br />
einer Gesellschaft und somit<br />
unverzichtbarer Entwicklungsraum.<br />
Im Freiraum kann der Mensch experimentieren,<br />
schöpferisch werden.<br />
Dieser wird oftmals als „Biotop“<br />
für neue Ideen beschrieben – für<br />
bessere Ideen. Die Grenzen des eigenen<br />
Freiraums verlaufen seit jeher<br />
entlang jener, wo sich andere in ihrer<br />
Freiheit beeinträchtigt fühlen. Wobei<br />
sich dem nach Freiraum Suchenden<br />
immer auch die Frage stellt, wie weit<br />
er gehen kann, gehen muss, um dorthin<br />
zu gelangen, wo er hin will. Menschen,<br />
die „ihr Ding machen“, werden<br />
von vielen bewundert, doch der Grat<br />
zwischen Egoismus und Freiraum ist<br />
schmal. Deshalb müssen <strong>Freiräume</strong><br />
mit anderen austariert werden. Zudem<br />
werden sie nicht ausschließlich im Alleingang<br />
bespielt, sondern können mit<br />
anderen geteilt werden. Am Beispiel<br />
der Emanzipation:<br />
In einer modernen Beziehung werden<br />
tradierte Rollen nicht einfach akzeptiert,<br />
sondern von jedem Paar ausverhandelt.<br />
Und das macht Arbeit – womit<br />
ein wichtiger Punkt angesprochen<br />
ist. Sich <strong>Freiräume</strong> zu schaffen kann<br />
anstrengend werden. Wer auf sie aber<br />
verzichtet, bleibt übrig: in einem verhassten<br />
Job, in einer unbefriedigenden<br />
Beziehung. Gelegentliches, hobbymäßiges<br />
Herumspinnen in einer<br />
selbstgebastelten Ecke gilt nicht.<br />
Echte <strong>Freiräume</strong> lassen sich nicht<br />
derart eingrenzen.<br />
ECHTE FREIRÄUME<br />
SIND NICHT<br />
FREMDBESTIMMT<br />
Georg Stenger vom Institut für Philosophie<br />
der Uni Wien unterstreicht,<br />
dass er Freiraum nicht als Gegensatz<br />
zum Stressraum interpretiert wissen<br />
will. Sein Verständnis von <strong>Freiräume</strong>n<br />
ist vielschichtiger: „Sie liegen nicht<br />
einfach vor, so wenig wie sie anhand<br />
eines Zeitmanagements geplant werden<br />
könnten. Wer so vorgeht, der<br />
hat den ‚Freiraum‘ schon funktionalisiert,<br />
sprich von einem anderen<br />
Zweck her festgelegt, also fremdbestimmt.“<br />
Raum im Sinne eines Freiraums<br />
entsteht demnach aus einem<br />
wechselseitigen Resonanzgeschehen<br />
„im Zwischen“ von Räumen, und genau<br />
dieses nicht unmittelbar Fassenkönnen<br />
mache den Raum zu einem<br />
Freiraum, der einen (trotz) scheinbaren<br />
Stresses gelassen sein, ja einen<br />
sich erholen oder gar genießen lässt.<br />
„Mit dem yx und Genießen melden<br />
sich erste Indikatoren eines Freiraumes“,<br />
betont Stenger.<br />
ZURÜCKLEHNEN<br />
UND SICH TREIBEN<br />
LASSEN<br />
<strong>Freiräume</strong> können sich in Zwischenzeiten<br />
ergeben. Etwa in der Enge eines<br />
Flugzeugs, wo sich der Reisende<br />
Raum verschafft, indem er sich in ein<br />
Buch vertieft oder Musik hört. Dabei<br />
mag sich ein Wechsel von einem in<br />
einen weiteren Raum vollziehen und<br />
im Schwebezustand ein Freiraum<br />
ergeben, in den er eintaucht.<br />
<strong>Freiräume</strong> entstehen auch auf der<br />
Vorderbühne, etwa in der Gestaltung<br />
von Berufsrollen. Ein Beispiel dafür ist<br />
der Ober in einem Wiener Kaffeehaus.<br />
Die besten von ihnen beherrschen das<br />
ironische Spiel mit der österreichischen<br />
Tradition, diese nicht ganz<br />
ernst gemeinte, gelassene Art der<br />
Ausübung einer Service-Dienstleistung.<br />
Nicht zuletzt deshalb ist der<br />
Wiener Ober ein „Herr Ober“ und<br />
das ist zweifellos etwas anderes als<br />
Servierpersonal. Freiraum ist also<br />
Lebensart.<br />
AN MANCHEN<br />
ARBEITSPLÄTZEN<br />
GIBT ES KEINE<br />
AUSSCHALT-TASTE<br />
Was im Kaffeehaus möglich ist, funktioniert<br />
im Big Business immer weniger.<br />
In Managementbüchern wird zwar unermüdlich<br />
die Wichtigkeit von kreativen<br />
<strong>Freiräume</strong>n betont. Doch mit der Realität<br />
des Arbeitsalltags in multinationalen<br />
Konzernen hat das wenig zu tun.<br />
Rigide Prozesse und 24/7-E-mail-<br />
Empfangsbereitschaft lassen kaum<br />
Raum zum Durchatmen.<br />
6
Foto: © shutterstock<br />
<strong>Freiräume</strong> entstehen in bestimmten Situationen und/oder werden aktiv geschaffen. Zum Beispiel dient das Zeitunglesen, Musikhören<br />
oder das Benützen des Mobiltelefones in der U-Bahn während der Rush Hour auch dazu, der Enge des Raums zu entfl iehen und in einen<br />
Freiraum einzutauchen.<br />
SCHLIMMER ALS DIE<br />
ZENSUR IST DIE<br />
SELBSTZENSUR<br />
Was stört, sind jedoch weniger die<br />
Zwänge der Organisation als vielmehr<br />
die beschriebene Freiwilligkeit, mit<br />
der private <strong>Freiräume</strong> aufgegeben und<br />
letztlich auch persönliche Freiheit<br />
geopfert werden. Wie bewusst dieser<br />
Verzicht passiert, ob die Menschheit<br />
nun tatsächlich sehenden Auges<br />
Mitläufer in einer Diktatur des „Babyphone<br />
für Erwachsene“ – wie Ackermann<br />
das optimierte Smartphone<br />
nennt – wird, sei dahingestellt.<br />
In früheren Zeiten, als Menschen in<br />
Europa in Klassen und Stände getrennt<br />
waren, verhielt es sich eher<br />
umgekehrt. Die Unterprivilegierten,<br />
die etwa das Gesindehaus nicht zu<br />
verlassen wagten, schmerzte wohl<br />
nicht zuletzt die Einsicht, nicht alles<br />
versucht zu haben, es dennoch zu<br />
tun. Schlimmer als die Zensur ist<br />
die Selbstzensur, schlimmer als die<br />
Unterdrückung ist die Unterwerfung.<br />
Denn Freiheit hat im europäischwestlichen<br />
Verständnis untrennbar<br />
mit Eigenverantwortung, mit Mündigkeit,<br />
mit Erwachsensein zu tun.<br />
Freiraum entsteht allein dadurch,<br />
dass man ihn sucht.<br />
EIN SCHMALER GRAT<br />
ZWISCHEN SELBST-<br />
VERWIRKLICHUNG UND<br />
SELBSTAUSBEUTUNG<br />
Parallel zur selbstverursachten Freiheitsberaubung<br />
manifestiert sich in<br />
der Welt der Wirtschaft ein Trend zur<br />
Selbstausbeutung. Einst gab es den<br />
Bauern und den Knecht, den Industriellen<br />
und den Fabriksarbeiter. Die<br />
Rollen waren klar verteilt, es herrschte<br />
das Prinzip der Fremdausbeutung –<br />
kein Arbeiter wäre je auf die romantische<br />
Idee gekommen, sich als Unternehmer<br />
seiner Selbst zu verstehen. In<br />
der Arbeitswelt unserer Tage gelten<br />
diese Trennungen als längst überholt.<br />
Das hat viele Vorteile, jedoch führt es<br />
auch dazu, dass sich die Menschen<br />
zunehmend selbst ausbeuten – in<br />
der Illusion, sich zu verwirklichen. Der<br />
Berliner Philosoph mit koreanischen<br />
Wurzeln Byung-Chul Han spricht<br />
deshalb von einer „Krise der Freiheit“.<br />
In seinem Buch „Psychopolitik. Neoliberalismus<br />
und die neuen Machttechniken“<br />
argumentiert er, dass wir uns in<br />
einer historischen Phase befi nden, wo<br />
die Freiheit selbst Zwänge hervorrufen<br />
kann. Es sei die Freiheit des Könnens,<br />
die weit mehr Zwang als das disziplinarische<br />
Sollen ausübt. Hat das Sollen<br />
Grenzen, gilt dies nicht für das<br />
Können. Freiheit heißt jedoch frei von<br />
Zwängen sein. So entstehe laut Han<br />
eine paradoxe Situa tion. Der Philosoph<br />
hält etwa die Zunahme an Burnout-Erkrankungen<br />
für einen Ausdruck dieser<br />
Krise der Freiheit. Andere Stimmen<br />
argumentieren wiederum, dass gerade<br />
zu viele <strong>Freiräume</strong> die Gesundheit gefährden,<br />
zumal auch deren Anforderungen<br />
in die Überlastungsdepression<br />
führen können.<br />
FREIRÄUME ALS<br />
PSYCHOHYGIENE<br />
Unterm Strich spricht wohl mehr<br />
dafür, <strong>Freiräume</strong> zu suchen, als dafür,<br />
es erst gar nicht zu versuchen und im<br />
Gesindehaus 2.0. sitzen zu bleiben.<br />
Denn <strong>Freiräume</strong> sind zweifellos auch<br />
Schutzräume für die Psyche. – Und<br />
wenn schon ausbrennen, dann doch<br />
besser im Freiraum als im Kerker. <br />
FREIRÄUME<br />
7
USERSTORY<br />
Unerwartet<br />
mehr möglich!<br />
SIE SITZT IN DER AUSLAGE EINER NICHT MEHR GROSSEN STADT, ER<br />
STEHT NICHT MEHR IM RAMPENLICHT. DIE BERATERIN MARIE-THERES<br />
ZIRM UND DER EHEMALIGE MOTOCROSS-PROFI MARKUS MAUSER SIND<br />
IN NEUE, UNERWARTETE FREIRÄUME EINGETAUCHT. Von Astrid Kuffner<br />
Kreativwirtschaft<br />
trifft weites Land<br />
Eine Netzwerkerin wie Marie-Theres Zirm braucht keine Großstadt als Schaltzentrale.<br />
Die Wienerin übersiedelte Anfang 2013 in die oststeirische Bezirkshauptstadt Weiz und<br />
ist sich dort selbst näher gekommen.<br />
Fotos: © Renate Woditschka<br />
Leben, lieben und arbeiten sind bei Marie-Theres Zirm eng<br />
verwoben: Mit ihrem Mann Christian Heuegger-Zirm gründete<br />
sie 2007, damals noch in Wien, die Agentur cardamom und<br />
ist seither landesweit unterwegs, um (Kleinst-)Unternehmen<br />
im Kreativbereich zu beraten, zu coachen und zu vernetzen.<br />
Doch während der Jahre des familienbedingten Pendelns<br />
nach Weiz, wo ihr Mann aufgewachsen ist, „hat sich etwas<br />
vorbereitet“, sagt sie: Es entstand die Bereitschaft der Großstädterin<br />
für ein Leben auf dem Land. Im Herbst 2012 fragte<br />
sie ihren Mann dann von sich aus, ob sie mit Tochter (damals<br />
vier Jahre alt) und Sohn (zwei Jahre alt) ins Grüne ziehen sollten.<br />
Auch wenn ihr eines schon damals klar war: „Dass ich<br />
mich nicht als Mäuschen in den Hinterhof setzen werde.“<br />
Die ersten Wochen in der neuen Heimat genoss Zirm ganz<br />
bewusst als Zeit der Narrenfreiheit. In Weiz kannte sie niemand,<br />
sie konnte alles in Ruhe beobachten. Wenig später<br />
stand sie mit ihren Aktivitäten bereits in der Regionalzeitung.<br />
Vorgenommen hatte sie sich das nicht. Es war ihr einfach<br />
ein Anliegen gewesen, einen Treffpunkt für KreativunternehmerInnen<br />
in der Umgebung zu schaffen. Mit Erfolg: Der Begriff<br />
Kreativwirtschaft gehört mittlerweile zum Selbstverständnis<br />
der Oststeiermark und wird dort als wichtige<br />
Wirtschaftsbranche verstanden.<br />
Gemeinsam mit einer Weizer Werbeagentur ist die Agentur<br />
cardamom in einem ehemaligen Schuhgeschäft eingemietet.<br />
Marie-Theres Zirm sitzt im Wortsinn in der Auslage. Der begrünte<br />
Innenhof ist zum Branchentreff geworden. Für ihr<br />
Unter nehmen war der Umzug goldrichtig: „Wir nehmen uns<br />
in der Arbeit einen großen Freiraum, halten ihn offen zum<br />
Spielen, Experimentieren und Scheitern. Dass wir so schnell<br />
bezahlte Projekte in der Region an Land ziehen konnten, haben<br />
wir nicht erwartet.“<br />
Geholfen hat dabei die eigene Offenheit, der Ansatz: „Ich<br />
komme und will lernen“ anstatt „Ich bin aus Wien und weiß<br />
alles besser“. Bei der raschen Integration half es, lokale<br />
Grenzziehungen (und damit Zugehörigkeiten) zu beachten:<br />
Was gehört zu Weiz, wo endet die Region Oststeiermark und<br />
warum gehört ein paar Kilometer entfernter Ort nicht mehr<br />
dazu? Weiz ist übrigens ein Bildungs- und Industriestandort<br />
mit 11.300 Menschen. Stärker als im Wiener Grätzl, dem<br />
Servitenviertel, in dem sie aufgewachsen ist, ist die soziale<br />
Kontrolle in dieser Kleinstadt auch nicht. Ihre Welt ist eigentlich<br />
größer geworden, betont sie und freut sich, dass ihre Kinder<br />
durch regelmäßige Wien-Besuche zwei Welten erleben.<br />
Hat sie sich angepasst, um dazuzugehören? Nein! Sie blieb<br />
sie selbst und entdeckte ein paar neue Seiten an sich: So<br />
bewegt sie sich heute mehr im Freien, sitzt manchmal still<br />
und schaut den frisch geschlüpften Küken zu und hat mit<br />
dem Herdfeuer im eigenen Kamin auch ihr Zuhause verankert.<br />
Wenn die Zeit reif ist, fallen unbewusste Wünsche auf<br />
fruchtbaren Boden und keimen aus: „Ich werde immer mehr<br />
ich selbst und kann mir aus heutiger Sicht nicht vorstellen,<br />
wieder wegzugehen“. <br />
www.cardamom.at<br />
8
Foto: © Martin Mauser<br />
Der Schnellste zu sein war für Markus Mauser, ehemaliger Motocross-Profi,<br />
zehn Jahre lang das Wichtigste. Doch nach einem Unfall stand der Motocross-<br />
Staatsmeister an einem Wendepunkt und lenkte sein Leben in neue Bahnen.<br />
Die Freiheit,<br />
„nein“ zu sagen<br />
Das Weinviertel ist nicht nur Heimat rescher Weißweine, sondern<br />
auch das gelobte Land des Motocross-Sports. Zehn<br />
Rennstrecken kann Markus Mauser von seinem Heimatort<br />
in nur einer Stunde Fahrtzeit erreichen. Er kennt sie<br />
alle. Obwohl in Österreich eine Randsportart, ist Motocross<br />
in seiner Familie stark verbreitet: Vater, Onkel, Cousins – alle<br />
fahren. Mit drei Jahren absolvierte er erste Fahrversuche, mit<br />
acht Jahren fuhr er die komplette Rennsaison auf einer Kawasaki<br />
(60 ccm/15 PS). Mit 14 fi ng er neben der KFZ-Mechaniker-Lehre<br />
als Profi fahrer an. 30 Wochenenden im Jahr<br />
verbrachte Markus Mauser bei Rennen, trainierte mehrmals<br />
pro Woche und bastelte an Rennmaschinen herum. Es<br />
machte ihm Spaß und er war erfolgreich.<br />
2007 stieg der damals 24-jährige für einen internationalen<br />
Bewerb recht abrupt auf eine Viertakt-Maschine um. Prompt<br />
überschlug er sich im Training, das 110-Kilogramm-Zweirad<br />
fi el ihm in den Rücken und er wurde einen Moment bewusstlos.<br />
Als er wieder zu sich kam, dehnten sich Sekunden zu<br />
gefühlten Stunden: Werde ich wieder aufstehen? Kann ich<br />
meine Finger und Zehen bewegen? Werde ich zum Rennen<br />
antreten? Muss ich meine Karriere beenden?<br />
Er hatte Glück: Nach zwei Wochen war er wieder auf den<br />
Beinen, begann mit der Physiotherapie und steckte sich<br />
neue Ziele. Er wollte beim Sport bleiben: Bandscheiben entlasten<br />
durch Muskelaufbau, gezieltes Training und rückenschonend<br />
Rennen fahren lautete das Motto. Letzteres<br />
erwies sich als ebenso unmöglich wie sanft ins Gelände<br />
zu springen oder schaumgebremst Gas zu geben. Der Gymnastikball<br />
war immer mit im Gepäck, aber nach jedem Rennen<br />
hatte er Schmerzen. Der Staatsmeister-Titel 2007 markierte<br />
den Wendepunkt. Nach diesem Erfolg konnte er<br />
endlich auf seine innere Stimme hören – und aufhören. Um<br />
diese Entscheidung Sponsoren, Rennkollegen und Fans zu<br />
kommunizieren, brauchte er noch bis 2008. Es war nicht<br />
leicht, bei sich zu bleiben, weil sein Umfeld ihm weitere zehn<br />
Jahre als aktiver Profi einreden wollte. Manche könnten seine<br />
Entscheidung bis heute nicht verstehen und wollten ihn<br />
immer wieder zu Rennen überreden, sagt Mauser.<br />
Doch dieser holte sich den Spaß zurück, indem auf die Einschränkungen<br />
des Profi sports, nämlich der Schnellste zu<br />
sein, verzichtete. Er machte stattdessen die Matura nach,<br />
absolvierte eine Banklehre und arbeitet seit April 2011 in<br />
der Raiffeisenbank Wolkersdorf. Er ist Vater von zwei Töchtern<br />
(drei Monate und zwei Jahre alt) und sagt heute, dass<br />
er „auch in zehn Jahren noch aufrecht gehen können“ wolle:<br />
„Am Limit zu fahren interessiert mich nicht mehr. Ich drehe<br />
einfach meine Runden.“ Seit 2015 arbeitet er zudem bei der<br />
Obersten Sportkommission Motorsport mit: Er nimmt Strecken<br />
ab, testet E-Bikes und gibt seine Erfahrungen an junge<br />
Moto-Crosser weiter. Das Wochenende genießt er mit der<br />
Familie. Die ist auch dabei, wenn er seine KTM ausführt. Ob<br />
er seine Begeisterung weitergeben kann, ist offen. Seine<br />
ältere Tochter hat für den Motorsport derzeit nur folgende<br />
Worte übrig: „Papa! Motorrad laut!“. <br />
FREIRÄUME<br />
9
„Nicht der Output,<br />
sondern die<br />
Wirkung zählt“<br />
INNOVATIONSPROZESSE BENÖTIGEN GEISTIGE UNVOREINGENOMMENHEIT<br />
UND PLATZ ZUM EXPERIMENTIEREN. FREIRÄUME, DIE ES ABSEITS URBANER<br />
BALLUNGSRÄUME MEIST NICHT GIBT. UM DIES ZU ÄNDERN, GRÜNDETE<br />
MARTIN HOLLINETZ OTELO (OFFENES TECHNOLOGIE LABOR), WO KINDER<br />
UND ERWACHSENE IM LÄNDLICHEN RAUM INNOVATIVE IDEEN ERPROBEN<br />
KÖNNEN. Das Gespräch führte Catherine Gottwald<br />
querspur: Das von Ihnen 2010<br />
initiierte Offene Technologie Labor,<br />
kurz OTELO, versteht sich als systematischer<br />
Freiraum, der Menschen abseits<br />
urbaner Ballungszentren kostenlose<br />
Infrastruktur für kreative und technische<br />
Aktivitäten zur Verfügung stellt<br />
und bei der Verwirklichung ihrer Ideen<br />
unterstützt. In einem Interview haben<br />
Sie OTELO einmal als Mischung aus<br />
„Jugendzentrum und Forschungslabor“<br />
bezeichnet. Gilt das auch heute noch?<br />
Martin Hollinetz: Nein. Heute würde<br />
ich OTELO weniger als Jugendzentrum,<br />
sondern mehr als „Forschungslabor<br />
für generationenübergreifende<br />
Aktivitäten“ bezeichnen. Fakt ist, dass<br />
die meisten Menschen, die ins OTELO<br />
kommen, zwischen 25 und 70 Jahre alt<br />
sind. Wir sehen das OTELO als „bürgerschaftliches<br />
Forschungslabor“, wo<br />
wir gemeinsam in partizipatorischen<br />
Prozessen an der Zukunft der eigenen<br />
Kommune arbeiten.<br />
TECHNOLOGIE ALS<br />
KUNSTFERTIGKEIT<br />
VERSTEHEN<br />
querspur: Schlummert in den Bürgern<br />
also ein bisher unerkanntes Potenzial,<br />
das in Innovationsfreiräumen, wie sie<br />
OTELO bietet, aus dem Dornröschenschlaf<br />
geweckt werden kann? Im<br />
OTELO gibt es ja keine Vorgaben<br />
bezüglich der Erreichung von Zielen …<br />
Hollinetz: Wir schaffen Rahmenbedingungen,<br />
wo wir etwas dürfen und<br />
nicht müssen. Wir sind von keinem<br />
System im Umfeld verpflichtet, für<br />
eine bestimmte Problemlösung etwas<br />
austüfteln zu müssen, für das wir<br />
im Gegenzug Geld bekommen. Unsere<br />
Legitimation ist, gemeinsam mit<br />
den Bürgern Zukunft offen und lustvoll<br />
zu entwickeln. Das ist ein Riesenprivileg<br />
und es braucht auch die Bereitschaft<br />
einer Kommune, sich das zu<br />
gönnen. So wird der Raum zum Raum<br />
für die gesamte Bevölkerung, wo jeder<br />
das Recht hat, etwas zu tun.<br />
querspur: OTELO steht also allen<br />
Menschen offen, die Lust am Experimentieren,<br />
Erfahren und Wissensaustausch<br />
haben und/oder sich inspirieren<br />
lassen wollen.<br />
Hollinetz: Technische oder andere<br />
Vorkenntnisse sind nicht Voraussetzung,<br />
um bei OTELO mitzumachen.<br />
Offenheit, Neugierde, künstlerisches,<br />
kreatives oder technisches<br />
Interesse sowie soziale Orientierung<br />
schon. „Offenes Technologie-Labor“<br />
klingt oft zu technisch. Wir möchten<br />
aber den Begriff Technologie in seiner<br />
ursprünglichen Form nutzbar machen<br />
und verstanden wissen: Technologie<br />
im griechischen Sinne von „Kunstfertigkeit“<br />
beschreibt den Prozess der<br />
Gestaltung von Natur und Umwelt.<br />
Wir verbinden diesen schöpferischen<br />
Akt mit einer Laborsituation.<br />
10
Foto: © Martin Hollinetz<br />
Der Oberösterreicher Martin Hollinetz,<br />
Jahrgang 1972, ist EDV-Techniker und studierte<br />
Sozial- und Berufspädagogik. Derzeit<br />
unterrichtet er auch transgenerationales Lernen<br />
an der Kunstuniversität Linz. 2010 gründete<br />
er das erste OTELO (Offenes Technologie<br />
Labor) als „inspirierende Gemeinschafts-<br />
(T)Räume, die einladen, Ideen miteinander zu<br />
teilen und zu verwirklichen“ (Mission Statement).<br />
Heute gibt es OTELOs an zehn Standorten.<br />
Die Inhalte der OTELO-Projekte sind<br />
unterschiedlich. Bei „Otelo-S“ ging es etwa<br />
um die Entwicklung und Erprobung neuer<br />
Vermittlungsformate für naturwissenschaftlich-technische<br />
Themen, die abseits von<br />
Frontalunterricht, grauer Theorie und strengen<br />
Prüfungen junge Menschen für technische<br />
Berufszweige begeistern sollen. In der<br />
„Fabrikatoren-Schule“ wiederum bauten<br />
AHS-Oberstufen schüler(innen) unter Anleitung<br />
3D-Drucker.<br />
querspur: Wie würden Sie Freiraum<br />
im Sinne von OTELO definieren?<br />
Hollinetz: Als inspirierendes Umfeld,<br />
wo neue Ideen ausgesprochen, diskutiert,<br />
entwickelt und vertieft werden<br />
können. Das Charakteristikum eines<br />
OTELO ist, dass man schon beim<br />
Überschreiten der Schwelle das Gefühl<br />
hat, mit dem Potenzial, das man selbst<br />
mitbringt, eingeladen und willkommen<br />
zu sein. Uns geht es darum, eine auf<br />
gegenseitiger Wertschätzung basieren de<br />
Atmosphäre zu schaffen, die offen und<br />
stimmig ist, um gemeinsame Entwicklungen<br />
für regionale Prozesse und individuelle<br />
Potenzialentfaltungen zu<br />
ermöglichen. Dazu braucht es eine<br />
wirklich offene Haltung und gleichzeitig<br />
auch eine klare Organisation. Das<br />
klingt paradox, aber genau darum<br />
haben wir ein paar, sehr wenige, aber<br />
klare Grundstrukturen, wie so etwas<br />
funktioniert.<br />
OFFEN IN DER<br />
COMMUNITY:<br />
IDEEN FINDEN,<br />
EXPERIMENTIEREN,<br />
ERGEBNISSE TEILEN<br />
querspur: Wie funktioniert das genau?<br />
Gib es eine Toolbox für Innovation?<br />
Welche Impulse braucht es im Anfangsstadium?<br />
Hollinetz: Man muss hineinhören<br />
können und Ideen Raum geben. Wenn<br />
also jemand eine neue Idee hat, dann<br />
kann er das über das OTELO-Netzwerk<br />
ausrufen oder ausschreiben. Dann<br />
bekommt man Antwort auf die Frage:<br />
„Interessiert das außer mich noch irgendwen?“<br />
Wir haben ein Grundprinzip:<br />
Ein Labor oder einen Raum im<br />
OTELO für längerfristige Vertiefung<br />
bekommt man dann, wenn sich zumindest<br />
fünf Personen zusammentun<br />
und gemeinsam dieses Labor beginnen.<br />
Damit wollen wir auch erreichen, dass<br />
die Gruppe grundsätzlich als Gruppe<br />
agiert; dass Wissen geteilt wird und<br />
nicht einzelkämpferische, geheime<br />
Dinge da drinnen passieren. Es darf<br />
beim Experiment bleiben, es darf<br />
aber auch mehr daraus werden!<br />
Sobald man aber ein Node, also ein<br />
Kleinlabor gründet, erwarten wir<br />
uns als Gegenleistung, dass sich die<br />
Gruppe überlegt, wie auch andere an<br />
dem Prozess teilhaben und mitpartizipieren<br />
können. Alles, was im OTELO<br />
FREIRÄUME<br />
11
entwickelt wird, ist Open Source<br />
und muss damit für das gesamte<br />
OTELO-Netzwerk zugänglich sein.<br />
Das ist unser Grundprinzip. Sollte<br />
sich aus einer Idee etwas ergeben, was<br />
wirtschaftlich verwertet wird, dann<br />
wandert es aus dem OTELO-Kontext<br />
heraus. Wenn es weiterhin Open<br />
Source in der Entwicklung bleiben<br />
möchte, dann kann es auch in der<br />
OTELO-Genossenschaft (kooperatives<br />
Selbstanstellungsmodell bei dem man<br />
gleichzeitig Mitinhaber und Mitarbeiter<br />
der Genossenschaft sein kann.<br />
Anm. d. Red.) entwickelt werden.<br />
Dann ist es auch möglich, dass man<br />
damit seinen Lebensunterhalt verdient.<br />
querspur: Gute Ideen gibt es viele.<br />
Ihre Umsetzung erfordert Kraft. Wann<br />
hatten Sie erstmals die Idee, OTELO zu<br />
gründen, und warum ist es Ihnen gerade<br />
2010 gelungen, OTELO umzusetzen?<br />
Hollinetz: Im Zuge meiner Arbeit<br />
als Regionalmanager für Kommunales<br />
und Wirtschaft im Salzkammergut<br />
hatte ich erstmals die Idee zu OTELO.<br />
Dass ich diese auch tatsächlich verwirklichen<br />
konnte, hängt einerseits<br />
mit einem langsamen Bewusstseinswandel<br />
in der Politik zusammen.<br />
Aufgrund der wirtschaftlichen Lage,<br />
speziell seit 2008, ist zunehmend auch<br />
in der Politik das Verständnis gewachsen,<br />
dass man nicht Topdown zu<br />
neuen Lösungen kommt. Topdown-<br />
Lösungen führen immer nur zu mehr<br />
vom Gleichen. Ohne diese Wechselbeziehung<br />
von Zivilgesellschaft – oder,<br />
anders formuliert, „den aktiven Menschen<br />
in der Region“ – verbunden<br />
mit fördernden oder ermöglichenden<br />
Strukturen kann Neuschöpfung nicht<br />
stattfinden.<br />
JUNGE WOLLEN IHRE<br />
IDEEN NICHT IM<br />
HERKÖMMLICHEN<br />
SYSTEM UMSETZEN<br />
Andererseits beginnen Menschen verstärkt<br />
danach zu suchen, wie man gesellschaftliches<br />
Leben neu gestalten<br />
kann. Das betrifft vor allem junge<br />
Menschen, die sich in dieser Verwaltungskultur<br />
einfach nicht wiederfinden.<br />
Für sie gibt es die Möglichkeit,<br />
entweder die Region zu verlassen oder<br />
nach einem Raum zu suchen, in dem sie<br />
auch zu Mitgestaltern werden können.<br />
Auch größere Strukturen, wie öffentliche<br />
Bildungsreinrichtungen oder<br />
Landesregierungen, haben anfangen,<br />
mehr in Richtung Wirkungsbeschreibung<br />
zu denken. Für uns steht<br />
fest: Nicht das, was an Outputs in den<br />
OTELOs passiert, ist spannend, sondern<br />
was sich an Wirkungen entfaltet.<br />
OTELO STÄRKT DIE<br />
EIGENE IDENTITÄT UND<br />
HÄLT SCHLAUE KÖPFE<br />
IN DER REGION<br />
querspur: Auch wenn wir uns in einem<br />
Bereich des nicht messbaren Social<br />
Return on Investment (SROI) befinden,<br />
welche Indikatoren dokumentieren die<br />
positive Wirkung der OTELOs?<br />
Hollinetz: Wir arbeiten gerade an einem<br />
Bericht, der uns nach dem Social<br />
Reporting Standard (SRS) messbare<br />
Daten über die vergangen fünf Jahre<br />
OTELO liefert. Die Menschen aus der<br />
Region erleben mit den regionalen<br />
OTELO-Standorten einen Anknüpfungspunkt<br />
zu ihrer Heimat, einen<br />
kulturellen Bezugspunkt – einen Ort,<br />
an dem ihre eigene Entfaltung Platz<br />
hat. Das stärkt ihre eigene Identität<br />
und die der Region.<br />
Aus meiner Sicht wirkt das gleichzeitig<br />
gegen Braindrain und für Braingain.<br />
Das heißt, wenn Menschen sich überlegen,<br />
wieder zurückzukommen, gibt<br />
es gleich einen Anknüpfungspunkt<br />
neben den familiären Banden zur<br />
Herkunftsfamilie. Eine weitere Wirkung<br />
ist, dass ältere Menschen, die<br />
schon in Pension sind, für sich im<br />
OTELO Vertiefungs- und Ent faltungsmöglichkeiten<br />
ohne Druck finden. Sie<br />
würden sonst vielleicht in ein tiefes<br />
Loch fallen, haben durch OTELO aber<br />
eine Möglichkeit, dass sie das, was sie<br />
an Kompetenzen und Erfahrungen<br />
im Laufe ihres Lebens gesammelt<br />
haben, lustvoll einbringen und weitergeben<br />
können.<br />
querspur: OTELO ist, wenn man so<br />
will, gelebte Demokratie …<br />
Hollinetz: Ja. OTELOs leben Demokratie.<br />
Es ist ein doppelter Prozess:<br />
Wir versuchen ein demokratisches<br />
Umfeld zu schaffen, in dem Entwicklungsprozesse<br />
unter Einbindung aller<br />
Beteiligten stattfinden, und starten<br />
gleichzeitig das Projekt „Demokratie<br />
Repair Café“, das sich mit aktiv mit<br />
Demokratie und gesellschaftlicher<br />
Mitbestimmung und Gestaltung in<br />
Gruppen auseinandersetzt. Darin<br />
stellen wir uns die Frage: Wie können<br />
wir wieder mehr in partizipative<br />
Entwicklungsprozesse kommen und<br />
nicht nur in reinen Erhaltungsmechanismen<br />
hängen bleiben?<br />
LEBENDIGE<br />
INNOVATIONSKULTUR<br />
HEISST GESTALTEN<br />
UND ERMÖGLICHEN,<br />
ABER MANCHMAL<br />
AUCH SEIN LASSEN<br />
querspur: Partizipative Entwicklungsprozesse<br />
fördern einerseits das Ich und<br />
die Bindung zur Region und schaffen<br />
Zufriedenheit bei den Akteuren/Bürgern?<br />
Hollinetz: Sie bieten die Möglichkeit,<br />
sich zu identifizieren. Es geht auch um<br />
Identität. Wir vergleichen das oft mit<br />
dem Wandel vom Innovationsmanagement<br />
zur Innovationskultur. Management<br />
heißt ja „an der Hand führen<br />
oder nehmen“ und Kultur heißt „gestaltend<br />
hervorbringen“. Innovationskultur<br />
ist, wie wir sie regional definieren,<br />
ein gemeinsamer Entwicklungsprozess,<br />
der in einem Wechselspiel zwischen<br />
Gestalten und Ermöglichen<br />
entsteht, aber auch wieder die schöpferische<br />
Fähigkeit beinhaltet, etwas<br />
bleibenzulassen. Demokratie ist aber<br />
kein System, das man beschließt, sondern<br />
ein lebendiger Prozess, der immer<br />
wieder zu neuen Gestaltungsund<br />
Entwicklungsszenarien führen<br />
kann. <br />
12
MIT ABSTAND AM BESTEN<br />
WOHER WISSEN AUTONOME AUTOS, WIE DICHT SIE AUFFAHREN DÜRFEN, UND<br />
WAS KÖNNEN SIE GEGEN MENSCHLICHE DRÄNGLER TUN? WARUM MUSS EIN<br />
AIRBUS-PILOT BEIM START EIN WENIG MEHR GEDULD HABEN ALS DER KOLLEGE<br />
IM LEARJET? UND KÖNNTEN DIE WIENER U-BAHNEN EIGENTLICH IN KÜRZEREN<br />
INTERVALLEN HINTEREINANDER FAHREN? Von Thomas Berg<br />
////// AUF DER STRASSE ////////////////////////////////////<br />
Sie wissen, wann man bremsen muss, haben keinen Fahrer mehr, sondern einen Passagier und halten<br />
immer den richtigen Abstand zum Vordermann ein: Autonome Autos befi nden sich mittlerweile<br />
nicht mehr nur auf Wüstenstrecken im Testbetrieb, sondern auch im deutschen Berufsverkehr.<br />
Mit Sensoren, beispielsweise mit einem auf dem Dach rotierenden Laserscanner, Radarstrahlen<br />
oder Kameras messen diese Autos ähnlich wie Abstands-Assistenzprogramme, die es teils schon<br />
im Serienbetrieb gibt, wie weit ein Fahrzeug vor ihnen entfernt ist. Entsprechend der jeweiligen<br />
Verkehrsvorschriften – wie der guten alten „Halber Tacho“-Regel, laut der man aus Sicherheitsgründen<br />
die Hälfte dessen, was der Tacho anzeigt, in Metern an Abstand halten sollte – wird diese<br />
Distanz kontinuierlich gehalten.<br />
Was zum Vordermann und ausschließlich unter autonomen Autos kein Problem ist. Spannend wird<br />
es allerdings, wenn menschliche Chauffeure im gemischten Verkehr dazukommen und schlicht zu<br />
dicht auffahren. „Das passiert häufi g, weil die Leute ja auch neugierig sind und unsere Autos<br />
sehen wollen“, weiß Prof. Dr. Daniel Göhring, Teamleiter des Innovationslabors AutoNOMOS<br />
der Freien Uni Berlin, „und da haben wir auch noch keine Patentlösung.“ Die Flucht nach vorn sei<br />
defi nitiv keine, im Zweifelsfall gelte auch hier: „Wer auffährt, hat Schuld“.<br />
http://autonomos-labs.com<br />
KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT<br />
////// IN DER LUFT /////////////////////////////////////////////<br />
In der Luftfahrt sind die Regeln, wer mit welchem Abstand wann wo fl iegen, starten und<br />
landen darf, komplexer und strikter als auf der Straße. Grundsätzlich haben Flugzeuge, die auf<br />
gleicher Höhe über dem österreichischen Luftraum unterwegs sind, nach der so genannten<br />
Radarstaffelung einen Abstand von drei nautischen Seemeilen (NM) (5,5 Kilometer) auf der<br />
Strecke und fünf NM (9,2 Kilometer) in der Nähe von Flughäfen einzuhalten; der Höhenunterschied<br />
zueinander hat mindestens 1000 Fuß (rund 300 Meter) zu betragen und kann auf bis<br />
zu 2000 Fuß (600 Meter) erhöht werden. Allerdings spielen bei den festgelegten Sicherheitsabständen<br />
wie auch bei den Längen der Intervalle zwischen den einzelnen Starts und Landungen<br />
das Gewicht und die so genannte Wirbelschleppenkategorie des Fliegers eine Rolle.<br />
Vereinfacht gesagt, können zwei Learjets in kürzeren Intervallen hintereinander aufsteigen als<br />
zwei Airbusse. Und auch welchen Weg die Flieger in der Luft nehmen dürfen, ist ihnen von jeweiligen<br />
Behörden wie der Obersten Zivilluftfahrtbehörde in Österreich exakt vorgeschrieben – die<br />
grenzenlose Freiheit über den Wolken gibt es eben doch nur bei Reinhard Mey.<br />
Bilder: © autonomos-labs; shutterstock; wikipedia<br />
////// UNTER DER ERDE //////////////////////////////////////<br />
… war Freiheit eh nie ein großes Thema, auch hier sind nicht nur die Strecken, sondern auch die<br />
Abstände zwischen den einzelnen U-Bahn-Zügen exakt vorgegeben. In Wien betragen diese derzeit<br />
bei den Linien U1 bis U4 – die U6 hat ein paar Besonderheiten – mindestens 2,5 Minuten.<br />
Was weder den technischen Möglichkeiten geschuldet ist, da könnten die Wiener U-Bahnen<br />
auch in 90 Sekunden-Intervallen fahren, noch dem sicheren Ein- und Aussteigen. Das lässt sich<br />
nämlich, abhängig von der Größe der Station, in einer knappen halben Minute erledigen. Vielmehr<br />
liegt den Intervallen von U-Bahnen eine wirtschaftliche Kalkulation zu Grunde: Derzeit reichen<br />
diese Abstände zwischen den einzelnen Garnituren einfach aus, um das Passagiervolumen auch<br />
in der Hauptverkehrszeit zu bewältigen. Und nach unten ist ja technisch bei Bedarf noch viel Luft.<br />
www.wienerlinien.at<br />
FREIRÄUME<br />
13
Raum auf Zeit<br />
Foto: © wikipedia: Pagalino Gemeinschaftsgarten Panorama“ von Nifoto - Eigenes Werk.<br />
LEERSTEHENDE GEBÄUDE UND AREALE, BAULÜCKEN UND BRACHEN IN DER<br />
STADT LASSEN SICH ÜBERGANGSWEISE NÜTZEN: KREATIVE, VEREINE,<br />
GASTRONOMEN, ABER AUCH UNTERNEHMEN MIETEN SIE TEMPORÄR,<br />
IMPROVISIEREN MIT EINRICHTUNG UND BETRIEB UND TEILEN SIE GERN<br />
MIT ANDEREN. DAHINTER STEHEN DER WILLE ZUR SELBSTBESTIMMUNG,<br />
GEMEINSCHAFTSSINN ODER MITUNTER KOMMERZIELLES INTERESSE.<br />
Von Thomas Berg<br />
14
Ein Telegrafenamt aus der Gründerzeit<br />
im sechsten Wiener Gemeindebezirk,<br />
das seit einigen Jahren darauf wartet,<br />
in ein modernes Bürogebäude transformiert<br />
zu werden: Bis vor einem Jahr<br />
wurden oben, in einer feudalen Halle,<br />
Platten aufgelegt, gefeiert und in den<br />
hohen Geschoßen in Künstlerateliers<br />
gearbeitet. Bald soll aus dem Gebäude<br />
ein Bürohaus werden – aber bis die<br />
Pläne stehen und die Behördenwege<br />
abgewickelt sind, ist es zwischengenutzt<br />
worden.<br />
Kreative und Kulturveranstalter schätzen<br />
das Ambiente leer stehender Gebäude<br />
für ihre Events, und sie haben<br />
auch kein Problem damit, schnell<br />
weiterzuziehen und sich an anderer<br />
Stelle wieder aufzubauen, sobald die<br />
Flächen für ihre eigentlichen Zwecke<br />
gebraucht werden. Das war schon immer<br />
so als Teil einer Sub-Kultur, die in<br />
alten Fabriken, in havarierter Industriearchitektur<br />
oder ungenutzten Eisenbahnarealen<br />
oft geheime, später gehypte<br />
Events steigen ließ. Und die,<br />
die Immobilienentwickler schon erwarteten,<br />
um die Zeit zu nutzen, bis<br />
die jeweiligen Areale für einzelne Immobilienprojekte<br />
umgewidmet wurden.<br />
LEERSTAND BRINGT<br />
NEUE OPTIONEN<br />
Leerstand von Gebäuden ist in vielen<br />
Städten ein viel diskutiertes Thema –<br />
weil generell leistbarer Wohnraum,<br />
Arbeitsraum und öffentlich nutzbarer<br />
Raum fehlt. So steht Leerstand immer<br />
wieder im Wechselspiel von gesellschaftlich<br />
relevanter Nutzung und<br />
profi torientierter Projektentwicklung.<br />
Die Motive für Zwischennutzungen,<br />
die einen Leerstand zumindest temporär<br />
füllen sollen, sind daher sehr<br />
unterschiedlich. Meist entstehen sie<br />
aus dem Bedürfnis der potenziellen<br />
Nutzer heraus: Das sind oft Krea tive,<br />
die nach günstigen freien Flächen für<br />
ein Atelier, ein Studio oder eine Bühne<br />
für Aufführungen suchen, Urban Gardener<br />
und Urban Farmer, die brachen<br />
Grünraum kultivieren beziehungsweise<br />
beweiden wollen, Gastronomen<br />
und Shopbetreiber, die Platz für Popup-Locations<br />
– also Räumlichkeiten,<br />
die als Geschäftslokal genutzt werden,<br />
aber nur für ein paar Tage oder Wochen<br />
geöffnet haben – suchen oder<br />
auch Vereine und private Nachbarschaften,<br />
die eine ungenutzte Fläche<br />
etwa zum Sport und zur Freizeitgestaltung<br />
verwenden wollen. Zumal ja<br />
laufend große Flächen frei werden,<br />
weil sich die Industrie aus der Stadt<br />
zurückzieht, sich die Bahninfrastruktur<br />
stark verschlankt oder die B- und<br />
C-Lagen von Büro- und Geschäftshäusern<br />
keine Nachfrage mehr haben.<br />
Dadurch steigt der politische Wille in<br />
vielen Städten, diese Flächen für die<br />
Allgemeinheit oder für einzelne Gruppen<br />
bereitzustellen. Solche Initiativen<br />
sind durchaus als ein Beitrag zur<br />
Identitätsstiftung und zur Steigerung<br />
des Freizeit-, Gastro- und auch<br />
Dienstleistungs-Angebots in einem<br />
Stadtviertel zu werten. Oft gehen die<br />
Akteure auch in die Offensive: Wie<br />
stark der Bürgerwille den politischen<br />
beugt, zeigen prominente Beispiele<br />
wie etwa Berlin Tempelhof, dem seit<br />
2008 aufgelassenen Flughafen, der<br />
als Erholungsraum für die Allgemeinheit<br />
erstritten wurde – mit Erfolg.<br />
Zwischenzeitlich dient das Gelände<br />
immer wieder als Ort für Events wie<br />
etwa Sportveranstaltungen oder<br />
Modemessen. In den bestehenden,<br />
denkmalgeschützten Gebäuden<br />
sollen Unternehmen aus der Kreativwirtschaft<br />
ihr Quartier fi nden.<br />
EINE VORHUT DER<br />
GENTRIFIZIERUNG?<br />
Konzepte der Zwischennutzung werden<br />
von anderer Seite – von Investoren<br />
und Stadtentwicklern – allerdings<br />
auch als Vorhut gesehen, ein städtisches<br />
Quartier vorzubereiten, sprich<br />
es mit neuen Bedeutungen aufzuladen<br />
und es aufzuwerten. So gerät die<br />
Idee auch in Gefahr, für rein kommerzielle<br />
Zwecke instrumentalisiert zu<br />
werden. Denn eine kreative, einkommensschwache<br />
Klasse wird temporär<br />
mit Flächen versorgt, damit sie letztlich<br />
dafür sorgt, dass sich ein Stadtviertel<br />
für eine Zielgruppe an neuen<br />
Bewohnern entwickelt, die weit mehr<br />
für den Quadratmeter bezahlen kann<br />
als die angestammte Klientel. Vor<br />
diesem Hintergrund wird Zwischennutzung<br />
durch eine Bohème zum Mittel<br />
der Gentrifi zierzung, die sich letztlich<br />
genau gegen jene stellt, die den<br />
Boden eigentlich aufbereiten.<br />
Dennoch: Zwischennutzung macht<br />
aus der Not auch eine Tugend. Denn<br />
Leerstand rentiert sich für kaum einen<br />
der Betroffenen, sei es für den Eigentümer,<br />
sei es für die Kommune oder<br />
für die Nachbarschaft, weil nicht benützter<br />
Raum ein Viertel leblos erscheinen<br />
lässt, heruntergekommen<br />
wirken lässt und mitunter Ziel von<br />
Vandalismus ist. Leerstand rechnet<br />
sich höchstens für Spekulanten, die<br />
sich durch temporäre Mieter nicht die<br />
schnelle Verwertbarkeit zu einem<br />
späteren Zeitpunkt mit gestiegenen<br />
Quadratmeterpreisen verstellen wollen.<br />
DER WILLE ZUR<br />
SELBSTBESTIMMUNG<br />
SOLLTE VORHANDEN<br />
SEIN<br />
In einzelnen Fällen werden aus Zwischennutzungen<br />
langfristige Projekte<br />
oder sogar dauerhafte Lösungen,<br />
die dazu führen, dass sich an einem<br />
Ort bestimmte Branchen zusammentun.<br />
Wie erfolgreich die Akteure sind,<br />
hängt auch davon ab, wie sehr sie die<br />
Konfl ikte mit Behörden, Eigen tümern<br />
und Planern aussitzen. Entscheidend<br />
ist die Initiative des städtischen<br />
Bewohners, der selbstbewusst sein<br />
Recht auf Mitbestimmung als Bürger<br />
einfordert. So sehr wie kommunale<br />
Stadtplanung oder investorengetriebenes<br />
Development von oben herab<br />
über den Stadtraum entscheiden,<br />
entsteht und organisiert sich städtischer<br />
Raum auch von unten herauf.<br />
In Wien werden leer stehende Flächen<br />
von einer Agentur für Zwischennutzung<br />
erfasst. Schon seit einiger Zeit<br />
gibt nach Hamburger Vorbild auch in<br />
Wien ein „Leerstandsmelder“ über<br />
freie Flächen Auskunft. Und vonseiten<br />
der Stadt Wien kümmert man<br />
sich in der Vernetzungs-Rolle auch<br />
um Mehrfachnutzungen (Projekt<br />
„einfach – mehrfach“ www.wien.gv.at/<br />
stadtentwicklung/projekte/mehrfachnutzung),<br />
beispielweise von<br />
Sportplätzen und Schulhöfen für<br />
außerschulische Zwecke –<br />
FREIRÄUME<br />
15
Foto: © Bikini Berlin Boxes<br />
Zwischennutzung liegt ganz im Trend<br />
einer sich immer schneller drehenden<br />
Immobilienentwicklung: Pop-up-Stores<br />
im Container gelten als der letzte Schrei<br />
und werden auch im kommerziellen Umfeld<br />
aufgegriffen.<br />
„Bikini Berlin Boxes“ (im Bild)<br />
funktionieren beispielsweise nach diesem<br />
Muster. Auf dem großen Areal mehrerer<br />
Fünfziger-Jahre-Gebäude bilden hier<br />
Container mit verschiedenen Designern<br />
als Mieter eine Art Kaufhaus.<br />
Auch Ketten wie H&M lassen es sich nicht<br />
nehmen, auf diesen Zug aufzuspringen<br />
und einen Container an die holländische<br />
Küste zu stellen.<br />
die Sportplätze stünden ja außerhalb<br />
der Schulzeit frei und könnten genutzt<br />
werden. In einigen Wiener Gemeindebezirken<br />
konnten sich so rund<br />
um die Schulen Treffpunkte für Kinder<br />
und Jugendliche entwickeln, die<br />
den Austausch – auch den interkulturellen<br />
– fördern. So formell und langwierig<br />
die Abwicklung bei „normalen“<br />
Bauprojekten abläuft, so schnell und<br />
niederschwellig können Nutzer die<br />
Flächen in Beschlag nehmen. Knackpunkt<br />
ist die zeitliche Begrenztheit,<br />
durch die der Eigentürmer oder der<br />
Entwickler keine großen Verbindlichkeiten<br />
eingehen muss.<br />
ERSTREITEN UND<br />
ERSITZEN FÜR<br />
LANGFRISTIGE<br />
NUTZUNG<br />
In anderen Metropolen muss die Inanspruchnahme<br />
von Leerstand und<br />
Brache, von zu wenig genutzten und<br />
bewusst zurückgehaltenen Flächen<br />
erst erstritten oder ersessen werden.<br />
In einigen Städten hat sie längere<br />
Tradition – wie etwa in Hamburg oder<br />
Berlin mit ihrer Hausbesetzerszene.<br />
In Städten wie Kopenhagen oder<br />
Rotterdam wiederum hat das Kollektiv<br />
das Sagen und es bilden sich so<br />
unorthodoxe wie nachhaltige Infrastrukturen<br />
in einzelnen Stadtvierteln<br />
heraus. Manchmal wird das Improvisierte<br />
eines vorläufi gen Ortes selbst<br />
zum Kunstkonzept, wie dies die Architekturprojekte<br />
des niederländischen<br />
Ateliers Van Lieshout zeigen –<br />
ganze Dorfgemeinschaften baute das<br />
Kollektiv mit simplen Materialen und<br />
Fundstücken.<br />
In der Schweiz gibt es von offi zieller<br />
Seite sogar Leitlinien und Unterstützung,<br />
wie sich Zwischennutzung organisatorisch<br />
umsetzen lässt. Ein eigenes<br />
Regelwerk wurde dazu erstellt,<br />
wie Akteure und Behörden dabei vorgehen<br />
können. Und es erweist sich in<br />
der Umsetzung als praktikabel.<br />
HOTELS IN<br />
GESCHÄFTSLOKALEN<br />
Die Erdgeschoßzone, die nicht nur in<br />
den früheren Einkaufsstraßen, sondern<br />
auch in Kleinstädten, ja selbst<br />
in Landgemeinden leer steht und verödet,<br />
wird zum Ziel-1-Gebiet für originellere<br />
kommerzielle Konzepte: In<br />
den meist primitiv ausgestatteten<br />
beziehungsweise vernachlässigten<br />
Räumlichkeiten ziehen Off Spaces<br />
(unabhängige Ausstellungsräume) ein<br />
oder Pop-up-Boutiquen auf Zeit, in<br />
denen Designer ihre Kreationen verkaufen.<br />
Ungewöhnlich, aber auch<br />
mancherorts gefragt ist die Nutzung<br />
als Hotel. In Linz etwa realisierte<br />
man im Kulturhauptstadtjahr das<br />
„Pixelhotel“ mit über die Stadt verstreuten<br />
Niederlassungen in leerstehenden<br />
Räumlichkeiten im Erdgeschoß.<br />
Ein französisches Kollektiv<br />
namens Exyzt errichtete mit dem<br />
Farwest Hotel auch eine Bleibe auf<br />
Zeit. Rund um solche Ideen entstehen<br />
Hybride wie etwa Urban Camping<br />
in Berlin. Im „Hüttenpalast“<br />
bewohnt man einen Campingbus,<br />
der in einem Geschäftslokal steht.<br />
Zwischennutzung ist auch eine<br />
Option für viele städtische Lücken,<br />
Brachen und zukünftige Baustellen:<br />
Bis eine Umwidmung durch ist und<br />
die Bagger anrücken, werden Container<br />
aufgestellt und mit Café, Shop<br />
und Werkstätte besiedelt. Dazwischen<br />
werden Hochbeete und Sitzbänke<br />
aufgestellt und man trifft sich<br />
an diesem temporären Ort.<br />
LEERSTAND UND DESSEN<br />
NUTZUNG IST TEIL EINES<br />
ARCHITEKTURDISKURSES<br />
Die Idee Bauten temporär zu nutzen<br />
ist im Zusammenhang des allgemeinen<br />
Architekturdiskurses zu sehen:<br />
Die Stilisierung der Architektur als<br />
hohe Baukunst schürte seit jeher<br />
auch das Interesse an ihrer Gegenseite.<br />
Bereits zu Beginn des vergangenen<br />
Jahrhunderts begann der<br />
Diskurs über das Informelle, das Anonyme,<br />
das Improvisierte und das<br />
Selbst-Organisisieren beim Bauen.<br />
Das Augenmerk auf eine selbstorganisierte<br />
Architektur und Gemeinschaft<br />
könnte heute nicht größer sein.<br />
Denn diese unkonventionelle, partizipatorische<br />
Nutzung von Raum ist<br />
auch ein Gegenentwurf zu einer neoliberalen<br />
Profi tgesellschaft, die sich<br />
städtischen Raum untereinander aufteilt.<br />
<br />
16
Foto: © Mirjana Rukavina<br />
Selbstbestimmt als Ideal<br />
FREIRÄUME IN DER KUNST SIND ORTE, AN DENEN DER DRUCK WEGFÄLLT,<br />
ETWAS PRODUZIEREN ZU MÜSSEN. DIE PERFORMANCES DER<br />
DJANE SUSANNE ROGENHOFER SIND INTEGRATIVE UND PARTIZIPATIVE<br />
PROZESSE, DIE MENSCHEN ZU NEUEN FREIHEITEN FÜHREN.<br />
Das Gespräch führte Catherine Gottwald<br />
querspur: Sie sind als Kind zweier<br />
bildender Künstler in einem Haushalt<br />
aufgewachsen, in dem Wert auf Autonomie,<br />
Toleranz und Solidarität gelegt<br />
wurde. Ihr Alltag war von Kunst<br />
geprägt. Bis heute ist Ihr Zugang zu<br />
Kunst und Kulturarbeit experimentell,<br />
vielschichtig und spielerisch.<br />
Haben Ihnen Ihre Eltern großzügige<br />
<strong>Freiräume</strong> eingeräumt?<br />
Rogenhofer: Total. Meine Eltern<br />
waren Freidenker. Sie haben mich<br />
auch in meinem Tun sehr belassen<br />
und mir wirklich sehr viele <strong>Freiräume</strong><br />
gegeben. Das habe ich sehr genossen.<br />
Natürlich wurde bei uns auf moralisches<br />
Verhalten Wert gelegt, aber<br />
dort, wo es für meine Entwicklung<br />
und Erziehung wichtig war, wurde<br />
mir – auch retrospektiv betrachtet –<br />
eine „gesun de Form von Freiheit“<br />
gewährt. Ich durfte als Heranwachsende<br />
beispielsweise völlig frei entscheiden,<br />
was ich in Zukunft beruflich<br />
machen wollte.<br />
FREIRÄUME SIND<br />
AUCH VON<br />
FINANZIELLEN<br />
MÖGLICHKEITEN<br />
BESTIMMT<br />
querspur: Sind <strong>Freiräume</strong> für Sie<br />
also Bewegungs-, Handlungs- und<br />
Entscheidungsräume? Wie würden Sie<br />
Freiraum definieren?<br />
Rogenhofer: Als Freiheit, sich nicht<br />
irgendwelchen gesellschaftlichen<br />
Normen unterwerfen zu müssen,<br />
die ich als überkonstruiert empfinde<br />
oder an die ich nicht glauben kann.<br />
Aber es gibt tatsächlich verschiedene<br />
Arten von <strong>Freiräume</strong>n. Ich bin<br />
schon als Kind irrsinnig früh alleine<br />
U-Bahn gefahren. Bewegungs- und<br />
Handlungsfreiräume sind wichtig.<br />
Mit Materiellem versorgt zu sein,<br />
ist auch ein Freiraum.<br />
FREIRÄUME<br />
17
MMag.a art. Susanne Rogenhofer, besser<br />
bekannt unter ihrem DJane-Namen „Sweet<br />
Susie“, ist Mitbegründerin des 1995 ins Leben<br />
gerufenen, legendären „Dub Clubs“ im Wiener<br />
Flex. 2010 gründete die 1971 geborene Wienerin<br />
das künstlerische Frauennetzwerk femous und<br />
arbeitet u. a. als Kuratorin für die Wiener Festwochen,<br />
als Bilden de Künstlerin, Elektronikmusikerin,<br />
Kulturarbeiterin und Lektorin für DJing<br />
(u. a. beim DJn Kollektiv Brunnhilde) sowie als<br />
Lehrerin für Bildnerische Erziehung an einer<br />
Wiener Schule. Rogenhofer studierte Kunst<br />
und Fotografi e an der Akademie der Bildenden<br />
Künste Wien und Kommunikative Praxis an der<br />
Universität für angewandte Kunst.<br />
querspur: Bestimmen denn materielle<br />
Möglich keiten den Raum, der zur Entfaltung<br />
genutzt werden kann?<br />
Rogenhofer: Für mich ist Freiheit<br />
schon auch sehr an materielle Gegebenheiten<br />
gebunden. Ein Mensch, der<br />
kein Geld hat und an allen Ecken und<br />
Enden sparen muss, ist nicht frei.<br />
Er ist völlig eingeschränkt.<br />
querspur: Sie benutzen Freiraum und<br />
Freiheit als Synonyme. Sind Freiraum<br />
und Freiheit für Sie dasselbe?<br />
Rogenhofer: Freiraum ist eine<br />
räumliche Metapher für Freiheit.<br />
querspur: Sie gelten als Pionierin der<br />
elektronischen Musik in Österreich<br />
und werden als eine der wenigen<br />
weiblichen Akteure an den Turntables<br />
als DJ-Heldin gefeiert. Ist ein DJ<br />
prinzipiell frei oder muss er das<br />
spielen, was den Party-People gefällt?<br />
Rogenhofer: Das kommt natürlich<br />
auf den DJ an. Es gibt klassische Pop-,<br />
oder Event-DJs, die im Mainstream<br />
verhaftet sind und wie Dienstleister<br />
fungieren. Andererseits gibt es noch<br />
die DJs der Subkultur, wo ich herkomme,<br />
die Musik spielen, die nicht<br />
massenkompatibel ist. DJing ist eine<br />
faszinierende Kunstform, auf die das<br />
Publikum sofort reagiert. Ob das,<br />
was du machst, ankommt, zeigt<br />
sich körperlich: Entweder die Leute<br />
fangen an, wild zu tanzen oder sie<br />
gehen weg oder sie beginnen zu<br />
schmusen. Natürlich kann man<br />
als DJ auch kein Ego-Programm<br />
fahren und überhaupt nicht auf sein<br />
Publikum eingehen. Sonst würde<br />
jeder davonlaufen.<br />
querspur: Grundsätzlich gefragt:<br />
Welches kulturelle Potenzial steckt in<br />
<strong>Freiräume</strong>n?<br />
Rogenhofer: Frei zu sein, ausprobieren<br />
und experimentieren zu können,<br />
was eben noch nicht so erprobt und<br />
gängig ist. Gezielte Förderprogramme<br />
können beispielsweise solche <strong>Freiräume</strong><br />
schaffen, indem bewusst neue<br />
Kunstformate gefördert werden,<br />
die nicht den üblichen Kriterien<br />
von Kunst- und Kulturarbeit entsprechen.<br />
Wenn Kunst also nicht mehr<br />
ausschließlich in etablierten Kulturspielstätten<br />
wie Oper, Theater oder<br />
Museum oder dem dazugehörigen<br />
Kontext stattfindet, sondern frei im<br />
öffentlichen Raum inszeniert wird,<br />
kann man damit neue Zielgruppen<br />
direkt erreichen. Jeder zufällige<br />
Besucher kann, wenn er möchte,<br />
Teil der Inszenierung sein. Oft werden<br />
dabei auch soziale Fragen thematisiert.<br />
Das ist toll und hat vielleicht<br />
auch etwas Utopisches.<br />
IN DER KUNST<br />
SOLLTEN SICH UTOPIEN<br />
REALISIEREN LASSEN<br />
querspur: Kunst, die aus und im freien<br />
Raum entsteht, ist also eine Utopie?<br />
Rogenhofer: In gewisser Weise schon,<br />
aber eben Utopie, die realisiert gehört.<br />
querspur: Im Rahmen eines Förderprogramms<br />
werden Sie 2016 Ihr „Gemeindebau-Chorprojekt“<br />
umsetzen.<br />
Bewohner des August-Fürst-Hofs in<br />
Wien Meidling singen gemeinsam mit<br />
Kulturschaffenden von den Balkonen<br />
und Fenstern des Gemeindebaus. Hier<br />
stehen Aspekte der Aufklärung, des<br />
Aktivismus, der Partizipation und der<br />
Begegnung mit den „anderen“ im Vordergrund.<br />
Kann man hier einen Aspekt<br />
von Freiraum finden?<br />
Rogenhofer: Ja. Denn der Freiraum,<br />
der hier entsteht, ist ein Raum,<br />
in dem zwischenmenschliche<br />
Barrieren aufgehoben werden.<br />
Der Unterschied zu anderen oder<br />
bisherigen Performances, die in<br />
Gemeindebauten stattgefunden haben,<br />
ist, dass nicht im Gemeindebau eine<br />
Bühne aufgebaut wird, sondern dass<br />
der Gemeindebau selbst die Bühne ist.<br />
Die Gemeindebaubewohner, die noch<br />
nie auf einer Bühne gestanden sind,<br />
werden plötzlich zu gemeinsam mit<br />
Musikern und Künstlern Agierenden.<br />
Ein wesentliches Ziel meiner Kulturarbeit<br />
ist es, Bürger aus verschiedenen<br />
Gesellschaftsschichten zu erreichen,<br />
sie zusammenzubringen und einzubinden.<br />
Kunst soll keiner Elite vorbehalten<br />
sein. Mit solchen Experimenten<br />
wie dem Gemeindebau-Chorprojekt<br />
möchte ich ein Exempel statuieren<br />
und langfristig ein neues Bewusstsein<br />
schaffen. Kunst ist für alle da. Das<br />
Zusammenkommen von sozialen<br />
Schichten hat schon im 1995 „Dub<br />
Club“ (im Wiener Lokal Flex, Anm.<br />
d. Red.) begonnen. Das Publikum<br />
montag nachts war eine Mischung aus<br />
Studenten, Künstlern, Arbeitslosen,<br />
Desperados und jungen, reichen<br />
Privatiers.<br />
INDIVIDUELLE<br />
FREIRÄUME UND<br />
GESELLSCHAFTLICHE<br />
VERPFLICHTUNGEN<br />
GEHÖREN ZUSAMMEN<br />
querspur: Gibt es Ihrer Meinung<br />
nach auch ein politisches Recht auf<br />
<strong>Freiräume</strong>?<br />
Rogenhofer: Natürlich. Jeder Mensch<br />
soll möglichst das machen können,<br />
was er will, wozu er sich hingezogen<br />
fühlt. Es gibt natürlich auch gesellschaftliche<br />
Verpflichtungen oder auch<br />
Verpflichtungen der Umwelt gegenüber.<br />
Prinzipiell sollte aber jeder – solange<br />
er nicht dem Wohl des anderen oder<br />
der Gesellschaft schadet – so frei sein,<br />
wie er denkt.<br />
querspur: Und wieviel Freiraum gibt<br />
es tatsächlich in der Gesellschaft?<br />
Rogenhofer: Was das Denken anbelangt<br />
oder die Lebenspraxis, werden<br />
in Österreich viele unterschiedliche<br />
Lebensmodelle zugelassen. Manche<br />
werden sich hier trotzdem einge-<br />
18
Foto: © Gugerell, wikipedia<br />
Der August-Fürst-Hof, ein Gemeindebau in Wien Meidling, ist bald große Bühne. 2016 wird dort das<br />
„Gemeindebau-Chorprojekt“ der Künstlerin Susanne Rogenhofer umgesetzt. Gemeindebaubewohner und professionelle Sänger<br />
singen zusammen. Partizipation und Begegnung sind das ZIel.<br />
schränkt fühlen wie die Transgender-<br />
Community oder Migranten. Was die<br />
Verteilungsgerechtigkeit angeht, gibt<br />
es definitiv zu wenig Freiraum. Wenn<br />
es mehr Gerechtigkeit gäbe, hätten<br />
mehr Menschen mehr <strong>Freiräume</strong>.<br />
querspur: Zurück zur Kunst. Kann<br />
man sich in der Subkultur, aus der Sie<br />
ja kommen, mehr <strong>Freiräume</strong> nehmen,<br />
als sie in der Hochkultur möglich sind?<br />
Rogenhofer: Hier möchte ich nicht<br />
zwischen Sub- und Hochkultur unterscheiden.<br />
<strong>Freiräume</strong> in der Kultur<br />
bedeuten, dass der ökonomische<br />
Druck wegfällt oder nicht vorhanden<br />
ist. Ökonomische Prämissen bestimmen<br />
aber leider viel zu über oft den<br />
Kunstbetrieb. Nicht selten verliert<br />
die Kunst oder die Kulturarbeit dabei<br />
ihren Stachel. Das ist ein Erfahrungswert<br />
mit leicht bitterem Nachgeschmack<br />
nach 20 Jahren Kulturarbeit.<br />
Wenn man ständig darüber nachdenken<br />
muss, welche Budgets zur Verfügung<br />
stehen oder wie viele Gäste bei<br />
einem Event auftauchen werden, verändert<br />
das komplett die Form und<br />
den Inhalt von Kunst oder Kulturarbeit.<br />
Was sich für mich innerhalb der<br />
letzten 20 Jahre positiv verändert hat,<br />
ist die Wahrnehmung von Kunst und<br />
Kultur aus der außereuropäischenamerikanischen<br />
Zone. Dass 2015<br />
beispielsweise mit Okwui Enwezor<br />
ein Nigerianer die 56. Biennale in<br />
Venedig kuratiert, werte ich als<br />
deutliches Zeichen dafür. <br />
FREIRÄUME<br />
19
Der Heuhaufen<br />
sucht mit<br />
20<br />
Foto: © Karin Feitzinger
ZUKUNFTSPROGNOSEN FASZINIEREN DIE MENSCHHEIT SEIT JEHER. MITTELS<br />
PREDICTIVE ANALYTICS WERDEN KOMPLEXE ZUSAMMENHÄNGE BEWERTET<br />
UND IN DIE ZUKUNFT PROJIZIERT. DIESE MÄCHTIGE METHODE KANN VIELE<br />
PROBLEME LÖSEN UND GLEICHZEITIG NEUE SCHAFFEN. Von Ruth Reitmeier<br />
Eine fi ktive Szene in naher Zukunft:<br />
„Was hast Du denn da schon wieder<br />
bestellt?“, fragt sie ihren Home-<br />
Management-Roboter und deutet<br />
auf das Paket auf dem Küchentisch.<br />
„Das kam heute mit der Post. Und<br />
ich habe es nicht bestellt“, antwortet<br />
der Roboter. „Der Händler hat dir das<br />
Paket wohl in der Annahme geschickt,<br />
dass du diese Dinge brauchst. Die<br />
Soda-Patronen gehen zur Neige<br />
und das Reinigungsmittel für meine<br />
Sensoren ist fast leer.“ Sie wirft einen<br />
achtlosen Blick auf die Sendung. „Ich<br />
brauche dieses Zeug nicht! Und ich<br />
will es nicht. Schick das sofort zurück“,<br />
befi ehlt sie dem Roboter.<br />
Der aber antwortet: „Du brauchst<br />
es vielleicht heute nicht, doch das<br />
System weiß besser als du selbst,<br />
dass du es schon morgen brauchen<br />
wirst.“ Sie grinst. „Ach so? Nun, das<br />
System hat keine Ahnung, denn ich<br />
werde morgen nur Leitungswasser<br />
trinken und dich, mein Lieber, schalte<br />
ich ab. Dann brauchst du auch kein<br />
Reinigungsmittel.“<br />
DER ONLINEHÄNDLER<br />
KENNT DIE BESTELLUNG<br />
VON MORGEN SCHON<br />
HEUTE<br />
Vielleicht werden wir uns schon bald<br />
durch derart bockige Verweigerung<br />
Handlungsfreiraum in Konsumentscheidungen<br />
erkämpfen müssen. Der<br />
Online-Händler Amazon hat sich nach<br />
einem Bericht des Wall Street Journal<br />
bereits 2012 ein System des antizipatorischen<br />
Paketversands als Patent<br />
gesichert. Das Prinzip dahinter:<br />
Waren werden verschickt, noch bevor<br />
der Kunde sie bestellt hat. Kundendaten<br />
zu früheren Bestellungen, das<br />
Screening von Wunschzetteln und<br />
Warenkörben sowie die Verweildauer<br />
des Cursers auf Produkten im Shop<br />
liefern die Rohdaten. Diese werden<br />
nach Mustern abgesucht und mittels<br />
Algorithmen schließlich zu Bestellprognosen<br />
zusammengeführt. Dieses<br />
System wendet Predictive Analytics<br />
(PA) an. Während Datamining Muster<br />
in Datenbeständen erkennt, liefert<br />
PA zukunftsbezogene Auswertungen.<br />
Die Trennung zwischen den Begriffen<br />
ist unscharf. PA ist jedenfalls so etwas<br />
wie das Orakel unserer Zeit. Am<br />
Anfang steht klassisch eine Fragestellung.<br />
In der Glaskugel spielt sich<br />
dann vereinfacht Folgendes ab: Eine<br />
Hypothese wird mittels Datamining<br />
überprüft und daraus schließlich eine<br />
Vorhersage über die Zukunft getroffen.<br />
Es wird also nicht nur der Ist-Zustand<br />
erhoben, um den Menschen entscheiden<br />
zu lassen, sondern weitergerechnet<br />
– und erst danach ist der Mensch<br />
mit seiner Entscheidungskompetenz<br />
an der Reihe. Das Versprechen, das<br />
den mächtigen Formeln innewohnt, ist<br />
es, komplexe Zusammenhänge effi zienter<br />
sowie zukunftsbezogen zu überblicken<br />
und fundierte, da evidenzbasierte<br />
Entscheidungen treffen zu<br />
können. Die andere Seite der Medaille<br />
ist die Horrorvision eines Datengaus<br />
gen Mitte des 21. Jahrhunderts in einer<br />
Welt, in der sämtliche Informatio nen<br />
gesammelt und Lebens bereiche<br />
durchleuchtet werden, in der es keine<br />
Anonymität, keine Privatsphäre und<br />
keinerlei <strong>Freiräume</strong> mehr gibt. PA ist<br />
keine Zukunftsmusik, sondern fi ndet<br />
bereits in zahlreichen Gebieten Anwendung.<br />
EIN SUPERCOMPUTER<br />
SCHLÄGT MEDIZINISCHE<br />
DIAGNOSEN UND<br />
THERAPIEN VOR<br />
Die sprichwörtliche Suche nach der<br />
Nadel im Heuhaufen hat im digitalen<br />
Zeitalter eine neue Dimension erreicht.<br />
„Der Heuhafen sucht mit“, sagt Datenschutz-Experte<br />
Christof Tschohl. Und<br />
das kann Leben retten. Der IBM-<br />
Super computer Watson etwa durchforstet<br />
Fachliteratur und klinische<br />
Daten, um etwa optimale, personalisierte<br />
Behandlungsstrate gien für<br />
Krebspatien ten zu fi nden.<br />
Medizinische Suchmaschinen helfen<br />
beim Wissensmanagement, doch<br />
dies ist erst der Anfang. Mittels PA<br />
macht die Maschine auf der Basis<br />
der durchforsteten Literatur samt<br />
Arztbriefen und klinischen Daten konkrete<br />
Diagnose- und Behandlungsvorschläge.<br />
„Mittlerweile erscheinen<br />
rund eine Million medizinische Fachartikel<br />
pro Jahr“, betont Allan Hanbury<br />
vom Institute of Software Technology<br />
and Interactive Systems an der Technischen<br />
Universität Wien. Dass hier<br />
kein Mensch den Überblick behalten<br />
kann, versteht sich von selbst. Ein von<br />
Hanbury geleitetes Projektteam hat<br />
solch ein Suchsystem für die Radiologie<br />
entwickelt. Der Prototyp ist fertig<br />
und funktioniert – und zwar so: Zeigt<br />
die Röntgenaufnahme etwas, das<br />
der Radiologe noch nie gesehen hat,<br />
speist er das Bild in die Suchmaschine<br />
ein. Über Bilderkennung werden ähnliche<br />
Röntgenaufnahmen blitzschnell<br />
aus dem Archiv gehoben, mittels Textanalyse<br />
werden zusätzlich relevante<br />
Informationen aus Arzt-Berichten<br />
sowie klinischen Daten gefi ltert und<br />
sodann die wichtigen Textstellen und<br />
Werte bereits markiert präsentiert.<br />
„Das System ist ein Tool für den Arzt,<br />
es kann den Arzt aber nicht ersetzen“,<br />
betont Hanbury, „Nur ein ausgebilde ter<br />
Mediziner verfügt über genug Fachwissen,<br />
das Ergebnis zu interpretieren<br />
und gegebenenfalls zu verwerfen.“<br />
GEN-SCREENING<br />
BEDEUTET ZU<br />
WISSEN, WAS EINMAL<br />
IN DER EIGENEN<br />
KRANKENGESCHICHTE<br />
STEHEN WIRD<br />
Nicht nur in der Krebsforschung gewinnt<br />
das Genetic Sequencing – ein<br />
Screening der Gene – an Bedeutung.<br />
Nachdem allein ein einziges Gen enorme<br />
Datenmengen enthält, war dies<br />
FREIRÄUME<br />
21
isher sehr aufwendig und teuer.<br />
Mittlerweile liefern Hochleistungsrechner<br />
Ergebnisse deutlich schneller<br />
und billiger ab. Dies ist zweifellos ein<br />
wichtiger Fortschritt in der Behandlung<br />
von Krankheiten wie Krebs, die<br />
einen Lauf gegen die Zeit bedeuten.<br />
Die Methode eröffnet aber auch ganz<br />
andere Möglichkeiten: Etwa jene, bereits<br />
ab der Geburt zu wissen, welche<br />
Krankheiten einem Menschen bevorstehen<br />
könnten. In den USA wird aktuell<br />
in einem Modellversuch mit ins ge samt<br />
480 Babys Genetic Sequencing eingesetzt<br />
und dabei dessen Folgen erforscht.<br />
Das Projekt soll zeigen, welche<br />
Chancen, aber vor allem auch<br />
welche Risiken dieses Wissen birgt.<br />
In Boston entschlüsseln Ärzte dabei<br />
erstmals auch das Genom gesunder<br />
Neugeborener. Ihr Motiv: schneller zu<br />
sein als der Markt. Denn die Medizintechnik<br />
ist seit einiger Zeit in der Lage,<br />
solcherart Prognosen zu erstellen,<br />
man nutzte diese aber bisher nicht,<br />
weil ihr Einsatz naturgemäß höchst<br />
umstritten ist. Es stellen sich jede<br />
Menge Probleme, allen voran jenes,<br />
dass ja die Babys selbst nicht darüber<br />
entscheiden können, ob sie eine Analyse<br />
ihres medizinischen Schicksals<br />
wünschen oder nicht. Und man weiß<br />
freilich auch noch nicht, wie die Eltern<br />
mit dem Wissen über mögliche<br />
künftige Krankheiten ihrer Kinder<br />
umgehen werden.<br />
ES GILT: WAS MÖGLICH<br />
IST, WIRD AUCH GEMACHT<br />
Beim Baby-Seq-Projekt geht es um<br />
Technologiefolgenabschätzung, um<br />
die Frage also, was das Einsetzen<br />
dieser Technologie mit den Menschen<br />
macht. Allfällige verheerende Folgeschäden<br />
sollen verhindert werden,<br />
bevor es zu spät ist und diese Untersuchung<br />
im Kreissaal zur Routine<br />
wird. Experten sind im Übrigen der<br />
Ansicht, dass die Genom-Sequenzierung<br />
von Kindern nicht aufzuhalten ist.<br />
Aber nicht nur die Ergebnisse, sondern<br />
der bloße Einsatz von Datamining<br />
und PA müssen auf ihre Folgewirkungen<br />
hin überprüft werden. Wird in<br />
Österreich etwa Predictive Policing –<br />
das heißt Vorhersagen im Bereich der<br />
Kriminalistik zu treffen – erstmals im<br />
Hinblick auf das Einbruchsrisiko getestet,<br />
wird es in den USA bereits viel<br />
weitreichender angewandt: In Florida<br />
hat nun das Department of Juvenile<br />
Justice beschlossen, künftig PA einzusetzen,<br />
um das Rückfallrisiko jugendlicher<br />
Straftäter zu ermitteln und gegebenenfalls<br />
gegenzulenken. Das<br />
Programm nennt sich „The Positive<br />
Achievement Change Tool“. Die<br />
Risiko-Bewertungs-Software screent<br />
Daten zur Vorgeschichte der jugendlichen<br />
Straftäter aus Polizeiberichten,<br />
Gerichts- und Gefängnisakten,<br />
durch stöbert die Herkunft der Jugendlichen<br />
und ihr soziales Umfeld<br />
sowie Risikofaktoren wie etwaige<br />
Traumatisierungen oder Abhängigkeiten.<br />
VORHERSAGEN IN<br />
DER KRIMINALISTIK<br />
SIND EIGENTLICH EIN<br />
SCHUTZMECHANISMUS<br />
Das Ziel ist ein hehres: Gefährdete<br />
Jugendliche sollen vor erneuter Straffälligkeit<br />
und Inhaftierung geschützt<br />
werden – vor sich selbst also. Fast<br />
refl exartig stellt sich hier die Frage,<br />
was das wohl mit einem jungen<br />
Menschen macht, wenn er von vornherein<br />
als Wiederholungstäter abgestempelt<br />
wird. Ergibt sich daraus<br />
nicht zwangsläufi g eine selbsterfüllende<br />
Prophezeiung, die noch dazu<br />
nicht auf bloßen Annahmen beruht,<br />
sondern Schlussfolgerungen auf Basis<br />
harter Daten darstellen? Nach Defi<br />
nition des österreichischen Psychotherapeuten<br />
Paul Watzlawick handelt<br />
es sich bei der selbsterfüllenden Prophezeiung<br />
um eine Voraussage, die<br />
rein aus der Tatsache heraus, dass<br />
sie gemacht wurde, zur Wirklichkeit<br />
wird und damit ihre eigene Richtigkeit<br />
bestätigt. Wer also den Teufel an<br />
die Wand malt, verstärkt demnach die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich<br />
so kommt.<br />
VORHERSAGEN SIND<br />
NUR SO GUT WIE DIE<br />
DATEN, AUS DENEN SIE<br />
STAMMEN<br />
Themenwechsel zu einem der Praxisprobleme<br />
des Datamining: die Datenqualität.<br />
Grundsätzlich gilt der<br />
Leitsatz: „Garbage in, garbage out“<br />
(kommt Müll hinein, kommt Müll heraus),<br />
wie es Mobilitätsforscher Martin<br />
Köhler vom Austrian Institute of Technology<br />
auf den Punkt bringt. Ist also die<br />
Datenbasis schlecht, kann bei deren<br />
Analyse nicht viel herauskommen. Im<br />
hektischen Spitalsalltag kommt es immer<br />
wieder zu schlampigen Aufzeichnungen,<br />
bei Verkehrsprognosen ist<br />
das Problem der ungenauen Verortung<br />
noch nicht gelöst. Ist etwa gerade<br />
keine Satellit in der Nähe, können<br />
GPS-Daten um bis zu 100 Meter unscharf<br />
sein. Mobilität ist jedenfalls bereits<br />
heute eines der großen Anwendungsbereiche<br />
von PA. Reisezeiten<br />
können immer genauer berechnet,<br />
Staubildungen vorausgesagt werden.<br />
Mussten bisher Autos gezählt und<br />
Umfragen durchgeführt werden, bieten<br />
heute Sensoren deutlich effi zienter<br />
Möglichkeiten der Datenerfassung.<br />
„Smart Survey“ (schlaue Umfrage)<br />
heißt diese neue Art der Verkehrsdatenerhebung.<br />
Freiwillige Probanden,<br />
die eine entsprechende App auf ihren<br />
Handys installiert haben, liefern<br />
aktuelle Verkehrsinformationen. Die<br />
Systeme können sogar unterschiedliche<br />
Verkehrsmittel erkennen. Es geht<br />
längst nicht nur um den Autoverkehr,<br />
sondern genauso um Zugverbindungen,<br />
um den Umstieg von einem auf<br />
ein anderes Verkehrsmittel, der Nachfrage<br />
nach Car-Sharing an Verkehrsknotenpunkten.<br />
Neben den Handy-<br />
Probanden sind zudem mit Sensoren<br />
ausgestattete Taxis unterwegs und<br />
WAHRSCHEINLICHKEIT,<br />
NICHT SICHERHEIT<br />
liefern Daten direkt von der Straße.<br />
Diese Methoden weisen zugleich in<br />
die Zukunft der Verkehrsforschung,<br />
22
Foto: © shutterstock; Illustrationen: © Barbara Wais<br />
Auf Basis der Vergangenheit wird die Zukunft vorausgesagt: Durch gesammelte Daten, etwa über das Einkaufsverhalten einer Person,<br />
berechnet ein Algorithmus, welche Produkte bald in den Einkaufswagen wandern werden. Hier geht es nicht nur um den täglichen Einkauf,<br />
sondern auch um neue Artikel wie zum Beispiel ein Buch oder ein Fahrrad. Aber auch im Bereich der Mobilität liefert das Verhalten von<br />
gestern Material für Prognosen aus der Glaskugel. So können zum Beispiel Staus genau vorausgesagt oder Reisezeiten sehr genau<br />
berechnet werden.<br />
zumal die Daten dichter und präziser<br />
werden, und die Systeme immer<br />
genauer arbeiten und laufend<br />
dazulernen. Dennoch, betont Köhler,<br />
bilden selbst die ausgereiftesten<br />
Analysemethoden immer nur eine<br />
Wahrscheinlichkeit ab. Selbst bei<br />
einer Trefferquote von 97 Prozent<br />
bleibt ein Restrisiko, dass die Vorhersage<br />
dennoch nicht eintrifft. Die Ziele<br />
von Datamining und PA in der Verkehrsforschung<br />
sind der optimale<br />
Verkehrsdurchfl uss, exakte Verkehrsplanung<br />
sowie das Vermeiden von<br />
Unfällen. „Den Verkehr ohne Risiko<br />
wird es in naher Zukunft noch nicht<br />
geben“, betont Köhler.<br />
DATENSICHERHEIT ALS<br />
UNVERZICHTBARER<br />
BESTANDTEIL DES<br />
DATAMININGS<br />
Ein zentrales Thema im engen Zusammenhang<br />
mit Datamining, das immer<br />
stärker ins Bewusstsein rückt, ist die<br />
Datensicherheit. Denn wurden personenbezogene<br />
Daten erst einmal erhoben,<br />
lassen sich Ergebnisse mit hoher<br />
Treffersicherheit exakt rückverfolgen.<br />
„Dann ist es mit der Anonymität vorbei“,<br />
betont Tschohl. Er leitet das Research<br />
Institute in Wien – ein Forschungszentrum<br />
an der Schnittstelle<br />
von Technik, Recht und Gesellschaft –,<br />
ist Nachrichtentechniker und Jurist<br />
und war als Mitglied der Initiative AK<br />
Vorrat mitverantwortlich dafür, dass<br />
die Vorratsdatenspeicherung aufgehoben<br />
wurde. Denn Sicherheit bedeutet<br />
angesichts der zunehmenden<br />
Durchdringung vieler Lebensbereiche<br />
mit Informations- und Kommunikationstechnologie<br />
nicht nur Schutz<br />
vor Viren, Trojanern und Hackerangriffen,<br />
sondern es geht um rechtliche<br />
Sicherheit beim Erheben von und im<br />
Umgang mit Daten. Konkret: Datenanalysen<br />
müssen im Einklang mit Bürger-<br />
und Menschenrechten gestaltet<br />
werden. Zahlreiche Beispiele zeigen,<br />
dass dies möglich ist. Die Weichen<br />
müssen rechtzeitig gestellt werden.<br />
Tschohl arbeitete zuletzt an einer noch<br />
nicht veröffentlichten Roadmap für<br />
IKT-Sicherheit in Österreich mit. Eine<br />
wichtige Erkenntnis der Studie: Gutes<br />
Privacy Design in der Datenverarbeitung<br />
gewinnt zunehmend an Bedeutung<br />
und ist folglich keine Bremse für<br />
den Wirtschaftsstandort, sondern ein<br />
Innovationsmotor.<br />
PERSONENBEZOGENE<br />
DATEN SIND OFT GAR<br />
NICHT NÖTIG<br />
Die Technologie hat dem Menschen<br />
zu dienen und nicht umgekehrt. Deshalb<br />
muss vor jeder Umsetzung, vor<br />
jeder Datenerhebung, die Frage nach<br />
dem konkreten Nutzen gestellt und<br />
beantwortet werden. Aus Sicht des<br />
Datenschutzes gilt: Je weniger in die<br />
Grundrechte eingegriffen wird, desto<br />
besser. Der legitime Zweck einer<br />
Erhebung und Verarbeitung von Daten<br />
muss dabei jedesmal genau defi -<br />
niert werden. „Abstrakte Formulierungen<br />
wie ‚im Interesse der öffentlichen<br />
Sicherheit‘ sind viel zu schwammig“,<br />
betont Tschohl. Zudem heilige der<br />
Zweck eben nicht die Mittel. Die Maßnahmen<br />
müssen tauglich sein, dürfen<br />
aber nicht übers Ziel hinausschießen.<br />
In den meisten Fällen ist die Erhebung<br />
personenbezogener Daten nicht<br />
notwendig, zumal auch aggregierte,<br />
also zusammengefasste Daten zu soliden<br />
Ergebnissen führen. <br />
FREIRÄUME<br />
23
Foto: © shutterstock<br />
Freiraum auf der Straße<br />
SIND SPASSFAHRTEN MIT DEM CABRIO GENAUSO NOSTALGIE WIE FREIHEITS-<br />
LIEBENDE TRUCKER, DIE IN DEN SONNENUNTERGANG FAHREN?<br />
FREIHEITEN UND FREIRÄUME AUF STRASSEN WERDEN SPÜRBAR KLEINER.<br />
DOCH SIE KÖNNTEN IN ANDERER ART WIEDER AUFLEBEN. Von Daniela Müller<br />
In den Achtziger Jahren, als die beiden<br />
Schauspieler Manfred Krug und<br />
Rüdiger Kirschstein als verwegene<br />
Trucker in der TV-Serie „Auf Achse“<br />
auf der ganzen Welt herumfuhren<br />
und den daheimgebliebenen Zusehern<br />
ein Gefühl von Freiheit und<br />
Grenzenlosigkeit vermittelten, als ein<br />
Liter Benzin rund acht Schilling kostete<br />
und das erste Gehalt klägliche<br />
4.200 Schilling betrug, fuhr man mit<br />
den Autos herum, in die es hineinregnen<br />
durfte, weil sie unten einen Stöpsel<br />
hatten, aus dem es wieder herausfl<br />
oss. Selbst rumpelte man mit<br />
dem Suzuki-Jeep, steif und ungefedert<br />
wie eine Badewanne, dafür ohne<br />
Dach, mit 80 km/h nach Griechenland,<br />
die Spurrillen auf der Autoput<br />
waren so tief, dass die überladenen<br />
Autos der Gastarbeiter ständig aufsaßen<br />
und Funken davonstoben. 20<br />
Stunden dauert die Fahrt ans Meer.<br />
DAS NAVI ALS<br />
HANDSCHELLE DES<br />
FREIHEITSGEFÜHLS<br />
Doch das Freiheitsgefühl der Straße<br />
ist heute nicht mehr das, was es einmal<br />
war.<br />
Die Fahrt ins Blaue lässt man sich<br />
heute vom Navigationsgerät diktieren,<br />
die ganze Motorleistung auszutesten<br />
verbieten Geschwindigkeitsbeschränkungen,<br />
die auf der Autobahn streckenweise<br />
auch unter 100 km/h bedeuten.<br />
Heute bestehe der Freiraum, den die<br />
Straße bietet, lediglich darin, sich<br />
das Reiseziel selbst aussuchen zu<br />
können, sagt Eva-Maria Skottke,<br />
Psychologin an der Hochschule für<br />
Medien, Kommunikation und Wirtschaft<br />
in Köln. Ein hartes Urteil. <strong>Freiräume</strong><br />
auf der Straße sind auch deshalb<br />
weniger geworden, weil es mehr<br />
Ver- und Gebote im Straßenverkehr<br />
gibt. Für den freiheitsliebenden Surfer<br />
bedeutet das Parkverbotsschild am<br />
Strand jedenfalls eine große Einschränkung<br />
seines Freiraumes. Und<br />
die Trucker von heute schieben sich<br />
in langen Schlangen auf der Autobahn<br />
vorwärts, weil sektorale Fahrverbote<br />
alternative Routen verbieten.<br />
4,8 Millionen Fahrzeuge statt 1,2 Millionen<br />
im Jahr 1970 bedeuten mehr<br />
24
Staus sowie eine höhere, bisweilen<br />
nervende Verkehrsdichte. Es bedeutet<br />
zudem höhere Sicherheitsanforderungen.<br />
Für die Kommunen bringt die<br />
Missachtung von Verbotsschildern vor<br />
allem eines: Geld in die Säckel.<br />
NOSTALGISCHE<br />
ERINNERUNGEN<br />
SIND TRÜGERISCH<br />
Doch stellt man die <strong>Freiräume</strong> von<br />
einst und jetzt auf den Prüfstand,<br />
lässt sich erkennen: Die Nostalgie<br />
taucht Erinnerungen an vergangene<br />
Cabriozeiten gern in Schwarz-Weiß<br />
und man hat in der Regel vergessen,<br />
dass die Freiheit von früher nicht immer<br />
angenehm schmeckte. Beispielsweise<br />
machten fehlende Klimaanla gen<br />
Sommerausfl üge mit der Limousine oft<br />
zur Qual.<br />
In der Werbung jedoch wird die Natur<br />
dennoch inszeniert, um Autofahren<br />
als grenzenloses Freiheitsgefühl zu<br />
präsentieren. Nostalgie sowie Erinnerungen<br />
seien dabei bestens geeignet,<br />
um positive Emotionen zu wecken,<br />
betont die Psychologin Skottke. „Gerade<br />
die Zielgruppe der Werbekunden<br />
kann im ,echten Leben‘ Freiheiten<br />
durch Beruf, Familien oder Finanzen<br />
eher eingeschränkt ausleben.“<br />
FREIRÄUME<br />
FÖRDERN SELBST-<br />
VERANTWORTUNG<br />
Aus Sicherheitsgründen wurde die<br />
Straße mit Verbots- und Hinweisschildern<br />
bestückt, den Straßenverkehr<br />
machen sie jedoch nicht in jedem<br />
Fall sicherer. Untersuchungen<br />
haben bewiesen, dass es in Shared<br />
Space-Bereichen weniger Unfälle<br />
gibt als an reizüberfl uteten Beschilderungskreuzungen,<br />
sagt Skottke. In<br />
einer Stadt im deutschen Westfalen<br />
wurden vor wenigen Jahren 600 der<br />
1.100 Verkehrsschilder als vermeintlich<br />
überfl üssig verhüllt. Nach ein paar<br />
Tagen stellte sich heraus: 471 brauchte<br />
es wirklich nicht. Im Straßenverkehr<br />
verhält es sich wie überall im Leben:<br />
Zu selbstverantwortlichem Handeln<br />
lässt sich besser durch positives Feedback<br />
motivieren denn durch Verbote.<br />
Auch ist das Auto dabei, sich zu verändern.<br />
Aus dem schicken Cabrio der<br />
1980-er wurde der bullige SUV (Sport<br />
Utility Vehicle), hinter dessen Lenkrad<br />
immer mehr Frauen sitzen, um den<br />
Nachwuchs sicher ans Ziel zu bringen.<br />
Die nächste Autofahrergeneration wiederum<br />
wird Lenkrad und Pedale nur<br />
noch als Feature im Auto haben, wenn<br />
man das Gefühl hat, selbst fahren zu<br />
wollen. Platooning heißt es bereits jetzt<br />
versuchsweise im Güterverkehr auf Autobahnen,<br />
wo in einem Fahrzeugkonvoi<br />
lediglich der anführende Lkw selbst gesteuert<br />
wird, alle nachfahrenden sind<br />
per WLAN verbunden und folgen im<br />
Windschatten, Geschwindigkeit und<br />
Richtung orientiert sich am vorausfahrenden<br />
Lkw. Die Fahrer müssen sich<br />
nicht auf den Verkehr konzentrieren und<br />
können sich anderen Dingen widmen.<br />
Für die Verkehrssituation bedeutet dies<br />
mehr Sicherheit und weniger Treibstoffverbrauch<br />
durch eine optimierte<br />
Fahrweise.<br />
DAS AUTONOM<br />
FAHRENDE AUTO<br />
ALS EIER LEGENDE<br />
WOLLMILCHSAU<br />
Für LKW-Fahrer gilt Platooning als die<br />
neue Freiheit – diese wird es für Autofahrer<br />
vielleicht in zehn, zwanzig<br />
Jahren erreicht sein, wenn das Auto<br />
überhaupt autonom fährt, wie Experten<br />
schätzen. Der Fahrer sitzt darin<br />
wie in einem Wohnzimmer, Fahrzeug<br />
und Internet planen möglicherweise<br />
die Freizeit und bringen den sportlichen<br />
Besitzer dorthin, wo der beste<br />
Schnee zum Skifahren ist. Das Auto<br />
wird zum Partner, sagt Johannes<br />
Kraus, Abteilung Human Factors am<br />
Institut für Psychologie und Pädagogik<br />
der Universität Ulm. Mit seinem<br />
Prototypen vom selbstfahrenden Auto,<br />
dem Conceptcar F015 zeigt Daimler<br />
schon heute, wie das Autofahren<br />
von morgen aussehen könnte. Fensterfl<br />
ächen werden zu Touchscreens,<br />
die das Auto zum Büro oder Entertainmentbereich<br />
umwandeln. Die<br />
loungeartigen Fahrer- und Beifahrersessel<br />
lassen sich umdrehen, man<br />
wendet sich vom Verkehr vorne ab<br />
und unterhält sich mit den hinten sitzenden<br />
Fahrgästen. Bei einem Radstand<br />
von 3,60 Meter bleibt genug<br />
Beinfreiheit.<br />
Das autonome Fahrzeug erkennt Gefahrenquellen<br />
wahrscheinlich besser<br />
als der Mensch am Steuer, das Autofahren<br />
wird dadurch sicherer, betont<br />
der Psychologe Kraus. Gemessen an<br />
den aktuellen technischen Entwicklungen<br />
sieht er enormes Potenzial für<br />
den Individualverkehr oder für autonome<br />
Taxifahrten: ob im Conceptcar<br />
F015, im Google-Auto, das ganz ohne<br />
Lenkrad auskommen wird, oder in autonomen<br />
Taxis, die man dorthin bestellt,<br />
wo man sie braucht und wegschickt,<br />
wenn die Fahrt beendet ist.<br />
Die Verkehrssituation könnte mit der<br />
Übernahme des Lenkrads durch den<br />
Fahrroboter entspannter werden, vermutet<br />
Kraus. Auch die Zahl der Autos<br />
könnte wieder sinken, weil Sharing-<br />
Konzepte immer beliebter werden und<br />
viele Menschen selbst kein Auto mehr<br />
besitzen, sondern sich den Fahrroboter<br />
rund um die Uhr teilen. Technisch<br />
gesehen wäre autonomes Fahren<br />
schon heute möglich. Geklärt werden<br />
müssen noch die rechtlichen und infrastrukturellen<br />
Seiten: Wer haftet im<br />
Falle eines Unfalls? Auf welcher Spur<br />
darf der Kolonnenverkehr fahren?<br />
NACHMITTAGSSCHLAF<br />
IM AUTO ALS OPTION<br />
Die Zukunft der Mobilität wird sich<br />
weiter im Individualverkehr abspielen,<br />
glauben Verkehrsexperten. Rad, Bus<br />
oder Bahn entlasten zwar den Verkehr<br />
in Städten, das Auto bleibt im<br />
Überland-Verkehr wichtig, wo öffentliche<br />
Verkehrsmittel möglicherweise<br />
sogar weniger werden könnten. Welche<br />
<strong>Freiräume</strong> die Straße künftig bietet,<br />
entscheiden die Mobilitätsformen<br />
von morgen: Ökologisches Fahren mit<br />
gutem Gewissen, weil die Sonne das<br />
Auto aufl ädt, autonomes Fahren, das<br />
dem Lenker einen Nachmittagsschlaf<br />
ermöglicht, oder der Trucker, der seine<br />
Kollegen ins Schlepptau nimmt,<br />
damit diese gemütlich Zeitung lesen<br />
können. Sehr viel ist möglich. <br />
FREIRÄUME<br />
25
INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE<br />
START-UPS<br />
SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA FREIRÄUME<br />
Von Ancuta Barbu<br />
////// MIT DEM HELIUMBALLON IN DEN WELTRAUM ///<br />
Das spanische Unternehmen zero2infnity verfolgt den Traum, Weltraumtourismus<br />
massentauglich zu machen. Es lädt Privatpersonen ein, in den erdnahen Weltraum<br />
zu fl iegen und die Erde von oben zu betrachten: Im bloon, einem geschlossenen<br />
Ballon-System mit 360-Grad Ausblick, nimmt der Reisende in einer Art Kinosessel<br />
Platz und fl iegt, gesteuert von zwei Piloten, mittels Heliumantrieb langsam in Richtung<br />
Weltraum. Die maximale Entfernung von der Erde beträgt 40 Kilometer. Die Tour<br />
dauert ca. sechs Stunden und kostet EUR 110.000. Wer heute bucht, kann frühestens<br />
2016 abheben.<br />
www.inbloon.com<br />
////// IMMOBILIENBESICHTIGUNG 2.0 ///////////////////<br />
Eine passende Immobilie zu fi nden, das ist für den Suchenden meist ein langwieriger<br />
Prozess und kostet viel Zeit. Auch wenn Grundriss und Fotos für den Interessenten<br />
attraktiv wirken, die Besichtigung vor Ort kann das Bild schnell ändern. Matterpoint,<br />
ein US-amerikanisches Technologie-Startup, entwickelte daher virtuell begehbare<br />
3D-Modelle von Immobilien. Detaillierte Videoaufnahmen der Wohnung, des Hauses,<br />
des Büros oder der Lagerhalle werden über die Matterport-App verfügbar gemacht.<br />
Die online-Besichtigung wird so real simuliert, dass der Interessent das Gefühl hat,<br />
sich tatsächlich am jeweiligen Ort zu befi nden.<br />
http://matterport.com/you<br />
////// MIT DEM ROLLSTUHL AM LENKRAD ////////////////<br />
Viele Menschen mit Behinderung können kein gewöhnliches Auto lenken. Die US-<br />
Amerikanerin Stacy Zoern, selbst seit ihrer Kindheit Rollstuhlfahrerin, entwickelte<br />
ein Elektroauto, in das man mitsamt dem Rollstuhl hineinfahren kann. Mittels Knopfdruck<br />
wird die Heckklappe geöffnet, der Rollstuhl wird im Auto eingerastet und los<br />
geht die Fahrt. Das Auto namens Kenguru kostet ca. USD 25.000. Mit der Produktion<br />
der ersten Autos wurde 2015 begonnen.<br />
www.kenguru.com<br />
26
WALK [YOUR CITY] ///////////////////////////////////<br />
Um Menschen dazu zu bewegen, in ihrer Umgebung mehr Wege zu Fuß zurückzulegen<br />
als mit dem Auto, wurde das Projekt Walk [your city] gegründet. Bürger<br />
können selbst Straßenschilder per Mausklick kreieren, die anzeigen, was ihnen<br />
wichtig erscheint – mit dem Hintergrund, andere zu motivieren, auch zu Fuß zu<br />
gehen; beispielsweise die Entfernung in Gehminuten bis zu einer Sehenswürdigkeit,<br />
zu einem Geschäft oder einem Café. Durch die Schilder der Bürger entstehen<br />
„Guerilla-Straßenkarten“, die Grätzel lebenswerter machen können.<br />
Das Projekt ist nicht nur in den USA sehr beliebt, sondern fi ndet bereits auch<br />
international mehr und mehr Beachtung. Bevor Bürger derartige Initiativen umsetzen,<br />
sollten sie allerdings die jeweilige Rechtslage und die Bestimmungen<br />
darüber, wer Straßenschilder anbringen darf, prüfen.<br />
https://walkyourcity.org/<br />
////// DER SCHUH, DER WÄCHST /////////////////////////<br />
In den ärmsten Ländern der Welt haben viele Kinder gar keine oder nur schlecht passende<br />
Schuhe. Gerade in der Wachstumsphase der Knochen können so schwere<br />
Deformationen an den Füßen entstehen. Angestoßen von seinen Erlebnissen in<br />
Nairobi, Kenia, entwickelte der US-Amerikaner Kenton Lee daher einen Schuh, der<br />
mit dem Fuß des Kindes mitwächst: eine Art Sandale, die längenverstellbare Laschen<br />
an Zehenspitzen, den Seiten und der Ferse hat. Sie kann fünf Schuhgrößen<br />
wachsen und passt daher im Schnitt fünf Jahre. Der Schuh ist in zwei Größen erhältlich:<br />
in Small für Kinder zwischen fünf und neun Jahren sowie Large für Kinder zwischen<br />
zehn und vierzehn Jahren.<br />
https://www.theshoethatgrows.org<br />
////// FLUGZEUG UND AUTO IN EINEM //////////////////<br />
Schon mal daran gedacht, nach dem Landen das Flugzeug nicht zu verlassen, sondern<br />
direkt damit nach Hause zu fahren? Räder hätte es ja. AeroMobil ist zumindest<br />
ein guter Anfang. Es handelt sich dabei um den Prototypen eines Flugzeuges, das<br />
zum Auto umfunktioniert werden kann, um es auf der Straße zu fahren. Es wurde vom<br />
Slowaken Štefan Klein designt und 2013 erstmals in Betrieb genommen. Als Auto<br />
passt das AeroMobil in eine Parklücke normaler Größe, es wird mit gewöhnlichem<br />
Treibstoff getankt und fährt wie ein herkömmliches Auto. Als Flugzeug braucht es<br />
nicht unbedingt einen Flughafen zum Starten und Landen, sondern kann auch auf einem<br />
(ein paar hundert Meter langem) Grasstreifen ab- und aufsetzen. Seit Oktober<br />
2014 befi ndet sich das aktuelle Modell AeroMobil 3.0 in einem regulären Flugtest-<br />
Programm. www.aeromobil.com<br />
////// CAMPINGWAGEN FÜRS FAHRRAD ////////////////<br />
Um Ferien mit einem Campingwagen zu machen, braucht man jetzt kein Auto mehr. Es<br />
geht auch mit dem Fahrrad: Der Däne Mads Johansen konzipierte den Wide Path Camper,<br />
ein Leichtgewicht-Wohnmobil, das vom Fahrrad gezogen werden kann. Auf den<br />
zweieinhalb Quadratmetern Innenraum befi ndet sich eine Sitzecke mit einem Tisch,<br />
der in ein Doppelbett umgewandelt werden kann. Darunter ist der permanente 300-<br />
Liter-Stauraum, der etwa der Größe einer Badewanne entspricht. An der Außenseite<br />
des Wohnmobils kann ein Esstisch ausgeklappt werden. Ein weiterer Vorteil: Für einen<br />
längeren (Auto-)Transport lässt sich der Wide Path Camper bei einer konstanten<br />
Breite von 99 cm auf die halbe Länge (von 2,6 Meter auf 1,3 Meter) zusammenklappen.<br />
www.widepathcamper.com<br />
FREIRÄUME<br />
27
Der Streber ist<br />
der neue Rebell<br />
28<br />
Foto: © shutterstock
JUGENDLICHEN STEHEN VIELE WEGE OFFEN, IHNEN WIRD MEHR ZUGETRAUT<br />
ALS NOCH VOR WENIGEN JAHRZEHNTEN. DOCH IHRE FREIRÄUME WERDEN<br />
ZUNEHMEND ENGER. Von Daniela Müller<br />
Martina hat maturiert. Mit Auszeichnung.<br />
Gefeiert wurde das beim Segeln<br />
in Kroatien. Im Moment steht der Führerschein<br />
an und als nächstes<br />
wartet ein Sozialjahr auf sie, in Ecuador.<br />
Dort wird sie Englisch unterrichten.<br />
In zwei Stunden muss sie<br />
am Flugfeld Thalerhof sein, es geht<br />
hoch in die Lüfte und mittels Tandemsprung<br />
wieder herunter. Am Abend<br />
zuvor war sie in der Oper und im<br />
Sommer geht’s zu Festivals. Dazwischen<br />
in die Urlaube, mindestens<br />
zwei Mal, da die Eltern getrennt sind.<br />
Martina lässt sich auf das Leben ein.<br />
<strong>Freiräume</strong> sind für sie das, wo sie<br />
selbst entscheiden kann, was sie tun<br />
will. Theoretisch hat sie sehr viele davon.<br />
Praktisch sieht das etwas anders<br />
aus.<br />
DAS VORHANDENSEIN<br />
VIELER CHANCEN<br />
ERFORDERT EINEN<br />
PLAN, UM DIE BESTEN<br />
HERAUSZUFINDEN<br />
Martina philosophiert gern über das<br />
Leben. Die Basis dafür gaben und<br />
geben ihr die Mutter, Ökonomin an<br />
der Universität Graz, und der Vater,<br />
Vorstand in einem großen steirischen<br />
Unternehmen. Sie weiß, warum<br />
es Diskussionen über Gender<br />
Mainstreaming braucht, oder dass ein<br />
Soziologiestudium in der Regel keine<br />
allzu guten Karrierechancen bedeutet.<br />
Martina weiß auch, dass <strong>Freiräume</strong><br />
Chancen bieten, man sie aber<br />
gut planen muss. Das Um und Auf<br />
sei dabei die Selbstoptimierung, betont<br />
der Jugendforscher Philip Ikrath.<br />
„Die Jugendlichen werden da hineingedrängt“<br />
sagt er. Schon bevor es in<br />
Richtung Karriere geht, heißt es, die<br />
Biografi e zu optimieren: Zusatzqualifi<br />
kationen, Auslandssemester, Pfl ichtpraktikum,<br />
Fremdsprachen und Persönlichkeitstrainings.<br />
Was früher im<br />
Laufe eines langen Berufslebens gesammelt<br />
wurde, ist für viele junge<br />
Menschen von heute die Ausgangs-<br />
situation. Die Zeiten sind vorbei, dass<br />
Jugendliche tun können, was ihnen<br />
Spaß macht, betont Ikrath. Dazu fehlt<br />
oftmals auch das Umfeld: immer weniger<br />
Parks und Naturbelassenheit,<br />
dafür die gestiegene Belastung durch<br />
Schule und Beruf. Zudem bleiben Jugendliche<br />
heute länger in der Familie,<br />
was den individuellen Freiraum ebenfalls<br />
einschränkt, weil man sich unter<br />
der elterlichen Kontrolle weniger frei<br />
bewegen kann. Sogar Sport sei nicht<br />
mehr frei, sagt er, sondern werde im<br />
Fitnessstudios oder in Sportcamps<br />
reglementiert.<br />
DICK SOLLTE NUR<br />
DIE GELDBÖRSE SEIN<br />
Sie schmerzen auch, die neuen <strong>Freiräume</strong>:<br />
Wer in sein will, lässt sich<br />
täto wieren und die Silikonbrust zur<br />
Matura ist längst kein amerikanisches<br />
Phänomen mehr. Hohe Anforderungen<br />
an Aussehen, Können oder Finanzkraft,<br />
beobachtet jedenfalls der Jugendpsychiater<br />
Christian Popow. Eine<br />
Zunahme an <strong>Freiräume</strong>n sieht er lediglich<br />
an der Vielfalt, was die Wahl<br />
des Outfi ts angeht, in toleranteren<br />
Regeln für die Ausgeh-Zeiten oder für<br />
das „Erproben“ sozialer Beziehungen<br />
– Stichwort Teenager-Beziehungen.<br />
Bei Martina rangiert das Thema Familie<br />
weit hinten. Erst einmal das Leben,<br />
sprich das berufl iche Fundament<br />
festigen. Arbeit muss Freude machen,<br />
das ist sich die Generation Y selbst<br />
schuldig.<br />
So gesehen hatte Jörg Zeyringer weniger<br />
Auswahl. In den 1970ern, als<br />
er Kind war, gab es den Park, in dem<br />
er Fußball spielte, und den Wald. Die<br />
Berufsentscheidung hatte der Vater<br />
getroffen, der seinen Sohn als Förster<br />
sah. Der Sohn musste in die Bundeslehranstalt<br />
für Forstwirtschaft in Bad<br />
Vöslau; wohin er nicht musste: ins Internat.<br />
Als einziger seiner Klassenkollegen<br />
wohnte er extern und hatte damit<br />
mehr unkontrollierten Spielraum.<br />
Er hatte keine rechte Idee, wie er ihn<br />
nutzen sollte. Statt zur Schule zu gehen,<br />
fuhr er zum Bahnhof, gab seinen<br />
Schulranzen in ein Schließfach und<br />
nahm den Zug nach Wien, wo er tagelang<br />
herumspazierte. Die Schule<br />
brach er schließlich ab. Rückblickend<br />
betrachtet habe ihm die Struktur gefehlt,<br />
sagt er. Die kam erst mit dem<br />
Bundesheer. Dort holte er die Matura<br />
nach und beschloss, „irgendetwas<br />
mit Sprache“ zu machen. Zeyringer<br />
studierte Publizistik und Pädagogik,<br />
hängte Motivationspsychologie dran<br />
und arbeitet heute als Trainer in der<br />
Wirtschaft und im Gesundheitsbereich.<br />
Seine Jobs – Bademeister, DJ,<br />
Hilfsarbeiter am Bau, Versicherungsvertreter<br />
und später Personalentwickler<br />
in einer Regionalbank – gaben ihm<br />
Gelegenheit zum Ausprobieren, doch<br />
letztlich musste er aus fi nanziellen<br />
Gründen „nehmen, was daherkommt“.<br />
VIELE FREIRÄUME:<br />
EIN PRIVILEG DER<br />
VERGANGENHEIT<br />
Zwei völlig verschiedene Jugend-Welten<br />
in nicht einmal 30 Jahren Abstand.<br />
Der 54-jährige Jörg Zeyringer und die<br />
18-jährige Martina sind sich über das<br />
Paradox einig: Auch wenn es heute<br />
mehr Vielfalt gibt, so hatten junge<br />
Menschen in den 1970ern, 1980ern<br />
mehr <strong>Freiräume</strong> als heute, zumindest<br />
qualitativ gesehen. Zeyringer weiß<br />
aus der Motivforschung, dass zu viel<br />
Auswahl frustriert, fünf oder sechs<br />
Optionen seien noch überschaubar<br />
und erlaubten eine Entscheidung. Ein<br />
Studium in den 1980er-Jahren bedeutete<br />
noch eine fi xe Jobgarantie,<br />
Lehrabschlüsse waren angesehener,<br />
als sie es heute sind, vor allem im<br />
städtischen Bereich, wo die Lehre<br />
noch immer als zweite Wahl gilt. Dafür<br />
sind Hochschulabschlüsse heute<br />
entwertet und generell zu stark administriert,<br />
fi ndet Jörg Zeyringer. Strenge<br />
Stundenpläne und der bei zu langer<br />
Studiendauer drohende Wegfall der<br />
Familienbeihilfe ließen keine Freigänge<br />
FREIRÄUME<br />
29
zu: „Junge Menschen haben keine<br />
Zeit, sich zu entdecken oder zu irren.“<br />
Für den Jugendpsychiater Popow bedeuten<br />
<strong>Freiräume</strong> auch Grenzen, die<br />
es braucht, um Halt zu bekommen.<br />
Gegenwärtig seien die Grenzsetzungen<br />
der Eltern ihren Kindern gegenüber<br />
schwammiger und inkonsequenter,<br />
einerseits weil Eltern im<br />
Gegensatz zu früher weniger Sicherheit<br />
in Erziehungsfragen hätten oder<br />
autoritäres Verhalten überhaupt abgelehnt<br />
würde, nicht selten aufgrund<br />
einer Angst, sich falsch festzulegen.<br />
In die Ambulanzen der Kinderund<br />
Jugendpsychatrie kommen immer<br />
mehr ängstliche und depressive junge<br />
Menschen, die mit den realen Alltagsbedingungen<br />
nicht zurechtkommen,<br />
die den gestiegenen Anforderungen<br />
der Berufswelt nicht gewachsen sind.<br />
Oder die sich hilfl os gegenüber den<br />
laufend steigenden fi nanziellen und<br />
gesellschaftlichen Ansprüchen fühlen.<br />
Laut Jugendpsychiater Popow geben<br />
Jugendliche in der realen Welt vermehrt<br />
auf und fl üchten in die virtuelle<br />
Welt des Internets. Weil Österreich<br />
EU-weit am wenigsten für Kinderund<br />
Jugendgesundheit ausgebe, fehlten<br />
die Mittel, um Rahmenbedingungen<br />
ändern zu können, sagt Popow.<br />
Doch nur so könne den am schwersten<br />
Betroffenen, die in Drogenabhängigkeit<br />
und Kriminalität abgewandert<br />
sind, geholfen werden.<br />
ELTERN HABEN ANGST<br />
VOR DEM SOZIALEN<br />
ABSTIEG IHRER KINDER<br />
Der Jugendforscher Ikrath sieht besorgt<br />
auf die wachsende Kluft zwischen<br />
jenen, die sich mit Studium und<br />
Ehrgeiz die Startbedingungen für ein<br />
gutes Leben erarbeiten und jenen, die<br />
als Bildungsverlierer auf der anderen<br />
Seite stehen. Doch die Kluft wachse<br />
auch zwischen jungen Menschen, die<br />
dem Druck standhalten könnten und<br />
ihren Weg gingen, und anderen, die<br />
sich eine „stille, ruhige Existenz wünschen,<br />
wo sie sich nicht die ganze<br />
Zeit beweisen müssen“. Große <strong>Freiräume</strong><br />
stünden keiner dieser Gruppen<br />
Unkonventionell: Die US-amerikanische Popsängerin Lady Gaga (Jahrgang 1986)<br />
fällt nicht nur optisch durch knappe Kostüme oder überspitzte Inszenierungen auf, sondern<br />
nimmt sich auch in ihren Liedtexten kein Blatt vor den Mund. Etwa besingt sie in „Born this<br />
way“ mitunter jene, die sich in ihrer sexuellen Orientierung „anders“ fühlen als der Großteil<br />
der Bevölkerung. Sich diese Freiheiten herauszunehmen, gelingt jedoch nur, wenn man ein<br />
starkes Backup hat – in Lady Gagas Fall Millionen an Fans und die Musikindustrie.<br />
offen, betont Ikrath. Aus dem elterlichen<br />
Spruch „unser Kind soll es einmal<br />
besser haben als wir“ wurde<br />
längst ein „es soll zumindest nicht<br />
schlechter werden“ einer Elterngeneration,<br />
die sich vor dem sozialen Abstieg<br />
fürchtet. Die wohl wichtigste und<br />
auch einzige Sinnquelle der Jugend<br />
sei der Freizeitkonsum, sagt Ikrath.<br />
Hier vor allem: das Handy und das<br />
Internet.<br />
VIA INTERNET UND<br />
SOCIAL MEDIA STÄNDIG<br />
MIT DER CLIQUE<br />
VERBUNDEN<br />
Martina schildert wortreich, wofür<br />
Jörg Zeyringer nur eine kurze Erklärung<br />
hat: „Ich ging damals Fußballspielen<br />
und hatte keinen Zwang, erreichbar<br />
zu sein.“ Für 18-Jährige im<br />
Hier und Jetzt ist ein Leben ohne Social<br />
Media wie der Ausschluss aus<br />
der Fußballmannschaft. „Ohne Facebook<br />
bekommt man nichts mit“, sagt<br />
Martina, der Zwang zum sofortigen<br />
Reagieren bestimmt die Freizeit.<br />
Kinder wie Jörg Zeyringer knallten<br />
in den Siebzigern die Schultasche<br />
in die Ecke und zogen in den Wald,<br />
bis es fi nster wurde. Keine Eltern,<br />
die das Kind per GPS trackten, keine<br />
Videoüberwachung, die das Treiben<br />
beobachtete. Die Jugendlichen der<br />
Gegenwart halten sich in genormten<br />
Räumen auf, im Einkaufscenter, im<br />
Café, auf öffentlichen Plätzen mit<br />
Lärm- und Spielverboten. „Und sie<br />
protestieren nicht“, ergänzt der Jugendforscher<br />
Ikrath.<br />
Foto: © shutterstock<br />
EINST DAS FEINDBILD<br />
DER COOLENESS, HEUTE<br />
DAS VORBILD: STREBER<br />
WISSEN, WIE ES GEHT<br />
Wenn Jörg Zeyringer zurückblickt, so<br />
glichen seine verbotenen Spaziergänge<br />
in Wien einer Suche nach sich<br />
selbst. Martina hat ihr Lebenskonzept<br />
in vielen rationalen, klugen Gesprächen<br />
und Diskussionen gefeilt. Eines<br />
ist gewiss, sagt der Jugendforscher<br />
Ikrath: die Generation von heute bringt<br />
keine Bohemiens hervor, Menschen,<br />
die <strong>Freiräume</strong> einfordern und sich mit<br />
einer großen Portion Selbstsicherheit<br />
zu Außenseitern hochstilisieren. Wie<br />
Lady Gaga, die US-amerikanische<br />
Sängerin, die sich als frei stilisiert,<br />
aber von einer Milliardenindustrie abhängig<br />
ist. „Der Rebell von heute ist<br />
der Streber“, konstatiert Ikrath. Wie<br />
letztens, als er eine Gruppe Jugendlicher<br />
nach ihrem Bild über Streber<br />
befragt hatte. Sie waren sich einig:<br />
Ein Streber ist einer, an dem man<br />
sich orientiert, weil er weiß, wie man<br />
es macht. <br />
30
DIE SEELE<br />
BAUMELN LASSEN<br />
Genug Platz zum Sitzen, Grünanlagen in einer Stadt oder getrennte Bankkonten – <strong>Freiräume</strong> sind Definitionssache und in<br />
allen Lebensbereichen begehrt. Auch die Uhr zeigt sie uns an. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer<br />
DATEN & FAKTEN<br />
Quellen: 1 Zeitverwendungserhebung Statistik Austria, Personen ab 19 Jahren, Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte. 2 Zeitverwendungserhebung Statistik Austria, Personen ab zehn Jahren;<br />
Soziale Kontakte, Kinderbetreuung, Freiwilligenarbeit und Freizeit kumuliert. 3 Bureau of Labor Statistics. 4 Stiftung für Zukunftsfragen. 5 elitepartner.de, Befragung von 4.500 eingetragenen Singles.<br />
6 wien.gv.at. 7 www.salzburg.info. 8 www.nycgovparks.org. 9 www.greaterlondonnationalpark.org.uk<br />
Freizeit<br />
1981 hatten die Österreicher<br />
5h 45 min Freizeit pro Tag 1 ,<br />
2009 (aktuell ste Zahlen)<br />
vier Minuten mehr: 5h 49 min 2 .<br />
Zum Vergleich: Die US-Amerikaner<br />
haben etwas weniger Freizeit zur<br />
Verfügung: 2009 5h 15 min (Freizeit<br />
und Sport) 3 , die Deutschen<br />
(2010) deutlich weniger: 4h 3 min 4 .<br />
Unter freiem Himmel<br />
Wien ist weltweit die Stadt mit<br />
der höchsten Lebensqualität.<br />
Mit ein Grund sind 1.350 Parks<br />
und Spielplätze. Auf jede<br />
Grünfl äche* kommen damit<br />
1.333 Einwohner. 6<br />
*Parks und Spielplätze<br />
Getrennte Kassen<br />
sind mehr wert<br />
85 % der Frauen<br />
und 74 % der Männer<br />
wollen in einer Beziehung<br />
getrennte Konten<br />
beibehalten. 5<br />
Auch die Stadt Salzburg hat –<br />
gemessen an der Einwohnerzahl –<br />
viele Parks und Spielplätze: (99)<br />
1.494 EW pro Grünfläche. 7<br />
1981<br />
Über den Wolken ist die Sitz-Freiheit nicht grenzenlos<br />
Genormte oder international gültige Mindestbreiten der Sitze im Flugzeug<br />
gibt es nicht. In Langstreckenfl ugzeugen rangieren die Sitzfl ächen von 40,6 cm<br />
(japanische ANA) bis 48,2 cm (China Southern). In den Maschinen der<br />
Austrian Airline sitzt man je nach Flugzeugtyp auf 47 – 50 cm.<br />
Der Sitzplatz hat jedenfalls merkliche Auswirkungen auf den Schlaf, wie eine<br />
Studie des London Sleep Centers im Auftrag von Airbus herausfand:<br />
Wird die Sitzfl äche um 2,5 cm vergrößert (von 43,2 cm auf 45,7 cm), verbessert<br />
sich die Schlafqualität der Flugpassagiere um 53 % (schnelleres Einschlafen,<br />
tieferer Nachtschlaf, weniger Gliederzucken). Eine neue Geschäftsstrategie ist<br />
es somit, für Sitzfläche extra Geld zu verlangen: In den Airbus Langstreckenjets<br />
vom Typ A-330 wird es demnächst neun anstatt wie bisher acht Sitze in einer<br />
Reihe geben (sog. Budget Economy): Jeder Sitz bietet dann 42,42 cm Sitzfl äche –<br />
um 3,55 cm weniger als in der Comfort Economy.<br />
5h 45 min.<br />
2009<br />
09<br />
5h 49 min.<br />
2009 09<br />
5h 15 min.<br />
2010<br />
4h 3 min.<br />
In fi nanzieller Hinsicht<br />
wird persönlicher Freiraum<br />
als wichtig erachtet:<br />
FREIRÄUME<br />
New York City: 1.700 Parks und Spielplätze<br />
und somit 4.823 EW pro Anlage.<br />
Der größte Park New York Citys ist übrigens<br />
der Pelham Bay Park Bronx. Er umfasst<br />
1.122 ha und ist so groß ist wie 2.770 Fußballfelder<br />
(à 0,4 ha). Der Central Park in<br />
Manhattan fi ndet sich erst auf Platz 6 und<br />
misst 341 ha, ca. 84 Fußballfelder. 8<br />
London besteht zu 47 % aus Grünfl ächen.<br />
Der Geograf Dan Raven-Ellison verfolgt<br />
schon seit mehreren Jahren die Idee,<br />
aus dem Großraum London einen Nationalpark<br />
zu machen. Er begründet dies mit<br />
dem großen Anteil an Grün- und Wasserfl<br />
ächen sowie den vielen Spezies, die dort<br />
beheimatet sind. 9<br />
31
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC<br />
Marie Curie<br />
Die Physikerin und<br />
Chemikern (1867–1934) erhielt<br />
gemeinsam mit ihrem Mann<br />
Pierre 1903 den Nobelpreis für<br />
Physik, 1911 wurden sie mit dem<br />
Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.<br />
Abseits ihrer Profession war<br />
Marie Curie leidenschaftliche<br />
Weitstrecken radfahrerin, die<br />
sogar ihre Flitterwochen<br />
radelnd verbrachte.<br />
Erwin<br />
Schrödinger<br />
(1887–1961) gilt als der<br />
Begründer der Quantenmechanik,<br />
ist bekannt für sein Gedanken -<br />
experi ment mit der Katze und erhielt<br />
1933 gemeinsam mit dem britischen<br />
Physiker Paul Dirac den Nobelpreis<br />
für Physik.<br />
In seiner Freizeit beschäftigte<br />
er sich mit dem Bauen und<br />
Einrichten von<br />
Puppenhäusern.<br />
Albert Einstein<br />
(1879–1955) stellte die<br />
Relativitätstheorie auf und<br />
erhielt 1922 den Nobelpreis für<br />
Physik. Er brachte sich selber<br />
das Geigenspiel bei und ließ sich<br />
dabei gerne von seinem<br />
Kollegen Max Planck am<br />
Klavier begleiten.<br />
Max Planck<br />
(1858–1947) begründete die<br />
Quantenphysik. 1918 erhielt<br />
er den Nobelpreis für Physik.<br />
Neben seinem Interesse an der<br />
theoretischen Physik begeisterte<br />
er sich für das Klavierspielen.<br />
Er soll nicht nur für sich<br />
selbst, sondern auch für<br />
Kollegen und Freunde<br />
musiziert<br />
haben.<br />
32