Die Weisen der Meere . Manche Forscher glauben gar, dass diese Tiere eines Tages die Weltherrschaft übernehmen könnten. GROSSFLOSSEN-RIFFKALMAR Farben und Körperhaltung dienen nicht nur der Tarnung, sondern auch dem Ausdruck von Emotion 30. September 2015 • <strong>profil</strong><strong>wissen</strong> 3 71
WUN DERTIER E Von Till Hein Ein bräunlich-grüner Krake schlingt drei Arme um ein Marmeladeglas. Er spannt die Muskeln an, ein Ruck – und der Drehverschluss ist offen. Gierig futtert der Oktopus die Krabben aus dem Glas. „Geschickte Viecher, gell?“, fragt Michael Kuba, Tintenfischexperte am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. „Und ziemlich clever.“ Kraken finden sich in Labyrinthen zurecht, erzählt er. Sie lernen schnell. „Und sie können sich menschliche Gesichter merken.“ Tintenfische, zu denen neben den achtarmigen Kraken auch die Sepien und Kalmare mit zehn Armen gehören, sind nicht mit Fischen, sondern mit Schnecken und Muscheln eng verwandt. „Wie alle Weichtiere wurden sie lange hoffnungslos unterschätzt“, sagt Kuba. Erst in jüngster Zeit entdecken Wissenschafter das Potenzial dieser Meeresbewohner: Roboterforscher lassen sich von ihren Greifarmen inspirieren. Ihre kräftigen Nervenfasern begeistern Neuro<strong>wissen</strong>schafter. Ihre Tarnungsmethoden inspirieren Militärtechniker. Nach einer Rundfunksendung über Tintenfische schrieb eine Hörerin unlängst auf der Website von Deutschlandradio, sie werde nie mehr Calamares essen. „Es käme mir wie Kannibalismus vor.“ Den Kraken trauen Experten am meisten zu: Sie sind flexibel, haben ein gutes Gedächtnis und benutzen wahrscheinlich Werkzeuge. Manche Biologen glauben gar, dass diese „Weisen der Meere“ eines Tages das Festland erobern und den Homo sapiens als dominierende Spezies ablösen könnten. Tintenfische bevölkern alle Ozeane unseres Planeten. Sie gehören zu den ältesten Tiergruppen auf der Erde. Schon vor mehr als 500 Millionen Jahren lebten sie sowohl in den Weiten der Tiefsee als auch in den flachen Küstenregionen. Insgesamt sind rund 900 Arten bekannt. Doch wie intelligent und zielstrebig sind diese glitschigen Weichtiere, die bei Gefahr Tinte versprühen und in der Dunkelheit fliehen, wirklich? „Fest steht, dass Kraken leidenschaftliche Spieler sind“, sagt Kuba, Mitte 40, groß, korpulent, Dreitagesbart, runde Brille, und bewegt seine Finger selbst schon wie tatendurstige Oktopusarme. Lange glaubte die Wissenschaft, dass ausschließlich Säugetiere zocken. Dabei albern auch Tintenfische mit Spielsachen ALEX MUSTARD/NATURE PICTURE LIBRARY/CORBIS herum. Mittelmeerkraken (Octopus vulgaris) reichen zum Beispiel gerne Legosteine von einem Arm zum nächsten weiter. „Es geht dabei um Fitness für Körper und Geist“, sagt der Forscher, „und darum, Langeweile zu vermeiden.“ Unterforderung tut Kraken nämlich – ähnlich wie hochbegabten Schulkindern in der Welt des Homo sapiens – gar nicht gut. Im Aquarium sollte man ihnen Geschicklichkeitsaufgaben stellen, sonst fressen sie bald nicht mehr. Chronische Langeweile kann sie so frustrieren, dass sie sich selbst Arme abbeißen. Kraken sind bärenstark. In Experimenten hob ein 2,5 Kilogramm schwerer Oktopus mehr als das Siebenfache seines Körpergewichts. Seit Homers Zeiten beleben solche Tiere denn auch als Meeresungeheuer, die ganze Schiffe in die Tiefe reißen, Mythen und Sagen. Der Kolosskalmar, das größte Weichtier der Welt, ist zwar für Seeleute keine Gefahr, aber bis zu zehn Meter lang und 500 Kilogramm schwer. Seine Augen sind größer als Fußbälle, sein Penis misst einen Meter. Und es ist gut möglich, dass sich irgendwo in der Tiefsee noch weit größere Krakenarten verbergen. Denn Tintenfische sind Meister der Tarnung. Im Aquarientrakt des Frankfurter Hirnforschungsinstituts untersucht Kuba derzeit, wie genau sich Sepien an ihre Umgebung anpassen können. Bis zu tausendmal am Tag verändern sie in freier Natur die Farben und Muster auf ihrem Körper, um sich vor Fressfeinden zu verbergen, erzählt Kuba und deutet auf zwei graue Exemplare, die vor einem gleichfarbigen Felsen im Becken kaum zu sehen sind. Halten sie sich hingegen bei einem Schachbrett auf, erzeugen Sepien ein schachbrettartiges Muster. Spezielle Pigmentzellen in der Haut, die Chromatophoren, deren Färbung durch Muskelbewegungen variiert werden kann, ermöglichen die flexible Tarnung. Und manche Tintenfischarten imitieren nicht nur Farben und Musterung, sondern auch die Oberflächenstruktur ihrer Umgebung. Für dieses System interessiert sich inzwischen sogar das Pentagon. Nordamerikanische Militärtechniker wollen es elektronisch nachbauen und in Panzerfahrzeuge integrieren. Die Großflossen-Riffkalmare in einem KRAKE IN EINER KOKOSNUSS Das Verstecken in eingesammelten Kokosnüssen deuten manche Forscher als Zeichen von Bewusstsein. 72 <strong>profil</strong><strong>wissen</strong> 3 • 30. September 2015