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James Tiptree Jr.-Reader

Leseproben der 7 Bändigen Werkausgabe des Septime Verlag, sowie der Biografie von Julie Phillips.

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Die Küste zu unserer Rechten gehört<br />

zum Bundesstaat Quintana Roo. Falls<br />

Sie Yucatán noch nie gesehen haben,<br />

stellen Sie sich den weltgrößten durchweg<br />

platten grün-grauen Teppich vor.<br />

Ein leer wirkender Landstrich. Wir passieren<br />

die weiße Ruine von Tulum und<br />

den klaffenden Schnitt der Straße nach<br />

Chichén Itzá, ein halbes Dutzend Kokosnussplantagen<br />

und dann bis ganz zum<br />

Horizont nur noch Riffe und niedriges<br />

Dschungelgestrüpp, ganz so, wie es vor<br />

vierhundert Jahren die Konquistadoren<br />

gesehen haben.<br />

Lange Wolkenketten rasen auf uns zu<br />

und verdunkeln die Küste. Ich hab mir<br />

schon gedacht, dass die düstere Stimmung<br />

unseres Piloten zum Teil vom Wetter<br />

herrührt. Eine Kaltfront klingt über<br />

den Agavenfeldern von Mérida im Westen<br />

ab, und der Südwind hat eine Kette<br />

von Küstenstürmen aufgehäuft: Lloviznas<br />

sagt man hier dazu. Estéban umfliegt<br />

routiniert ein paar kleinere Gewitterwolken.<br />

Die Bonanza legt sich schief, und<br />

ich werfe, mit der vagen Idee, die Frauen<br />

zu beruhigen, einen Blick nach hinten.<br />

Sie sind ganz darauf konzentriert, sich<br />

Yucatán anzusehen, so gut es geht. Sie<br />

hätten den Blick vom Copilotensitz aus<br />

haben können, aber das wollten sie ja<br />

nicht. Zu schüchtern?<br />

Vor uns schwillt wieder eine llovizna<br />

an. Estéban bringt die Bonanza hoch und<br />

erhebt sich in seinem Sitz, um besser sehen<br />

zu können. Ich entspanne mich zum<br />

ersten Mal seit einer Ewigkeit, freue mich<br />

darüber, dass mein Schreibtisch immer<br />

weiter wegrückt und eine Woche Fischen<br />

vor mir liegt. Das klassische Mayaprofil<br />

unseres Kapitäns zieht meinen Blick an:<br />

die Stirn, die in eine raubvogelhafte Nase<br />

ausläuft und darunter, zurückgesetzt,<br />

Lippen und Kinn. Würden die schräg<br />

gestellten Augen noch einen Tick mehr<br />

schielen, hätte er nie seinen Schein machen<br />

können. Die Kombination sieht<br />

gut aus, ob Sie’s glauben oder nicht. Bei<br />

den kleinen Mayamädels in ihren Minikleidern<br />

und mit schimmernder Pampe<br />

auf diesen schiefen Augen sogar überaus<br />

erotisch. Kein Vergleich zu der orientalischen<br />

Püppchenhaftigkeit; die Menschen<br />

hier haben Knochen aus Stein. Wahrscheinlich<br />

könnte Kapitän Estébans altes<br />

Großmütterchen die Bonanza an einem<br />

Seil hinter sich her ziehen …<br />

Mit einem Ruck wache ich auf, als<br />

die Kabine an mein Ohr knallt. Estéban<br />

brüllt gegen das Prasseln von Hagel in<br />

sein Mikrofon; die Fenster sind dunkelgrau.<br />

Ein wichtiges Geräusch fehlt – das<br />

des Motors. Mir wird klar, dass Estéban<br />

mit einem Flugzeug ohne Antrieb<br />

kämpft. Dreitausendsechshundert Fuß;<br />

wir haben zweitausend verloren!<br />

Er klackt mit den Tankschaltern herum,<br />

während der Sturm uns schüttelt,<br />

und grollt mit gebleckten, großen Zähnen<br />

etwas von wegen gasolina. Während<br />

er nach einem Kippschalter über sich<br />

greift, sehe ich, dass die Tankanzeigen<br />

auf voll stehen. Vielleicht eine verstopfte<br />

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