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De:Bug 170

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Wir werden zu<br />

Lohnsklaven der<br />

Urbarmachung<br />

unserer eigenen<br />

Identität<br />

gezwungen.<br />

Was ist Dissidenz in so einer Zukunft wert?<br />

Adornos Klassiker “Es gibt kein richtiges Leben im falschen”<br />

müsste um eine technische Dimension erweitert<br />

werden. Was ist das für eine Zukunft, in der weite Teile der<br />

Gesellschaft sekundengenau und vorausschauend bis<br />

ins letzte Glied kalkulierbar werden, bis in die Momente<br />

kurz vor der Entscheidung? Wenn diese Entscheidungen<br />

aus Perspektive der Big-Data-Tools eher einem Multiple-<br />

Choice-Test gleichen, der gar nicht falsch ausgefüllt werden<br />

kann? Was ist Dissidenz in so einer Zukunft wert? Wie kann<br />

eine Gegenöffentlichkeit funktionieren, die nicht automatisch,<br />

schon auf technischer Ebene, ans kritisierte System<br />

ankoppelt? Wie soll man sich verhalten, wenn es systemimmanent<br />

gar kein wirklich unerwünschtes Verhalten gibt?<br />

Und immer wieder Daten! Informationen entstehen,<br />

wenn zuvor unsichtbare Datenstrukturen sichtbar gemacht<br />

werden. Ihre virale Brisanz entwickeln sie erst, wenn sie anschlussfähig<br />

werden, also nicht mehr auf ein "Lesegerät"<br />

oder System festgelegt sind. Im selben Zuge, in dem die<br />

größten Internet-Dienstleister ihre Daten vor dem Zugriff<br />

anderer Systeme schützen, wird unsere Identität und ihre<br />

angeheftete Vertrauenswürdigkeit/Reputation zum zentralen<br />

Datum. Die Verlockung, etwa Facebook, Twitter, das<br />

Google-Konto als Generalschlüssel zum Zugang zu allem<br />

zu nehmen, ist unter Programmierern und Kunden groß. So<br />

spannen wieder die größten Anbieter das größte Netzwerk.<br />

Wir haben genug gehört von gekappten APIs, zerstörten<br />

Start-up-Träumen durch durchschnittene Firehoses<br />

und den Kampf der Giganten. Staatliche Überwachung<br />

mag ein Albtraum sein, mit den in Realtime analysierten<br />

Datenströmen innerhalb und um diese Quadriga, den<br />

Möglichkeiten, die nicht nur die Daten selbst, sondern deren<br />

ständige Analyse bieten, kann sie nicht mithalten. Aber<br />

sie rückt jede Diskussion der Regulierungsbehörden mit<br />

eben diesen Playern in ein ganz anderes Licht. Man muss<br />

für sich selbst entscheiden, ob die komplexere Motivation<br />

dieser Player mit unseren Daten die bessere oder schlechtere<br />

Wahl ist, als die überschaubare von Nationalstaaten.<br />

Staaten wollen Sicherheit, also die Begrenzung von<br />

Möglichkeiten. Unternehmen verkaufen Möglichkeiten<br />

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- und immer mehr die Modi der Entstehung solcher zusätzlicher<br />

“Optionen”. Dieser Verkauf selbst ist eine Ware<br />

und damit der Kunde.<br />

Ich möchte Teil einer Markenbewegung sein<br />

<strong>De</strong>rzeit jedenfalls ist es so: Diese Daten sind auch eine<br />

Währung, die es nicht einfach auf die Schnelle zu schröpfen<br />

gilt, sondern deren aufkommende, zukunftsprägende<br />

Gewalt in einem konsistenten und haltbaren Strom zwischen<br />

den Befindlichkeiten verwaltet werden muss. Zu viel<br />

ausgequetscht, zu creepy, zu unhip geworden, tritt man<br />

nicht nur dem User auf die Füße. Man tritt dem Gefühl auf<br />

die Füße, dass da unterschwellig eine Art Vertrauensbasis<br />

sein müsste, auf die man sein digitales Leben gestellt hat.<br />

Wie fragil dieses Vertrauen ist, kann man am Hippness-<br />

Aufstieg und -Abstieg von Apple ablesen. Cupertino fährt<br />

die schönsten Ergebnisse der Firmengeschichte ein und<br />

lässt einen schwindeln vor pur-kapitalistisch strotzender<br />

Verkaufsmasse, aber ein paar Kids finden’s nicht mehr so<br />

cool, ein paar Kinder von Tech-Journalisten wenden sich<br />

ab, die Börsenkurse flattern. Im Grunde sollte ganz unten<br />

in der Reihe der Analyse-Tools kapitalistischer Verhältnisse<br />

nicht das Geld, nicht die Zeit, nicht die Hauntologie<br />

stehen, - wie gerne von hippen Marxisten vorgeschlagen -<br />

sondern die Hipsterologie. Befindlichkeiten, Stimmungen,<br />

virale Katapulte eines Style-Befindens, all das kann heute<br />

die Giganten in arge Bedrängnis bringen. Ich möchte Teil<br />

einer Markenbewegung sein.<br />

Sisyphos im Schlamm der Lernkurve<br />

Wer sich in den letzten Wochen auf Myspace rumgetrieben<br />

hat, oder von einem Handy-System ins andere wechseln<br />

wollte, der kennt noch die ganz praktische Seite dieser<br />

Dilemmas. Von einer Sekunde auf die andere bewegt<br />

man sich schlimmer als Sisyphos im Schlamm eine<br />

Lernkurve hinauf, die an jedem Plateau zeigt, das nichts<br />

mitnehmbar, nichts portabel ist, nichts in dieser Welt so<br />

funktioniert, wie das Gedächtnis es sich einbilden würde.<br />

Die digitalen Spuren haben bis in unsere antrainierten<br />

Muskelbewegungen eine proprietäre Nuance bekommen,<br />

die den AGBs dieser Welt hoffnungslos unintuitiv ausgeliefert<br />

ist. Noch mag das als Zwangsjacke aus Apps und APIs<br />

wirken. Aber in Zukunft könnte das durchaus ein eigenes<br />

Leben ausformen, zu dem die Franchising-Welt von Snow<br />

Crash im Vergleich wie ein putziger Kindertraum wirkt.<br />

Weil bis tief in unseren Körper und unsere soziale Welt hinein<br />

Eingriffe von Firmen und deren Regulationswahn zementiert<br />

sein werden: Wir wären Figuren in einem Spiel<br />

zwischen Vorhersagbarkeit und kanalisierten<br />

Entscheidungs- und Kommunikationsformen, dessen<br />

Regeln wir nie verstehen werden. Diese medial vermittelte<br />

Welt müsste umfassend, total werden. Es dürfte kein Außen<br />

mehr geben, in das man sich zurückziehen könnte. In einer<br />

letzten Analyse der grundlegenden Motivationen von<br />

Google und allem was sie tun, kam A.J. Kohn auf die verblüffend<br />

einfache und einfach ausweglose Strategie: Google<br />

will, dass wir das Internet mehr und schneller nutzen. Was<br />

genau könnte eine Gegenstrategie, die nicht zurück in die<br />

Steinzeit will, dagegen überhaupt noch einwenden. Was<br />

fehlt, sind immer wieder: Perspektiven einer Dissidenz.<br />

Gegenspieler und Dissidenz<br />

Es gibt vermutlich nur drei Gegenspieler. <strong>De</strong>r Staat,<br />

Unternehmen (und dazu zählt noch Cybercrime), wir. <strong>De</strong>rzeit<br />

geht die größte dissidente Kraft tatsächlich von Staaten<br />

aus. Sie, so scheint es, haben durch Regulierungen das<br />

einzige Instrument in der Hand, um die auf Vermarktung<br />

optimierte Infrastruktur der Wirtschaftsunternehmen in<br />

Versorgerstrukturen zu überführen. Warum betrachtet<br />

man Facebook, fragt etwa Justin Fox in der Februarausgabe<br />

des Atlantic, nicht als Versorger statt als Dienstleister?<br />

Diese Idee ist eine Kapitulation: Das Netz als wichtige<br />

Kommunikationsinfrastruktur der tatsächlichen Vernetzer,<br />

nicht der Strippenleger, hat sich eben abseits staatlicher<br />

Lenkung entwickelt - und sollte also auch so weitergeführt<br />

werden. <strong>De</strong>r Ruf, Facebook zu verstaatlichen, wirkt abstrus.<br />

Aber warum eigentlich? Es gibt jedenfalls gute Gründe, so<br />

ein Kommunikationsnetz nicht dem Staat zu überlassen.<br />

Wenn im US-Wahlkampf politische Parteien die selben<br />

Manipulations- und Vorhersagetechniken verwenden, wie<br />

die kritisierten Unternehmen, dann ist Überwachung als<br />

Ausweg nur die einfachste Version einer Gegenposition.<br />

Facebook mag alles für ihre Shareholder tun, die in einer<br />

kapitalen <strong>De</strong>mokratie jeden Fehlzug mit einem Aktien-<br />

Sturzflug beantworten. Staaten selbst regulieren aber den<br />

Geldfluss nicht selten noch direkter mit einer ausgesprochenen<br />

Präferenz für die Stärksten im System und einer<br />

Umlagerung der Last auf jeden. Auf den Staat und seine<br />

Regulierung hoffen, heißt also normalerweise nicht weniger,<br />

als den Traum von Dissidenz einfach einem anderen

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