De:Bug 170
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
TEXT EIKE KÜHL<br />
Knapp zwanzig Jahre hat Dave Sumner gebraucht,<br />
um seine Technoentwürfe in ein eigenes Album zu<br />
packen. Dafür hat er nach dem Ende von Sandwell<br />
District auf Ostgut Ton eine neue Heimat gefunden –<br />
und seinen Sound noch einmal ausgebaut.<br />
Dave Sumner ist müde. Dabei ist es erst Nachmittag und<br />
er noch gar nicht so lange wach. Gerade hat er am Telefon<br />
ein Interview gegeben und jetzt folgt schon das nächste.<br />
Eigentlich wollte er dazu ins Café um die Ecke gehen, doch<br />
Sumner bevorzugt nach einem Blick aus dem Fenster und<br />
Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt dann doch sein<br />
Wohnzimmerstudio. "Dass ich zwei große Projekte in so<br />
kurzer Zeit habe, kam auch noch nie vor", sagt der New<br />
Yorker, der seit fünf Jahren in Berlin wohnt und vor allem als<br />
Function bekannt ist. Nächtens brütet er gerade über einem<br />
Mix für die "Fabric"-Reihe, der unter dem Namen Sandwell<br />
District erscheinen wird, sein gemeinsames Projekt mit Karl<br />
O'Connor alias Regis und John Mendez, besser bekannt<br />
als Silent Servant. Ihr gleichnamiges Label beendete das<br />
Trio vor etwas mehr als einem Jahr überraschend auf dem<br />
Höhepunkt des Erfolges. Eine Entscheidung, die Sumner<br />
bis heute nicht bereut: "Das hat uns alle befreit", sagt er auf<br />
seine nachdenkliche Weise, "es begann sporadisch und hat<br />
sich dann immer mehr zur Routine entwickelt, bis wir am<br />
Ende das Gefühl hatten, zwingend etwas abliefern zu müssen.<br />
Sobald die Dinge eine bestimmte Form annehmen,<br />
erwarten die Leute immer etwas. Aber so geht das nicht,<br />
für uns sind Spontaneität und ein gewisses Chaos wichtig.<br />
Und überhaupt wäre mein Album auf Sandwell District gar<br />
nicht möglich gewesen."<br />
Womit wir beim zweiten angesprochenen Projekt wären,<br />
das Sumner gerade etwas den Schlaf raubt: sein Album.<br />
Das ist zwar inzwischen längst fertig, aber mit der ganzen<br />
Situation muss sich Sumner bei aller Erfahrung erst noch<br />
vertraut machen. Es ist schließlich nicht nur sein erstes<br />
Album als Function, sondern überhaupt sein erstes richtiges<br />
Soloalbum. Ein <strong>De</strong>büt also im Alter von 39 Jahren – da ist<br />
klar, dass der Titel "Incubation" auch irgendwie Programm<br />
ist, das <strong>De</strong>stillat einer fast zwanzigjährigen Karriere quasi,<br />
die 199 in New York begann, als Sumner zum ersten<br />
Mal das legendäre Limelight betrat. <strong>De</strong>r Zeitpunkt war gut<br />
gewählt, schließlich emanzipierte sich Techno gerade von<br />
<strong>De</strong>troit und kehrte in die New Yorker Clubs ein. <strong>De</strong>r junge<br />
Function war vorne mit dabei. Zunächst als DJ, ab Mitte<br />
der Neunziger auch als Produzent auf Damon Wilds Label<br />
Soundwave, wo er klare, bleepende Technotracks veröffentlichte,<br />
die erstaunlich gut gealtert sind. Ganz anders als die<br />
New Yorker Technoszene, die von den Behörden und der<br />
Gentrifizierung nach und nach aufgelöst wurde, weshalb<br />
Sumner sich in Richtung Europa orientierte. In Birmingham<br />
fand er mit Karl O'Connor einen neuen Partner, der eine<br />
ähnliche Auffassung von Techno hatte: Präzise musste es<br />
sein, treibend und energetisch. Funktional eben. Mit der<br />
Gründung von Sandwell District und dem anschließenden<br />
Umzug nach Berlin begann schließlich die vielleicht erfolgreichste<br />
Phase in Sumners Karriere.<br />
Befreien vom Prozess<br />
Dass es trotzdem noch ein paar Jahre dauerte, bis das<br />
Album im Kasten war, lag nicht etwa am sumpfigen Berliner<br />
Nachtleben, sondern schlicht am Timing. Zum einen sollte<br />
es mit etwas Abstand zu der LP erscheinen, die Sumner<br />
21 mit seinen Kollegen als Sandwell District aufnahm.<br />
Zum anderen merkte er, dass der Erfolg als DJ in Europa<br />
bis dato unbekannte Probleme mit sich brachte: "Es ist ja<br />
eine schwierige Sache mit der DJ-Kultur, die mir erst kürzlich<br />
wirklich bewusst wurde. Bands haben den Luxus, ihre<br />
Zeit zwischen Tour und Studio klar einzuteilen und jeder<br />
"Ich bin nicht zufrieden,<br />
bevor nicht der Typ,<br />
der Milli Vanillis 'Girl<br />
You Know It's True'<br />
gemacht hat, meine<br />
Platte abmischt!"<br />
akzeptiert, wenn sie ein paar Monate lang nicht auftreten.<br />
Die Produzenten von elektronischer Musik können sich das<br />
nicht leisten. Die müssen immer auf dem neusten Stand<br />
sein und ständig Bookings annehmen. Das macht es nicht<br />
leichter. Bis man nach einem Wochenende wieder in der<br />
Spur ist, ist es Dienstag und am Freitag geht es schon wieder<br />
weiter. Wir sind wie Jazz Musiker, die auch immer am<br />
Touren waren und nebenbei in kurzen Sessions dann die<br />
Platten aufnahmen", fasst Sumner seinen Alltag zwischen<br />
Studio und Club zusammen.<br />
In einer dieser kurzen Sessions ist dann auch der<br />
Großteil des Albums entstanden. Im Januar vergangenen<br />
Jahres hat Sumner zwei Wochen intensiv daran gearbeitet,<br />
nur um es anschließend einige Monate wieder beiseite<br />
zu legen. "<strong>De</strong>r Abstand war nötig", erklärt er, "denn es<br />
ist leicht, sich im Prozess zu verlieren. Dank der Technik<br />
kann man heute an dutzenden Tracks gleichzeitig arbeiten.<br />
Das ist zwar toll, aber man verliert schnell das Ziel aus<br />
den Augen." Erst im Sommer machte er sich wieder ans<br />
Werk, feilte die bestehenden Skizzen noch einmal behutsam<br />
aus und fügte die letzten Tracks hinzu. Und er merkte,<br />
dass in diesem Prozess ein Album entstand, das weniger<br />
ein Best-of als vielmehr eine Momentaufnahme ist. Zwar<br />
hört man den auch für Sandwell District stellvertretenden<br />
Technoentwurf durch, bei dem der Futurismus mit peitschender<br />
Percussion und einem stets klaustrophobischen<br />
Grollen auf den Boden des Clubs zurückgeholt wird. Aber<br />
eben nicht nur. <strong>De</strong>nn "Incubation" löst sich immer wieder<br />
von diesem Dancefloordiktat und lässt ganze andere, überraschende<br />
Referenzmuster anklingen.<br />
Ambient, Krautrock und Milli Vanilli<br />
"Auf eine bizarre Art und Weise ist es ein Ambient-<br />
Album, also von der Atmosphäre her. Ich wollte dieses<br />
Element unbedingt aufgreifen, ohne in dieses Klischee<br />
von beatlosen Tracks mit Drones und Streichern zu geraten",<br />
sagt Sumner. Diese Absicht hört man in Tracks wie<br />
"Voiceprint" und "Inter", die mühelos zwischen Ambientund<br />
Technoreferenzen pendeln oder bei "Counterpoint",<br />
dessen pulsierende Synthesizer-Akkorde eher an Manuel<br />
Göttschings Klassiker "E2-E4" erinnern als an eine verschwitzte<br />
Nacht im Berghain. Darauf angesprochen, hellt<br />
sich Sumners Miene auf und ein Lächeln huscht über die<br />
angegrauten Bartstoppeln: "Ich sehe das als Kompliment,<br />
denn 'E2-E4' ist eines meiner Lieblingsalben, die ultimative<br />
minimalistische Technoplatte! Ich habe im vergangenen<br />
Jahr tatsächlich viel Ash Ra Tempel und Krautrock gehört,<br />
und wenn man diesen Einfluss auf dem Album heraushören<br />
kann, habe ich meine Arbeit richtig gemacht."<br />
<strong>De</strong>n letzten Schliff bekam "Incubation" schließlich<br />
vom Ostgut-Label-Kollegen Tobias Freund, der sich um<br />
das abschließende Abmischen kümmerte. Ein echter<br />
Wunschkandidat, sagt Sumner, auch wenn es nicht leicht<br />
war, nach Jahren des Selbermachens einen wichtigen Teil<br />
der Arbeit in die Hände Dritter abzugeben. Aber wie auch<br />
die Musik, sei eben auch die Selbstreflexion des Künstlers<br />
über die Jahre gewachsen, erklärt er: "Ich habe über die<br />
Jahre gemerkt, dass Soundqualität meine Schwachstelle<br />
ist. Ich bin Perfektionist und ich muss inzwischen einfach<br />
zugeben, dass ich nicht die nötigen Skills besitze, um aus<br />
meinen Tracks den bestmöglichen Klang rauszuholen. Ich<br />
kenne Tobias schon seit einer ganzen Weile und weiß um<br />
seine Erfahrung. Da fällt mir eine Geschichte ein: Vor einigen<br />
Jahren saß ich betrunken mit Karl in einem Hotelzimmer<br />
und ich sagte zu ihm: Ich bin nicht zufrieden, bevor nicht<br />
der Typ, der Milli Vanillis 'Girl You Know It's True" gemacht<br />
hat, meine Platte abmischt!'"<br />
Function, Incubation,<br />
ist auf Ostgut Ton/Kompakt erschienen.<br />
MAERZ<br />
MUSIK<br />
F ESTIV ALF Ü R<br />
AKTUELLEM USIK<br />
1 5 –24<br />
0 3 2013<br />
C HRISTIANWOLFF<br />
ROBYNSCHULKOWSKY& JOEYBARON<br />
ANTHONYPATERAS<br />
THOMASMEADOWCROFT<br />
ROHANDRAPE<br />
MATTHEWSHLOMOWITZ<br />
SPEAKPERCUSSIONMELBOURNE<br />
THOMASANKERSMIT<br />
MARCELOAGUIRRE& JENSBRAND<br />
W ORMHOLES: M AZENK ERBAJ&<br />
SHARIFSEHNAOUI<br />
P LANETX:E RDEMH ELV ACIOĞ LU&<br />
U LRICHM ERTIN<br />
MAHMOUDREFAT<br />
T AREKA TOUI<br />
HASSANKHAN<br />
“A”TRIO:MAZENKERBAJ/<br />
RAEDYASSIN/SHARIFS E H N A O U I<br />
SONICARTS<br />
LOUNGE<br />
22U HR<br />
H AUSDERB ERLINERF ESTSPIELE<br />
B ERGHAIN<br />
WWW. BERLINERFESTSPIELE. DE<br />
03025489100