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CHAI 4. Ausgabe

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SOZIAL<br />

GESCHICHTEN AUS DER<br />

FLÜCHTLINGSHILFE:<br />

INTERVIEW MIT EINEM KIND<br />

Heute besuche ich ein Flüchtlingslager<br />

in Berlin. Als ich die große Sporthalle<br />

betrete, ist es sehr stickig. Das<br />

erste, was mir in der Halle auffällt, ist<br />

ein weit gespanntes Poster, das an der<br />

Wand ganz oben hängt. Die Kinder<br />

hier haben es mit ganz unterschiedlichen<br />

Farben, Blumen, Muster und<br />

Flaggen bemalt. Das Farbenspektakel<br />

schenkt dieser dunklen, grauen Halle<br />

etwas Licht und Farbe. Hoffnung und<br />

Lebendigkeit.<br />

Die durch Bettlaken abgetrennten<br />

Bereiche bestehen aus zwei, drei, vier<br />

Gitterbetten und bilden eine Art Schlafzimmer.<br />

Dadurch, dass es keine richtige<br />

„Wand“ gibt, können Lärm und Gespräche<br />

unmittelbar die Ruhe des Bewohners<br />

nebenan stören. Sowas wie einen<br />

Wohnraum gibt es nicht. In der Mitte<br />

der Halle stehen den Bewohnern einige<br />

Tische und Stühle zwischen den Gitterbetten<br />

zur Verfügung. Auf dem Boden<br />

liegen Taschentücher und Plastiklöffel.<br />

Im wahrsten Sinne des Wortes werden<br />

hier Flüchtlinge gelagert, denke ich<br />

mir. Eines dieser „Zimmer“ betrete ich<br />

mit einer jungen Dame. Sie ist Mitglied<br />

einer muslimischen ehrenamtlichen<br />

Helfergruppe. Sie reden auf Arabisch<br />

über die angeschwollene Hand der Frau.<br />

Der Mann dieser Frau bietet mir etwas<br />

zu trinken an. Drei Tassen Tee hat er aus<br />

der Teeeckwe in die Halle gebracht. Eine<br />

bekomme ich. Paradox: „Die, die nichts<br />

haben, geben immer am meisten“, denke<br />

ich mir.<br />

Sie stehen trotz allem Leid nun<br />

breit grinsend vor mir – die Kinder der<br />

Flucht.<br />

Während ich ihren „Raum“ verlasse,<br />

fällt mein Blick wieder zurück auf<br />

das mit Farben bemalte, langgezogene<br />

Poster an der Wand. In mir wächst ein<br />

Gefühl der Wut, wie ich sie schon seit<br />

langem nicht erlebt habe… Was haben<br />

diese Menschen getan, dass ihr Land<br />

nun in Chaos versinkt. Ein Chaos, das<br />

nicht nur Häuser, Straßen, Wege zerstört,<br />

sondern auf einen Schlag mit Erinnerung<br />

gefüllte Jahre, Werte, Sicherheit<br />

und Freiheit zerbombt hat. Damit ging,<br />

wenn nicht schon der Körper, auch ein<br />

Stück Identität verloren. Heimat, ihre<br />

schöne Heimat ist nun Asch´ und Staub.<br />

Kinder haben ihre Spielzeuge im Kampf<br />

der Erwachsenen hergeben müssen.<br />

Sie vermissen hier ihre Freunde, mit<br />

denen sie bis nach dem Sonnenuntergang<br />

spielten. In einigen Fällen sehnen<br />

sie sich sogar nach einem bereits verstorbenen<br />

oder zurückgelassenen Elternteil.<br />

Sie stehen trotz allem Lied nun<br />

breit grinsend vor mir – die Kinder der<br />

Flucht. Da schämt man sich für jeden<br />

Moment der Traurigkeit, für jedes Nörgeln<br />

und für jedes Meckern über Dinge<br />

ohne wirkliche Bedeutung. Ich sah das<br />

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