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EINBLICKE<br />

Marie hört nicht auf zu weinen<br />

BONN<br />

In mehr als 20-jähriger Tätigkeit in der Kinderabteilung<br />

hat Oberärztin Dr. Elisabeth<br />

Tuschen-Hofstätter schon so manche Verletzung<br />

gesehen, für die es keine nachvollziehbare<br />

Erklärung gab. „Die Aufmerksamkeit<br />

für Verletzungen, die sich nicht durch Sturz,<br />

Unfall oder Erkrankung erklären lassen, “<br />

sagt sie, „gehört zu unseren Aufgaben, das<br />

allgemeine Bewusstsein dafür ist aber erst<br />

in den letzten Jahren sehr ausgeprägt entstanden.<br />

Wir sind sensibel für derlei Befunde<br />

und nehmen die Kinder bei Verdacht auf<br />

Misshandlungen stationär auf, einerseits<br />

zum Schutz des Kindes, andererseits um<br />

Zeit zu gewinnen zur Abklärung.“ Welches<br />

Glück für Baby Marie. Im geregelten Tagesablauf<br />

und Versorgungsrahmen entsteht<br />

bei den Pfl egenden der Eindruck, dass die<br />

Mutter überfordert und nervös wirkt, sie<br />

hält verabredete Besuchstermine nicht<br />

ein, beschäftigt sich kaum mit ihrem Kind<br />

und wenn sie erscheint, dann am liebsten<br />

nur, um die Station gleich wieder für eine<br />

„Zigarettenpause“ zu verlassen. Es wird für<br />

das medizinische Personal deutlich, dass sie<br />

Hilfe braucht, wesentlich ist aber, dass ihr<br />

das selbst bewusst wird. Hier setzt das Team<br />

von Ärzten, Kinderpsychologin und Gesundheits-<br />

und Kinderkrankenschwestern - / pfl eger<br />

an, die sich austauschen, Eindrücke und<br />

Befunde dokumentieren. Die Kinderpsychologin,<br />

Dr. Maria Mensching, und einer der<br />

Ärzte sprechen gemeinsam mit der Mutter,<br />

sagen ihr, dass die Verletzung nicht zu den<br />

Schilderungen des Unfalls passt. So ein Gespräch<br />

ist natürlich sehr schwierig, häufi g,<br />

wie auch bei Maries Mutter, fühlen sich die<br />

Bezugspersonen angegriffen und blocken<br />

Hilfestellungen ab: „Nee, ich brauch keine<br />

Hilfe“. „Die Reaktionen sind völlig unter-<br />

18 <strong>Gemeinsam</strong><br />

schiedlich“, ist Dr. Menschings Erfahrung.<br />

„Manche Eltern brechen in Tränen aus und<br />

wollen kooperieren, andere sind so apathisch,<br />

dass man das Gefühl hat, man könne<br />

genauso gut mit einer Mauer sprechen<br />

und wieder andere werden aggressiv, unter<br />

dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“.<br />

Der Kernsatz Menschings ist daher<br />

„in der Sache hart zu sein, dem Gegenüber<br />

aber emotional, empathisch zugewandt.“<br />

Schließlich tritt sie für die Sicherheit und<br />

das Wohlergehen des Kindes ein, dem man<br />

in der Regel bis zum 3. oder 4. Lebensjahr im<br />

Verhalten nichts anmerkt. Im geschützten<br />

Raum des Krankenhauses bahnen sich Ängste<br />

und Sorgen der jungen Mutter schließlich<br />

doch einen Weg und sie vertraut sich der<br />

Psychologin an. Finanzielle Sorgen durch<br />

Arbeitslosigkeit bestimmen ihr Leben, der<br />

Lebensabschnittspartner (wie bezeichnend<br />

der Begriff heute oft tatsächlich ist) hat sich<br />

von ihr getrennt. „Ich sehe viele verunsicherte<br />

Eltern“, sagt Dr.Tuschen-Hofstätter<br />

nachdenklich, „deren Ehen auseinander<br />

gehen, wenn die Kinder noch klein sind,<br />

was eine hohe Belastung auslöst.“ Nach ihrem<br />

Eindruck sind die Fälle von Misshandlung<br />

oder/und Vernachlässigung aber nicht<br />

angestiegen, wir sind nur aufmerksamer<br />

geworden. Die Einschätzung teilt auch die<br />

Kinderpsychologin. „Jährlich haben wir es<br />

durchschnittlich allein in unserem Krankenhaus<br />

mit ungefähr 17 Fällen von Kindesmisshandlung<br />

und/oder Verwahrlosung zu tun,<br />

quer durch alle bürgerlichen Schichten“.<br />

Wenn der Verdacht einer Misshandlung entstanden<br />

ist, wird frühzeitig ein Rechtsmediziner<br />

hinzugezogen, um Fehlurteile zu vermeiden.<br />

Der behandelnde niedergelassene<br />

Kinderarzt, das Jugendamt und gegbenfalls<br />

Marie hört nicht auf zu weinen<br />

Schon drei Tage sind sie auf<br />

Station, die junge Mutter, Marion<br />

K., 22 Jahre und ihr 3 Monate<br />

altes Baby. Jetzt endlich hat sie<br />

es eingestanden. Eingestanden,<br />

dass sie in einer Stresssituation<br />

mit ihrem Partner das Kind sehr<br />

stark geschüttelt hat. Baby<br />

Marie hört seit dem nicht mehr<br />

auf zu wimmern. Es ist Angst<br />

aufgekommen bei der jungen<br />

Frau, weshalb sie sich schließlich<br />

entschlossen hat, Hilfe im<br />

Krankenhaus zu suchen.<br />

die Kriminalpolizei werden eingeschaltet,<br />

denn auch wenn Eltern abblocken, sich<br />

verteidigen, hier geht es um den Schutz der<br />

Kinder. Es geht darum zu klären, wer die<br />

Verantwortung übernimmt, welche Hilfe<br />

die Eltern brauchen, ob das Kind überhaupt<br />

nach Hause zurückkehren kann und wenn<br />

ja, unter welchen Bedingungen. Für Marie<br />

ergibt eine Entscheidung von Jugendamt<br />

und Richter, dass sie nach ihrer Entlassung<br />

in einer Einrichtung untergebracht wird,<br />

wo ihre Mutter sie jeden Tag unter Anleitung<br />

besuchen und mit ihr zusammen sein<br />

kann. Hier hat Maries Mutter die Möglichkeit<br />

„die Liebe zu lernen“, nach der sie<br />

sich als Kind selbst vergeblich gesehnt hat.<br />

Glücklicherweise hat Marie keine bleibenden<br />

körperlichen Schäden davon getragen,<br />

wie viele andere Kinder. Kinder, deren Körper<br />

gezeichnet sind von Narben, kleinen<br />

und großen Verletzungen, Blutergüssen,<br />

Knochenbrüchen, Schädel-Hirntraumen -<br />

von den seelischen Wunden abgesehen. Die<br />

Hauptrisikogruppe für Misshandlung oder<br />

Verwahrlosung liegt nach einer mehrjährigen<br />

Erhebung in unserem Haus bei Kindern<br />

unter 4 Jahren, die zum größten Teil aus einer<br />

sozial schwachen Bevölkerungsschicht<br />

mit wenig Kontakten zu Verwandtschaft,<br />

Nachbarn, Freunden kommen. Der Entwicklungsstand<br />

war nur bei der Hälfte dieser<br />

Kinder als normal eingestuft worden, bei<br />

mehr als der Hälfte der Kinder fehlten regelmäßige<br />

Vorsorgeuntersuchungen. Durch<br />

gezielte Maßnahmen, die vom Jugendamt<br />

in Kooperation mit allen Beteiligten eingeleitet<br />

werden, kann diesen Kindern geholfen<br />

werden. Das wichtigste dabei ist, dass<br />

dem Kind so etwas nie wieder passiert!

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