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Starnberger Bote 10 Titelthema<br />
Leutstetten – das „königlich-bayrische“ Pferdedorf<br />
Autor: Peter Riemann<br />
Das Verteilungsgebiet des Starnberger<br />
Boten umfasst die Stadt und ihre<br />
Ortsteile.<br />
Leutstetten, im Norden von Starnberg<br />
gelegen, soll als erstes der im Zuge der<br />
1978-er Gebietsreform eingemeindeten<br />
Dörfer durch eine Titelgeschichte all<br />
denen nahegebracht werden, die von<br />
„Luicilstat“ (= kleine Wohnstätte) nur<br />
wenig wissen.<br />
Wer von Starnberg aus auf der<br />
Staatsstrasse 2063 an Supermärkten,<br />
Tennisplätzen und an OBI vorbei nach<br />
Gauting will, brettert vermutlich mit<br />
den erlaubten 70 km/h (muss nicht<br />
sein!) durch Petersbrunn, ein ehemaliges<br />
„Kurbad“, das 1565 an den<br />
Leutstettener Hofmarksbesitzer verkauft<br />
wurde. Spätestens vor der Würmbrücke<br />
muss man auf Tempo 40 herunter.<br />
Warum? Erstens legt sich dort die<br />
St2063 in eine verflucht schlecht einsehbare<br />
90-Grad Linkskurve und zweitens<br />
übersieht man sonst das weißblaue<br />
Schild zur Schlossgaststätte.<br />
Das Gasthaus<br />
1. Schlossgaststätte um 1925<br />
Der Freistaat „Bayern hat 2065<br />
Gemeinden. In <strong>13</strong>7 davon gibt es kein<br />
Wirtshaus mehr. Fast jeder dritte Gasthof<br />
hat einer neuen Studie zufolge im letzten<br />
Jahrzehnt dichtgemacht. Mancherorts<br />
wird dieses traditionelle Stück Welt so<br />
schmerzlich vermisst, dass die Bürger<br />
aktiv werden“ (1) um sich gemeinschaftlich<br />
ein Stück Lebensqualität zu<br />
sichern.<br />
Zurzeit hat die Starnberger<br />
Nachbargemeinde Pöcking mit<br />
dem leerstehenden Gasthaus „Zum<br />
Fischmeister“ ein solches Problem.<br />
Aber, dass ein ganzes Dorf „wird Wirt“,<br />
wie in Altenau/Saulgrub, oder dass ein<br />
Traditionsgebäude abgerissen werden<br />
soll, wie Jennerweins Gasthof in<br />
Rottach-Egern, ist in Leutstetten nicht<br />
vorstellbar, im Gegenteil.<br />
An Wochenenden im Sommer tanzt<br />
dort der Bär. Der Ort ist zugeparkt.<br />
Die Schloßgaststätte, ursprünglich ein<br />
Bedienstetenhaus, mit dem urigen<br />
Biergarten (ca. 500 Sitzplätze) unter<br />
riesigen Kastanien, dem urgemütlichen<br />
Restaurant und dem zünftigen Stüberl<br />
gilt als lokaler und überregionaler<br />
Geheimtipp. Vom Maserati Granturismo<br />
MC Stradale (460 PS) aus Oberitalien<br />
bis zum Lanz-Oldtimertraktor (25 PS)<br />
mit Münchner Kennzeichen wurde hier<br />
schon so manches bestaunt und gefeiert.<br />
Wer Glück hat, sitzt bereits bei heller<br />
Sonne vorm „König Ludwig Dunkel“,<br />
wenn die Gäste einer Hochzeitsfeier<br />
sich noch mit der Parkplatzsuche<br />
abmühen. Das hat seinen Grund, denn<br />
größere Veranstaltungen finden im<br />
1983 gegründeten „Theater am Hof“<br />
statt, einer umgebauten Reithalle des<br />
Leutstettener Gestüts. Die „durchaus<br />
pfiffige Idee“ ein Volkstheater zu schaffen,<br />
das auch zum Feiern „von Städtern<br />
und der Münchner Schickeria genutzt<br />
werden kann, stammt vom Besitzer<br />
Prinz Luitpold und dem Pächter der<br />
Gaststätte“ (2) in der no nia koana koan<br />
Hunga net hot leidn miassn…<br />
Gelegentliche Meisterschaftsfeiern des<br />
FC Bayern, größere Bus-ent-ladungen<br />
und so manche Politiker und Promis (u.a.<br />
Stoiber, Schily, Schrempp) lassen dann<br />
die Leutstettener vergessen, dass man<br />
von hier aus keinen Direktanschluss<br />
an die große weite Welt hat. Nur zum<br />
Gut Schwaige und zum Nachbarort<br />
Wangen führen zwei Strassen und das<br />
ist es, warum es sich hier so gut wohnt.<br />
Nachts kann man vor knackiger Stille<br />
kaum schlafen, die nur selten durch<br />
das Schnauben eines Gauls unterbrochen<br />
wird. Bisweilen zeigt der klagende<br />
Ruf eines Käuzchens an, dass<br />
wieder jemand gestorben ist und das<br />
keckernde Gezänk der Marder erinnert<br />
an die Vergänglichkeit der Plastikkabel<br />
unter der Motorhaube…<br />
Das Schloss<br />
2. Zufahrt zum Schloss Leustetten<br />
Wo Schlossgaststätte draufsteht, muss<br />
ein Schloss in der Nähe sein. Wo das ist?<br />
Zugewachsen! Weder von der Nordseite,<br />
vom Biergarten, noch vom Süden aus<br />
dem Leutstettener Moos sieht man<br />
nichts Genaues nicht. Sogar vom Hügel<br />
des Thierkopf aus verwehren die hohen<br />
Bäume den Blick auf das Anwesen der<br />
Wittelsbacher (s. Titelbild oben).<br />
Lediglich die Zufahrt an der Wangener<br />
Strasse lässt etwas vom Aussehen<br />
und der Größe des im altbayrischen<br />
Renaissancestil erbauten Wohnsitzes<br />
erahnen. Der ging nach einer äußerst<br />
wechselvollen Geschichte beginnend<br />
mit dem Herzogsgeschlecht<br />
der Agilolfinger (788) über Arnold de<br />
Luceuelstetten (1140) durch Verkauf im<br />
Jahre 1875 an Prinz Ludwig von Bayern.<br />
Die Wittelsbacher schätzten schon vor<br />
dem Kauf „Leutstetten als Ausflugsziel<br />
und Ort für Festivitäten. So war es<br />
bereits Königin Therese, die Großmutter<br />
König Ludwig III., die sich auf einer<br />
Anhöhe von Leutstetten besonders<br />
gern an schönen Föhntagen mit ihrem<br />
Anhang zum Picknick einfand und die<br />
prachtvolle Aussicht genoss.“ (2)<br />
Ludwig III. dem letzten bayrischen<br />
König waren Pomp und Zeremoniell<br />
lästig. Er wäre eigentlich lieber<br />
Bauer geworden. Während sich sein<br />
Vetter „Märchenkönig“ Ludwig II.<br />
„den Widrigkeiten des Regierens und<br />
Repräsentierens durch die Flucht in<br />
eine teuer erbaute Phantasiewelt entzog<br />
und vom Volk geliebt wurde, musste<br />
er, dessen Anliegen Tbc-freie Ställe,<br />
Zuchtrinder und Kindermilch waren, sich<br />
als "Millibauer" verspötteln lassen.“<br />
Der Bauer und König, der auf Schloss<br />
Wildenwart im Chiemgau lebte, „hatte<br />
fast ein Dutzend Kinder zu ernähren.<br />
Wenn er Geld ausgab, dann für sein<br />
Mustergut in Leutstetten.“ (3)<br />
Das Erbe von Ludwig III., er galt 19<strong>13</strong> -<br />
nach dem Kaiser, dem Großherzog von<br />
Mecklenburg-Strelitz und den Krupps<br />
- als viertreichster Mann Deutschlands,<br />
wurde nach seinem Tode aufgeteilt.<br />
Damit ging von Leutstetten die „eine<br />
Hälfte an Kronprinz Rupprecht, die andere<br />
an seinen Bruder Franz, der außerdem<br />
das 10.000 Hektar große Gut Sárvár<br />
in Ungarn bekam. Während Rupprecht<br />
sich auf seinen Besitz in Berchtesgaden<br />
zurückzog, ließ sich Prinz Franz mit<br />
seiner Familie in Leutstetten nieder. Als<br />
Rupprecht von den Nationalsozialisten<br />
aus seinem berchtesgadener Schloss<br />
vertrieben wurde, verlegte er seinen<br />
Wohnsitz auch nach Leutstetten.“ Lange<br />
währte die Freude nicht, „denn gleich<br />
nach Kriegsbeginn beschlagnahmte<br />
Gauleiter Wagner das Schloss in dem<br />
schließlich Freunde Hitlers hausten.“ Als<br />
die SS-Reiterei begann Leutstetten zu<br />
nutzen, war Rupprechts Bruder Franz<br />
bereits verzogen. Ab 1933 lebte er auf<br />
dem Gestüt in Ungarn, „von wo er<br />
bei Kriegsende vor den vordringenden<br />
Russen flüchtete und mit Hab und Gut<br />
(einschließlich Pferden) nach Leustetten<br />
zurückkehrte.“ (2)<br />
Wühlt man in Archiven und im Internet<br />
entsteht der Eindruck dass Kronprinz<br />
Rupprecht der „König ohne Krone“ in<br />
den letzten Jahren seines Lebens quasi<br />
zum König von Leustetten wurde. „Selbst<br />
nach dem zweiten Weltkrieg…drehten<br />
sich die meisten größeren Feste im<br />
königlichen Dorf um seine Person. Als er<br />
am 02.08.1955 starb, ließ der damalige<br />
Bürgermeister Franz Xaver Hirschbold<br />
auf einer Trauer-Gemeinderatssitzung lt.<br />
Protokoll Folgendes verlauten:<br />
„Der wahrhafte Geist engsten<br />
Zusammenlebens von Fürst und<br />
Volk zeigte sich deutlich, als wir in<br />
Leutstetten den 80. und 85. Geburtstag<br />
unseres Kronprinzen Rupprecht feierten.<br />
Er war in Wahrheit König in unserem<br />
Land, er war das heimliche Herz der<br />
Bayern.“(2)<br />
„Die Einwohner von Leutstetten,<br />
denen Kronprinz Rupprecht ein wahrer<br />
Familienvater war“ (Starnberger<br />
Land- und Seebote am <strong>04</strong>.08.1955)<br />
werden allerdings nicht dabei gewesen<br />
wenn der passionierter Reiter und Jäger,<br />
„nach der morgendlichen Inspektion<br />
der Kuhställe, bei der Gartenarbeit seinen<br />
körperlichen Ausgleich suchte. Es<br />
machte ihm nichts aus, sich 250mal pro<br />
Tag zu bücken. Wenn warmes Wetter ist,<br />
läuft er zweimal am Tag von der Terrasse<br />
des Schlosses durch den Park und<br />
badet in dem kleinen schilfumsäumten<br />
See, den die Würm hier bildet. Sonst füllt<br />
er seine Tage mit den herkömmlichen<br />
Pflichten pensionierter Potentaten:<br />
Familie, Kunstsammlung, Bibliothek.<br />
30.000 Bände tragen die Regale von<br />
Leutstetten, u.a. sämtliche Weltliteratur<br />
über Napoleon und Bismarck, auch in<br />
japanischer Sprache.“ (4)<br />
Die Dohlen<br />
3. Flugbild von Corvus monedula<br />
Wer das Schloss mit den beiden südlichen,<br />
über Eck gestellten Turmerkern<br />
besichtigen will, hat wie bei beim<br />
baulich ähnlich akzentuierten Schloss<br />
Wildenwart Pech. Es wird von den<br />
Wittelsbachern bewohnt. Wie beim fast