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Militärgeschichte

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Das historische Stichwort<br />

ullstein bild-SP<br />

HMHS Llandovery Castle.<br />

Ein ungesühntes<br />

Kriegsverbrechen 1918<br />

Am 27. Juni 1918 steuerte die eindeutig<br />

durch die Anbringung<br />

von Roten Kreuzen als britisches<br />

Lazarettschiff gekennzeichnete<br />

HMHS (His Majesty’s Hospital Ship)<br />

Llandovery Castle auf die irische Küste<br />

zu. Das mit 622 Betten ausgestattete<br />

Schiff befand sich auf dem Rückweg<br />

von der kanadischen Hafenstadt Halifax,<br />

wohin es Verwunderte transportiert<br />

hatte. An Bord waren 258 Menschen:<br />

164 Mann Besatzung, 80 ka nadische<br />

Ärzte und Sanitäter sowie 14<br />

Rot-Kreuz-Schwestern. Das nach einer<br />

walisischen Burgruine benannte frühere<br />

Passier- und Postschiff Llandovery<br />

Castle war auf seiner Fahrt über<br />

den Nordatlantik hell erleuchtet. Es<br />

waren weder Truppen noch Kriegsmaterial<br />

an Bord, als das deutsche U-Boot<br />

SMS (Seiner Majestät Schiff) U 86 es<br />

außerhalb des deutscherseits für den<br />

uneingeschränkten U-Bootkrieg bestimmten<br />

Seegebietes entdeckte.<br />

Dessen Kommandant Oberleutnant<br />

z.S. Helmut Patzig (1890‐1984)<br />

befahl den Angriff und ließ gegen<br />

21.30 Uhr einen Torpedo auf die Backbordseite<br />

der Llandovery Castle abfeuern.<br />

Dabei setzte er sich über Bedenken<br />

seiner Offiziere hinweg. Nach glaubhaften<br />

späteren Aussagen waren Besatzung<br />

und Offiziere des U-Bootes geschockt,<br />

als sie beobachteten, wie die<br />

unbewaffnete Mannschaft sowie die<br />

Krankenschwestern und Ärzte in die<br />

Rettungsboote eilten. Mindestens zwei<br />

Rettungsboote überschlugen sich während<br />

der Evakuierung. Drei Rettungsboote<br />

konnten sich in Sicherheit bringen.<br />

Die so Geretteten begannen andere<br />

Schiffbrüchige an Bord ihrer Rettungsboote<br />

zu ziehen. Das inzwischen aufgetauchte<br />

deutsche U-Boot näherte sich<br />

der Rettungsaktion. Patzig befahl den<br />

Briten, die Rettung der Schiffbrüchigen<br />

abzubrechen, und verhörte den aus einem<br />

Rettungsboot an Bord von U 86<br />

geholten Kapitän Edward A. Sylvester<br />

sowie einige Offiziere des gesunkenen<br />

Schiffs. Sylvester durfte wieder von<br />

Bord und stieg zurück ins Rettungsboot.<br />

Zunächst ließ Patzig die Rettungsboote<br />

fahren und drehte ab. Dann<br />

ließ er sein U-Boot wenden. Der Gefechtsrudergänger<br />

musste auf die Rettungsboote<br />

zusteuern, um sie zu rammen.<br />

Doch diese konnten dem an greifenden<br />

U-Boot ausweichen. Daraufhin<br />

gab Patzig das Kommando »Tauchklar«.<br />

Die Mannschaft begab sich daraufhin<br />

unter Deck. Er selbst und die<br />

beiden Wachoffiziere Oberleutnant z.S.<br />

John Dithmer und Oberleutnant z.S.<br />

Ludwig Boldt sowie Oberbootsmaat<br />

Meißner, der als Kanonier für die Heckkanone<br />

verantwortlich war, blieben an<br />

Deck. Der Kommandant ließ den Kanonier<br />

auf die Rettungsboote feuern. Nur<br />

das Rettungsboot, in dem sich der britische<br />

Kapitän mit 23 anderen Überlebenden<br />

befand, konnte entkommen<br />

und die 116 Meilen entfernte irische<br />

Küste erreichen, trotz Ver folgung<br />

durch das U-Boot und dessen Rammversuchen.<br />

234 Menschen fielen dem<br />

Angriff des deutschen U-Boot-Kommandanten<br />

zum Opfer.<br />

Auf Verlangen gaben Offiziere und<br />

Mannschaft Patzig das Versprechen,<br />

über die Versenkung des Lazarettschiffes<br />

und der Rettungsboote Stillschweigen<br />

zu wahren. Was geschehen sei, so<br />

Patzig, habe er nur vor Gott und vor<br />

seinem Gewissen zu verantworten. Er<br />

fälschte sodann das Logbuch und trug<br />

dort eine Route ein, die weit ab vom<br />

Tat ort lag. Oberleutnant z.S. Patzig<br />

über nahm im August 1918 das Kommando<br />

über U 90 und wurde im November<br />

1919 regulär aus der Marine<br />

entlassen.<br />

Gemäß den Bestimmungen des Versailler<br />

Vertrages beabsichtigte die britische<br />

Regierung u.a., drei deutsche<br />

U-Boot-Kom mandanten wegen des Vor -<br />

wurfs, sie hätten Lazarettschiffe versenkt,<br />

vor Gericht zu stellen. Patzig, der<br />

seit Ende 1919 flüchtig war, stand an<br />

erster Stelle auf der »Probeliste« genannten<br />

Aufstellung. Trotz der in der<br />

britischen und französischen Öffentlichkeit<br />

vehement vorgetragene Forderungen,<br />

deutsche Kriegsverbrechen vor<br />

einem internationalen Gerichtshof zu<br />

verhandeln, verzichteten die Regierungen<br />

in London und Paris auf die Auslieferung<br />

der Beschuldigten. Bedingung<br />

hier für war, dass das Reichsgericht in<br />

Leipzig die Verfahren übernehmen<br />

würde. Deutsches Strafrecht sollte in<br />

den anstehenden Verhandlungen und<br />

bei der Strafbemessung angewendet<br />

werden.<br />

Insgesamt leitete der Oberreichsanwalt<br />

1803 Verfahren ein, von denen jedoch<br />

nur 13 Fälle gerichtlich verhandelt<br />

wurden. In den übrigen Fällen blieb es<br />

bei Ermittlungsverfahren. Einer der<br />

ersten Prozesse sollte Patzig gelten, der<br />

aber flüchtig war. Statt seiner griff die<br />

Justiz nach den beiden Wachoffizieren<br />

von U 86. Die Oberleutnante z.S. Dithmer<br />

und Boldt standen jedoch auf keiner<br />

alliierten Kriegsverbrecherliste. Der<br />

Oberreichsanwalt ließ sie dennoch inhaftieren<br />

und klagte sie der Mittäterschaft<br />

an.<br />

In der am 12. Juli 1921 vor dem<br />

Reichsgericht in Leipzig eröffneten<br />

Haupt verhandlung konnten für die direkte<br />

Be teiligung der angeklagten<br />

Wachoffiziere an dieser Tat keine Beweise<br />

gefunden werden, da keiner der<br />

befragten Augenzeugen aus der<br />

U-Boot-Mann schaft deren Mittäterschaft<br />

bestätigte. Ein weiterer Augenzeuge,<br />

der Gefechtsrudergänger, gab<br />

sich nicht als Zeuge zu erkennen; vermutlich<br />

aus Angst vor Angriffen der<br />

nationalkonservativen Presse und mit<br />

Sicherheit auch aus kame rad schaftlicher<br />

Verbundenheit schwieg er. Erst<br />

in hohem Alter berichtete er im Familienkreis<br />

über seine Beobachtungen,<br />

unter anderem auch, dass Patzig den<br />

Kanonier beim Beschießen eines Rettungsbootes<br />

beiseiteschob und die<br />

Schiffbrüchigen eigenhändig ins Visier<br />

nahm.<br />

22 <strong>Militärgeschichte</strong> · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2016

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