Ältere »Clicclac« Ausgaben
Ältere »Clicclac« Ausgaben
Ältere »Clicclac« Ausgaben
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
PäDAGoGIk Verhalten lernen<br />
sollen erfahren, dass die Liebe auch an kleinen<br />
Streitigkeiten nicht zerbricht und auch Erwachsene<br />
bereit sind, sich anzupassen, zurückzustecken,<br />
Kompromisse einzugehen. Das alles müssen<br />
Eltern als Modell vorleben, dann erleben die<br />
Kinder die Sinnhaftigkeit solchen Verhaltens im<br />
eigenen Alltag. Wenn Kinder sehen, dass ihre<br />
Eltern sich stets egomanisch verhalten, werden<br />
sie das Verhalten der Erwachsenen kopieren.<br />
Sie werden es schlechter akzeptieren, wenn die<br />
Gesellschaft ihnen rückmeldet, dass das rücksichtlose<br />
Streben nach dem eigenen Vorteil<br />
kein angemessenes Verhalten ist. Zurück zum<br />
Thema Ihres Vortrages. Sind es solche Tipps,<br />
die es möglich machen, dass man trotz ADHS<br />
erfolgreich im Leben sein kann? Ja, diese Anregungen<br />
zu beherzigen, ist ein zentraler Punkt.<br />
Und dann gibt es da auch ein paar Sachen, die<br />
in den Kindern liegen, nicht nur in deren Anlagen,<br />
sondern auch in den Vorstellungen, die sie<br />
entwickeln. In meiner Arbeit sage ich Kindern<br />
und Jugendlichen immer wieder, dass sie eine<br />
Leidenschaft entwickeln müssen, eine sinnvolle<br />
Leidenschaft, die darum kämpft, gesellschaftlich<br />
akzeptiert zu werden. Es geht nicht<br />
darum, stets das zu tun, was die Eltern wollen,<br />
sondern um Ideen und Interessen, ein Streben,<br />
einen Ehrgeiz, eine Hoffnung, die einen dazu<br />
bringen, etwas zu tun. Wer glaubt denn, dass<br />
Eminem mit ein paar coolen Sprüchen und nebenbei<br />
ein bisschen Drogenkonsum tatsächlich<br />
so gut geworden ist, wie er ist. Interessen und<br />
Leidenschaften, das sind Haltungen, die nicht<br />
plötzlich einfach da sind. Man muss die hartnäckige<br />
Neugierde auf das Leben, die Dinge<br />
dieser Welt in die Kinder einpflanzen und stetig<br />
fördern, wie man eine Pflanze gießt. Dazu<br />
sind Konsequenz und Konstanz nötig, damit<br />
man die Dinge, die man im Leben macht, nicht<br />
einfach schludrig nebenbei erledigt, sondern<br />
so vernünftig macht, dass es eine reelle Chance<br />
gibt, früher oder später einen Gewinn daraus<br />
zu ziehen. Diesen Gewinn hat man eben nicht,<br />
wenn man z. B. fünf Instrumente für ein paar<br />
Monate ausprobiert, nur um dann festzustellen,<br />
dass man keines richtig spielen kann und<br />
das Musizieren keinen Spaß macht.<br />
Sie sind Mitbegründer der Jägerburg, einem<br />
Projekt für Familien mit verhaltensauffälligen<br />
Kindern und Jugendlichen. Ist es genau<br />
das, was sie den Kindern während des einwöchigen<br />
Jägerlagers vermitteln wollen?<br />
Ja! Es geht darum, den Kindern mehr Konzilianz<br />
abzuringen im Umgang mit ihrer Umwelt. Sie<br />
sollen sehen und verstehen, dass es für sie gut<br />
ist, sich anzupassen, weil sie dann auch von der<br />
Gemeinschaft mehr bekommen. Und das kann<br />
man in einer Woche vermitteln? Ja, ziemlich<br />
gut sogar. Ein Zusammenleben auf so engem<br />
Raum, mit so viel Programm und ohne Rückzugsmöglichkeiten<br />
ist für die meisten Kinder<br />
10 CLICCLAC September 11<br />
sehr anstrengend. Da gewinnt man aus meiner<br />
Sicht kaum mehr, wenn man sie noch länger in<br />
der Gruppe behält. Natürlich, sinnvoller wäre<br />
ein Alltagsleben, so wie wir das machen, nicht<br />
in der gleichen Intensität, aber mit ähnlichen<br />
Strukturen. Die Idee ist ja auch, den Eltern zu<br />
vermitteln, dass man vieles von dem, was wir<br />
machen, in der Familie umsetzen kann. Daher<br />
wird das Jägerlager von einem Elterntraining<br />
begleitet. Neulich beim Abschlussessen staunte<br />
eine Mutter über ihren Sohn, der nun schon<br />
das dritte Mal bei uns war: „Ich kann es nicht<br />
glauben, mein Sohn isst sein Fleisch mit Messer<br />
und Gabel.“ Sie hatte seit fünf Jahren versucht,<br />
ihm das beizubringen und sein Fleisch nicht<br />
auf die Gabel aufzuspießen und es abzunagen.<br />
Das heißt jetzt nicht, dass zu Hause immer alles<br />
hält, was im Jägerlager begonnen wird. Aber es<br />
zeigt, dass es relativ einfach ist, solche Verhaltensweisen<br />
vorzuprägen. Und es zeigt, dass die<br />
Kinder grundsätzlich Willens und in der Lage<br />
sind, solche Dinge einzuhalten. Die Idee dahinter<br />
ist, den Kindern zu verdeutlichen, welche<br />
Wirkung bestimmte Verhaltensweisen auf die<br />
Umwelt haben. Die Kinder sollen lernen, hinzuschauen<br />
und hinzuhören, was von ihnen erwartet<br />
wird. Zu Hause können die Kinder das dann<br />
ausprobieren, und wenn die Umgebung positiv<br />
darauf reagiert, stabilisiert sich das Verhalten.<br />
Wie sind die Chancen einen Platz im Jägerlager<br />
zu ergattern und mit welchen Kosten<br />
muss man rechnen?<br />
Einen Platz zu bekommen, das ist meist relativ<br />
kurzfristig möglich. Die Finanzierung kann tatsächlich<br />
ein Problem sein. Die Teilnahme kostet<br />
950 Euro und die Eltern müssen das in der<br />
Regel selbst bezahlen. Natürlich würde ich mir<br />
wünschen, dass man diese Erfahrung mehr Kindern<br />
zugänglich machen könnte, denen sie helfen<br />
würde. Ich glaube aber, und das zeigt auch<br />
die Erfahrung, dass es Sinn macht, wenn die Eltern<br />
sich finanziell zumindest erheblich beteiligen<br />
müssen. Das Geld ist eine gute Möglichkeit,<br />
zu erreichen, dass die Eltern sich eingebunden<br />
fühlen. Sie wollen, dass sich das Jägerlager für<br />
das Kind, für sie, für die Familie rentiert. Sie<br />
stellen einen Anspruch an uns und an ihre<br />
Kinder, da sie wollen, dass bei der Sache etwas<br />
herauskommt. Daher sind sie offen für Tipps,<br />
erproben vorgeschlagene Veränderungen. Ist<br />
eine Hilfe wie das Jägerlager umsonst, auch im<br />
Fall vieler Therapien für verhaltensauffällige<br />
Kinder, für welche die Krankenkasse die Kosten<br />
übernimmt, so erwarten viele Eltern eine Reparatur<br />
des Kindes, zu der sie selbst weder finanziell<br />
noch in ihrem Erziehungsverhalten etwas<br />
beitragen müssen.<br />
Im Grunde wollen sie also Familien ansprechen,<br />
bei denen die Eltern auch tatsächlich<br />
bereit sind, aktiv mitzuwirken?<br />
Ja, denn die Mitarbeit der Eltern ist ein wesentlicher<br />
Aspekt der Erfolgsaussicht. Was wir erreichen<br />
können, das ist tatsächlich, die Kinder<br />
bereitwilliger zu machen, eine Gemeinschaft<br />
zu akzeptieren, auf die Ansprüche der Umwelt<br />
einzugehen. Wie die Entwicklung weiter<br />
geht, das hängt sehr davon ab, wie die Eltern<br />
zukünftig den Alltag der Familie gestalten. Es<br />
ist völlig absurd, wenn Eltern sich auf die Position<br />
zurückziehen, dass sie ja nichts ändern<br />
können, weil ihr Kind ADHS hat. Es ist möglich,<br />
mit ADHS erfolgreich zu leben und zu lernen.<br />
Aber es liegt zu einem guten Teil an den Eltern,<br />
die Kinder auf den richtigen Weg zu bringen.<br />
Herr Dr. Streif, wir sind sicher, dass Ihr Vortrag<br />
„Erfolgreich Leben und Lernen mit<br />
ADHS“ noch viele weitere Anregungen für Eltern<br />
enthalten wird und bedanken uns, dass<br />
Sie unseren Lesern schon so viele wertvolle<br />
Hinweise mit auf den Weg gegeben haben.<br />
>> DAS GESPRÄCH FÜHRTE ULRIKE GERHARDS.<br />
DR. JoHAnnES STREIf ...<br />
wurde 1968 geboren und ist in Baden aufgewachsen<br />
als bekennendes „Familienmonster“.<br />
Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie<br />
und Psychologie an der LMU München und<br />
promovierte in Mediävistik, der Wissenschaft<br />
vom europäischen Mittelalter. Heute ist er<br />
als Psychologe und Gerichtssachverständiger<br />
tätig. Zudem ist er einer der Gründer<br />
und Leiter der Jägerburg, einem Projekt für<br />
Familien mit verhaltensauffälligen Kindern<br />
und Jugendlichen.