Bulletin - Deutscher Museumsbund
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Beitrag<br />
„Die Stille erzählt die Kunst“<br />
Für Gehörlose zugängliche Gegenwartskunst<br />
Die Abteilung für Museumspädagogik des italienischen<br />
Schloss Rivoli, Museum für Gegenwartskunst, und die Turiner<br />
Gehörloseneinrichtung haben ein weltweit einzigartiges<br />
Projekt umgesetzt, um Gehörlosen einen Zugang zur zeitgenössischen<br />
Kunst zu ermöglichen. Beobachtungen auf<br />
der Kasseler documenta 2007, die zahlreiche Besucher mit<br />
Gehörproblemen hatte, führten spontan zur Frage: Fördern<br />
wir in unserem Land eigentlich den Zugang dieser Menschen<br />
zur Kultur? Eine Untersuchung ergab, dass die italienischen<br />
Gebärdensprache (LIS) keine Zeichen für die Gegenwartskunst<br />
besitzt.<br />
Abhilfe sollte das Projekt „Die Stille erzählt die Kunst“ schaffen,<br />
das gemeinsam und partnerschaftlich umgesetzt und betreut<br />
wurde von der Kulturmanagerin Catterina Seia, Anna Pironti,<br />
(Leiterin der Abteilung für Museumspädagogik von Schloss<br />
Rivoli), sowie Enrico Dolza (Servicekoordinator der Turiner<br />
Gehörloseneinrichtung). Eine Arbeitsgruppe aus Gehörlosen<br />
und Nicht-Gehörlosen wurde eingerichtet, zu der neben einer<br />
Linguistin auch der gehörlose Gebärdensprachdozenten<br />
Luciano Candela gehörte.<br />
Ausgangspunkt war unser Verständnis des Museums als<br />
Bildungsstätte, als Ort der sozialen Einbindung, als einen für<br />
Dialog und Konfrontation offenen Raum. In diesem Sinn entwickeln<br />
wir mit dem Anspruch, das Kulturerbe des Museums<br />
allen zugänglich zu machen, verschiedene Projekte beispielsweise<br />
für Gehörlose, für Sehbehinderte sowie für Menschen mit<br />
motorischen Behinderungen.<br />
Das Projekt „Die Stille erzählt die Kunst“ zielt auf eine Anerkennung<br />
der Eigenheiten und Wirksamkeit einer Sprache innerhalb<br />
eines Interaktion und Integration einbeziehenden Modells,<br />
das Unterschiede respektiert und aufnimmt, ohne sie zu verleugnen.<br />
Dieses einzigartige Projekt war eine außergewöhnliche,<br />
fachlich wie menschlich bereichernde und intensive Erfahrung.<br />
Als Mitarbeiterin der Museumspädagogik absolvierte ich eine<br />
Grundausbildung in LIS, die auch das Erleben der Gehörlosigkeit<br />
selbst umfasste. Parallel dazu machte ich erste Führungen für<br />
Gehörlose im Museum für Gegenwartskunst Schloss Rivoli und<br />
auf der Internationalen Messe für Gegenwartskunst Artissima<br />
14: eine echte Herausforderung, zumal es sich für die meisten<br />
Teilnehmer um die allererste Begegnung mit Gegenwartskunst<br />
handelte. Es entwickelte sich eine dauerhafte Bindung an eine<br />
Gruppe Gehörloser, die anschließend regelmäßig das Schloss<br />
Rivoli besuchten.<br />
14 <strong>Bulletin</strong> 4 / 2010<br />
Bei allen direkten Begegnungen mit der Gegenwartskunst<br />
haben gehörlose Vermittler und Dolmetscher eine wichtige Rolle<br />
gespielt, um an Ort und Stelle erste Hypothesen zu der in der<br />
Gebärdensprache LIS fehlenden Fachterminologie auf zustellen.<br />
Der nächste Schritt bestand im Erfassen eines in Makrokategorien<br />
unterteilten Grundwortschatzes zur Ge gen warts kunst<br />
(Kunstströmungen, Techniken und Materialien, Typologien).<br />
Der Wortschatz wurde den Gehörlosen anschließend in einer<br />
Reihe von Interviews vorgelegt, um das Vorhandensein der<br />
entsprechenden Zeichen für jeden Ausdruck zu überprüfen.<br />
Die Auswertung der Antworten ergab Fälle vorhandener und<br />
fehlender sowie unangemessener Übersetzungszeichen. Nach<br />
den Interviews leiteten wir für alle 80 ausgewählten Ausdrücke<br />
einen langwierigen linguistischen Schöpfungsprozess ein: mithilfe<br />
ikonografischen Materials wurde zunächst die Bedeutung<br />
jedes Ausdrucks genau geklärt und kontextualisiert. Danach<br />
wurde jedes neue Übersetzungszeichen von den gehörlosen<br />
Experten ausgearbeitet und vorgeschlagen. LIS zeichnet sich<br />
durch eine starke Bildhaftigkeit aus; in vielen Fällen gaben die<br />
in der Kunst vorhandenen optischen Metaphern daher nützliche<br />
Anstöße zur Kreation der Zeichen. Komplexer gestaltete sich<br />
hingegen das Verfahren bei Ausdrücken wie „Abstraktismus“:<br />
den Begriff Abstraktion und den Ausdruck mit der Etikettierung<br />
„-ismus“ sowie seine Kontextualisierung in der Kunstszene des<br />
20. Jahrhunderts verständlich zu machen, war eine ausgesprochen<br />
spannende Herausforderung. Schließlich wurde jedes<br />
Zeichen einer Kohärenzkontrolle bezüglich des ursprünglichen<br />
Ausdrucks unterzogen sowie einer „Transparenzprüfung“<br />
innerhalb der Arbeitsgruppe und mithilfe Angehöriger der<br />
Gebärdensprachgemeinschaft, um den Verständlichkeitsgrad<br />
zu messen.<br />
Jedes Zeichen wurde von uns mit einer Reihe im Schnellschussverfahren<br />
aufgenommener Fotos dokumentiert: eine<br />
Hommage an die Chronofotografie, die ein Festhalten des<br />
Augenblicks ermöglicht, um die einzelnen Phasen einer<br />
Bewegung – in unserem Fall der des Gebärdensprechers – in<br />
der Abfolge aufzuzeigen. Mit Hinblick auf die Veröffentlichung<br />
wurden diejenigen Aufnahmen ausgewählt, die linguistisch<br />
signifikante, zur Rekonstruktion der Zeichenartikulation notwendige<br />
Phasen zeigen.<br />
Mit großer Freude präsentieren wir die in unserer Arbeit entstandenen<br />
neuen LIS-Zeichen in einem Wörterbuch, das in Italienisch<br />
und auch in Englisch vorliegt. Wir freuen uns darauf,<br />
die Methodologie mit Kollegen in aller Welt teilen zu können<br />
und stehen für Kooperationen und neue Partnerschaften<br />
gerne zur Verfügung; es ist wünschenswert, dass die vorliegende<br />
Arbeit sich als Anreiz für andere Institutionen erweist und