20.12.2016 Aufrufe

ashan-delon-zurueck-in-die-ferne-galaxie

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ashan Delon<br />

Zurück <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>ferne</strong> Galaxie<br />

Gay Romance / Leseprobe


Rückflug<br />

Volker breitete <strong>die</strong> Straßenkarte auf der Motorhaube aus und beugte sich vor.<br />

Eigentlich brauchte er weder Navi noch bunte L<strong>in</strong>ien auf halb zerfleddertem Papier, um zu<br />

wissen, dass er sich mit <strong>die</strong>ser Fahrt auf e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> <strong>die</strong> Vergangenheit begab. Mann,<br />

warum musste se<strong>in</strong> Boss unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Ausflugsressort an e<strong>in</strong>em der weniger<br />

bekannten Touristenburgen <strong>in</strong>vestieren? Es gab so viele Gasthäuser, Ferienetablissements<br />

und Bespaßungstempel, warum ausgerechnet hier?<br />

Se<strong>in</strong>e Gedanken wanderten für e<strong>in</strong>en Moment <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit. Er sah sich selbst, wie<br />

er se<strong>in</strong>e nackten Füße <strong>in</strong> den See steckte und <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>en Fische mit dem Wackeln se<strong>in</strong>er<br />

Zehen verscheuchte. Als K<strong>in</strong>d hatte er <strong>die</strong> malerischen Gebirgsformationen nicht als<br />

Sehenswürdigkeit angesehen. Für ihn waren es blöde Felsen gewesen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er blöden<br />

Gegend mit blöden Menschen und blöden Ansichten. E<strong>in</strong> blödes Leben, das noch blöder<br />

wurde, als er erkannte, dass er sich für Jungs mehr <strong>in</strong>teressierte als für Mädchen. Das<br />

Internet war voll von toleranten Sprüchen und Aufmunterungs-Parolen, <strong>die</strong> ihm Mut<br />

gemacht hatten, für sich selbst e<strong>in</strong>zustehen. Doch rasch hatte er erkennen müssen, dass<br />

das Kaff, <strong>in</strong> dem er aufgewachsen war, nichts von all dem mitbekommen hatte. Als hätte<br />

es nicht <strong>die</strong> Postleitzahl vom Arsch der Welt, sondern gleich von e<strong>in</strong>er ganz anderen<br />

Galaxie.<br />

Er hatte <strong>die</strong> Karte auch nicht ausgebreitet, weil er sich hoffnungslos verfranzt hatte,<br />

sondern weil er sich noch e<strong>in</strong>mal klarmachen wollte, wie weit H<strong>in</strong>terburghausen vom<br />

Rest der Welt entfernt lag. Okay, <strong>die</strong> Felsen, <strong>die</strong> an stahlblauen Seen lagen und <strong>die</strong> zu<br />

jeder Jahreszeit mit e<strong>in</strong>er anderen Farbe bezuckert zu se<strong>in</strong> schienen, zogen viele Touristen<br />

an. Meist ältere Leute, <strong>die</strong> es nicht so mit Unterhaltungshochburgen hatten.<br />

Naturliebende, <strong>die</strong> sich lieber mit Wanderstiefeln auf den Weg <strong>in</strong> <strong>die</strong> Berge machten, als<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mittelmeersonne beschienenen Pool den Anweisungen e<strong>in</strong>es Motivators zu<br />

folgen. Wie oft er mit se<strong>in</strong>en Eltern den Gipfel hatte erklimmen müssen, den See per Floß,<br />

Kanu, im Ruderboot oder schwimmend durchquert hatte, konnte er im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nicht<br />

mehr zählen. Fast jedes Wochenende hatten sie sich unter <strong>die</strong> Touristen gemischt und<br />

kraxelten mit vollgepacktem Proviantrucksack <strong>in</strong> den Felsen herum. Ab e<strong>in</strong>em Alter von<br />

zehn kämpfte Volker <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ruder-Mannschaft um den Sieg für se<strong>in</strong>en Vere<strong>in</strong>. Mit<br />

sechzehn wurde er von se<strong>in</strong>en Sportkameraden gefesselt <strong>in</strong> den Bergsee geworfen. Wenn<br />

ihr Tra<strong>in</strong>er nicht noch <strong>die</strong> Ruderboote vor dem bevorstehenden Gewitter <strong>in</strong> Sicherheit<br />

hätte br<strong>in</strong>gen wollen, würde Volker nun nicht an der Raststätte e<strong>in</strong>er Autobahn stehen<br />

und wie paralysiert auf <strong>die</strong> bunten L<strong>in</strong>ien und Punkte starren, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>e Heimat<br />

gewesen waren.<br />

Von Heimat konnte wirklich ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Er hatte sich dort nie wohl gefühlt, hielt<br />

sich für e<strong>in</strong>en Alien unter Zombies und erträumte sich Nacht für Nacht Geschichten, <strong>die</strong><br />

ihn weit weg von <strong>die</strong>sem Ort br<strong>in</strong>gen sollten. Selbst als er noch nicht wusste, dass ihn <strong>die</strong><br />

Liebe zu e<strong>in</strong>em anderen Mann <strong>in</strong> ernste Schwierigkeiten befördern würde. Noch viel<br />

weniger, dass sich manche Menschen, <strong>die</strong> er zuvor für nett und vertrauenswürdig<br />

gehalten hatte, zu gruseligen Monstern mutierten. In jener Nacht, als <strong>die</strong><br />

Wasseroberfläche über se<strong>in</strong>em Kopf zusammenschlug, hatte er der Welt den Rücken<br />

gekehrt. Als man ihn <strong>in</strong>s Krankenhaus brachte, wusste er schon, dass er se<strong>in</strong> Elternhaus


nie wieder betreten würde. Als se<strong>in</strong>e Mutter und se<strong>in</strong> Vater an se<strong>in</strong>em Bett standen und<br />

ihm Vorwürfe machten, festigte er se<strong>in</strong>en Entschluss. Anstatt ihn aufzubauen oder sich<br />

darüber zu freuen, dass ihr Sohn noch lebte, griffen sie ihn an.<br />

Mit sechzehn mit Nichts vor dem Nichts zu stehen, wünschte man ke<strong>in</strong>em Menschen.<br />

Volker hätte sich jedoch eher <strong>die</strong> Zehen abgehackt, als noch e<strong>in</strong>mal nach<br />

H<strong>in</strong>terburghausen zurückzukehren.<br />

Aber genau <strong>die</strong>s würde er nun tun. Er musste es tun, er wollte es tun. Nicht, weil es<br />

ihn nach zehn Jahren <strong>in</strong> <strong>die</strong> Heimat zog und er wissen wollte, was aus se<strong>in</strong>en Eltern und<br />

den alten Kumpels geworden war. Ne<strong>in</strong>, er wollte wissen, ob se<strong>in</strong>e Eltern so gelitten<br />

hatten wie er und ob se<strong>in</strong>e damaligen Freunde ihn überhaupt vermissten. Wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

kannte ihn ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger mehr. Weder se<strong>in</strong>e Eltern noch Karl, se<strong>in</strong> ehemaliger bester<br />

Freund, der noch den Knoten an den Fußfesseln überprüfte, bevor sie ihn zu viert <strong>in</strong>s<br />

Wasser geworfen hatten.<br />

Der sechzehnjährige Ausreißer hatte Glück im Unglück. Se<strong>in</strong> Busticket reichte<br />

vierhundert Kilometer weit und brachte ihn fast vor e<strong>in</strong>e Jugendhilfsstelle, <strong>die</strong> sich auch<br />

um obdachlose K<strong>in</strong>der und Jugendliche kümmerte. Er bekam e<strong>in</strong>e Unterkunft, holte<br />

se<strong>in</strong>en Schulabschluss nach und schaffte es sogar, e<strong>in</strong>e Lehrstelle zu ergattern. Nach den<br />

Abschlussprüfungen g<strong>in</strong>g er weiter auf <strong>die</strong> Schule, holte das Abi nach, schlug sich mit<br />

allen möglichen Jobs durch und liebäugelte damit, zu stu<strong>die</strong>ren. Er wusste nur nicht was<br />

und so ließ er es bleiben.<br />

Das Leben war unerwartet freundlich zu ihm. E<strong>in</strong> Job wurde ihm angeboten, den er<br />

nicht abschlagen konnte und bescherte ihm e<strong>in</strong>en gigantischen Karrieresprung. Vom<br />

Praktikanten zum Investment-Scout. Für e<strong>in</strong>e Investmentfirma, <strong>die</strong> sich auf<br />

Erholungszentren, Kurkl<strong>in</strong>iken und Ausflugs- und Freizeitgegenden spezialisiert hatte,<br />

musste er mehrmals im Jahr <strong>die</strong> Lage son<strong>die</strong>ren, Vorverhandlungen führen,<br />

Kostenvoranschläge machen und manchmal sogar erste Verträge abschließen. Se<strong>in</strong><br />

Näschen für das, was Leute zu ihrem Vergnügen unternehmen wollten, war e<strong>in</strong>fach<br />

unschlagbar. Was anfangs lediglich e<strong>in</strong> Witz, oder im O-Ton se<strong>in</strong>es Chefs, e<strong>in</strong><br />

erfolgversprechender Trockentest, war, entwickelte sich rasch zu e<strong>in</strong>er Geldquelle. Er<br />

wusste genau, wo man Spaß haben konnte und was man tun musste, um e<strong>in</strong>e Gegend,<br />

e<strong>in</strong> Hotel oder e<strong>in</strong>en Vergnügungspark umzuwandeln, damit es zu e<strong>in</strong>em<br />

Verkaufsschlager wurde. Dabei konnte Volker nicht genau sagen, woher er <strong>die</strong>ses Talent<br />

hatte. Vermutlich, weil er schlicht <strong>die</strong> K<strong>in</strong>dheit nachholte, <strong>die</strong> er glaubte, nie gehabt zu<br />

haben.<br />

Bergwandern und eiskalte Gebirgsseen hatten jedoch nicht zu se<strong>in</strong>en bevorzugten<br />

Projekten gehört. Von Blasen an den Füßen und Frostbeulen an den Eiern hatte es <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit genug gegeben.<br />

E<strong>in</strong> Lastwagen donnerte nur wenige Meter an ihm vorbei, erzeugte e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>dstoß,<br />

der fast <strong>die</strong> Landkarte von der Motorhaube wehte. Das Donnern der gewaltigen Räder<br />

auf dem Asphalt und das Brüllen des PS-starken Motors riss ihn aus der Vergangenheit<br />

heraus und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wirklichkeit zurück. Volker sah hoch und blickte dem Ungetüm<br />

h<strong>in</strong>terher. Irgende<strong>in</strong>e Speditionsfirma aus der Ukra<strong>in</strong>e, Ungarn oder Polen. Den Schriftzug<br />

konnte er nicht entziffern. Volker bl<strong>in</strong>zelte und schüttelte schließlich den Kopf, um wieder<br />

klare Gedanken zu bekommen. Er dachte nicht oft an se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit und das Geschehen,<br />

das ihn dazu veranlasst hatte, alles h<strong>in</strong>ter sich zu lassen und anderswo neu anzufangen.


In zahlreichen Gesprächen mit Sozialarbeitern und Psychologen glaubte er, <strong>die</strong> Schäden<br />

von sich abgewendet oder gar nicht erst an sich herangelassen zu haben. So manche<br />

Tage war er verstockt gewesen, hatte mit niemandem gesprochen und sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Zimmer e<strong>in</strong>gesperrt. Jedoch hatte er sich nicht verkrochen, um Trübsal zu blasen, sondern<br />

e<strong>in</strong>fach, um alle<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>.<br />

Jetzt, da er zu <strong>die</strong>sem Ort zurückfuhr, kamen <strong>die</strong> Er<strong>in</strong>nerungen und <strong>die</strong> Gefühle wieder<br />

hoch. Erneut wunderte er sich darüber, wie wenig es ihn schmerzte. Der Stachel der<br />

Angst, der Scham, des Verlassense<strong>in</strong>s und der Enttäuschung schien gar nicht zu wissen,<br />

dass es ihn gab. Umso besser für ihn, denn so konnte er nach vorn schauen, sich e<strong>in</strong><br />

neues Leben aufbauen und auf alles scheißen, was ihm damals passiert war.<br />

Die Bremsen des Lasters quietschten laut, als der Fahrer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Parklücke e<strong>in</strong>lenkte.<br />

Volker riss sich endlich von dem Anblick los, faltete <strong>die</strong> Straßenkarte zusammen und<br />

setzte sich h<strong>in</strong>ters Steuer. Es lag noch e<strong>in</strong>e Strecke von gut zweihundert Kilometern vor<br />

ihm. Wenn alles bestens lief, war er <strong>in</strong> knapp zwei Stunden <strong>in</strong> der Pension und konnte<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> weiches Bett fallen lassen. Den Brenner-Wirt, der im oberen Stockwerk<br />

Gästezimmer bereithielt, kannte er noch von früher. Mehr als gut sogar, denn der Jüngste<br />

der Brenner-Burschen war derjenige gewesen, <strong>in</strong> den sich Volker unsterblich verliebt<br />

hatte. Eigentlich hätte er sich weigern sollen, denn es gab im Umkreis von e<strong>in</strong> paar zig<br />

Kilometern sicher e<strong>in</strong>e Alternative. Er hatte auch schon den Hörer <strong>in</strong> der Hand, um <strong>die</strong><br />

Sekretär<strong>in</strong> darum zu bitten, e<strong>in</strong> anderes Quartier zu f<strong>in</strong>den. Aber aus e<strong>in</strong>em<br />

undef<strong>in</strong>ierbaren Grund, brachte er es nicht fertig, ihre Kurzwahlnummer zu tippen. Er<br />

schaffte es auch nicht, <strong>die</strong> entsprechenden Worte zu formulieren, als hätte e<strong>in</strong>e höhere<br />

Macht etwas dagegen, dass er umbuchte. Insgeheim wollte er ihn wiedersehen. Ob er<br />

noch bei se<strong>in</strong>en Eltern wohnte? Joshua war <strong>in</strong>zwischen 25. E<strong>in</strong> Alter, <strong>in</strong> welchem <strong>die</strong><br />

meisten Männer bereits e<strong>in</strong> Eigenheim und Familie hatten.<br />

Es sei denn, man hieß Volker Steigroth und stellte <strong>die</strong> Karriere vor das Liebesglück.<br />

Die Autobahn war relativ frei, bis auf e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Stau wegen e<strong>in</strong>er Wanderbaustelle,<br />

<strong>die</strong> ihm allerd<strong>in</strong>gs nicht viel Fahrzeit kostete. Ihn erwartete auch niemand wirklich.<br />

Mehrmals fragte er sich, ob der alte Brenner-Sepp noch lebte und ob ihm Volkers Name<br />

noch etwas sagte. Die Steigroths waren <strong>in</strong> H<strong>in</strong>terburghausen nicht ganz unbekannt<br />

gewesen. Se<strong>in</strong> Vater hatte sich <strong>in</strong> etlichen Vere<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>gebracht, vor allem dem Ruder-<br />

Vere<strong>in</strong>, und war stets e<strong>in</strong>er der Ersten, <strong>die</strong> Feste organisierten und Aktionen <strong>in</strong>s Leben<br />

riefen.<br />

Je näher er se<strong>in</strong>er alten Heimat kam, desto mehr kam Unruhe <strong>in</strong> ihm auf. E<strong>in</strong> ganz<br />

seltsames Gefühl, als hätte er vor se<strong>in</strong>er Abfahrt vergessen, den Herd abzustellen oder<br />

als wüsste er, dass er mit ungemütlichen Zeitgenossen zusammenkommen würde. Volker<br />

hatte sich nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, wen er alles treffen würde und wer<br />

ihn wiedererkannte. K<strong>in</strong>dliche Freude wollte <strong>in</strong> ihm aufkommen, wenn er sich ausmalte,<br />

wie ihre K<strong>in</strong>nladen herunterklappten, wenn sie sahen, was aus der schüchternen,<br />

schwulen Sau geworden war. Aber im Grunde war er nicht auf Konfrontation aus oder<br />

se<strong>in</strong>e Vergangenheit zu verarbeiten. Ebenso wenig, <strong>die</strong>jenigen büßen zu lassen, <strong>die</strong> ihm <strong>die</strong><br />

Hölle auf Erden bereitet hatten. Wenn es den Auftrag nicht gäbe, hätte er dem Kaff nicht<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Gedanken gegönnt, geschweige denn se<strong>in</strong>en Fuß <strong>in</strong> <strong>die</strong> Region gesetzt.<br />

Um zwei M<strong>in</strong>uten nach vier Uhr kam er endlich <strong>in</strong> dem Ort an. Volker lenkte den<br />

Wagen auf den Parkplatz des Gasthauses. Um <strong>die</strong> Uhrzeit war noch nicht viel los. E<strong>in</strong>


paar Touristen, <strong>die</strong> offenbar früh von ihrer Wanderung zurückgekehrt waren, hatten sich<br />

um e<strong>in</strong>en Kle<strong>in</strong>bus versammelt. Das Wetter schien heute nicht für e<strong>in</strong>e Gipfelerklimmung<br />

geeignet zu se<strong>in</strong>. Der Himmel war grau. E<strong>in</strong>e dichte Wolkendecke hatte sich über den<br />

Spitzen der Berge ausgebreitet. Es roch jedoch nicht nach Regen. Oder sie überlegten, ob<br />

sie es heute noch wagen sollten. E<strong>in</strong> paar hatten ihre Rucksäcke geschultert und <strong>die</strong><br />

Laufstöcke <strong>in</strong> der Hand. E<strong>in</strong>ige weitere schienen sich nicht durchr<strong>in</strong>gen zu können, sich für<br />

den Abmarsch bereit zu machen. Volker parkte den Wagen vor dem »Zimmer frei«-Schild,<br />

stellte den Motor ab und blickte sich um. Die Reisegruppe diskutierte noch immer. E<strong>in</strong><br />

Mann nahm se<strong>in</strong>en Rucksack herunter und ließ ihn zu se<strong>in</strong>en Füßen s<strong>in</strong>ken. Volker<br />

überlegte sich, ob er den Motor anschmeißen, den Gang e<strong>in</strong>legen und e<strong>in</strong>fach wieder<br />

wegfahren sollte.<br />

In der Ferne h<strong>in</strong>ter der Reisegruppe war der See zu sehen. Volker wusste noch genau<br />

wie er aussah, mit dem Landesteg für kle<strong>in</strong>e Boote und den Ruderbooten. Jener Steg, von<br />

welchem er <strong>in</strong>s Wasser geworfen worden war. Er<strong>in</strong>nerungen kamen hoch. Die Nacht war<br />

lau gewesen. Sie hatten am Vortag e<strong>in</strong>en Sieg errungen und wollten feiern. Volker hatte<br />

sich nichts dabei gedacht und war den Jungs zum See gefolgt. Dass sie über ihn herfallen,<br />

ihn fesseln und ertränken wollten, hätte er niemals vermutet. Es waren zwar nicht se<strong>in</strong>e<br />

besten Freunde, aber allesamt normale Jungs gewesen, <strong>die</strong> nie auch nur e<strong>in</strong> böses Wort<br />

über ihn fallen gelassen hatten. In der Region hatte es auch wenig Gesprächsstoff über<br />

absonderliche Menschen gegeben. Es gab sie schlichtweg nicht. Entweder hatten sie sich<br />

versteckt oder fernab des wahren Lebens konnte ke<strong>in</strong> Mensch existieren, der nicht dem<br />

Standard der abgelegenen Gegend entsprach. Volker war sich auch so manches Mal wie<br />

e<strong>in</strong> Unikat vorgekommen. Wie e<strong>in</strong>e Fehlkonstruktion, e<strong>in</strong> Montagsteil, das von e<strong>in</strong>em<br />

launischen Schöpfer lustlos zusammengesetzt worden war, aber nicht so richtig <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Schablonen passte. Jetzt, zehn Jahre später fühlte er sich längst wie e<strong>in</strong> Mensch.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs spürte er schon, wie das alte Gefühl <strong>in</strong> ihm aufbegehrte, Wurzeln schlug und<br />

sich wie e<strong>in</strong>e Ranke an se<strong>in</strong>em Selbstbewusstse<strong>in</strong> emporschl<strong>in</strong>gen wollte, um es<br />

irgendwann zu erwürgen. Bevor er auf dumme Gedanken kam, öffnete er <strong>die</strong> Fahrertür<br />

und ließ frische Luft here<strong>in</strong>. Umdrehen, den Schwanz e<strong>in</strong>ziehen und davonlaufen konnte<br />

er nicht mehr.<br />

Die E<strong>in</strong>gangstür g<strong>in</strong>g auf und e<strong>in</strong> Mann kam heraus. Er trug e<strong>in</strong> weißes Hemd, dessen<br />

Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Dazu e<strong>in</strong>e schwarze Jeans, <strong>die</strong> ihm<br />

so eng an den Schenkeln klebte, dass er sie bestimmt mit der Kneifzange oder e<strong>in</strong>em<br />

Schuhlöffel ausziehen musste. Auf dem Rücken des weißen Hemdes prangte das Logo des<br />

Brenner-Wirts, gekrönt von der Skyl<strong>in</strong>e des Gebirges, das den See zum Norden h<strong>in</strong><br />

abgrenzte. Darunter war e<strong>in</strong> blauer Kr<strong>in</strong>gel abgebildet, der wohl den See darstellen<br />

sollte. Vom Alter her konnte es unmöglich der alte Brenner-Wirt se<strong>in</strong>, denn der musste<br />

<strong>in</strong>zwischen <strong>die</strong> achtzig erreicht haben. War <strong>die</strong>s Joshua oder e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er älteren Brüder?<br />

Zehn Jahre konnten e<strong>in</strong>en Menschen ziemlich verändern.<br />

Volkers Herz begann schneller zu schlagen. Ihm wurde auf e<strong>in</strong>mal immens warm.<br />

Se<strong>in</strong>e Hände wurden zittrig. Er krallte sich am Lenkrad fest, <strong>in</strong> der Hoffnung, <strong>die</strong><br />

Aufregung <strong>in</strong> ihm niederkämpfen zu können. Der Mann marschierte nur e<strong>in</strong>en Meter vom<br />

Auto entfernt an ihm vorbei, ohne <strong>die</strong> Person am Steuer zu bemerken und g<strong>in</strong>g direkt auf<br />

<strong>die</strong> Reisegruppe zu. Als sie ihn sahen, kamen e<strong>in</strong> paar näher und wenig später war e<strong>in</strong><br />

hitziges Gespräch entstanden. Dies gab Volker Gelegenheit, aus dem Wagen zu steigen,


zum Kofferraum zu gehen und se<strong>in</strong> Gepäck herauszuholen. Fünf M<strong>in</strong>uten später<br />

diskutierten sie noch immer mite<strong>in</strong>ander. Doch der W<strong>in</strong>d trug <strong>die</strong> Worte <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

entgegengesetzte Richtung, sodass Volker ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Fetzen davon verstehen<br />

konnte.<br />

Langsam schlenderte er zum E<strong>in</strong>gang, blieb dort stehen und wandte sich noch e<strong>in</strong>mal<br />

um. E<strong>in</strong> Streitgespräch schien entbrannt zu se<strong>in</strong>. Es g<strong>in</strong>g ihn nichts an, also drehte er sich<br />

wieder um und öffnete <strong>die</strong> Tür. Gleichzeitig wurde sie von der anderen Seite geöffnet und<br />

ihm förmlich aus der Hand gerissen. E<strong>in</strong> weiterer Mann stand vor ihm, ebenfalls <strong>in</strong><br />

weißem Brenner-Wirt-Hemd und <strong>in</strong> schwarzen Jeans. Während sich Volker bei dem<br />

ersten Mann nicht sicher war, ob es sich um dem Jüngsten des Hauses handeln konnte,<br />

war er sich nun bei <strong>die</strong>sem hier absolut sicher. Vor ihm stand Joshua, unverkennbar an<br />

der kle<strong>in</strong>en Narbe <strong>in</strong> der Augenbraue, e<strong>in</strong>e Verletzung, <strong>die</strong> er sich beim Toben auf e<strong>in</strong>em<br />

Abenteuerspielplatz während e<strong>in</strong>es Schulausfluges zugezogen hatte. Die dunkelblauen<br />

Augen, <strong>die</strong> ihn sofort anstarrten, als wüssten sie genau, wer vor ihm stand, waren e<strong>in</strong><br />

weiterer Beweis. Ke<strong>in</strong> anderer hatte so dunkle Augen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Blau, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Nacht<br />

e<strong>in</strong>gezogen schien. Noch dunkler als das Blau, mit denen Babys auf <strong>die</strong> Welt kamen. Wie<br />

damals h<strong>in</strong>gen ihm auch heute nachlässig gezügelte Fransen <strong>in</strong>s Gesicht, <strong>die</strong> er mit e<strong>in</strong>er<br />

lässigen Geste h<strong>in</strong>ters Ohr steckte. Gefolgt von e<strong>in</strong>em frechen, leicht schiefen Gr<strong>in</strong>sen, das<br />

jedoch schlagartig verschwand, als er den Gast erkannte. Se<strong>in</strong>e Lippen öffneten sich. Er<br />

starrte Volker e<strong>in</strong>e halbe M<strong>in</strong>ute später noch immer entgeistert an, als könne er nicht<br />

glauben, dass sich e<strong>in</strong> Weltwunder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e bescheidene Hütte verirrt hatte.<br />

»Guten Abend!«, grüßte Volker höflich und wollte Joshua <strong>die</strong> Hand h<strong>in</strong>halten. Doch<br />

der schob se<strong>in</strong>e Hände bewusst h<strong>in</strong>ter den Rücken und machte e<strong>in</strong>en Schritt zur Seite, um<br />

den Gast e<strong>in</strong>zulassen. »Ich b<strong>in</strong> …«, begann Volker. E<strong>in</strong> Laut aus der Kehle des Brenner-<br />

Burschen ließ ihn jedoch verstummen.<br />

»Weiß ich!«, gab Joshua murrend von sich, schob sich an Volker vorbei und rief<br />

lauthals den Namen se<strong>in</strong>es älteren Bruders. Mit Matthias und Christoph hatte er damals<br />

wenig zu schaffen gehabt, deshalb er<strong>in</strong>nerte sich Volker erst wieder an ihre Namen, als<br />

Joshua den von Matthias quer über den Parkplatz brüllte.<br />

»Gibt es e<strong>in</strong> Problem?«, wollte Volker wissen. Se<strong>in</strong>e Hände krallten sich fester um den<br />

Griff des Koffers. Er war schwer, dennoch stellte er ihn nicht ab. Das Gewicht beruhigte<br />

ihn auf seltsame Weise. Er war vollgestopft mit D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> er aus se<strong>in</strong>er neuen Welt<br />

mitbrachte und rief ihm <strong>in</strong>s Gedächtnis, dass er nur e<strong>in</strong> Gast war und jederzeit wieder<br />

abreisen könnte.<br />

Matthias kam heran, joggte <strong>die</strong> letzten Meter und blieb keuchend vor Volker stehen.<br />

»Hey, Volker!«, begrüßte er den Neuankömml<strong>in</strong>g und reichte ihm <strong>die</strong> Hand zur<br />

Begrüßung. »Ich hab versucht, dich zu erreichen. Doch de<strong>in</strong>e Firma sagte, du hättest<br />

vermutlich während der Fahrt de<strong>in</strong> Handy abgeschaltet …«<br />

Volker schlug e<strong>in</strong>, ließ se<strong>in</strong>e Hand kurz drücken und widerstand der Versuchung, sie<br />

an se<strong>in</strong>er Hose abzuwischen. Das Handy hatte er absichtlich abgeschaltet, weil er<br />

befürchtete, durch irgendwas von <strong>die</strong>sem Vorhaben abgehalten zu werden. E<strong>in</strong>erseits<br />

bereitet es ihm mehr als Unbehagen, zu se<strong>in</strong>er Vergangenheit zurückzukehren.<br />

Andererseits hatte er nicht früh genug ankommen können, um Joshua wiederzusehen.<br />

Von Neugier und trotz allem schwelender Sehnsucht getrieben, hatte er <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

zum Rest des Universums gekappt. Damit wollte er verh<strong>in</strong>dern, dass ihn jemand aufhielt,


auch wenn er nicht wirklich damit gerechnet hatte.<br />

»Was ist los?«, erkundigte er sich irritiert.<br />

»Es gab e<strong>in</strong>e Doppelbuchung. Unser neues Computersystem spielt uns manchmal<br />

e<strong>in</strong>en Streich. Heißt, wir haben jetzt e<strong>in</strong> Zimmer zu wenig. Die Gruppe dort, wollte nicht<br />

enger zusammenrücken und besteht auf ihre gebuchten Zimmer. Das Problem ist jetzt,<br />

dass de<strong>in</strong> Zimmer damit belegt ist.«<br />

»Ich habe gebucht und bezahlt.« Obwohl er se<strong>in</strong>e Stimme scharf und unnachgiebig<br />

kl<strong>in</strong>gen ließ, spielte Volker aber <strong>in</strong>sgeheim schon mit dem Gedanken, sich e<strong>in</strong> anderes<br />

Hotel zu suchen. In Joshuas Nähe zu wohnen, kam ihm auf e<strong>in</strong>mal unmöglich vor. Erst<br />

recht, da er ihn gesehen hatte und <strong>die</strong> alten Gefühle aufkeimten. Zu se<strong>in</strong>en Eltern würde<br />

er auf ke<strong>in</strong>en Fall gehen. Rasch versuchte er sich daran zu er<strong>in</strong>nern, welche Pension oder<br />

Gasthaus es noch <strong>in</strong> der Nähe geben könnte.<br />

Matthias w<strong>in</strong>kte ab. »Josh könnte se<strong>in</strong>e Bude räumen«, schlug Matthias vor. »Ist ja<br />

nur für <strong>die</strong> paar Tage und ich verlange auch nur den halben Preis.«<br />

»Ist beim Stangermeier noch was frei?« Zum Glück fiel ihm noch rechtzeitig das<br />

andere Gasthaus e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> welchem sie früher gesessen und Cola-Rum gekippt hatten, bis<br />

sie kotzend über der Kloschüssel h<strong>in</strong>gen.<br />

»Der Stangermeier vermietet nicht mehr«, erklärte Matthias. »Er hat auf exklusives 4-<br />

Sterne-Restaurant umgesattelt und braucht <strong>die</strong> Räume jetzt für Tischgäste.« Der Bruder<br />

versuchte offenbar, <strong>die</strong> missliche Lage mit e<strong>in</strong>em Lächeln zu überspielen. »Entschuldige<br />

bitte, aber schon <strong>in</strong> den letzten Wochen g<strong>in</strong>g es hier drunter und drüber. Wir haben e<strong>in</strong>en<br />

neuen Vertrag mit e<strong>in</strong>em Reiseveranstalter und an manchen Tagen könnten wir unsere<br />

Betten doppelt und dreifach verbuchen. Josh kann derweil bei mir und me<strong>in</strong>er Familie<br />

unterkommen. Es macht ihm nichts aus.«<br />

»Macht es schon«, warf eben erwähnter barsch e<strong>in</strong>. »Du kannst mich nicht e<strong>in</strong>fach aus<br />

me<strong>in</strong>em Zimmer ausquartieren, nur weil du Mist gebaut hast. Es ist me<strong>in</strong>s.«<br />

»Ja, schon …« Matthias rang mit sich und legte se<strong>in</strong>em Bruder e<strong>in</strong>e Hand auf <strong>die</strong><br />

Schulter. »Aber es geht nicht anders. Ich kann Volker nicht e<strong>in</strong>fach wegschicken.«<br />

»Das ist nicht me<strong>in</strong>e Sache.« Joshua wandte sich um und wollte <strong>die</strong> beiden e<strong>in</strong>fach<br />

stehen lassen.<br />

»Josh!«, rief Matthias ihn scharf zurück. »Pack de<strong>in</strong>en Kram!«<br />

»Du kannst mich!« Gerade noch schien er sich davon abhalten zu können, se<strong>in</strong>em<br />

Bruder e<strong>in</strong>en St<strong>in</strong>kef<strong>in</strong>ger zu präsentieren. Denn im selben Augenblick gesellten sich<br />

weitere Personen zu den beiden, Männer aus der Reisetruppe, <strong>die</strong> sich erkundigten, wie<br />

nun <strong>die</strong> Sachlage war. Joshua nahm se<strong>in</strong>e Hand sofort herunter und verbarg <strong>die</strong> obszöne<br />

Geste h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em Rücken.<br />

»Ihr bekommt <strong>die</strong> Zimmer«, versprach ihnen Matthias. »Der weitere Gast ist nun<br />

e<strong>in</strong>getroffen und hat sich bereit erklärt, umzudisponieren.« Matthias warf ihm e<strong>in</strong>en<br />

entschuldigenden Blick zu und widmete sich wieder der Reisegruppe. »Folgt mir nach<br />

oben. Ich zeig euch <strong>die</strong> Zimmer.«<br />

Volker blieb e<strong>in</strong>fach stehen. Die Gruppe strömte an ihm vorbei, musste sich sogar an<br />

ihm vorbeischieben, weil er mitten im Gang stehen blieb. Als der Letzte <strong>die</strong> Treppe<br />

hochpolterte, stand er noch immer dort, wo er Joshua begegnet war, den Koffer nach wie<br />

vor <strong>in</strong> der Hand, und bl<strong>in</strong>zelte verwirrt.<br />

Joshua war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Abstand von ihm stehen geblieben, hatte <strong>die</strong>


Menschengruppe an sich vorbeiziehen lassen und blickte ihnen nun alles andere als<br />

begeistert h<strong>in</strong>terher. Als der Letzte den oberen Treppenabsatz passiert hatte, wandte er<br />

sich an Volker und nickte ihm kurz zu.<br />

»Na, dann kommt mit!«, sagte er und stapfte schon <strong>die</strong> Treppe hoch.<br />

»Was ist hier los?«, erkundigte sich Volker <strong>in</strong>teressiert.<br />

»Du bist hier los!«, murrte Joshua.<br />

»Ich?« Volker wäre be<strong>in</strong>ahe über e<strong>in</strong>e Treppenstufe gestolpert. Der Brenner-Wirt hatte<br />

<strong>in</strong> den letzten Jahren tüchtig renoviert. Die alten, knarrenden, abgetretenen Holzstufen<br />

waren neuen, glänzenden, lautlosen gewichen. Aus dem gedrechselten Geländer, das<br />

noch se<strong>in</strong>erseits Brenner-Ur-Opa höchstpersönlich an der Drehbank hergestellt hatte,<br />

war e<strong>in</strong>es aus Metall geworden. Aber <strong>die</strong> Stufen waren noch immer eng und steil und<br />

man musste sich konzentrieren, um nicht zu stolpern.<br />

»Seit bekannt geworden ist, dass e<strong>in</strong>e Investmentfirma hierher kommen soll, s<strong>in</strong>d alle<br />

am Durchdrehen.«<br />

»Uff«, machte Volker. »Ich dachte schon, es ist wegen mir.«<br />

Joshua blieb auf halber Strecke stehen und drehte sich um, sodass Volker Mühe hatte,<br />

nicht <strong>in</strong> ihn re<strong>in</strong>zurumpeln. »Du bist doch <strong>die</strong> Investmentfirma.«<br />

»Ne<strong>in</strong>, ich me<strong>in</strong>te, wegen mir, weil …« Er ersparte sich den Rest. Warum zum Teufel<br />

hatte er auch nur e<strong>in</strong>e Sekunde daran gedacht, dass sich zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e Menschenseele<br />

an den Zwischenfall von damals er<strong>in</strong>nern konnte? Sicher hatten sie es schon vergessen,<br />

kaum dass der Sanka ihn <strong>in</strong> <strong>die</strong> Notaufnahme gekarrt hatte.<br />

»Was wegen dir?« Joshua musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen.<br />

»Vergiss es.« Volker w<strong>in</strong>kte ab und nickte zum ersten Stock hoch. »Was ist nun mit<br />

dem Zimmer? Ehrlich gesagt, habe ich mir me<strong>in</strong>en Aufenthalt hier etwas anders<br />

vorgestellt.«<br />

»Tut mir leid, dass wir reiche P<strong>in</strong>kel nicht gebührend empfangen können. Der rote<br />

Teppich ist gerade <strong>in</strong> der Re<strong>in</strong>igung.« Endlich drehte er sich um und stapfte weiter.<br />

»Hast du was gegen mich?«<br />

»Ich hab was gegen Leute, <strong>die</strong> hier alles aufmischen.«<br />

»Dazu muss es nicht kommen.«<br />

»Was willst du dann hier?«<br />

»Nur me<strong>in</strong>en Job erledigen.«<br />

»Warum ausgerechnet hier?«<br />

»Me<strong>in</strong> Boss will es so. Er f<strong>in</strong>det <strong>die</strong>ses Fleckchen hier idyllisch und möchte gern<br />

<strong>in</strong>vestieren.«<br />

»Und warum schickt er ausgerechnet dich?«<br />

Sie kamen im ersten Stock an. Joshua marschierte um <strong>die</strong> Treppe herum und trat auf<br />

<strong>die</strong> nächste, <strong>die</strong> zum Dachboden führte.<br />

»Was ist falsch an mir?« Volker war sich nicht mehr sicher, ob Joshua wusste, dass er<br />

e<strong>in</strong>mal bis über beide Ohren <strong>in</strong> ihn verknallt war. Er hatte ke<strong>in</strong>e Gelegenheit erhalten, es<br />

ihm zu gestehen. Tatsächlich hatten sie kaum mehr als <strong>die</strong> üblichen Floskeln im<br />

Schulalltag mite<strong>in</strong>ander gesprochen. Da sie auch nicht <strong>in</strong> derselben Klasse waren, trafen<br />

sie sich nur <strong>in</strong> der Pause oder auf dem Sportplatz. Volker hatte auch nicht<br />

herausgefunden, ob Joshua ebenfalls schwul war. Vorher war er im See gelandet. Und<br />

danach saß Volker schon im Bus und ließ se<strong>in</strong>e Vergangenheit und damit auch Joshua


h<strong>in</strong>ter sich.<br />

»Es gibt Geschichten über dich.«<br />

»So? Welche denn?«<br />

»Dass du dich rächen willst.«<br />

Volker blieb stehen. Nicht nur, weil sie an ihrem Ziel angekommen schienen, sondern<br />

auch, weil ihm mit <strong>die</strong>ser Aussage klar wurde, dass man ihn ke<strong>in</strong>eswegs vergessen hatte.<br />

»Und wenn dem so wäre?«<br />

»Deswegen geht hier e<strong>in</strong>igen Leuten der Arsch auf Grundeis.« Joshua holte e<strong>in</strong>en<br />

Schlüssel aus se<strong>in</strong>er Hosentasche und schloss <strong>die</strong> Tür auf, vor der sie stehen geblieben<br />

waren. Joshuas Jeans war nicht ganz so eng wie <strong>die</strong> von Matthias. Man konnte aber sehr<br />

gut den prallen runden H<strong>in</strong>tern erkennen und <strong>die</strong> strammen Schenkel, über <strong>die</strong> sich der<br />

Stoff spannte.<br />

»Sünden bleiben nie ungesühnt«, gab Volker mit e<strong>in</strong>em Schmunzeln von sich. Auf<br />

e<strong>in</strong>mal gefiel es ihm, den Auftrag angenommen zu haben. Die Idee schlug <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf<br />

Wurzeln. Er würde <strong>die</strong>ser abgeschiedenen Galaxis schon zeigen, wo der schwule Hammer<br />

lag.<br />

»Gib mir e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten«, stieß Joshua eilig hervor, raffte e<strong>in</strong> paar herumliegenden<br />

Klamotten, Zeitschriften und Bücher und stopfte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Schrank. »Ich hole mir nur<br />

e<strong>in</strong> paar Sachen. Dann kannst du dich hier ausbreiten.«<br />

Volker sah sich rasch um. Das Zimmer war sicher ebenfalls e<strong>in</strong> Gästezimmer gewesen.<br />

Es gab e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Bad und e<strong>in</strong>e Tischgruppe unter dem Dachfenster. E<strong>in</strong> breites Bett und<br />

e<strong>in</strong> aus demselben Holz geschnitzter Schrank standen auf der anderen Seite des Zimmers.<br />

Aber es war angefüllt mit vielen persönlichen Sachen, Bilder von Verwandten und<br />

Freunden, Trophäen von Ruder-Wettbewerben, Büchern und so manch anderem Kram,<br />

was man so im Alltag ansammelte. Aber e<strong>in</strong> Bild überraschte Volker so sehr, dass er<br />

se<strong>in</strong>en Koffer absetzte, zum Bettkasten g<strong>in</strong>g und es hochnahm. Es war e<strong>in</strong> Foto von der<br />

alten Ruder-Mannschaft. Er konnte sich noch an den Tag er<strong>in</strong>nern. Sie hatten gewonnen<br />

und tüchtig gefeiert und sich bereits leicht angetüdelt zu e<strong>in</strong>em Gruppenfoto aufgestellt.<br />

An <strong>die</strong>sem Tag hatte sich Volker e<strong>in</strong> Herz genommen und Joshua zu sich herangezogen.<br />

Se<strong>in</strong> Arm lag auf dessen Schulter. Sie gr<strong>in</strong>sten beide <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kamera. Er konnte sich aber<br />

auch noch daran er<strong>in</strong>nern, dass ihn Joshua gleich nach dem Klick des Auslösers von sich<br />

gestoßen hatte. Dass nun <strong>die</strong>ses Bild direkt neben dem Bett stand, verwunderte ihn.<br />

»Du hast das noch?«, fragte er überrascht.<br />

»Ja, warum nicht?« Joshua riss es ihm förmlich aus der Hand. »Das war e<strong>in</strong>er der<br />

besten Siege, <strong>die</strong> wir errungen hatten.« Er stopfte es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reisetasche, zusammen mit<br />

wahllos aus dem Schrank gerissenen T-Shirts, Hosen, Unterwäsche und Hemden. Dann<br />

entschwand er <strong>in</strong>s Badezimmer, wo er eilig se<strong>in</strong>e Habseligkeiten zusammensuchte. Es<br />

klirrte und schepperte.<br />

»Ich wollte dich nicht vertreiben.«<br />

»Tust du aber.« Joshua tauchte wieder auf, zerrte den Reißverschluss der Tasche zu<br />

und warf sie sich über <strong>die</strong> Schulter.<br />

»Hör mal …«, versuchte Volker zu beschwichtigen. »Wenn ihr noch e<strong>in</strong>e Gästeliege<br />

habt, könnten wir hier zusammen …«<br />

»Ne<strong>in</strong>«, fuhr ihm Joshua barsch <strong>in</strong>s Wort.<br />

Volker lachte humorlos auf. »Hast du Angst, <strong>die</strong> Schwuchtel könnte unartig werden?«


Se<strong>in</strong>e Stimme war gehässiger und schneidender, als er vorhatte. Es tat ihm selbst weh.<br />

Dennoch erfüllte es ihn mit Genugtuung.<br />

»Exakt!«, gab Joshua tonlos von sich, wandte sich um, warf <strong>die</strong> Schlüssel auf den<br />

Tisch unter dem Fenster und verließ ohne e<strong>in</strong> weiteres Wort das Zimmer. Die Tür fiel e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong> wenig zu geräuschvoll <strong>in</strong>s Schloss. Vermutlich konnte er gar nicht schnell genug<br />

wegkommen. Er glaubte wahrsche<strong>in</strong>lich, dass er ersticken würde, weil ihm e<strong>in</strong> Schwuler<br />

<strong>die</strong> Luft wegatmete. In Volker keimten Wut und Enttäuschung auf. Vor zehn Jahren<br />

hegten sie e<strong>in</strong> trotz allem freundschaftliches Verhältnis mite<strong>in</strong>ander. Da wusste Joshua<br />

aber auch noch nichts von der sexuellen Ges<strong>in</strong>nung des Ruderkumpels. Von der<br />

damaligen Kameradschaft schien ebenfalls nicht mehr viel übrig geblieben zu se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong><br />

Out<strong>in</strong>g hatte alles verändert und ließ <strong>die</strong> Galaxie noch e<strong>in</strong> ganzes Stück tiefer <strong>in</strong>s<br />

unendliche All rutschen.


Turbulenzen<br />

Davon hatte er als Sechzehnjähriger immer geträumt. In Joshuas Reich zu stehen, sich<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Bett zu legen, dessen Duft mit jedem Atemzug e<strong>in</strong>zuatmen. Aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Träumen stand Joshua neben ihm, lächelte ihn an und schmiegte sich an ihn.<br />

Volker drehte sich langsam um se<strong>in</strong>e Achse und ließ se<strong>in</strong>en Blick über den Innenraum<br />

schweifen. Solche Trophäen hatte er früher auch. Sie stehen vermutlich noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

alten Jugendzimmer, wenn se<strong>in</strong>e Eltern sie nicht schon längst entsorgt hatten. Auf<br />

e<strong>in</strong>igen der Bilder erkannte er Personen wieder. E<strong>in</strong> paar der Fotos waren so alt wie se<strong>in</strong>e<br />

Er<strong>in</strong>nerungen. Manche aber auch neueren Datums und zeigten Personen, <strong>die</strong> mit denen<br />

aus se<strong>in</strong>er Vergangenheit nur noch annähernd Ähnlichkeiten hatten. Er erkannte <strong>die</strong><br />

Jungs von der Ruder-Mannschaft. Auch Karl war darunter. Auf e<strong>in</strong>em neueren fand er<br />

se<strong>in</strong>en ehemaligen besten Freund mit sichtbarem Stirnansatz und e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en<br />

Wohlstandsbäuchle<strong>in</strong>. Das Foto musste bei e<strong>in</strong>em Klassen- oder Mannschaftstreffen<br />

stattgefunden haben, denn Volker konnte noch e<strong>in</strong> paar Klassenkameraden erkennen, <strong>die</strong><br />

auch mit ihm <strong>in</strong> der Mannschaft gewesen waren.<br />

Unter den Büchern, <strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Regal neben dem Bett standen, befanden sich<br />

Klassiker wie Moby Dick, StarWars und Harry Potter, aber auch Sachbücher über<br />

Gastronomie und Hotelfachkunde. Joshua hatte sich offenbar zum Hotelfachmann<br />

ausbilden lassen. Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu berühren, strich Volker über <strong>die</strong><br />

Buchrücken. Bedächtig holte er das e<strong>in</strong>e oder andere heraus, um etwas dar<strong>in</strong><br />

herumzublättern und stellte sie mit e<strong>in</strong>em merkwürdigen Kribbeln <strong>in</strong> der Wirbelsäule<br />

zurück.<br />

Das Bett war ungemacht und noch so zerknautscht und zerwühlt, wie Joshua es am<br />

Morgen verlassen hatte. Das Kissen verströmte e<strong>in</strong>en frischen Duft, der an Grapefruits<br />

und Kräutern er<strong>in</strong>nerte. Auch glaubte er Aftershave riechen zu können. Volker konnte sich<br />

nicht zurückhalten, sich auf das Bett zu setzen, das Kissen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hände zu nehmen und<br />

den Duft mit e<strong>in</strong>em tiefen Atemzug <strong>in</strong> sich aufzunehmen. Ferne Er<strong>in</strong>nerungen keimten <strong>in</strong><br />

ihm auf. Nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal hatte er <strong>die</strong> Gelegenheit erhalten, an Joshuas Sachen zu<br />

schnuppern. Das war, als er beim Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g e<strong>in</strong>en Riemen auf <strong>die</strong> Nase bekommen hatte<br />

und mit Nasenbluten <strong>in</strong> <strong>die</strong> Umkleide geschickt worden war. Joshuas geöffnete<br />

Sporttasche lag auf e<strong>in</strong>er Bank. Volker hatte sich daneben gesetzt, verstohlen <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Tasche gegriffen und das Shirt herausgeholt, das ganz oben gelegen hatte. Er hatte sich<br />

falsch und verlogen gefühlt. Dennoch war es das Schönste, das ihm widerfahren war.<br />

Im Schrank lagen noch reichlich Kleidungsstücke und Schuhe, wie auch Ordner mit<br />

Schulungsunterlagen und Mappen mit Manuskripten und auch e<strong>in</strong> zusammengeklappter<br />

Laptop. Er konnte sich jedoch zurückhalten, das Gerät herauszuholen und auf der<br />

Festplatte nachzusehen, was Joshua alles von sich gespeichert hatte.<br />

Auf dem Tisch standen e<strong>in</strong>e halb leere Wasserflasche und e<strong>in</strong>e Schale mit Obst. Die<br />

Banane müsste bald gegessen werden, sonst war sie bald e<strong>in</strong> Fall für den Kompost.<br />

Volker streckte sich und warf e<strong>in</strong>en Blick aus dem Fenster. Von hier aus konnte man den<br />

See und das Gebirge nicht sehen, stattdessen e<strong>in</strong> Meer aus dunkelgrünen, fast schwarzen<br />

Nadelbäumen. Zu <strong>die</strong>ser Jahreszeit waren <strong>die</strong> Gipfel der Berge mit schmutzig grauen<br />

Kiefern bewachsen, <strong>die</strong> dem Berg e<strong>in</strong> wuscheliges Aussehen gaben. Im W<strong>in</strong>ter trugen <strong>die</strong>


Felsformationen weiße Mützen, und Volker er<strong>in</strong>nerte sich, wie er den Bergspitzen <strong>die</strong><br />

Namen von Zwergen gegeben hatte. E<strong>in</strong> Schmunzeln überkam ihn, als er daran dachte.<br />

Er g<strong>in</strong>g zu se<strong>in</strong>em Koffer, legte ihn auf das Bett und öffnete ihn. Als er sich umdrehte<br />

und den Schrank betrachtete, kam es ihm falsch vor, se<strong>in</strong>e Sachen dort e<strong>in</strong>zuräumen. Er<br />

und Joshua waren nie zusammengekommen. Warum sollte er se<strong>in</strong>e Klamotten nun neben<br />

<strong>die</strong> des eigentlichen Bewohners legen? Also klappte er den Koffer wieder zu und atmete<br />

tief e<strong>in</strong>. Es war e<strong>in</strong>e dumme Idee gewesen, auf Matthias’ Vorschlag e<strong>in</strong>zugehen. Was<br />

hatte er sich nur dabei gedacht, Joshua aus se<strong>in</strong>em Zimmer zu vertreiben. Er gehörte<br />

nicht hierher und überhaupt, er gehört gar nicht erst <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Teil der Erde, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Teil<br />

der Galaxis.<br />

Vielleicht sollte er se<strong>in</strong>en Chef anrufen und ihm sagen, dass H<strong>in</strong>terburghausen<br />

ungeeignet war, um e<strong>in</strong>e Ferienhochburg zu errichten. Es war e<strong>in</strong> abgeschiedenes Kaff, das<br />

man nur über endlos lange, kurvige Landstraßen erreichte, durch <strong>die</strong> es Busse schwer<br />

haben würden, bis zum See durchzudr<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>ige Alleen waren so mit Bäumen<br />

bewachsen, dass Unfälle vorprogrammiert waren.<br />

Daher nahm er se<strong>in</strong> Telefon <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand, setzte sich an den Tisch und wählte <strong>die</strong><br />

Nummer se<strong>in</strong>es Büros.<br />

Marlies, e<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> nahm das Gespräch entgegen.<br />

»Na, schon e<strong>in</strong>gelebt?«, fragte sie sofort.<br />

»Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen«, erwiderte er und nahm e<strong>in</strong>en leicht<br />

runzeligen Apfel <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand. »Es war schwer, sie rauszureißen.«<br />

»Es muss schön se<strong>in</strong>, nach langer Zeit wieder dorth<strong>in</strong> zurückzukehren, wo man<br />

aufgewachsen ist.«<br />

»Es gab e<strong>in</strong>en Grund, warum ich gegangen b<strong>in</strong>.«<br />

Sie kicherte und räusperte sich anschließend. »Herr Gorzha<strong>in</strong> ist auf e<strong>in</strong>er<br />

Besprechung. Wie ist <strong>die</strong> Lage dort? Kann man was aus der Gegend machen?«<br />

»Ich b<strong>in</strong> erst vor e<strong>in</strong>er halben Stunde angekommen. Aber ich kann jetzt schon sagen,<br />

dass sich nicht viel verändert hat. Es s<strong>in</strong>d immer noch <strong>die</strong>selben Leute hier.«<br />

»Wo sollen sie sonst h<strong>in</strong>? Es s<strong>in</strong>d Prov<strong>in</strong>zler. Die s<strong>in</strong>d mit ihrem Geburtsort<br />

verwachsen.«<br />

»Der Brenner-Wirt hat e<strong>in</strong> Abkommen mit e<strong>in</strong>em Veranstalter abgeschlossen, der<br />

Busse hierher karrt. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was außer dem See und e<strong>in</strong> paar<br />

seltsam aussehenden Felsformationen so sehenswert se<strong>in</strong> soll, aber es sche<strong>in</strong>t zu<br />

funktionieren.«<br />

»Wie heißt der Veranstalter?«<br />

»Hab ich noch nicht rausgefunden.« Volker lehnte sich zurück. Die Stuhllehne knarrte<br />

unter se<strong>in</strong>em Gewicht. »Ich werde morgen mal e<strong>in</strong>en Ausflug rund um den See machen<br />

und mir <strong>die</strong> Gegend anschauen. Es ist immerh<strong>in</strong> zehn Jahre her. Vielleicht f<strong>in</strong>de ich schon<br />

e<strong>in</strong>en Platz für das Hotel.«<br />

Marlies kicherte erneut. »Gut. Ich werde Herrn Gorzha<strong>in</strong> ausrichten, dass du angerufen<br />

hast. Melde dich, wenn du mehr weißt.«<br />

»Ich brauche wie üblich e<strong>in</strong> paar Tage Zeit.«<br />

»In Ordnung. Bis dann.«<br />

»Bis dann.« Es klickte <strong>in</strong> der Leitung.<br />

Volker hielt das Telefon noch e<strong>in</strong>en Augenblick ans Ohr. War es wirklich richtig,


hierher zu kommen? Früher hatte er <strong>die</strong>ses Dreckskaff nicht für würdig gehalten, <strong>die</strong><br />

Aufmerksamkeit der Restwelt zu erhalten. Jetzt sollte hier eventuell e<strong>in</strong> Palast gebaut<br />

werden, <strong>in</strong> dem sich gut betuchte Leute nach Strich und Faden verwöhnen lassen<br />

konnten. Die Aussicht auf e<strong>in</strong>en gewaltigen See mit kristallklarem Wasser und e<strong>in</strong>em<br />

Gebirge, deren Spitzen nach komischen Zwergen hießen, ließen sich <strong>die</strong> Betreiber sicher<br />

teuer bezahlen.<br />

E<strong>in</strong> Grummeln ertönte aus Volkers Magen. Endlich nahm er das Handy herunter,<br />

steckte es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Tasche, grapschte nach den Zimmerschlüsseln und hievte sich auf <strong>die</strong><br />

Be<strong>in</strong>e. Den Apfel nahm er mit, biss e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und verließ das Zimmer. Auf dem Weg<br />

nach unten kaute er genüsslich, biss noch e<strong>in</strong>mal ab, als er den ersten Stock erreicht<br />

hatte, und hielt kurz an.<br />

Wo Joshua nun schlief? Wohnte Matthias’ Familie auch im Haus? Er lauschte <strong>in</strong> den<br />

Korridor h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, der vom Treppenabsatz aus endlos <strong>in</strong>s Haus zu führen schien. Lampen<br />

erhellten <strong>in</strong> regelmäßigen Abständen den Flur, damit man nicht über Teppichkanten<br />

stolperte und <strong>die</strong> Nummern an den Türen besser lesen konnte. Das Haus der Brenners war<br />

schon immer e<strong>in</strong> schier endlos langer Bau gewesen, denn er war seit e<strong>in</strong>igen Generationen<br />

<strong>in</strong> Familienbesitz und wurde immer wieder erweitert.<br />

Von unten drangen das Geklapper von Geschirr und der Duft von Bratensoße und Bier<br />

herauf. Der Hunger machte sich noch stärker bemerkbar. Se<strong>in</strong> Magen knurrte lauter, trotz<br />

der Apfelbissen, mit denen Volker ihn nun beschäftigt hatte. Aber es war noch lange nicht<br />

genug. Also g<strong>in</strong>g er weiter <strong>die</strong> Treppe h<strong>in</strong>unter und suchte <strong>die</strong> Gaststube. Auch hier hatte<br />

sich e<strong>in</strong>iges verändert, zwar nicht alles, aber doch genug, um es zu bemerken. Rund um<br />

den Stammtisch war noch alles beim Alten. Drei ältere Herrschaften <strong>in</strong> abgetragenen<br />

Jankern und stark ergrauten Haaren saßen dort und spielten Karten. Vor ihnen halb<br />

gefüllte Biergläser. Die Schanktheke war nicht mehr aus Holz, sondern aus glänzendem<br />

Edelmetall. Dah<strong>in</strong>ter hatte man e<strong>in</strong>en riesigen Spiegel angebracht, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bar.<br />

Regale mit Gläsern, Schnaps, Rum und Likören säumten <strong>die</strong>sen. Die übrigen Tische<br />

wurden <strong>in</strong>zwischen mit Tischdecken und Blumengestecken verziert. Als Jugendliche<br />

hatten Volker und se<strong>in</strong>e Freunde <strong>die</strong> Maserungen des Holzes mit Kugelschreiber oder<br />

Edd<strong>in</strong>g nachgefahren und ihren Kaugummi unter <strong>die</strong> Tischplatte geklebt.<br />

Volker wagte sich tiefer <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gaststube und ließ se<strong>in</strong>en Blick durch den Raum<br />

schweifen, auf der Suche nach e<strong>in</strong>em geeigneten Platz. Am Fenster erschien es ihm am<br />

angenehmsten, zumal er von dort aus den ganzen Raum im Blick hatte und auch gleich<br />

mitbekam, wenn Joshua <strong>die</strong> Stube betrat. Also setzte er sich und nahm <strong>die</strong> Speisekarte<br />

zur Hand. Die Auswahl an Getränken und Speisen hatte ebenfalls e<strong>in</strong>e Verjüngungskur<br />

verpasst bekommen. Neben den üblichen Gerichten, <strong>die</strong> er schon als Jugendlicher verputzt<br />

hatte, gab es nun auch Pizza. Zudem mit allem möglichen erlesenen Köstlichkeiten<br />

belegte Baguettes, Speisen aus verschiedenen Ländern und Desserts, <strong>die</strong> ihm schon vom<br />

Namen her das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Er suchte sich etwas aus und<br />

gab se<strong>in</strong>e Bestellung bei e<strong>in</strong>er Kellner<strong>in</strong> auf. Von Joshua noch ke<strong>in</strong>e Spur.<br />

Warum es ihm auf e<strong>in</strong>mal wichtig war, ihn zu sehen, konnte Volker nicht<br />

nachvollziehen. Eigentlich sollte nach zehn Jahren sämtlicher Funke erloschen se<strong>in</strong>. Doch<br />

er merkte immer mehr, je länger er sich <strong>in</strong> dessen Nähe aufhielt, dass sich der Funke all<br />

<strong>die</strong> Jahre nur tief <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Inneren versteckt hatte. Nun l<strong>in</strong>ste er vorsichtig heraus, <strong>in</strong> der<br />

Hoffnung, entfacht zu werden und wieder zu voller Größe aufblühen zu können.


E<strong>in</strong>e Glut brauchte dennoch e<strong>in</strong>en Nährboden, aus dem sie sich be<strong>die</strong>nen und auf dem<br />

sie gedeihen konnte. Ebenso benötigte sie Sauerstoff, von dem sie sich nähren und Licht,<br />

dem sie sich entgegenrecken konnte. Sauerstoff war <strong>die</strong> Leidenschaft, <strong>die</strong> Liebe das Licht.<br />

Matthias tauchte <strong>in</strong> der Stube auf und erspähte Volker am Fenster sitzend. Er gesellte<br />

sich ungefragt zu ihm, schob se<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>tern auf <strong>die</strong> Bank ihm gegenüber, beugte sich vor<br />

und legte <strong>die</strong> Ellbogen auf der Tischplatte ab.<br />

»Schön, wieder hier zu se<strong>in</strong>, was?«, eröffnete er das Gespräch. »Ist lange her. Zehn<br />

Jahre. Oder?«<br />

»So <strong>in</strong> etwa.«<br />

»Und jetzt willst du hier <strong>in</strong>vestieren? An was hast du dabei gedacht?«<br />

»Nicht ich, sondern me<strong>in</strong> Boss.«<br />

»Aha!«, machte Matthias, als wüsste er nun über alles Bescheid. »Du weißt schon,<br />

dass du damit <strong>die</strong> bestehende Infrastruktur kaputtmachst.«<br />

Volker lachte auf. Solche Argumente hörte er fast jedes Mal. »Muss es nicht. Wenn wir<br />

es geschickt anstellen, kriegt jeder e<strong>in</strong> Stück vom Kuchen ab.«<br />

»Was ist mit uns ansässigen Leuten? Werden <strong>die</strong> <strong>in</strong> eure Pläne mit e<strong>in</strong>gebunden?«<br />

»Es ist ja noch nichts entschieden. Me<strong>in</strong> Boss f<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Gegend hübsch und spielte mit<br />

dem Gedanken, sich hier etwas aufzubauen. Ob er se<strong>in</strong> Geld re<strong>in</strong>stecken wird, stellt sich<br />

noch heraus.«<br />

»Dann s<strong>in</strong>d wir Prov<strong>in</strong>zler also nicht gut genug für <strong>die</strong> Kohle der Hochf<strong>in</strong>anz.«<br />

Volker gab e<strong>in</strong> verächtliches Geräusch von sich. »Ich weiß nicht, <strong>in</strong> welche Workshops<br />

du so <strong>in</strong> der Regel gehst, um auf dem Laufenden zu bleiben, aber so funktioniert das<br />

nicht.«<br />

»Wie denn dann?«<br />

»Wir haben schon viele Projekte aus dem Boden gestampft«, begann Volker zu<br />

erzählen. »Ich könnte mir gut e<strong>in</strong>e Kurkl<strong>in</strong>ik <strong>in</strong> der Nähe vorstellen, oder e<strong>in</strong><br />

Wellnesshotel. Bis jetzt hat <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit den ansässigen Hotels und<br />

Gastronomen gut funktioniert. Es hat sich zum<strong>in</strong>dest noch niemand beschwert.«<br />

»Kommt auf <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen an.«<br />

E<strong>in</strong> kaltes Lächeln entkam Volker. »Wie gesagt, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Hühner noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

vorhanden, <strong>die</strong> <strong>die</strong> sprichwörtlichen Eier legen sollen, aus denen dann Ideen oder Projekte<br />

schlüpfen sollen. Lass mich doch erst mal <strong>die</strong> Gegend anschauen, ob sie überhaupt<br />

geeignet ist.«<br />

»Eigentlich solltest du schon jeden Ste<strong>in</strong> kennen. Wenn sie für dich nicht geeignet ist,<br />

welche dann? Kann es se<strong>in</strong>, dass sie schon vor zehn Jahren nicht geeignet für dich war?«<br />

Volker beugte sich leicht vor. »Erstens …«, begann er mit e<strong>in</strong>em scharfen Tonfall <strong>in</strong> der<br />

Stimme, »hat das überhaupt nichts damit zu tun. Zweitens geht es dich e<strong>in</strong>en feuchten<br />

Kehricht an, weswegen ich H<strong>in</strong>terburghausen den Rücken gekehrt habe. Und drittens<br />

kannst du kaum was dagegen unternehmen, sollte sich me<strong>in</strong> Boss entschließen, hier<br />

e<strong>in</strong>en Mega-Unterhaltungsklotz direkt neben de<strong>in</strong>er Gaststube h<strong>in</strong>zustellen.«<br />

»Wir werden uns nicht alles gefallen lassen. Solche Betonklötze verschandeln <strong>die</strong><br />

Gegend. Es haben sich schon e<strong>in</strong>ige zusammengeschlossen, um dagegen anzugehen.«<br />

»Um gegen was anzugehen?«<br />

»Gegen jemanden wie dich.«<br />

»Me<strong>in</strong>st du jetzt mich persönlich oder den Investor, der <strong>die</strong> Region <strong>in</strong> e<strong>in</strong> lukratives


Naherholungsgebiet verwandeln möchte?«<br />

»Beides.«<br />

»Was hast du gegen mich persönlich?«<br />

»Me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung zählt nicht.«<br />

»Vielleicht doch. Du sche<strong>in</strong>st der Rädelsführer der e<strong>in</strong>igen zu se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich<br />

zusammengeschlossen haben.«<br />

»Das hab ich nicht gesagt.«<br />

»Kommt mir aber so vor.« Volker ließ se<strong>in</strong>en Blick kurz durch den Raum schweifen.<br />

Joshua war noch immer nicht aufgetaucht. »Du setzt dich zu mir und konfrontierst mich<br />

gleich mit Vorwürfen. Ich weiß, dass dir der Brenner-Wirt viel bedeutet. Du hast ihn<br />

offensichtlich von de<strong>in</strong>em Vater übernommen. Ich habe auch nicht vor, irgendjemanden<br />

<strong>die</strong> Butter vom Brot zu nehmen. Bisher waren <strong>die</strong> Projekte, <strong>die</strong> ich geplant habe,<br />

Bereicherungen für <strong>die</strong> umliegenden Firmen und Gastronomie. Warte es doch erst e<strong>in</strong>mal<br />

ab.«<br />

»Man munkelt so e<strong>in</strong>iges über dich.«<br />

»Das geht mir am Arsch vorbei«, stieß Volker leicht säuerlich aus. »Ich mach hier nur<br />

me<strong>in</strong>en Job und wem das nicht passt, soll auf <strong>die</strong> andere Straßenseite gehen.«<br />

»Es soll da was vorgefallen se<strong>in</strong>, kurz bevor du verschwunden bist.«<br />

»Schnee von gestern.« Hitze überkam Volker. Er wünschte sich, <strong>die</strong> Kellner<strong>in</strong> hätte<br />

endlich se<strong>in</strong> Getränk serviert, damit er <strong>die</strong> Glut löschen konnte. Außerdem verspürte er<br />

nicht <strong>die</strong> ger<strong>in</strong>gste Lust, <strong>die</strong>ses uralte Thema mit jemandem zu diskutieren, der nicht<br />

e<strong>in</strong>mal daran beteiligt gewesen war. Er kannte <strong>die</strong> Namen von allen vieren noch ganz<br />

genau. Ihre Gesichter verfolgten ihn h<strong>in</strong> und wieder bis <strong>in</strong> den Schlaf.<br />

»Ist es deswegen?«, wollte Matthias wissen. »Bist du deswegen zurückgekommen, um<br />

dich zu rächen?«<br />

»Dann weißt du offensichtlich doch mehr von <strong>die</strong>sem Geschehen, als du zugibst.«<br />

Volker lehnte sich wieder zurück und wünschte sich <strong>in</strong>ständig, dass endlich <strong>die</strong> Kellner<strong>in</strong><br />

kam. Se<strong>in</strong>e Kehle brannte. Se<strong>in</strong>e Zunge fühlte sich taub an. Er war <strong>die</strong>ses Gespräch<br />

überdrüssig. Zehn Jahre lang hatte er es von sich abhalten können.<br />

»Man hört so e<strong>in</strong>iges. Was sagen eigentlich de<strong>in</strong>e Eltern? Hast du sie schon<br />

gesprochen?«<br />

Bewusst langsam und hörbar sog Volker se<strong>in</strong>e Lungen mit Atemluft voll. »Hör zu,<br />

Matthias!«, begann er, beugte sich wieder vor und entließ <strong>die</strong> e<strong>in</strong>gesogene Luft mit se<strong>in</strong>en<br />

weiteren Worten. »Ich tu hier nur me<strong>in</strong>en Job. Nichts weiter. Ich habe nicht vor,<br />

irgendjemanden niederzumachen oder mich wegen irgendetwas zu rächen. Ich b<strong>in</strong> im<br />

Auftrag der Gorzha<strong>in</strong> Investment hier und sonst nichts. In e<strong>in</strong> paar Tagen werde ich<br />

wieder auf Nimmerwiedersehen verschwunden se<strong>in</strong>. Tun wir e<strong>in</strong>fach so, als sei ich nicht<br />

hier geboren und schrauben wir unsere Bedenken und Gedanken zurück.«<br />

Endlich kam <strong>die</strong> Kellner<strong>in</strong> und platzierte den bestellten We<strong>in</strong> vor ihn. Volker griff<br />

danach und leerte das halbe Glas. Se<strong>in</strong>e Kehle brannte noch immer. Aber um den Durst zu<br />

löschen, den <strong>die</strong> Wut <strong>in</strong> ihm verursacht hatte, brauchte er mehr als das. Viel mehr.<br />

»Dann hast du also nicht vor, bei de<strong>in</strong>en Eltern re<strong>in</strong>zuschneien.«<br />

»Warum sollte ich?«<br />

»Weil sie de<strong>in</strong>e Eltern s<strong>in</strong>d?«<br />

Erneut sog Volker se<strong>in</strong>e Lungen voller Atemluft. Inzwischen kam ihm <strong>die</strong> Luft im


Inneren der Gaststube stickig und so schwer vor, dass se<strong>in</strong> ganzer Brustkorb protestierend<br />

pochte.<br />

»Immerh<strong>in</strong> hast du dich zehn Jahre nicht blicken lassen.«<br />

»Ich glaube kaum, dass dich das etwas angeht.«<br />

»Das nicht.« Matthias lehnte sich zurück. Se<strong>in</strong> Blick glitt zur E<strong>in</strong>gangstür, wo e<strong>in</strong><br />

ganzer Pulk an Leuten here<strong>in</strong>strömte. Es waren aber ke<strong>in</strong>e gewöhnlichen Gäste, sondern<br />

Anwohner, <strong>die</strong> sich sofort suchend umsahen und Volker und Matthias am Fenster sitzen<br />

sahen. Zwei oder drei Gesichter kamen Volker bekannt vor. Der Rest schien erst <strong>in</strong> den<br />

letzten zehn Jahren zugezogen zu se<strong>in</strong>. So synchron wie e<strong>in</strong> Fischschwarm setzte sich das<br />

Rudel <strong>in</strong> Bewegung und baute sich vor dem Tisch auf.<br />

»Ist er das?«, wollte offenbar der Sprecher wissen. Das Gesicht kam ihm unbekannt<br />

vor.<br />

»Leute!«, rief Volker, um sogleich jegliche Diskussion zu unterb<strong>in</strong>den. »Was soll das<br />

jetzt? Habt ihr <strong>die</strong> Inquisition gerufen?« Der Appetit drohte ihm zu vergehen, obwohl se<strong>in</strong><br />

Magen so laut knurrte wie noch nie.<br />

»Du hast vor, unser beschauliches H<strong>in</strong>terburghausen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Touristenhochburg zu<br />

verwandeln?« Der Mann, e<strong>in</strong> Endvierziger, mit dem er noch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges persönliches<br />

Wort gesprochen hatte, rückte so nahe an Volker heran, dass <strong>die</strong>ser unwillkürlich<br />

zurückwich. Zudem gefiel es ihm überhaupt nicht, gleich von e<strong>in</strong>er wildfremden Person<br />

geduzt zu werden. Volker hatte arg damit zu kämpfen, se<strong>in</strong>e überquellende Galle<br />

niederzuwürgen.<br />

»Kann ich bitte <strong>in</strong> Ruhe hier essen?«, erkundigte er sich krampfhaft beherrscht.<br />

»Das muss geklärt werden, bevor irgendwelche Unstimmigkeiten aufkommen«, blieb<br />

der Mann beharrlich. Se<strong>in</strong>e Augen glühten vor Zorn. Obwohl er stand und damit den<br />

sitzenden Volker weit überragte, stellte er sich auf <strong>die</strong> Zehenspitzen und reckte erhaben<br />

se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>n. »Wir lassen es nicht zu, dass irgende<strong>in</strong> st<strong>in</strong>kreicher Baulöwe hier alles<br />

zukleistert und uns <strong>die</strong> Touristen wegnimmt. Wir waren zuerst hier.« Se<strong>in</strong><br />

Begleitungskomitee nickte zustimmend.<br />

»Wovor habt ihr eigentlich Angst? Dass jemand e<strong>in</strong>e Idee hat, auf <strong>die</strong> ihr schon längst<br />

selbst hättet kommen können?« Volker blickte <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gesichter der aufgebrachten Meute.<br />

Er kam sich wirklich vor, als stünde er vor e<strong>in</strong>em Untersuchungsausschuss. Nur dass hier<br />

<strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ungen schon längst feststanden und er sagen und tun konnte, was er wollte, es<br />

würde nichts daran ändern. »Wie ich vorh<strong>in</strong> schon zu Matthias sagte: Wartet doch erst<br />

mal ab! Es ist noch nichts entschieden.«<br />

»H<strong>in</strong>terburghausen gehört uns«, spuckte ihm e<strong>in</strong> anderer, der Volker irgendwie<br />

bekannt vorkam, förmlich <strong>in</strong>s Gesicht. Ihm wollte dessen Name aber nicht e<strong>in</strong>fallen. »Du<br />

kannst de<strong>in</strong>en Vergnügungspark und de<strong>in</strong>e Cas<strong>in</strong>os und <strong>die</strong> Rotlichthäuser ruhig wieder<br />

abbestellen!«<br />

Volkers Augen wurden groß. »Wie bitte?« Er schob den Stuhl nach h<strong>in</strong>ten und stand<br />

auf, um auf gleicher Höhe mit dem Überfallkommando zu se<strong>in</strong>. »Ich weiß nicht, wer euch<br />

<strong>die</strong>sen Bären aufgebunden hat, aber wir haben nicht vor, hier e<strong>in</strong> zweites Daisy Town zu<br />

gründen.«<br />

»Wir wissen doch genau, was du hier willst«, stieß e<strong>in</strong> anderer hervor. »Aber dazu<br />

wird es nicht kommen.«<br />

»Was genau will ich denn?«, erwiderte Volker, nun auch etwas ärgerlicher, denn <strong>die</strong>


Wut wurde so stark <strong>in</strong> ihm, dass er sie kaum noch bändigen konnte. »Me<strong>in</strong>e Ruhe!«,<br />

donnerte er daher und fauchte wie e<strong>in</strong>e Wildkatze, <strong>die</strong> man <strong>in</strong> <strong>die</strong> Enge getrieben hatte.<br />

Tatsächlich war dem so. Die Meute hatte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Halbkreis um ihn herum aufgebaut<br />

und schnitt ihm so jeglichen Ausweg ab. Das Fenster lag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rücken. Er hätte vier<br />

oder fünf Männer zur Seite schubsen müssen, um nach draußen zu flüchten. »Also<br />

verzieht euch <strong>in</strong> eure guten Stuben und kommt erst wieder, wenn ihr Manieren gelernt<br />

habt.« Er musste sich hart zurücknehmen, um den Leuten nicht se<strong>in</strong>e Faust unter <strong>die</strong><br />

Nase zu halten. Daher krallte er sich am Tischtuch fest und hoffte, dass <strong>die</strong>s bald e<strong>in</strong><br />

Ende haben würde.<br />

»Dir sollte man Manieren beibr<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>fach so hier aufzutauchen, nach all dem, was<br />

vorgefallen war. Glaubst du wirklich, du kannst nach Jahren e<strong>in</strong>fach so here<strong>in</strong>platzen<br />

und uns alle vor den Kopf stoßen.«<br />

»B<strong>in</strong> ich im falschen Film?« Volker war nahe dran, <strong>die</strong> Fassung zu verlieren. Was zur<br />

Hölle war hier im Grundwasser, dass <strong>die</strong> Männer so austickten?<br />

»Ne<strong>in</strong>, am falschen Ort. Wir wollen dich hier nicht haben!«<br />

»Das habt ihr nicht zu entscheiden. Es ist e<strong>in</strong> freies Land. Kommt mal runter von<br />

eurem hohen Ross …«<br />

»Du hast uns nichts zu befehlen …«<br />

»Verschw<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>fach!«<br />

»Lass uns zufrieden!«<br />

»Wir wollen solche Leute wie dich nicht hier!«<br />

Volker wollte eben zu e<strong>in</strong>em lauten Brüller loslegen, um <strong>die</strong> Meute e<strong>in</strong> für alle Mal<br />

mundtot zu machen, da ertönte bereits e<strong>in</strong> Schrei von der Theke her.<br />

Joshua kam heran, schubste <strong>die</strong> Männer grob zur Seite. »Was soll das?«, keifte er mit<br />

vor Wut glühenden Augen, packte e<strong>in</strong>en der Männer und stieß ihn Richtung Ausgang.<br />

»Macht, dass ihr rauskommt. Das ist unser Gasthaus. Raus hier!«<br />

Es entstand Tumult. E<strong>in</strong>ige der Männer wollten sich nicht e<strong>in</strong>fach rauswerfen lassen.<br />

»Haltet eure Versammlung im Rathaus ab, aber nicht hier. Ihr stört <strong>die</strong> anderen<br />

Gäste«, hielt Joshua dagegen. »Raus hier! Oder ich rufe <strong>die</strong> Polizei.«<br />

Nur widerwillig gehorchten <strong>die</strong> aufgebrachten Männer. Kaum, dass sich der Letzte<br />

Richtung Ausgang gewandt hatte, wirbelte Joshua herum und fuhr Matthias wütend an.<br />

»Wie kannst du so was zulassen? Hast du sie nicht mehr alle? Diese verbohrten<br />

Arschlöcher machen uns das Geschäft kaputt, wenn sie ihr Tribunal hier abhalten.<br />

Warum hast du sie nicht daran geh<strong>in</strong>dert? Dafür gibt es das Rathaus. Konnten sie es<br />

nicht mehr erwarten?«<br />

Matthias stand auf und baute sich vor se<strong>in</strong>em jüngeren Bruder auf. »Gerade du musst<br />

reden!«<br />

»Ja, ich! Papa hat uns das Gasthaus zusammen vermacht, heißt, dass ich e<strong>in</strong><br />

Wörtchen mitzureden habe, das genauso groß und gewichtig ist wie de<strong>in</strong>es. Also was<br />

sollte das eben?«<br />

»Das betrifft auch dich. Immerh<strong>in</strong> hat Volker vor …«<br />

»Volker hat gar nichts vor!«, g<strong>in</strong>g <strong>die</strong>ser energisch dazwischen. »Außer <strong>in</strong> Ruhe etwas<br />

zu essen. S<strong>in</strong>d hier alle irre geworden?«<br />

Joshua kniff <strong>die</strong> Lippen zusammen, wandte sich zu den anderen Gästen im Raum um<br />

und warf ihnen e<strong>in</strong>en entschuldigenden Blick zu. An Matthias gewandt, schien er sich


wieder wesentlich beruhigt zu haben. »Es nützt niemanden, wenn man bissige Hunde auf<br />

Löwen loslässt. Reiß dich zusammen und denk an unser Geschäft.« Er fauchte zum<br />

Abschluss, wirbelte herum und stapfte zurück h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Theke, wo er durch e<strong>in</strong>e Tür <strong>in</strong><br />

der Küche verschwand.<br />

»Gibt es hier e<strong>in</strong>en Chemiekonzern, von dem ich noch nichts weiß?« Volker kratzte sich<br />

am H<strong>in</strong>terkopf.<br />

»Häh?« Matthias starrte ihn verwirrt an.<br />

»Irgendjemand muss giftige Substanzen <strong>in</strong> den See leiten, so wie ihr alle ausrastet.<br />

Das ist doch nicht mehr normal.«<br />

»Vielleicht bist du nicht normal.«<br />

»Wenn das hier normal ist, b<strong>in</strong> ich gern absonderlich.« Volker setzte sich mit e<strong>in</strong>em<br />

verächtlichen Laut, nahm das Glas <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand und leerte es auf e<strong>in</strong>en Zug. Der Appetit<br />

war ihm gründlich vergangen. Ihm wurde schon schlecht, wenn er nur an Essen dachte.<br />

Er hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, aber nicht mit solchen Turbulenzen. Es war schon<br />

fast e<strong>in</strong> Sturm, e<strong>in</strong> Meteoritenschauer. Sche<strong>in</strong>bar schienen alle über ihn Bescheid zu<br />

wissen, genau darüber <strong>in</strong> Kenntnis zu se<strong>in</strong>, weswegen er <strong>die</strong> Kle<strong>in</strong>stadt am Arsch der Welt<br />

verlassen hatte. Allerd<strong>in</strong>gs bezweifelte er, dass auch nur e<strong>in</strong>er <strong>die</strong> tatsächliche Wahrheit<br />

kannte.<br />

Die Kellner<strong>in</strong> kam heran und stellte das Essen auf den Tisch. Sie sprach ke<strong>in</strong> Wort,<br />

wünschte ihm weder e<strong>in</strong>en guten Appetit, noch wartete sie auf e<strong>in</strong> Danke. Volker zückte<br />

se<strong>in</strong>en Geldbeutel, warf e<strong>in</strong>en Geldsche<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bratensoße und verließ den Gastraum.<br />

Hier würde er ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Bissen herunterbekommen. Vielleicht sollte er auch se<strong>in</strong><br />

Gepäck holen und sich e<strong>in</strong>e andere Unterkunft suchen. Die Luft war ihm hier zu verpestet.<br />

Was ihm anfangs wie e<strong>in</strong>e gute Idee vorgekommen war, entpuppte sich nun als<br />

gigantischer Fehler. Er hätte niemals zurückkommen dürfen, erst recht nicht unter<br />

Joshuas Dach, wo ihn <strong>die</strong> Er<strong>in</strong>nerungen an se<strong>in</strong>e Gefühle noch mal so schwerwiegend<br />

trafen. Er setzte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Auto und fuhr e<strong>in</strong>fach los. Erst auf der anderen Seite des<br />

Sees, am Fuß des Gebirges hielt er auf e<strong>in</strong>em Parkplatz an. Tränen standen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Augen. Er wischte sie hektisch weg, doch sie drängten immer wieder hervor. Bis sie so<br />

rasch nachkamen, dass sie schon über se<strong>in</strong>e Wange kullerten. Schließlich beugte er sich<br />

vor, lehnte se<strong>in</strong>e Stirn an das Lenkrad und ließ ihnen freien Lauf.<br />

Scheiß Kaff. Scheiß Galaxie.


Texte: Ashan Delon<br />

Bildmaterialien: bonnyb Bendix<br />

Lektorat/Korrektorat: myself, Ingrid Kunantz und Team<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2016<br />

https://www.bookrix.de/-ms<strong>ashan</strong>t<strong>in</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!