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Hinz&Kunzt 296 Oktober 2017

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>296</strong><br />

Okt.17<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro<br />

für unsere Verkäufer<br />

Grenzerfahrungen<br />

Geflüchtete, Obdachlose, Künstler, Ossis und Wessis:<br />

Was Menschen erleben, die am Limit sind


Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Wandkalender 2018<br />

Mein Hamburg:<br />

Verkäufer zeigen ihre Stadt<br />

Zwölf Hinz&Künztler waren unter Anleitung unserer Fotografin<br />

Lena Maja Wöhler auf Fotosafari in Hamburg. Die besten Motive<br />

haben wir in einem DIN A4-Wandkalender verewigt.<br />

Ab jetzt beim Hinz&Künztler<br />

Ihres Vertrauens!*<br />

* 4,80 Euro (davon 2,40 Euro für unsere Verkäufer)


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

Grenzerfahrungen<br />

30 Jahre auf der Straße<br />

Demnächst zieht<br />

Dieter ins Seniorenheim.<br />

Der Gesundheit<br />

zuliebe. Was aus den<br />

anderen geworden ist,<br />

die wir in unserer<br />

Winterserie „Kalter<br />

Asphalt“ begleitet hatten,<br />

lesen Sie ab S. 28.<br />

Neben ihm unsere<br />

Fotografin Lena Maja<br />

Wöhler, die die<br />

Hinz&Künztler bei unserem<br />

Kalenderprojekt<br />

(S. 2) unterstützt hat.<br />

In unserem Magazin geht es um Grenzerfahrungen:<br />

Eine deutsche Familie und ein gläubiger syrischer<br />

Flüchtling leben unter einem Dach, ein Hamburger<br />

Sea-Watch-Aktivist erzählt, was er bei der Rettung<br />

von Menschen vor der libyschen Küste erlebt. Und<br />

ein Fotograf wandert durch Deutschland – von West<br />

nach Ost. Unser Titelmotiv hat der Flüchtling Hussein<br />

Ibrahim fotografiert. Für den 25-jährigen Libanesen<br />

drückt es seine Sehnsucht aus: „Frei sein wie<br />

ein Vogel“.<br />

Immer am Limit sind natürlich auch Obdachlose.<br />

Wie Dieter, Bonnie, Clyde und die anderen<br />

Hinz&Künztler, die wir durch den vergangenen<br />

Winter begleitet haben. Aber immerhin ist keiner<br />

von ihnen nachts überfallen oder angegriffen worden.<br />

Schon zum vierten Mal in diesem Jahr brannte<br />

ein Schlafplatz. Ob es jetzt wie in anderen Fällen ein<br />

Brandanschlag war, wird noch ermittelt. Besonders<br />

bitter: Manchmal sind es Obdachlose, die als Täter<br />

ins Visier der Mordkommission rücken. Mögliches<br />

Tatmotiv: Neid auf die Platte (S. 12). •<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

TITELBILD: HUSSEIN IBRAHIM<br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

06 Unter einem Dach: Ein Deutscher<br />

und ein Syrer erzählen<br />

10 Ein Sea-Watch-Aktivist berichtet<br />

12 Brandanschläge auf Obdachlose<br />

22 Zahlen des Monats: Ossis und Wessis<br />

40 Der Luther für Arme: Bugenhagen<br />

Unter einem Dach<br />

lebten Henning<br />

Sußebach und<br />

Flüchtling Amir<br />

Baitar zusammen –<br />

wie geht es<br />

ihnen jetzt? S. 6<br />

Fotoreportage<br />

14 Mit Dirk Gebhardt durch Deutschland<br />

Lebenslinien<br />

24 Oliver Polak polarisiert mit seinem Witz<br />

28 „Kalter Asphalt“: Was aus Dieter und<br />

den anderen Obdachlosen wurde<br />

30 Drahtseilakt: die Zirkusfamilie Frank<br />

Die Besser-Verdiener<br />

34 Wie der Webstuhl eines Hamburgers<br />

Existenzgründern in Äthiopien hilft<br />

Hinz&Künztler<br />

42 Verkäuferausflug nach Eekholt<br />

Freunde<br />

44 Julia Bauer macht smileshopping.de<br />

Erinnerung an Honecker<br />

im Museum S. 14<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

48 Graphic Novelist Nacha Vollenweider<br />

52 Tipps für <strong>Oktober</strong><br />

56 Comic mit Dodo Dronte<br />

58 Momentaufnahme<br />

Rubriken<br />

05, 09 Kolumnen<br />

38 Meldungen<br />

46 Leserbriefe<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Fußball<br />

Merci, Sami!<br />

Warum kauft ein Profifußballer 1200 Eintrittskarten<br />

für ein Spiel, in dem er selbst antritt?<br />

Für das WM-Qualifikationsspiel Deutschland –<br />

Norwegen Anfang September (6:0) in Stuttgart<br />

hat Sami Khedira genau das getan und die<br />

Karten an 15 karitative Einrichtungen verteilt,<br />

darunter das Kinderhospiz Stuttgart, AWO und<br />

SOS Kinderdörfer. So konnten viele Kinder,<br />

die sonst nie die Chance dazu gehabt hätten,<br />

ein Länderspiel live erleben. Autogramme und<br />

Selfies gab’s anschließend noch dazu. LEU<br />


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Santa Fu<br />

Knastkarriere<br />

verhindern<br />

Volkert Ruhe ist Mitbegründer des<br />

Vereins Gefangene helfen Jugendlichen.<br />

FOTOS: IMAGO/MIS (S. 4), KIM LÖFFKA/HARTWIG-HESSE-STIFTUNG (OBEN), HAMBURGER ABENDBLATT/<br />

KLAUS BODIG (UNTEN LINKS), LENA MAJA WÖHLER, KOLUMNE: WWW.GORDONWELTERS.COM<br />

Herzenswunsch<br />

Noch einmal in die Luft gehen<br />

Andreas Stadler (81) und seine Frau Irene (75) waren<br />

22 Jahre lang Hobbyflieger – bis zu seiner Parkinson-<br />

Erkrankung. Doch der Traum vom Fliegen blieb.<br />

Die Aktion „Herzenswünsche erfüllen“ der Hartwig-<br />

Hesse-Stiftung, die er regelmäßig besucht, ermöglichte<br />

dem Paar nun einen Rundflug über Hamburg. LEU<br />

•<br />

Hanseaten des Jahres<br />

Was ist hanseatisch? Bei der Preisverleihung<br />

zum „Hanseaten des<br />

Jahres“ hob die Jury bei Gewinner<br />

Reinhold Beckmann das soziale<br />

Engagement des TV-Moderators<br />

hervor, der mit seinem Verein Nest-<br />

Werk durch Sport- und Freizeitprogramme<br />

Jugendliche fördere.<br />

Preisträgerin Isabella Vértes-<br />

Schütter, Intendantin des Ernst<br />

Deutsch Theaters, hat das Kinderhospiz<br />

Sternenbrücke mit auf den<br />

Weg gebracht. LEU<br />

•<br />

Preisverdächtige Fotos<br />

Mit gleich zwei Fotoserien hat es<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotografin Lena Maja<br />

Wöhler auf die Shortlist des begehrten<br />

Felix Schoeller Photo<br />

Award <strong>2017</strong> geschafft. Ihre Serie<br />

„Brückenbewohner“ über ungewöhnliche<br />

Unterkünfte von<br />

Obdachlosen in Hamburg (oben)<br />

war in der Kategorie Porträt erfolgreich.<br />

Mit ihrer Reportage über<br />

eine Ziegelfabrik in Nepal platzierte<br />

sie sich in der Kategorie Foto-Journalismus.<br />

Wir gratulieren! LEU<br />

•<br />

Sie wollen Jugendliche von<br />

einer kriminellen Laufbahn<br />

abhalten und machen das so<br />

erfolgreich, dass Schulsenator<br />

Ties Rabe ihren Verein<br />

jetzt mit dem Deichmann-<br />

Förderpreis für Integration<br />

ausgezeichnet hat: ehemalige<br />

und noch inhaftierte Strafgefangene<br />

vom Verein Gefangene<br />

helfen Jugendlichen.<br />

Gegründet 1996. Drei Inhaftierte<br />

der Justizvollzugsanstalt<br />

Fuhlsbüttel wollten die<br />

Spirale von schwerer Kindheit,<br />

Drogen und Gewalt<br />

durchbrechen und andere<br />

vor kriminellen Karrieren<br />

bewahren.<br />

Aus der Idee ist ein umfangreiches<br />

Bildungs- und<br />

Präventivangebot erwachsen.<br />

Kernstück sind Knastbesuche.<br />

Mehr als 5000 Jugendliche<br />

waren über die Jahre dabei,<br />

erzählt Volkert Ruhe. Er<br />

selbst saß wegen Drogengeschäften<br />

jahrelang ein. Hinter<br />

Gittern gründeten einige Gefangene<br />

zusammen mit der<br />

Schul- und Justizbehörde den<br />

Verein. „Auf der einen Seite<br />

steht präventive Arbeit“, so<br />

Ruhe. „Auf der anderen Seite<br />

leisten wir Integrationsarbeit<br />

und freuen uns, dass sechs Ex-<br />

Gefangene durch Arbeit im<br />

Verein wieder in Lohn und<br />

Brot stehen.“ JOF<br />

•<br />

Mehr Informationen zum Verein<br />

unter: www.gefangene-helfenjugendlichen.de<br />

5


Unter einem Dach<br />

2015 nahmen Henning Sußebach und seine Familie einen syrischen Flüchtling auf,<br />

Amir Baitar. Sieben Monate lang lebten die fünf zusammen. Über ihre Erfahrungen<br />

schrieben Sußebach und Baitar 2016 ein Buch, manchmal verstörend,<br />

meistens anrührend und oft komisch. Wir wollten wissen, wie es ihnen heute geht.<br />

INTERVIEW: BIRGIT MÜLLER; FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK (2), MIKHAIL VOSKRESENSKY/SPUTNIK/DPA<br />

6


Stadtgespräch<br />

BAITAR (lacht): Weil Hamburg meine Perle<br />

ist (Er hamburgert schon!). Und weil ich<br />

gerne wie in Syrien Mathematik studieren<br />

wollte. Aber es war schwierig, in<br />

Hamburg ein Zimmer zu bekommen.<br />

Deshalb die Rundmail. Dann hat mir<br />

Anne (eine befreundete Flüchtlingshelferin aus<br />

Sachsen) geholfen – und kurz später<br />

erzählt, es gibt drei Familien, die mich<br />

nehmen wollen. Und nach ein paar<br />

Tagen noch eine Familie, die in Ahrensburg<br />

wohnt …<br />

SUSSEBACH: Das war dann wie ein Casting.<br />

BAITAR: Die Familie von Henning hat<br />

Kinder, das fand ich gut. In Syrien habe<br />

ich mit sechs oder sieben Personen gelebt.<br />

Wenn ich nur mit alten Menschen<br />

lebe, das Leben wird grau.<br />

SUSSEBACH (lacht): Wobei „alte Menschen“<br />

bei dir schon mit 26 Jahren anfangen.<br />

In Syrien lag das Durchschnittsalter vor<br />

dem Krieg bei 21 Jahren, in Deutschland<br />

sind es 44 Jahre.<br />

Wie war das denn das erste Mal?<br />

Mit den Kindern und der Familie?<br />

BAITAR: Die haben mich vom Bahnhof<br />

abgeholt, und dann sind wir durch<br />

Ahrensburg gelaufen. Als wir reingingen,<br />

hat mich Nicole den Kindern vorgestellt.<br />

Am Ende haben wir im Wohnzimmer<br />

gesessen, auf dem Sofa lagen<br />

kleine Herzen. Henning hat gesagt:<br />

„Schau mal, was da steht: A M I R.“<br />

Das war so schön. Das hat mein Herz<br />

geöffnet.<br />

Ein bisschen fühlt sich Henning Sußebach wie<br />

ein Vater, wenn es um Amir geht. Amir hatte in Syrien<br />

Mathematik und Informatik studiert. Der 25-Jährige<br />

kann jetzt sein Studium in Hamburg fortsetzen.<br />

Übrigens: Der Name Amir Baitar ist ein Pseudonym.<br />

Baitar will verhindern, dass seine Familie Probleme bekommt.<br />

Sie sind praktizierender Moslem.<br />

War das schwierig?<br />

BAITAR: Ich habe Anne gebeten, dass sie<br />

Henning erzählt, dass ich Moslem bin.<br />

Ich hatte Angst, dass es schwierig werden<br />

könnte. Da wollte ich auf Nummer<br />

sicher gehen. Da hat Henning gesagt,<br />

das ist ihm egal. Dann in der Situation<br />

war es doch schwierig.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Henning Sußebach,<br />

Sie hatten durch eine Rundmail erfahren,<br />

dass ein Flüchtling ein Zimmer sucht.<br />

Wie kam es, dass Sie, Ihre Frau und Ihre<br />

beiden Kinder Amir aufgenommen haben?<br />

SUSSEBACH: Bei meiner Arbeit als Journalist<br />

bei der Zeit hatte ich viel mit Flüchtlingen<br />

zu tun. Das Thema hat mich berührt,<br />

und es hat auch meine Familie<br />

sehr berührt. Vermutlich deshalb haben<br />

wir keine lange Familienkonferenz abgehalten,<br />

sondern recht schnell gesagt:<br />

Wir machen das jetzt mal. In jedem Fall<br />

war es ein gutes Gefühl – wie noch mal<br />

jung sein!<br />

Amir Baitar, Sie waren in Sachsen untergebracht.<br />

Warum wollten Sie nach Hamburg?<br />

7<br />

Sie haben fünf Mal am Tag gebetet.<br />

Damit hatten die Sußebachs wohl nicht<br />

gerechnet. Und Sie wohnten quasi mit<br />

Atheisten zusammen.<br />

BAITAR: Wenn ich mit Henning und der<br />

Familie zusammen war und gesagt habe:<br />

„Entschuldigung, es ist jetzt Zeit für<br />

mein Gebet“, das war schon komisch.<br />

Und vielleicht wäre es leichter gewesen,<br />

wenn sie Christen wären.


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

Amir Baitar kommt aus der Nähe von<br />

Deir ez-Zor im Osten Syriens.<br />

Seit 2011 ist die sechstgrößte Stadt<br />

des Landes hart umkämpft. Lange war<br />

sie in den Händen des IS. Anfang<br />

September durchbrachen Truppen<br />

Assads den Belagerungsring.<br />

„Ich hatte noch nie ein Glas getroffen,<br />

in dem Alkohol war, noch nie!“<br />

AMIR BAITAR<br />

SUSSEBACH: Bei uns hat kein Religionskrieg<br />

stattgefunden. Aber was wohl beide<br />

Seiten irritierte: Wir sind in Freiheit<br />

aufgewachsen – und du, Amir, kamst<br />

aus einer Welt, in der alles reglementiert<br />

ist. Durch einen Diktator, durch<br />

dörfliche Hierarchien und Traditionen<br />

und auch dadurch, dass du es gewohnt<br />

warst, den Koran wortwörtlich auszulegen.<br />

Bis hin zur Schöpfungsgeschichte!<br />

Mir kannst du dagegen vorwerfen, dass<br />

wir verglichen damit quasi regellos sind:<br />

Wir diskutieren alles. Wir fragen die<br />

Kinder „Ist es nicht langsam Zeit, ins<br />

Bett zu gehen?“, anstatt sie einfach ins<br />

Bett zu schicken. Das war das, was<br />

wahnsinnig weit auseinanderlag. Und<br />

du musstest den weiteren Weg gehen,<br />

weil du ja jetzt hier klarkommen willst.<br />

BAITAR: Ich habe versucht, die Familie<br />

nicht zu enttäuschen. Ich wollte mich<br />

von meiner besten Seite zeigen. Das hat<br />

mir Schwierigkeiten gemacht. Im Laufe<br />

der Zeit habe ich mich daran gewöhnt,<br />

dass die Familie offen ist.<br />

Zu offen?<br />

BAITAR: Nicht zu offen …<br />

SUSSEBACH: Als du zu uns kamst, warst du<br />

verschüchtert, weil alles anders war.<br />

Aber da war ja noch ein Problem: Du<br />

hattest zehn Kilo mehr drauf als jetzt –<br />

und als vor deiner Flucht. Wegen der<br />

Zeit im Flüchtlingsheim in Sachsen.<br />

Nur rumsitzen, Tee trinken, warten und<br />

nichts tun – und ich habe das Gefühl,<br />

nicht nur wir waren dir fremd, sondern<br />

du dir selbst auch. Du hast dich nicht<br />

sehr gemocht. Das war eine heikle<br />

Phase.<br />

BAITAR: Aber das weiß ich erst jetzt, weil<br />

jetzt ist der echte Amir wieder da.<br />

Manchmal war es schwierig:<br />

Sie wollten nicht mehr aus den Gläsern<br />

der Familie trinken, weil sie gesehen<br />

8<br />

hatten, dass Henning Sußebach aus einem<br />

davon ein Bier getrunken hat.<br />

BAITAR: Und dann habe ich ihn gefragt,<br />

ob in allen Gläsern schon mal Alkohol<br />

war, und da hat Henning gesagt: keine<br />

Ahnung. In Syrien gibt es wenige Leute,<br />

die Alkohol trinken. Ich habe auf der<br />

Straße nie einen Mann getroffen, der<br />

besoffen war. Und ich hatte vorher<br />

noch nie ein Glas getroffen, in dem Alkohol<br />

gewesen war, noch nie.<br />

Im Koran steht nicht, dass wir daraus<br />

nicht trinken dürfen. Aber die Gelehrten<br />

sagten: Das ist nicht rein. Dann<br />

habe ich gedacht, ich trinke nicht mehr<br />

aus diesen Gläsern. Aber es war auch<br />

unhöflich. Zum Glück hatte ich diesen<br />

Becher von der Sparkasse, aus dem habe<br />

ich dann immer getrunken.<br />

SUSSEBACH: Es wäre leicht gewesen, wenn<br />

es nur unhöflich gewesen wäre. Dann<br />

hätte ich sagen können: dein Fehler.<br />

Vielleicht ist es aber auch unserer. Das


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Drei Fragen von<br />

Amir Baitar*<br />

finde ich bis heute im Umgang mit<br />

Flüchtlingen ganz schwer: Die Grenze<br />

zu sehen, wo bin ich Verteidiger universeller<br />

Werte – mach dich nicht zum Untertan<br />

einer Religion – und wo bin ich<br />

nur überheblich oder gefangen in eigenen<br />

Gewohnheiten? Aber auch: Wann<br />

rate ich dir, dich selbst bedauernswerten<br />

deutschen Bräuchen anzupassen, weil es<br />

für dich in diesem Land sonst problematisch<br />

wird? Oder anders: Sollte ich mir<br />

jetzt sechs Biertulpen kaufen – oder<br />

musst du dich daran gewöhnen, dass<br />

man in Deutschland ein Pils auch mal<br />

aus einem Standard-Glas trinkt? Diese<br />

Fragen haben mich und meine Frau bewegt,<br />

das war anstrengend. Und auf<br />

vieles habe ich bis heute keine Antwort.<br />

Und dann küssen sich Henning Sußebach<br />

und seine Frau Nicole auch noch …<br />

BAITAR unangenehm berührt: Das war eine<br />

andere Geschichte. Aber mit den Gläsern:<br />

Das ist mir inzwischen völlig egal.<br />

Wo ist das Problem, wenn in einem<br />

Glas Alkohol war und es wird danach<br />

gespült? Das ist doch Quatsch.<br />

Ich glaube, bis heute verstehen Sie nicht die<br />

Arbeitsteilung in der Familie Sußebach …<br />

BAITAR: Henning kommt spät nach Hause<br />

und kocht trotzdem … ich meine das<br />

nicht böse, Nicole ist wie eine große<br />

Schwester für mich.<br />

SUSSEBACH: Ich würde niemals sagen, dass<br />

meine Frau weniger arbeitet als ich. Im<br />

Gegenteil! Aber du nimmst vermeintliche<br />

Frauenarbeit nur wahr, wenn ein<br />

Mann sie macht. Wenn ich gekocht habe<br />

und Nicole gleichzeitig auf dem Sofa<br />

Wäsche zusammengefaltet hat, ist dir<br />

nur aufgefallen, dass ich koche.<br />

Amir musste und muss ja hier viel lernen,<br />

um klarzukommen. Gab es auch etwas,<br />

was Sie oder Ihre Familie gelernt haben?<br />

SUSSEBACH: Uns wurde bewusst, was für<br />

ein Glück es ist, jetzt hier in Deutschland<br />

zu leben. Gleichberechtigung, Demokratie,<br />

Meinungsfreiheit – das alles<br />

war für uns vorher selbstverständlich.<br />

Und bezogen auf die Kinder: Sie sind<br />

für die Zukunft gewappnet, sie haben<br />

keine Angst vor Fremden. Denn die<br />

Zukunft wird voller Fremder sein. Und<br />

meine Kinder wissen jetzt: Man muss<br />

nicht nur zuschauen, man kann auch<br />

mitmachen.<br />

Und haben Sie das Gefühl,<br />

hier angekommen zu sein?<br />

BAITAR: Ich lerne jeden Tag die Welt neu<br />

kennen. Das heißt – noch bin ich nicht<br />

angekommen.<br />

SUSSEBACH: Vielleicht war es ein Fehler,<br />

dass du schon ausgezogen bist in eine<br />

kleine Ein-Mann-Wohnung. In der<br />

besten aller Welten wärst du von uns in<br />

eine WG gezogen. Man kann auch einsam<br />

sein, in deiner Bude.<br />

Am liebsten wären Sie ja in eine WG mit<br />

jungen Deutschen gezogen. Auch mit Frauen?<br />

BAITAR: Egal, Hauptsache mit Deutschen.<br />

Aber das hat nicht geklappt.<br />

SUSSEBACH: Zu dem Zeitpunkt, als du ausziehen<br />

wolltest, waren die Deutschen<br />

des Themas müde geworden. Keiner<br />

hat mehr gesagt: „Spitze, komm rein!“<br />

Haben Sie eigentlich inzwischen<br />

deutsche Freunde?<br />

BAITAR LACHT: Ja, einen: Georch (er spricht<br />

das typisch hamburgisch aus).<br />

Oh, ein Hamburger?<br />

BAITAR: Ja, aber seine Mutter kommt aus<br />

Chile.<br />

Sehen Sie beide sich eigentlich noch oft?<br />

SUSSEBACH: Es wird seltener. Das stimmt<br />

mich ein bisschen beklommen, aber<br />

auch glücklich, weil es der Beleg dafür<br />

ist, dass Amir uns nicht mehr braucht.<br />

Ich fühle mich ein bisschen wie ein<br />

Vater: Der Sohn, der als Letzter zu uns<br />

gekommen ist, geht als Erster. Jetzt<br />

kann ich schon mal üben, wie es bei<br />

meinen eigenen Kindern mal sein wird.<br />

BAITAR: Was heißt: „Er braucht uns nicht<br />

mehr.“ Ich brauch euch für immer! •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Unter einem Dach: Ein Syrer und ein<br />

Deutscher erzählen, von Amir Baitar und<br />

Henning Sußebach, Rowohlt, 19,95 Euro<br />

Lesung: 1. November, 20 Uhr, W3,<br />

Nernstweg 32, Eintritt: 7/5 Euro<br />

Amir Baitar: Deutschland hat<br />

doch ein soziales System.<br />

Die Deutschen helfen armen<br />

Leuten, zum Beispiel Flüchtlingen,<br />

obwohl sie keine<br />

Deutschen sind. Warum gehen die<br />

Obdach losen nicht zum Amt?<br />

Sie bekommen doch eine Wohnung<br />

und Arbeit. Wir Flüchtlinge<br />

müssen doch auch nicht auf der<br />

Straße schlafen.<br />

HINZ&KUNZT: Für die Obdachlosen<br />

gibt es eben nicht genügend<br />

Unterkünfte. Das ist ja<br />

das große Problem, warum<br />

manche Obdachlose auch eifersüchtig<br />

auf die Flüchtlinge<br />

sind. Aber die Situation hat<br />

nichts mit den Flüchtlingen<br />

zu tun. Das war schon so,<br />

bevor die Flüchtlinge kamen.<br />

Bitter ist allerdings: Als die<br />

Flüchtlinge kamen und untergebracht<br />

wurden, haben<br />

die Obdachlosen gesehen:<br />

Es geht doch – aber nicht für<br />

uns.<br />

Aber warum gibt es nicht<br />

genügend Unterkünfte?<br />

Weil schlichtweg der politische<br />

Wille fehlt. Eine andere<br />

Erklärung haben wir und die<br />

gesamte Wohnungslosenhilfe<br />

nicht.<br />

Aber AfD und andere nutzen<br />

das doch aus …<br />

Das stimmt einerseits. Aber<br />

der AfD geht es nur um deutsche<br />

Obdachlose. Inzwischen<br />

leben aber nicht nur Deutsche<br />

auf der Straße, sondern<br />

seit der EU-Osterweiterung<br />

auch gestrandete Menschen<br />

aus Polen, Bulgarien und<br />

Rumänien.<br />

•<br />

*Amir Baitar ist ein syrischer<br />

Flüchtling. Der 25-Jährige stellte<br />

die Fragen an Hinz&<strong>Kunzt</strong>-<br />

Chefredakteurin Birgit Müller,<br />

die ihn und Henning Sußebach<br />

zu ihrem gemeinsamen Buch<br />

„Unter einem Dach“ interviewt<br />

hatte.<br />

9


Sea-Watch wurde 2015 gegründet und ist mit zwei Schiffen im Einsatz<br />

im Mittelmeer. Nach eigenen Angaben haben die rund 150 Aktiven im<br />

1. Halbjahr dieses Jahres 5274 Menschen aus Seenot gerettet. Nicolas<br />

Zemke (unten rechts) ist seit anderthalb Jahren dabei.<br />

10


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

„Am härtesten war<br />

der Schlafentzug“<br />

Nicolas Zemke von Sea-Watch über seine Einsätze als<br />

Flüchtlingsretter und die jüngsten Entwicklungen auf dem Mittelmeer.<br />

INTERVIEW: ULRICH JONAS; FOTOS: SEA-WATCH.ORG (5), MAURICIO BUSTAMANTE (1)<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Nicolas, du warst zweimal<br />

als Seenotretter auf dem Mittelmeer unterwegs,<br />

zuletzt im Juni. Gab es eine Situation,<br />

in der du Angst um dein Leben hattest?<br />

ZEMKE: Ja. Einmal sind wir libyschem Militär<br />

begegnet. Das sind Leute mit großen<br />

Waffen, die in der Regel schlecht<br />

ausgebildet sind; da ist es wichtig, ruhig<br />

und respektvoll zu bleiben. Unser Schiff<br />

war mit 500 Menschen so überladen,<br />

dass wir eine Rettungsinsel zu Wasser<br />

gelassen hatten, auf der ich und ein<br />

„Mit jeder Meile<br />

mehr wird es<br />

gefährlicher für die<br />

Menschen.“<br />

weiterer Aktivist mit einer Gruppe<br />

Flüchtlinge saßen. Das ist ein ekliger<br />

Moment, weil du nicht weißt, was passieren<br />

wird – es wurden ja auch schon<br />

Seenotretter beschossen. Weil die italienischen<br />

Behörden über Funk bestätigt<br />

haben, dass wir mit ihrer Erlaubnis vor<br />

Ort sind, haben die Libyer uns dann in<br />

Ruhe gelassen – nicht ohne die Bemerkung,<br />

dass wir uns so nahe an der Küste<br />

nicht wieder blicken lassen sollen.<br />

Gab es Momente, in denen du geglaubt<br />

hast: Ich halte das nicht mehr aus?<br />

Das geschieht nicht so schnell. Du<br />

kommst aus der Situation nicht raus, du<br />

musst funktionieren. Am härtesten war<br />

der Schlafentzug. Einmal waren wir als<br />

Crew deutlich länger als 24 Stunden<br />

am Stück wach. Da wird es gefährlich,<br />

weil die Konzentration nachlässt. Wenn<br />

dann noch viele Menschen an Bord<br />

sind, dürfen die Nautiker keinen Fehler<br />

machen, weil das Boot kentern könnte.<br />

Hast du Tote gesehen?<br />

Ja, bei der Juni-Mission sind wir auf<br />

zwei Wasserleichen gestoßen. Und in<br />

einem der vielen Boote, von denen wir<br />

Menschen retten konnten, lagen auch<br />

einige Verstorbene.<br />

Was hilft in solchen Situationen?<br />

Die Tatsache, dass Hunderte auf dem<br />

Schiff sind, die wir retten konnten.<br />

Wie entwickelt sich die Situation<br />

auf dem Mittelmeer?<br />

Die Zusammenarbeit mit den italienischen<br />

Behörden ist deutlich schlechter<br />

geworden. Und die sizilianische Staatsanwaltschaft<br />

macht Stimmung gegen<br />

Seenotretter.<br />

Euch wird vorgeworfen, dass ihr die<br />

Geschäfte von Menschenhändlern befördert<br />

oder gar mit ihnen zusammenarbeitet.<br />

Wir kooperieren nicht mit denen, wir<br />

halten die auch für Verbrecher. Wir<br />

bieten nur eine Antwort darauf, dass es<br />

keine legalen Fluchtwege nach Europa<br />

gibt. Sobald Europa solche Fluchtwege<br />

eröffnet, wird den Menschenhändlern<br />

das Wasser abgegraben.<br />

Die libysche Küstenwache hat ihre Hoheitszone<br />

kürzlich massiv ausgedehnt und internationalen<br />

Seenotrettern, die dort aktiv sind,<br />

Gewalt angedroht. Was sind die Folgen?<br />

Das ist noch unklar. Rechtlich betrachtet<br />

kann eine Search-and-Rescue-Zone<br />

nicht einseitig ausgeweitet werden,<br />

sondern nur in Absprache mit anderen<br />

Staaten. Wir halten die Maßnahme für<br />

illegal.<br />

11<br />

Die Kollegen von „Sea-Eye“ haben nach<br />

kurzer Pause beschlossen, wieder Einsätze<br />

im Mittelmeer zu fahren, allerdings nun<br />

70 bis 90 Seemeilen vor der libyschen Küste.<br />

Auch andere Organisationen wollen mehr<br />

Abstand halten als zuvor. Was bedeutet das?<br />

Deutlich mehr Tote. Wir sind bei unseren<br />

Einsätzen schon auf Boote gestoßen,<br />

die zwölf Seemeilen vor der Küste am<br />

Sinken waren. Und da die Boote massiv<br />

überladen sind, wird es mit jeder Meile<br />

mehr gefährlicher für die Menschen.<br />

Mitte dieses Monats soll euer neues Schiff<br />

„Sea-Watch 3“ von Malta aus Richtung<br />

libysche Küste starten. Werdet ihr dieselben<br />

Routen fahren wie in der Vergangenheit?<br />

Bislang ist das der Plan.<br />

Ihr geht ein großes Risiko ein bei euren<br />

Einsätzen. Warum machst du das?<br />

Ich fände es falsch, es nicht zu machen.<br />

Europa versagt politisch. Und ich kann<br />

dieses Versagen persönlich ein wenig<br />

mindern. •<br />

Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Soli-Party am 2. <strong>Oktober</strong>, 23.45 Uhr<br />

im Hafenklang, Große Elbstraße 84<br />

Mehr Infos über Sea-Watch unter<br />

www.sea-watch.org<br />

Nicolas Zemke, 26, Software- und Web-<br />

Entwickler, arbeitet seit eineinhalb Jahren<br />

für Sea-Watch. Zuletzt war er fest angestellt.<br />

Seit diesem Monat entwickelt er<br />

mithilfe von Fördergeldern des Deutschen<br />

Zentrums für Luft- und Raumfahrt eine<br />

App, mit deren Hilfe Seenotretter Informationen<br />

austauschen und so schneller<br />

und mehr Menschen retten können.


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

Brandanschläge<br />

auf Obdachlose<br />

Angezündet: Nicht nur ihre Schlafsäcke<br />

verbrannten. Krzysztof (rechts) erlitt<br />

Verbrennungen im Gesicht, Slawomir an der<br />

Hüfte. Wenig später starb Slawomir.<br />

Allerdings nicht an den Folgen des Brandes.<br />

Immer wieder gehen Schlafsäcke von Obdachlosen in Flammen auf. In zwei Fällen sollen<br />

auch die Brandstifter obdachlos sein und aus Neid um einen Schlafplatz gehandelt haben.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: JONAS FÜLLNER<br />

Es ist schon wieder<br />

passiert. Am frühen<br />

Morgen des 19.<br />

September wacht<br />

am Steintorplatz in St. Georg<br />

ein 30-jähriger Obdachloser<br />

davon auf, dass sein<br />

Hab und Gut in Flammen<br />

steht. Zum Glück kann er<br />

das Feuer löschen und verletzt<br />

sich dabei nur leicht an<br />

der Hand. Die Polizei vermutet,<br />

dass jemand das Feuer<br />

gelegt hat: „versuchtes<br />

Tötungsdelikt“. Deshalb ermittelt<br />

die Mordkommission.<br />

Schon zum vierten Mal nach<br />

einem solchen Vorfall in diesem<br />

Jahr. Im Januar wurde eine<br />

Obdachlose am Kreuzweg<br />

davon wach, dass Männer an<br />

ihrem Schlafsack zündelten.<br />

Sie entkamen unerkannt.<br />

Wenige Tage später ging in<br />

einem Parkhaus an den Landungsbrücken<br />

die Platte der<br />

Obdachlosen Krzysztof und<br />

Slawomir (siehe Foto) in<br />

Flammen auf. Sie erlitten gefährliche<br />

Verbrennungen und<br />

entkamen dem Feuertod nur<br />

knapp.<br />

Zuletzt hatte im April der<br />

Schlafsack eines Obdachlosen<br />

in der Ernst-Merck-<br />

Straße gebrannt. Glücklicherweise<br />

bemerkte ein Passant<br />

das Feuer und weckte<br />

den Obdachlosen. Gemeinsam<br />

löschten sie laut Polizeibericht<br />

die Flammen. Wenig<br />

später nahm die Polizei im<br />

niedersächsischen Salzgitter<br />

einen Tatverdächtigen fest.<br />

Damit zerschlugen sich vorerst<br />

Befürchtungen, es sei ein<br />

Brandstifter in Hamburg unterwegs,<br />

der gezielt Obdachlose<br />

anzündet: Der 32-jährige<br />

mutmaßliche Brandstifter<br />

ist laut Staatsanwaltschaft<br />

selbst obdachlos. Die Männer<br />

hätten sich zuvor um einen<br />

Schlafplatz gestritten.<br />

Im August erhob sie Anklage<br />

wegen versuchten Mordes.<br />

Urteil: sechs Jahre Haft<br />

Der Brandanschlag auf<br />

Krzysztof und Slawomir an<br />

den Landungsbrücken hat<br />

das Landgericht inzwischen<br />

14 Verhandlungstage lang<br />

beschäftigt. Im September<br />

12


Stadtgespräch<br />

Kommentar<br />

Obdachlosigkeit ist<br />

brandgefährlich<br />

VON BIRGIT MÜLLER<br />

„Das Urteil<br />

hat uns sehr<br />

enttäuscht.“<br />

RECHTSANWÄLTIN ALEXANDRA ELEK<br />

fiel das Urteil gegen den<br />

30-jährigen Obdachlosen Dorian:<br />

sechs Jahre Haft wegen<br />

versuchten Mordes und gefährlicher<br />

Körperverletzung<br />

in zwei Fällen. Er soll auch,<br />

davon sind die Richter überzeugt,<br />

nach einem Streit um<br />

den Schlafplatz den Schlafsack<br />

von Slawomir angezündet<br />

haben. Der Vorsitzende<br />

Richter Stephan Sommer<br />

sprach von einem „Premium-<br />

Schlafplatz“, um den er seine<br />

beiden Bekannten beneidet<br />

habe. Schließlich sei die Platte<br />

in dem Parkhaus verhältnismäßig<br />

geschützt gewesen.<br />

Allerdings gibt es keine<br />

stichhaltigen Beweise dafür,<br />

dass Dorian das Feuer gelegt<br />

hat. Das räumte auch der Vorsitzende<br />

in seiner mündlichen<br />

Urteilsbegründung ein. Aber:<br />

„Unter dem Strich ist klar geworden,<br />

dass es nur der Angeklagte<br />

gewesen sein kann.“<br />

Der Urteilsspruch fußt<br />

auf Indizien: Dorian war in<br />

der Tatnacht von gleich mehreren<br />

Videokameras in Tatortnähe<br />

gefilmt worden – und<br />

zwar „zeitlich minutiös exakt<br />

in dem Moment“, so Sommer,<br />

in dem der Brandstifter dort<br />

entlanggegangen sein musste.<br />

Dorian selbst bestreitet,<br />

das Feuer gelegt zu haben.<br />

Seine Anwältin Alexandra<br />

Elek kritisiert das Gericht<br />

scharf: „Das Urteil hat uns<br />

sehr enttäuscht, die Entscheidung<br />

ist nicht rechtsstaatlich“,<br />

sagt sie. Vor allem, weil ein<br />

Zeuge ihren Mandanten entlastet<br />

hatte. Er hatte den<br />

Brandstifter weglaufen sehen<br />

und vor Gericht ausgesagt,<br />

dass es nicht Dorian war.<br />

Das Motiv, der Neid auf<br />

den Schlafplatz, sei zudem<br />

„komplett erfunden“, sagt Alexandra<br />

Elek. Sie hat vor dem<br />

Bundesgerichtshof Revision<br />

gegen das Urteil eingelegt.<br />

Bis dieser sich des Falles angenommen<br />

hat, bleibt Dorian<br />

in Haft. •<br />

Kontakt:<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Wir haben es in diesem Jahr schon vier Mal<br />

erlebt: ein Feuer auf einer Obdachlosenplatte.<br />

Nur durch Glück ist bislang niemand gestorben.<br />

Aber Menschen wurden verletzt. Das ist<br />

eine neue Dimension der Gewalt auf der Straße.<br />

Es macht noch deutlicher: Obdachlose sind<br />

jeden Tag in Lebensgefahr.<br />

Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht<br />

nehmen das sehr ernst. Ein mutmaßlicher Täter<br />

ist zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren<br />

verurteilt worden. In zwei Fällen sollen die Täter<br />

selbst Obdachlose sein. Vermutetes Motiv:<br />

Neid auf einen besseren, trockeneren Schlafplatz.<br />

Das ist schockierend, denn es bedeutet:<br />

Obdachlose werden zu Opfern, weil sie keinen<br />

sicheren Schlafplatz haben. Und Obdachlose<br />

werden zu Tätern, weil sie keinen sicheren<br />

Schlafplatz haben.<br />

Es erscheint logisch, dass die Zahl der<br />

Straftaten steigt. Derzeit leben geschätzt 2000<br />

Menschen in Hamburg auf der Straße. Viele<br />

von ihnen seit Jahren. Sie verelenden immer<br />

mehr. Die Behörde schafft es ebenfalls seit Jahren<br />

nicht, den Menschen ein Obdach zu bieten.<br />

Und das, obwohl derzeit 150 Wohncontainer<br />

eingelagert und weitere 300 Containerplätze<br />

wegen rückläufiger Flüchtlingszahlen frei sind.<br />

Stattdessen sollen Obdachlose ins Notasyl<br />

Pik As gehen. Was keine Dauerlösung ist – und<br />

auch nur für Obdachlose mit einem sogenannten<br />

Rechtsanspruch gilt. Seit der EU-Osterweiterung<br />

stranden aber auch viele Polen,<br />

Rumänen und Bulgaren auf der Straße. Und<br />

die haben nichts – nicht mal die Hoffnung auf<br />

einen Schlafplatz. •<br />

Ihr Makler<br />

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Quer durch<br />

Deutschland<br />

Was hält unser Land zusammen? Wie lebt es sich im Osten,<br />

wie im Westen? Der Fotograf Dirk Gebhardt ist einmal<br />

quer durch Deutschland gewandert, um das zu erkunden.<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FOTOS: DIRK GEBHARDT


Deutscher Wald<br />

wie im Märchen:<br />

Der alte Wagenpfad<br />

bei Kempers höhe im<br />

Oberbergischen.


Dirk Gebhardt nimmt gern<br />

das Fahrrad. Er ist auch<br />

gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

unterwegs,<br />

und er geht sehr gern zu Fuß, auch längere<br />

Strecken bewältigt er so. Neulich<br />

wurden es 860 Kilometer. Vom westlichsten<br />

Punkt Deutschlands zum östlichsten<br />

Punkt Deutschlands.<br />

Er hat kein Auto, er besitzt ganz<br />

bewusst keinen Führerschein. Dabei<br />

war er schon mal dabei, einen zu machen.<br />

Da war er ein junger Mann, die<br />

obligatorische Übungsfahrt auf der<br />

Autobahn stand an.<br />

„Ich saß in einem VW Golf, der<br />

hatte 85 PS unter der Motorhaube, also<br />

85 Pferdestärken, und ich stellte mir<br />

vor, wie bei uns im Garten 85 Pferde<br />

aufgereiht stehen würden, nur um mich<br />

zu transportieren. Und ich dachte: Das<br />

ist doch bar jeder wirtschaftlichen<br />

Effizienz, das kann doch nicht vernünftig<br />

sein“, erzählt er. Also schaltete<br />

er den Motor des Wagens damals aus,<br />

öffnete die Fahrertür.<br />

Er hat das durchgehalten, das Leben<br />

ohne Auto, es sei nicht weiter<br />

schwierig. Er kann das beurteilen, denn<br />

Dieter Kamps (oben) kämpfte früher in Südafrika<br />

gegen Rassismus. Heute lebt er in der Spiritaner-<br />

Klostergemeinschaft Knechtsteden bei Dormagen.<br />

er war für seine Fotoreportagen schon<br />

weit in der Welt unterwegs: auf Kuba<br />

und in Indien; im Iran, im Libanon<br />

oder in Ruanda. Für den Stern, für den<br />

Spiegel, für das Time Magazine oder<br />

16


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Fotoreportage<br />

für die Hilfsorganisation Unicef. „Wenn<br />

du langsam reist, ist das nicht nur entspannter,<br />

du weißt auch immer genau,<br />

wo du bist“, sagt er, der auch als Professor<br />

für Fotografie an der Fachhochschule<br />

Dortmund arbeitet.<br />

Zuletzt ging es einmal quer durch<br />

Deutschland, eine Wanderung in elf<br />

Etappen, zusammen mit seinem Radiokollegen<br />

Jörg-Christian Schillmöller,<br />

„Wenn du<br />

langsam reist,<br />

weißt du genau,<br />

wo du bist.“<br />

mit dem er schon einige Projekte gestemmt<br />

hat. „Wir haben uns eines Tages<br />

gefragt, warum wir uns in fernen<br />

Gegenden recht gut auskennen, aber so<br />

wenig über unser eigenes Land wissen“,<br />

erinnert er sich.<br />

Als das 25-jährige Jubiläum der<br />

Wiedervereinigung vor der Tür stand,<br />

ging es im Herbst 2014 von der niederländisch-deutschen<br />

Grenze bei Isenbruch<br />

erst mal nach Erkelenz, in das<br />

dortige Braunkohleabbaugebiet. Bei<br />

Zons wurde der Rhein per Fähre überquert,<br />

das Bergische Land wurde durchwandert,<br />

das Sauerland durchquert, der<br />

dortige Kahle Asten bestiegen. Über<br />

Kassel ging es durch den Kyffhäuser,<br />

durch die Oberlausitz, bis zum Städtchen<br />

Görlitz und zur Neißeaue, wo die<br />

deutsch-polnische Grenze im November<br />

2015 erreicht war. „Die Richtung<br />

West nach Ost erschien uns passend,<br />

weil ja die Wiedervereinigung vom<br />

Westen dominiert und in den Osten getragen<br />

wurde und nicht umgekehrt.“<br />

Entstanden ist daraus eine Hörfunkserie<br />

und vor allem ein Fotoband mit<br />

eben dem Titel „Quer durch – Deutschland<br />

von West nach Ost“.<br />

Einmal hält Frau Rosi König neben<br />

den Wanderern auf freier Strecke und<br />

nimmt sie 25 Kilometer weit mit. Frau<br />

König, Fahrerin des örtlichen Linienbusses,<br />

die schon als Jugendliche davon<br />

träumte, Busfahrerin zu werden. Die an<br />

der Endhaltestelle in Schmallenberg<br />

zwei Stunden Ruhezeit einlegen muss<br />

und die beiden auf einen Kaffee einlädt.<br />

Schon erfuhren sie mehr über das<br />

Hochsauerland, wo es in den Vorgärten<br />

so adrett aussieht, wo man ein repräsentables<br />

Auto fährt – und oft genug<br />

beim Amt aufstocken muss, weil das<br />

Gehalt vorne und hinten nicht reicht.<br />

Schunkeln und<br />

Singen vereint:<br />

Beim Prinzenfrühschoppen<br />

in<br />

Heggen bei Olpe<br />

finden Rote und<br />

Blaue Funken<br />

zusammen.<br />

Menschen wie Frau König wollten<br />

Gebhardt und Schillmöller treffen, um<br />

zu erfahren, wie man in unterschiedlichen<br />

Regionen Deutschlands jeweils<br />

ganz normal lebt, und keine Politiker<br />

befragen und keine Fachleute interviewen,<br />

die immer schon alles wissen. Mit<br />

ehrenamtlichen Bürgermeistern wollten<br />

sie reden, sich mit Kleingärtnern<br />

über den Gartenzaun hinweg austauschen;<br />

in irgendeiner Grillstube am<br />

Wegesrand einkehren, die örtliche Freiwillige<br />

Feuerwehr aufsuchen und ihr<br />

zuschauen, wie sie Schläuche abrollt<br />

und Schläuche wieder aufrollt. Einmal


Mediziner Michael<br />

Waltenberg beklagt<br />

den Ärztemangel im<br />

Hochsauerland.<br />

Zwei Studenten<br />

der Uni Kassel<br />

haben sich<br />

aus Recycling-<br />

Materialien<br />

einen Wohnwagen<br />

gebaut.<br />

sitzen sie am Vormittag ab 11.11 Uhr<br />

mit den Männern und Frauen des<br />

Karne valsvereins im sauerländischen<br />

Heegen zusammen, also mit den Blauen<br />

und Roten Funken. Die anfangs an<br />

getrennten Tischen sitzen, bis der Alkohol,<br />

die Musik und vor allem das Singen<br />

sie langsam zusammenführen und<br />

Die meisten<br />

Leute sind stolz<br />

auf das, was sie<br />

erreicht haben.<br />

dann nicht mehr loslassen, bis es draußen<br />

längst dunkel ist.<br />

So treffen sie Menschen, die ihnen<br />

für die Nacht ein Gästezimmer zur Verfügung<br />

stellen, ihre Couch im Wohnzimmer,<br />

ihren Wohnwagen, eine Jagdhütte.<br />

Man muss sie nur danach fragen.<br />

Und einmal kommen sie im Anbau<br />

einer Sporthalle für eine Nacht bei syri-


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Fotoreportage<br />

schen Flüchtlingen unter; sieben Männer,<br />

die davon träumen, dass sie ihre<br />

Familien nachholen können und später<br />

mit ihnen zurückwollen, wenn nur der<br />

Krieg in ihrem Land zu Ende ist.<br />

„Wir haben kein<br />

Land der<br />

Egomanen und<br />

Egoisten erlebt.“<br />

„Das Gute ist: Wenn dir jemand hilft,<br />

besorgt der meist nicht nur einen<br />

Schlafplatz, sondern organisiert auch<br />

ein Abendessen, ein Frühstück, kümmert<br />

sich um dich, was ein größeres<br />

Vertrauen schafft. Und wenn wir dann<br />

zusammensaßen, haben die Leute frei<br />

von der Leber weg gesprochen“, sagt<br />

Dirk Gebhardt. Nicht zuletzt, weil die<br />

Leute doch meistens sehr stolz auf das<br />

sind, was sie erreicht haben, was sie sich<br />

geschaffen haben an kleinem und größerem<br />

Wohlstand. Weil sie in der Regel<br />

gerne dort leben, wo sie leben – eine<br />

erste, grundlegende Erkenntnis, die beide<br />

im Laufe ihrer Reise gewannen.<br />

Eine andere Erkenntnis: die Karnevalsvereine,<br />

die Schützenvereine, die<br />

Gesangsvereine, die Jagdvereine, die<br />

der Großstädter schnell von oben herab<br />

belächelt, sie halten unser Land zusammen.<br />

„Das Gemeinwohl ist sehr ausgeprägt.<br />

Die meisten Gruppen, die wir getroffen<br />

haben, waren sehr interessiert,<br />

ihr Umfeld positiv zu gestalten“, sagt<br />

Gebhardt. Und ob man das zum eigenen<br />

Vorteil mache oder um die Welt zu<br />

verbessern, sei doch relativ egal. Er<br />

sagt: „Wir haben kein Land der Egomanen<br />

und Egoisten erlebt. Sondern<br />

eines, wo die Menschen einander sehr<br />

zugewandt sind.“<br />

Gibt es nun die großen Unterschiede<br />

zwischen West und Ost, so viele Jahre<br />

1982 starb<br />

Baggerfahrer<br />

Karl-Heinz<br />

Große am<br />

Todesstreifen<br />

in Thüringen.<br />

Seine Arbeitskollegen<br />

(rechts) wurden<br />

damals<br />

bei der<br />

Beerdigung<br />

von der Stasi<br />

registriert.<br />

später? „Als wir damals losgewandert<br />

sind, gab es gerade eine große Debatte,<br />

dass der Osten unseres Landes mehr<br />

rechts und mehr gegen Flüchtlinge eingestellt<br />

sei als der Westen – wir haben<br />

das nicht feststellen können.“<br />

Was in den neuen Bundesländern<br />

auffällig war: In vielen ländlichen Regionen<br />

fehlen die Frauen. „Wir sind in der<br />

Gegend um den Kyffhäuser über die<br />

19<br />

ehemalige innerdeutsche Grenze gestolpert<br />

und hörten gleich von einer Bezirksbürgermeisterin<br />

folgende Aufzählung:<br />

Keine Frauen – bald weniger Kinder –<br />

also müssen Kitas und Schulen geschlossen<br />

werden.“<br />

Und quasi auf der anderen Seite<br />

fehle das Pflegepersonal, weil die Region<br />

überaltert sei und es meistens die Frauen<br />

seien, die in der Pflege arbeiten. „So


Im Grenzmuseum<br />

Schifflersgrund in<br />

Nordhessen (oben)<br />

sind 200 Meter<br />

Todesstreifen zu sehen.<br />

Im thüringischen<br />

Berka (links) wird<br />

das Kreissängerfest<br />

gefeiert. Und in<br />

Sachsen leitet Manfred<br />

Engelmann (unten)<br />

noch immer eine LPG.<br />

haben wir einen Landstrich kennengelernt,<br />

der wenig überlebensfähig<br />

scheint“, sagt Gebhardt.<br />

Und dann wieder laufe es gut in<br />

den neuen Bundesländern und sei auch<br />

schwierig in den alten – vieles sei<br />

gleichzeitig da, und „Gleichzeitigkeit“<br />

wurde ein Stichwort, das ihnen während<br />

ihrer Wanderung immer wieder<br />

einfiel: „Du kommst ins nordhessische<br />

Korbach, da gibt es einen Stadtkantor,<br />

angestellt bei der evangelischen Kirche,<br />

der offen homosexuell lebt. Und gleichzeitig<br />

gibt es in derselben Stadt ein<br />

Kriegerdenkmal, gebaut nach dem<br />

Deutsch-Französischen Krieg, wo sich<br />

zu Hitlers Geburtstag rechte Kameradschaften<br />

treffen und gegen die Demokratie<br />

wettern.“<br />

Bergiger sei die Landschaft nach<br />

und nach im Laufe ihrer Wanderung<br />

geworden, auch grüner. Aber menschlich<br />

gesehen habe sich erstaunlich wenig<br />

verändert. Was sich generell etwa<br />

alle 50 Kilometer ändere, seien die<br />

Bezugsräume, die Menschen nun mal<br />

bräuchten, um sich heimisch zu fühlen.<br />

„Du kommst nach Nordhessen und die<br />

Leute sagen: ,Nee, wir sind keine Nordhessen,<br />

wir sind hier Waldecker‘“, sagt<br />

Gebhardt. „100 Kilometer weiter<br />

kommt Thüringen und die Leute sagen:<br />

20


Fotoreportage<br />

,Was, wir sollen Thüringer sein? Nee, wir sind hier<br />

Eichsfelder.‘“<br />

Was ihre Reise auch durchzog, war das Thema<br />

Armut: „Das fing damit an, dass noch weit im Westen<br />

im Kloster Knechtstedten bei Dormagen der Pater uns<br />

Was ihre Reise<br />

auch durchzog, war<br />

das Thema Armut.<br />

erzählte, dass seine 90-jährige Schwester von Altersarmut<br />

betroffen sei“, erzählt Gebhardt. Und es endete<br />

mit dem Besuch in der Bahnhofsmission in Görlitz, der<br />

östlichsten Stadt Deutschlands. Wo sich die treffen, die<br />

zu den Verlierern unserer Gegenwart gehören. Wo sie<br />

im Jahr mit ihrer Suppenküche 4000 Essen austeilen.<br />

Wo Renate Tietz Teamleiterin ist, ein typisches DDR-<br />

Arbeiterkind, das studieren durfte, am Sorbischen Institut<br />

für Lehrerbildung, die immer erfolgreich berufstätig<br />

war, kein Problem, dass sie fünf Kinder hatte. Bis sie<br />

nach der Trennung von ihrem Mann mit dem Trinken<br />

anfing, glücklicherweise wieder aufhörte und die nicht<br />

vergessen hat, wie schnell man abstürzen kann und wie<br />

schwer es dann ist, wieder auf die Füße zu kommen.<br />

Die Bahnhofsmission von Görlitz erzählt überhaupt<br />

auf ganz eigene Weise von der Geschichte unseres<br />

Landes: Sie ist die erste Mission, die nach der Wiedervereinigung<br />

in Ostdeutschland eröffnet wurde. Genauer:<br />

wiedereröffnet. Denn es gab zu Beginn der DDR<br />

durchaus Bahnhofsmissionen. Die aber bald geschlossen<br />

wurden: Im Staatssozialismus gab es offiziell ja keine<br />

Armut. •<br />

Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de<br />

Dirk Gebhardt<br />

Jahrgang 1969. Er arbeitet als freier<br />

Fotograf für diverse renommierte<br />

Magazine. Seit 2011 ist er Professor<br />

für Bildjournalismus und dokumentarische<br />

Fotografie an der FH Dortmund.<br />

www.dirkgebhardt.com<br />

Das Buch: „Quer durch – Deutschland<br />

von West nach Ost“, Nimbus Verlag, 29,80 Euro.<br />

Über die Reise berichtet auch der Deutschlandfunk unter<br />

www.huklink.de/12maldeutschland mit Texten, weiteren<br />

Fotos und kurzen Videointerviews.<br />

21


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Zahlen des Monats<br />

Die unsichtbare Grenze:<br />

Ostdeutsche<br />

verdienen weniger<br />

6392 Euro<br />

haben Ostdeutsche vergangenes Jahr im Schnitt weniger verdient als<br />

Arbeitnehmer in den West-Bundesländern – und das, obwohl sie<br />

durchschnittlich 74 Stunden mehr arbeiteten. Das besagen Daten der<br />

Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Demnach betrug<br />

der Brutto-Jahreslohn im Osten im Schnitt 27.784 Euro gegenüber<br />

34.176 Euro im Westen. Bei den Jahres-Arbeitsstunden lagen<br />

die Werte bei 1360 (Ostdeutschland) und 1286 (Westdeutschland).<br />

Hamburger verdienten im Bundesländer-Vergleich mit Abstand am meisten:<br />

39.678 Euro betrug hier der Brutto-Durchschnittslohn. Am wenigsten bekamen<br />

Arbeitnehmer in Mecklenburg-Vorpommern mit durchschnittlich<br />

26.692 Euro – das ist fast ein Drittel weniger. Schleswig-Holstein bildet mit<br />

29.422 Euro das Schlusslicht der West-Bundesländer, liegt aber noch vor<br />

Ost-Spitzenreiter Brandenburg, wo der Durchschnittslohn 28.118 Euro betrug.<br />

Zwar stiegen die Löhne nach der Wiedervereinigung im Osten zunächst<br />

deutlich. Doch wird die Lohnlücke seit Anfang der 2000er-Jahre<br />

nicht mehr kleiner. Ursachen dafür sind laut Wissenschaftlern die<br />

im Vergleich geringere Produktivität ostdeutscher Betriebe und der Umstand,<br />

dass Tarifverträge weniger verbreitet sind als im Westen. •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos im Internet unter www.huklink.de/tarifloehne<br />

23


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

Der Meister<br />

aller Krassen<br />

Oliver Polak macht Witze über Hitler, Behinderte und sich selbst.<br />

Der jüdische Stand-up-Comedian verschont niemanden. Eine Annäherung.<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTOS: GERALD VON FORIS (RECHTS),<br />

WDR/SEO ENTERTAINMENT GMBH<br />

Wie erklärt man jemandem,<br />

der noch nie von<br />

Oliver Polak gehört hat,<br />

wer Oliver Polak ist?<br />

Man könnte es so versuchen: einer der<br />

furchtlosesten Künstler Deutschlands.<br />

Ein 41-Jähriger, der sein Leben für die<br />

Kunst ausschlachtet. Rücksichtslos ist.<br />

Vor allem gegen sich selbst. Polak<br />

macht sich komplett nackig – nicht nur<br />

auf Tourplakaten, auch seelisch.<br />

Polak ist Stand-up-Comedian, wobei<br />

es diese Spezies seiner Meinung<br />

nach in Deutschland gar nicht gibt, er<br />

orientiert sich da eher an amerikanischen<br />

Vorbildern: Comedians wie Godfrey,<br />

Dave Attell, Nick Griffin – kennt<br />

hier kaum jemand, egal. Leute, die sich<br />

trauen, über Grenzen zu gehen. Polak<br />

will es mit seinem Humor auch wissen.<br />

Deshalb geht er dorthin, wo es weh tut.<br />

Er will die Menschen aus ihrer Komfortzone<br />

reißen. Bis einer lacht.<br />

Sein erstes Programm hieß „Jud<br />

süß-sauer“. Er, der Jude, riss Witze über<br />

Beschneidungen und schleppte Schäferhunde<br />

aus Pappe mit auf die Bühne,<br />

um deren Hals Davidsterne baumelten.<br />

Vor ihm hatte es noch keiner gewagt,<br />

Witze über das deutsch-jüdische Verhältnis<br />

zu machen. Das Publikum reagierte<br />

verunsichert. „Darüber macht<br />

man nun wirklich keine Witze!“, riefen<br />

sie. Nicht wenige zuckten, wenn Polak<br />

sie mit „Meine Damen, meine Herren,<br />

liebe Herrenrasse“ begrüßte. Später<br />

schrieb er das Buch „Ich bin Jude, ich<br />

darf das“. Er erzählt darin von seinem<br />

Aufwachsen als Sohn der einzigen, jüdischen<br />

Familie im emsländischen Papenburg.<br />

Von seinem Vater, der sieben Jahre<br />

in KZs überlebt hat, von den vielen anderen,<br />

die es nicht überlebten, von der<br />

Grundtraurigkeit in seinem Zuhause,<br />

von der feindlichen Umgebung draußen,<br />

die ihm ständig spiegelte: Du<br />

gehörst nicht dazu.<br />

Als er sich einmal eine Glatze rasierte<br />

und mit Doc Martens nach Hause ins<br />

Wohnzimmer gestiefelt kam, sagte sein<br />

Vater: „Oh Gott, der Junge sieht aus<br />

wie ein Skinhead!“ Seine Mutter hingegen<br />

sagte: „Oh Gott! Der Junge sieht<br />

aus wie ein KZ-Häftling!“<br />

„Das Goofy-mäßige, den Slapstick<br />

habe ich eher so von meinem Vater und<br />

das Harte, Scharfe habe ich von meiner<br />

Mutter“, sagt Oliver Polak. Er sitzt auf<br />

der Terrasse des Hotel Lindner in seiner<br />

Oliver-Polak-Uniform: Jogginghose,<br />

Sweater mit Markenprint, schwarze, dicke<br />

Brille. Heute würde er das Buch<br />

nicht mehr schreiben, sagt er. „Ich würde<br />

die Geschichten für einen Stand-up<br />

nutzen. Man kann über alles sprechen,<br />

das weiß ich jetzt.“ Bald geht er mit<br />

einem neuen Programm auf Tour.<br />

Sein erstes Programm spielte er<br />

mehr als 150-mal: Immer volles Risiko,<br />

immer alles zeigen, alle herausfordern.<br />

Irgendwann nannten ihn Kritiker „Berufsjude“.<br />

Er hasste es. Er hasste, dass<br />

Zuschauer ihn als Alibi benutzten, lautstark<br />

über den Holocaust lachen zu<br />

dürfen, er hasste es, dass andere ihn für<br />

„Das Harte, Scharfe habe ich<br />

von meiner Mutter.“<br />

OLIVER POLAK<br />

seine Witze hassten. Polak ging für acht<br />

Wochen in die Psychoklinik, Diagnose:<br />

Depression. Er schluckte Psychopharmaka<br />

und nahm dadurch 30 Kilo zu,<br />

fühlte nichts mehr und schrieb doch<br />

alles auf: Best Of Versagensängste<br />

(„Der jüdische Patient“). Ein Witzbold<br />

kommentierte auf Amazon: „Ein super<br />

Buch für den Strandurlaub!“<br />

Man könnte jemandem, der Oliver<br />

Polak nicht kennt, auch so erklären, wer<br />

das ist: einer der am meisten missverstandenen<br />

Männer Deutschlands. Er<br />

provoziere nur, sagen seine Kritiker.<br />

Einmal spielte er Hitler in einem Video<br />

der Rapper K.I.Z.: „Widerliche Effekthascherei“,<br />

ätzte „Die Welt“. Er nutze<br />

in seiner Sendung „Applaus und Raus!“<br />

24


Auffällige Type, nicht nur<br />

klamottentechnisch:<br />

der 41-jährige Stand-up-<br />

Comedian Oliver Polak.


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

In der Sendung „Das Lachen der Anderen“ treffen Polak und Autor Micky Beisenherz<br />

auch Kleinwüchsige. Die Idee: Jede Randgruppe hat das Recht darauf, verarscht zu werden.<br />

einmal den Hashtag „GastoderSpast:<br />

Menschenverachtend“, sagten zwei<br />

Grimme-Preis-Juroren und distanzierten<br />

sich öffentlich von dem Preisträger.<br />

Polak versteht es bis heute nicht: „Wenn<br />

ich ,Digger‘ und ,Alter‘ sage, dann will<br />

ich damit ja auch nicht dicke und alte<br />

Menschen diskreditieren“, sagt er und<br />

zieht an seiner Zigarette.<br />

Wenn man jemandem erklären will,<br />

wer Oliver Polak ist, könnte man es<br />

auch damit versuchen: Er ist ein<br />

Mensch, der sich für andere interessiert.<br />

Nur langweilen dürfen sie nicht. Dann<br />

würde man ein paar Folgen von „Das<br />

Lachen der Anderen“ auf WDR gucken.<br />

Darin besucht Polak mit seinem<br />

Freund, dem Comedy-Autor Micky<br />

Beisenherz, Menschen, die auch irgendwie<br />

anders sind: Kleinwüchsige, Blinde,<br />

Öko-Hippies, Multiple-Sklerose-Kranke.<br />

Drei Tage lang hängen sie zusammen<br />

ab. Polak hört viel zu, er stellt Fragen,<br />

die viele Journalisten zu naiv<br />

fänden, aber es sind oft genau die Fragen,<br />

die sich sonst keiner zu stellen<br />

traut. Einen Kleinwüchsigen fragt er,<br />

wie der das mit dem Sex so hinkriegt,<br />

welche Stellungen denn da am vorteilhaftesten<br />

wären? Am Ende jeder Folge<br />

macht Polak einen Stand-up. Vor den<br />

MS-Kranken sagt er: „Wenn am Ende<br />

keiner lacht, dann kann ich es immer<br />

noch auf das Erschöpfungssyndrom<br />

schieben!“ Die Betroffenen lachen sich<br />

„Man kann<br />

über<br />

alles Witze<br />

machen.“<br />

OLIVER POLAK<br />

schlapp. Er nimmt diese Menschen<br />

ernst, deshalb macht er Witze über sie.<br />

Das leuchtet vielen nicht ein.<br />

Man könnte Oliver Polak auch so<br />

zu erklären versuchen: Er ist einer der<br />

warmherzigsten Männer Deutschlands.<br />

Dazu muss man nur einen seiner Texte<br />

über Musik lesen. Polak schreibt über<br />

Musik besser als die meisten, die das<br />

26<br />

hauptberuflich tun. Es ist zum Haarausreißen!<br />

Die Musik hat ihm den<br />

Arsch gerettet, damals in Papenburg. Er<br />

war elf Jahre alt, als er Udo Jürgens das<br />

erste Mal live sah. Seine Mutter hatte<br />

ihn herausgeputzt: weiße Hose, weißer<br />

Gürtel, weißes Lacoste-Poloshirt,<br />

schwarze Lackschuhe: Jürgens begann<br />

zu singen, und Polak verliebte sich. Es<br />

gab da draußen doch jemanden, der<br />

ihn verstand. Als er von Jürgens’ Tod<br />

erfuhr, heulte er auf offener Straße, als<br />

wäre ein Familienmitglied gestorben.<br />

Später kamen drei Norweger, die<br />

ihre Gitarren so spielten, als würden sie<br />

in der Sekunde sterben, in der sie sie<br />

wieder loslassen: Motorpsycho heißt die<br />

Band. „Und immer wieder dieser Bass.<br />

Laut, tief, angezerrt, treibend, begleitend.<br />

Der Bass, der mich seit Jahren<br />

durch mein Leben treibt, schubst, mir<br />

hilft beim Wiederaufrichten“, hat er in<br />

der „Welt“ über sie geschrieben. Aber<br />

Polak liebt auch Phil Collins, auf völlig<br />

unironische Weise. Einen Konzertbericht<br />

für die „SZ“ überschreibt er mit:<br />

„Wo er singt, da ist zu Hause“. Ein halbes<br />

Jahr habe er auf diesen Abend<br />

gewartet: „Collins ist an diesem Abend


Lebenslinien<br />

Hingabe, Güte, Liebe, Wärme, das pure Leben.“<br />

Schreibt so jemand, der Menschen verachtet?<br />

Man könnte jemandem, der Oliver Polak nicht<br />

kennt, Oliver Polak auch so erklären: Er hat einen<br />

Hund. Wie jeder Hundemensch liebt er seinen Hund<br />

über alles. Er postet Hunderte von Fotos von ihm in<br />

den sozialen Netzwerken. Er lässt ihn im Bett schlafen.<br />

Arthur ist ein schwarzer, knopfäugiger Terrier-Mischling,<br />

elf Jahre, „schon ein alter Herr“, sagt Polak.<br />

„Der Hund gibt<br />

mir ein bisschen<br />

mehr Struktur.“<br />

OLIVER POLAK<br />

Eigentlich gehörte er seiner Ex-Freundin, aber seit<br />

acht Monaten gehört er zu Polak und Polak zu ihm.<br />

„Der ist wie so ein … na ja, Pflaster ist jetzt übertrieben,<br />

der gibt einem auch ein bisschen mehr Struktur.<br />

Er hat nur ein Problem mit mir: Weil ich selber so<br />

leicht hypochondrisch bin, muss er auch drunter leiden.<br />

Immer, wenn etwas Kleines ist, renne ich sofort<br />

zum Tierarzt, und der Hund denkt bestimmt: ,Oh<br />

nein, nicht schon wieder ein Thermometer in den<br />

Arsch gesteckt bekommen.‘“ Was Hunde halt so denken,<br />

deren Menschen sich um sie sorgen.<br />

Man könnte jemandem, der Oliver Polak nicht<br />

kennt, auch einfach sagen: Guck’ halt sein neues Programm<br />

an! Es heißt „Über alles“, und er kommt jetzt<br />

damit auf Tour. Nach Jugend und Kindheit, Einsamkeit<br />

und Depression ist jetzt einfach alles das Thema.<br />

„Die Leute sagen ja immer, man braucht ein Thema<br />

für eine Show. Ich bin ja das Thema“, sagt Polak. Er<br />

wird über Hass, Pädophilie, Antisemitismus, Behinderte,<br />

Deutschland, die AfD und Sodomie reden – Themen<br />

eben, bei denen Mario Barth die Bierflasche aus der<br />

Hand kippen und er sich unter dem Rockzipfel seiner<br />

Freundin verstecken würde. „Ich mache nur Witze“,<br />

sagt Polak. Man könne über alles Witze machen, sagt<br />

er noch, „im besten Falle sind sie lustig“. Dann lächelt<br />

er, der Meister aller Krassen.<br />

Und mehr muss man über Oliver Polak jetzt auch<br />

nicht erklären. •<br />

Mieterhöhungsmigräne?<br />

Unser Rat zählt.<br />

Beim Strohhause 20<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

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ökologische Energietechnik<br />

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Mitglied<br />

werden<br />

20079 Hamburg<br />

Für mehr soziale Wärme<br />

und eine klimaschonende<br />

Strom- und Wärmeversorgung.<br />

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Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />

Über alles, Stand-up-Comedy mit Oliver Polak,<br />

Sa., 21.10., 19 Uhr, Uebel&Gefährlich, Feldstraße 66,<br />

Eintritt: 20,50 Euro.<br />

Mehr Infos: www.oliverpolak.de<br />

27


Zum Glück haben<br />

sich die beiden:<br />

Bonnie und Clyde<br />

machen noch<br />

immer Platte.<br />

An Grenzen stoßen –<br />

und weiterleben<br />

Für viele Hinz&Künztler war der vergangene Winter eine Belastungsprobe.<br />

In unserer Reihe „Kalter Asphalt“ haben wir einige von ihnen begleitet – durch Höhen<br />

und durch Tiefen, die sie an die Grenzen ihrer Kräfte brachten. Wie haben diese<br />

Erfahrungen ihr Leben verändert, was wurde aus ihnen?<br />

TEXTE: ANNABEL TRAUTWEIN, JONAS FÜLLNER<br />

FOTOS: LENA MAJA WÖHLER<br />

Schmerzhafte Verluste bringen<br />

Bonnie und Clyde an ihr Limit<br />

Bonnie und Clyde schlafen nach wie<br />

vor auf ihrer Platte im Eingang von<br />

Peek&Cloppenburg in der Mönckebergstraße<br />

– „unser Zuhause“, wie sie<br />

es nennen. Dass es anstrengend und<br />

manchmal gefährlich ist auf dem kalten<br />

Asphalt, finden die beiden kaum nennenswert.<br />

Viel wichtiger ist für Bonnie<br />

und Clyde: Sie sind wieder allein. Ohne<br />

Hund. Ohne Schützling, um den sie<br />

sich kümmern können, der ihnen eine<br />

Aufgabe gibt, Halt und auch ein bisschen<br />

Stolz. Was das bedeutet, zeigte<br />

sich im vergangenen Winter. Erst ein<br />

unfassbares Glück. Sie bekamen den<br />

Mischling Jack geschenkt – dann stand<br />

die Polizei vor der Tür. Der Hund hatte<br />

der Schenkerin gar nicht gehört. Das<br />

brachte Bonnie und Clyde an die Grenze<br />

des Erträg lichen. Schweren Herzens<br />

gaben sie „ihren“ Hund zurück. Gut,<br />

dass sie sich haben! Dann nahmen sie<br />

wieder einen Hund auf, den Welpen<br />

Wolfi, waren wieder glücklich zu dritt –<br />

28<br />

bis nach fünf Wochen neuer Ärger aufkam.<br />

Wütend erzählen sie: Eine Tierärztin<br />

habe Wolfi beschlagnahmt.<br />

„Aber wir können es nicht beweisen“,<br />

räumt Bonnie ein. Die Tierärztin bestreitet<br />

das.<br />

Inzwischen wirken die beiden resigniert.<br />

„Was bringt mir das Kämpfen?<br />

Ich will das lieber komplett vergessen“,<br />

sagt die sonst so zähe Bonnie. Immer<br />

wieder Trennungsschmerz, das ist selbst<br />

für sie zu viel. „Wir überlegen, ob wir<br />

uns überhaupt noch mal einen Hund


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lebenslinien<br />

anschaffen“, meint Clyde. Stattdessen<br />

wollen die beiden sich nun um einen<br />

Wohncontainer für Paare bemühen,<br />

kündigt Bonnie an. „Und wenn das<br />

nicht klappt, gehen wir wieder ins<br />

Winternotprogramm.“<br />

Dieter krempelt sein Leben<br />

um – notgedrungen<br />

30 Jahre lang hatte Dieter auf der Straße<br />

gelebt, ganz auf sich gestellt – „unabhängig“,<br />

wie er es nannte. Bis er im<br />

<strong>Oktober</strong> 2016 bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> auf seinem<br />

Hocker sitzen blieb und sich nicht<br />

mehr auf seine Platte traute. „Ich kann<br />

nicht mehr“, sagte er ganz zögerlich.<br />

„Ich hab das Gefühl, dass mir was<br />

zustößt.“ Und er hatte recht: Für Dieter<br />

ging es um Leben und Tod. Sein Herz<br />

machte nicht mehr mit. Hätte er weiter<br />

auf der Straße übernachtet, wäre er<br />

wohl gestorben. Aber wo sollte er hin?<br />

„Es ist irre, was sich bei mir alles<br />

verändert hat“, sagt der 65-Jährige heute.<br />

Sein großes Glück: Er fand eine<br />

Bleibe, lebt nun in einer Kirchenkate in<br />

Volksdorf, zum Glück zusammen mit<br />

Hinz&Künztler Herbert. Der war für<br />

ihn da, als es neulich wieder bergab<br />

ging. Dieter stürzte, brach sich das Bein<br />

und musste ins Krankenhaus. Herbert<br />

besuchte ihn, kümmerte sich um seine<br />

Wäsche, kaufte für ihn ein. Jetzt ist Dieter<br />

wieder zu Hause, mit Rollstuhl.<br />

Wenn er in die Stadt muss, zum Arzt<br />

oder zum Einkaufen, ist sein Mitbewohner<br />

zur Stelle. „Ich bin froh, dass<br />

ich den Herbert habe, der mir hilft“,<br />

sagt Dieter.<br />

Es geht langsam wieder voran. „Ich<br />

habe keine Schmerzen, das ist schon<br />

mal gut“, sagt Dieter. Doch alles alleine<br />

machen und so unabhängig sein wie<br />

früher auf der Straße – das ist nicht<br />

mehr drin. Auch wird er nicht dauerhaft<br />

in der Kirchenkate bleiben können.<br />

Doch es gibt Neuigkeiten: Dieter<br />

hat einen Platz im Seniorenheim in<br />

Aussicht. Er hofft auf ein Zimmer mit<br />

Küche und Bad. „Das wäre toll, wenn<br />

das klappt“, sagt Dieter. „Nun muss ich<br />

abwarten.“<br />

Krzysztof, Marek und „Papa“<br />

sind zurück auf der Straße<br />

Als wir Krzysztof im Frühjahr ein letztes<br />

Mal trafen, hatte der 49-Jährige<br />

Pole gerade eine Wohnung gefunden.<br />

Nicht nur das. Er stand kurz davor, Arbeitslosengeld<br />

zu erhalten. Wir hatten<br />

die leise Hoffnung, dass er mit dem<br />

Trinken aufhört. Das hat er nicht geschafft,<br />

wissen wir inzwischen. Krzysztof<br />

ist zurück auf der Straße und macht<br />

genauso wie Marek und „Papa“ wieder<br />

Platte. Hinz&<strong>Kunzt</strong> verkaufen sie derzeit<br />

nicht mehr. „Papa“, den Ältesten<br />

aus der Gruppe, trifft man jetzt gelegentlich<br />

auf St. Pauli mit Plastiktüten<br />

voller Pfand an.<br />

Stefan schaffte es von der<br />

Straße bis in die deutsche<br />

Nationalmannschaft<br />

Nur aus der Ferne verfolgen wir noch<br />

die „Karriere“ von Stefan. Unser Verkäufer<br />

wurde in den Kader der deutschen<br />

Straßenfußball-Nationalmannschaft<br />

der Wohnungslosen berufen und<br />

nahm mit seinem Team von der Hamburger<br />

Diakonie an der Deutschen<br />

Meisterschaft teil. Bei dem Turnier in<br />

Nürnberg verletzte er sich allerdings am<br />

Fuß und musste daraufhin seine Teilnahme<br />

am Homeless World Cup – der<br />

Fußball-Weltmeisterschaft der Wohnungslosen<br />

– absagen. Die Verletzung<br />

muss für den fußballverrückten Rumänen<br />

ein absoluter Tiefschlag gewesen<br />

sein. Abseits des Platzes vernehmen wir<br />

allerdings nur gute Nachrichten von<br />

dem 28-Jährigen. Er ist auf Jobsuche,<br />

und es sieht so aus, als sollte es endlich<br />

einmal klappen. Seine Freundin wiederum<br />

durchläuft gerade eine Jobcentermaßnahme<br />

und hat zudem im Frühsommer<br />

eine eigene Wohnung gefunden. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Wir da draußen<br />

Auch im kommenden Winter begleitet<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> Obdachlose durch die kalten<br />

Monate – in den Containern des Winternotprogramms,<br />

in Unterkünften oder auf<br />

den Straßen. Mit Beginn des städtischen<br />

Erfrierungsschutzes im November startet<br />

unsere neue Reihe „Wir da draußen“.<br />

„Ich kann nicht mehr“, hatte Dieter letztes Jahr im <strong>Oktober</strong> gesagt. Nach 30 Jahren<br />

auf der Straße wurde er schwer krank. Jetzt geht es ihm zum Glück wieder besser.<br />

29


Ohne Netz und<br />

doppelten Boden<br />

Beim Zirkus geht es fi nanziell immer ums Überleben.<br />

Und die Artisten setzen täglich ihre Gesundheit aufs Spiel.<br />

Ein Besuch bei Hamburgs ältestem Zirkus.<br />

TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Fliegen ohne Absicherung –<br />

das ist Magie, finden<br />

die meisten Artisten.<br />

Auch Manjana. Die Akrobatin<br />

ist erst 15 Jahre alt.


Lebenslinien<br />

Lachen, bis der Vorhang fällt: die Clowns<br />

Benito (links) und Daniel. Charleen Sperlich<br />

ist die Enkelin von Harry Frank, der vor 48<br />

Jahren seinen eigenen Zirkus gegründet hat.<br />

Und dann gibt es sie wirklich,<br />

die Grenzerfahrung. „Wir<br />

haben völlig vergessen, dass<br />

ihr kommt“, sagt Charleen<br />

Sperlich, Enkelin des Zirkusgründers<br />

Harry Frank. Ihr Vater Harry Helmut<br />

hatte einen schweren Unfall. Nicht mal<br />

in der Manege. Er wollte das Stalldach<br />

im Winterquartier reparieren und ist<br />

durchgebrochen. Jetzt liegt er im Krankenhaus<br />

– im Koma. Davor hatte sich<br />

schon Charleens Mann die Schulter<br />

verletzt und kann vorerst nicht mehr<br />

die Luftnummer machen. Alles menschlich<br />

schlimm, aber so etwas kann sich<br />

auch finanziell katastrophal auswirken.<br />

Doch wofür hat man Familie? Aus<br />

Mecklenburg-Vorpommern ist Charleens<br />

Schwägerin Desirée angereist –<br />

mit ihrem Mann Siegfried und ihren<br />

Kindern Manjana (15) und Benito (16).<br />

„Eigentlich wollten wir nur drei Tage<br />

bleiben, weil wir wissen wollten, wie es<br />

ihnen hier jetzt geht“, sagt Desirée.<br />

„Aber jetzt, wo das mit Charleens Vater<br />

passiert ist, bleiben wir natürlich.“<br />

Nicht nur das: Siegfried (Künstlername<br />

Don Ricardo) und Manjana haben die<br />

Luftnummer übernommen.<br />

Ganz klar: Die Show muss weitergehen.<br />

So war das immer. Das wusste<br />

Charleen schon als kleines Mädchen.<br />

Väterlicherseits sind ihre Vorfahren alle<br />

Zirkusleute. Seit Generationen. Mütterlicherseits<br />

ist das anders. „Meine Mutter<br />

kam aus der DDR, von der Kirmes.“<br />

Wer in eine<br />

Zirkusfamilie<br />

einheiratet, muss<br />

mitmachen.<br />

Sie hat dort das Glücksrad gedreht, sich<br />

in den Zirkusmann verliebt und ist ihm<br />

nach Hamburg gefolgt. Sie wusste, was<br />

sie erwartet: Wer in eine Zirkusfamilie<br />

einheiratet, muss mitmachen. In der<br />

Wintersaison studierte sie, die vorher<br />

noch nie in der Manege gearbeitet hatte,<br />

31<br />

eine Nummer ein – auf dem Hochseil.<br />

Das war nur der Anfang. „Sie ließ sich<br />

immer etwas Neues einfallen“, sagt<br />

Charleen. Schon als kleines Mädchen<br />

wollte sie so werden wie ihre Mutter.<br />

Zirkuskinder machen in der Manege<br />

schon mit, wenn sie kaum laufen<br />

können. Hula-Hoop oder Bodengymnastik,<br />

„Kinderparterre“ genannt. Aber<br />

dann, mit zehn, werden die Kleinen<br />

quasi entlassen. „Ab dann darf man<br />

erst wieder mitmachen, wenn man was<br />

zu bieten hat wie die Großen.“ Meistens<br />

so mit 15. Wie Manjana jetzt.<br />

Charleen übte nach ihrer eigenen<br />

„Entlassung“ wie verrückt. Wollte so<br />

schnell wie möglich wieder in die<br />

Manege, als Seiltänzerin und Luftakrobatin.<br />

Geübt hat sie auf einem Seil einen<br />

Meter über dem Boden. Endlich,<br />

mit 15 Jahren, hatte sie es geschafft,<br />

dachte sie. Ihre Mutter hatte zu dieser<br />

Zeit unglaublich tolle Kostüme, schwer<br />

mit Strass bestickt: die Krone, die<br />

Ärmel – dazu noch schwere Strassohrringe.<br />

„Ich ließ nicht locker, bis ich<br />

auch so etwas bekam.“


Im Zirkus hält man zusammen. Jedenfalls bei den<br />

Franks. Don Ricardo (von rechts) und seine Tochter<br />

Manjana unterstützen die Hamburger Zirkusleute<br />

Daniel, Seiltänzerin Angelique und Charleen.<br />

Bei der Generalprobe war es endlich soweit.<br />

Die Kostüme waren fertig, Charleen<br />

geschmückt. Wunderschön sah sie<br />

aus. Aber dann, als sie hoch in die Luft<br />

gezogen werden sollte – Panik. „Nein,<br />

nicht hoch, bloß nicht hoch!“, rief sie.<br />

Mit dem ganzen Pomp hatte sie keinerlei<br />

Körpergefühl mehr.<br />

„Du musst das können“, rief ihr<br />

Vater. „Wir haben doch keine anderen<br />

Artisten engagiert.“ Also ließ sie sich<br />

hochziehen. „Alles war dunkel, ich hab<br />

den Boden gar nicht mehr gesehen.<br />

Nur noch ein Spot war an, damit ich<br />

den Ständer auf der anderen Seite<br />

sehen konnte. Auf den bin ich zugegangen“,<br />

sagt sie. Adrenalin pur. Sie<br />

hat es geschafft. „Ich habe vor Freude<br />

geheult.“ Auch später noch. „Man<br />

kann alles können da oben, aber jeden<br />

Tag aufs Neue ist das Adrenalin wieder<br />

da.“ Muss auch da sein, als Lebensversicherung.<br />

„Es muss nur die kleinste<br />

Bewegung falsch sein und du kannst<br />

abstürzen.“<br />

Jahrelang hat sie zusammen mit ihrem<br />

Mann Patrick als Luftakrobatin gearbeitet.<br />

Patrick stammt übrigens auch<br />

nicht vom Zirkus, sondern aus einer<br />

Marionettenspieler-Familie. Er hat sich<br />

aber ebenfalls eingearbeitet. Charleen<br />

hat nach dem zweiten Kind aufgehört.<br />

„Alles war<br />

dunkel, ich habe<br />

den Boden nicht<br />

mehr gesehen.“<br />

CHARLEEN SPERLICH<br />

32<br />

„Meine Figur hat es nicht mehr zugelassen.“<br />

Zum Glück, sagt sie, sei Angelique<br />

(25) in die Familie gekommen. Sie<br />

kommt aus einer bekannten Artistenfamilie<br />

und ist „so eine Art Wunderkind<br />

als Akrobatin“. Und sie ist mit Charleens<br />

Bruder Joschi verheiratet, der mit<br />

seinen 25 Jahren Deutschlands jüngster<br />

Zirkusdirektor ist.<br />

Dass alle ihre Arbeit hoch oben in<br />

der Kuppel lieben, ist mehr als deutlich.<br />

Aber warum gehen alle dieses Risiko<br />

ein, warum sichern sie sich nicht? Nicht<br />

mal die 15-jährige Manjana. Schließlich<br />

gibt es zig Beispiele von befreundeten<br />

oder verwandten Artisten, die abgestürzt,<br />

schwer verletzt oder sogar<br />

gestorben sind. „Das macht die Magie<br />

aus“, sagt Charleen. „Für uns, aber<br />

auch für die Zuschauer.“<br />

Apropos Magie: So begeistert wie<br />

früher sind die Menschen nicht mehr<br />

vom Zirkus. Der Zirkus Frank tourte<br />

immer – wie heute auch – hauptsächlich<br />

durch die Hamburger Stadtteile.<br />

„Wenn wir wiederkamen, stand schon<br />

der ganze Platz voller Kinder, die auf<br />

uns warteten“, erzählt Charleen aus<br />

ihrer Kindheit. „Alle wollten die Ponys<br />

striegeln oder sonstwie mitmachen.“<br />

Ihre Tochter ist inzwischen acht Jahre


Lebenslinien<br />

alt. „Heute warten vielleicht ein, zwei Kinder auf sie.“<br />

Nintendo, Gameboy, Smartphones – alles scheint Kindern<br />

heute interessanter als das Zirkusleben, vermutet<br />

sie. In den vergangenen Jahren sind die Zuschauerzahlen<br />

überall erheblich gesunken. Auch Hamburgs<br />

ältester Zirkus muss kämpfen. „Man freut sich über<br />

100 Zuschauer, über 50 – aber alles, was darunterliegt,<br />

ist schlecht.“ Auch der Winter ist finanziell hart. Die<br />

Franks gehen auf Weihnachtsmärkte oder machen<br />

Shows auf Weihnachtsfeiern.<br />

„Heute ist ein<br />

Schulabschluss für unsere<br />

Kinder wichtig.“<br />

CHARLEEN SPERLICH<br />

So mancher Zirkus hat sich deshalb auf die Arbeit mit<br />

Schulen spezialisiert. Was viele Vorteile habe, sagt<br />

Charleen: „Man muss sich nicht mehr um den Platz<br />

und um die Miete kümmern, man muss keine Werbung<br />

machen. Man muss keinen Pfennig ausgeben, bevor<br />

man nicht irgendwelche Einnahmen hat.“ Und<br />

viele haben sich auch von ihren Tieren getrennt. Weil<br />

vieles heute nicht mehr so ankommt – und wegen der<br />

Tierschützer. Auf die ist sie einigermaßen sauer: Speziell<br />

eine Organisation habe die Zirkuswelt als Tierquäler<br />

regelrecht in Misskredit und vor Gericht gebracht.<br />

„Meistens haben die zwar vor Gericht verloren, aber<br />

das wird dann selten berichtet.“ Die Franks haben sowieso<br />

nur Haustiere. „Den Zuschauern ist es egal, ob<br />

ein Tiger durch den Reifen springt oder eine Ziege.“<br />

Macht sie sich Sorgen um die Zukunft? Manchmal<br />

schon. Deshalb machen auch die Franks ab und an ein<br />

Programm mit Schülern. Aber eher selten. „Es ist einfach<br />

ein ganz anderes Gefühl, wenn man seine eigene<br />

Vorstellung präsentieren kann.“ Völlig klar: „Wir machen<br />

weiter, solange es Zuschauer gibt.“ Nur eins ist<br />

unverzichtbar geworden. „Heute ist ein Schulabschluss<br />

für unsere Kinder wichtig“, sagt sie. „Das war früher<br />

anders.“ Zumindest in dieser Angelegenheit will die<br />

Zirkusfamilie auf Nummer sicher gehen. •<br />

STUNDE<br />

DER<br />

KIRCHEN<br />

MUSIK<br />

45 MINUTEN AUSZEIT VOM ALLTAG<br />

JEDEN MITTWOCH, 17:15 UHR<br />

HAUPTKIRCHE ST. PETRI<br />

EINTRITT FREI<br />

www.kirchenmusik-in-hamburg.de<br />

MUSEUM<br />

DER ARBEIT<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Zirkus Frank: Bis 8. <strong>Oktober</strong> gastiert der Zirkus Frank<br />

an der Luruper Hauptstraße 97/Ecke Rugenbarg.<br />

Vorstellungen wochentags<br />

(außer dienstags und mittwochs) um 16.30 Uhr,<br />

samstags 15 Uhr, sonn- und feiertags 11 und 14 Uhr,<br />

Eintrittspreise und Infos unter www.zirkusfrank.de<br />

33<br />

www.museum-der-arbeit.de #DasKapitalHH


SERIE<br />

Die Besser-Verdiener<br />

Kleine, geile Firmen,<br />

die sozial wirtschaften<br />

Kette, Schuss und<br />

Schiffchen: Revolution<br />

am Webstuhl<br />

Er ist günstig, einfach nachzubauen und sogar<br />

bequem: Der Webstuhl nach dem Bauplan des Hamburgers<br />

Andreas Möller hilft Menschen in Entwicklungsländern<br />

bei der Existenzgründung.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />

Tack, tack, ratsch! Wenn Esmael<br />

Jemal im äthiopischen<br />

Bahir Dar seine Handtücher<br />

webt, erklingt das charakteristische<br />

Geräusch des Webstuhls in<br />

Dauerschleife. Tack, tack, ratsch! Tack,<br />

tack, ratsch! Sehr saugstark und trotzdem<br />

leicht und von geringem Volumen<br />

seien seine Handtücher mit grau-weißem<br />

Muster, verspricht der Weber auf<br />

seiner Webseite. Verkaufstalent hat er –<br />

muss er ja auch haben, schließlich muss<br />

er vom Erlös der Textilien nicht nur<br />

seinen Lebensunterhalt, sondern auch<br />

den von fünf Angestellten und einigen<br />

Auszubildenden finanzieren. Und das<br />

klappt!<br />

Tack, tack, ratsch! In der Weberei<br />

von Andreas Möller im Hamburger<br />

Stadtteil St. Pauli klingt der Webstuhl genauso<br />

wie der von Jemal in Bahir Dar.<br />

Im Souterrain eines hübschen Altbaus in<br />

„Seit ich zwölf<br />

bin, will ich<br />

Webstühle besser<br />

machen.“<br />

der Bernstorffstraße findet man einen<br />

der Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg<br />

des Äthiopiers. Geht man die paar<br />

Stufen zu Möllers Laden hinunter, steht<br />

man in einem engen Raum mit vier<br />

Webstühlen. Mehr hätten auch nicht hineingepasst.<br />

Von diesem Raum aus revolutioniert<br />

Andreas Möller, so schildert<br />

er es, die Weberei auf der ganzen Welt –<br />

nicht mehr und nicht weniger. Denn den<br />

Webstuhl, an dem er sitzt, hat er selbst<br />

entworfen und gebaut.<br />

Weil das Angebot an Webstühlen<br />

ihn nicht zufriedenstellte, sagt Möller:<br />

Mal würde der Rücken schmerzen,<br />

wenn man zu lange daran arbeitet. Mal<br />

seien sie zu groß, mal einfach unpraktisch.<br />

„Irgendwas ist immer.“ Die Her-<br />

34


An seinem selbst entwickelten<br />

Flying-8-Webstuhl bildet<br />

Andreas Möller Weber<br />

in Lateinamerika,<br />

Afrika und Asien aus.<br />

steller würden diese Kardinalfehler von<br />

Modell zu Modell übernehmen. „Seit<br />

ich zwölf bin, treibt mich der Gedanke<br />

an, dass man das besser machen kann“,<br />

sagt Möller. Damals hat er sich das Weben<br />

in der Schule abgeschaut und dann<br />

zu Hause selbst beigebracht. In den vergangenen<br />

39 Jahren hat der 50-Jährige<br />

immer wieder an der Webtechnik gefeilt.<br />

Bis er 2009 seinen eigenen Webstuhl entwarf:<br />

den Flying 8, bestens angepasst an<br />

die menschliche Anatomie.<br />

Dass das kein Fabrikprodukt ist, sieht<br />

man. Dafür stimmt der Preis: 170 Euro<br />

Materialkosten statt der üblichen mehreren<br />

Tausend Euro für einen fertigen<br />

Webstuhl. Und jeder kann ihn mit ein<br />

bisschen Geschick, etwas Holz und einer<br />

Woche Zeit nachbauen. Den Bauplan<br />

dafür hat Möller fast 400 Mal verkauft<br />

(120 Euro pro Exemplar), in die<br />

ganze Welt, viele in die USA. Und einige<br />

der Webstühle stehen in Bahir Dar<br />

in der Weberei von Esmael Jemal.<br />

35<br />

Den Afrikaner lernte Möller 2007 kennen,<br />

als er im Auftrag der Gesellschaft<br />

für Internationale Zusammenarbeit<br />

Äthiopier zu Webern ausbildete. Deswegen<br />

musste Jemal den Bauplan auch<br />

nicht bezahlen. Er hatte den Dreh erstaunlich<br />

schnell raus. Möller klingt<br />

noch zehn Jahre später beeindruckt,<br />

wenn er davon erzählt: „Er war mein<br />

bester Schüler.“ Aus Schüler und Lehrer<br />

wurden Freunde – und Geschäftspartner.<br />

„From the Hands of Ethiopia“


Die Besser-Verdiener<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

In dieser Serie<br />

bereits erschienen<br />

Bridge&Tunnel (Mai <strong>2017</strong>)<br />

LemonAid (Juni <strong>2017</strong>)<br />

tricargo (Juli <strong>2017</strong>)<br />

FahrradGarderobe (September <strong>2017</strong>)<br />

heißt das Handtuchlabel, das sie gegründet<br />

haben. Jemal webt die Tücher<br />

in Bahir Dar – und Möller verkauft sie<br />

in Hamburg.<br />

Etwa 1000 Stück sind es inzwischen<br />

pro Jahr, die für 18 bis 35 Euro über die<br />

Ladentheke in der Bernstorffstraße gehen<br />

oder übers Internet weltweit verkauft<br />

werden.<br />

Wenn der Absatz noch weiter steigen<br />

würde, könnte Jemal weitere Webstühle<br />

bauen und noch mehr Weber ausbilden<br />

und einstellen (siehe Interview).<br />

Aber wäre der Flying 8 nicht so günstig<br />

zu haben, wäre die Planung der Expansion<br />

für den Äthiopier wohl kaum so<br />

selbstverständlich.<br />

Ist das, was Andreas Möller da tut,<br />

eine Form der Entwicklungshilfe? Nicht<br />

In Europa entsteht<br />

am Webstuhl<br />

meist Textilkunst,<br />

in der Dritten Welt<br />

wird Massenware<br />

produziert. Bei den<br />

Geschäftspartnern<br />

Andreas Möller und<br />

Esmael Jemal (rechts)<br />

finden die beiden<br />

Welten zusammen.<br />

ganz. „Ich bin sein Kunde“, betont er.<br />

„Das ist eine geschäftliche Zusammenarbeit,<br />

die uns beide weiterbringt.“ Eine<br />

Zusammenarbeit auf Augenhöhe, das ist<br />

Möller wichtig. Aber ja, sein Geschäftspartner<br />

habe ein verhältnismäßig gutes<br />

Auskommen dadurch. „Das ist ein guter<br />

Grund, das Land nicht zu verlassen.“<br />

Viele Äthiopier versuchen das immer<br />

wieder, weil sie arbeitslos sind und keinerlei<br />

Perspektive für sich sehen. Doch<br />

Jemal bleibt.<br />

Andreas Möllers Konzept hat sich<br />

inzwischen rumgesprochen, in vielen<br />

Ländern erklärt er auf Kongressen und<br />

in Kursen, wie man den Flying 8 baut<br />

und mit ihm arbeitet. Dabei hat er auch<br />

seine Ehefrau kennengelernt – sie<br />

stammt aus Uruguay. Gerade erst war<br />

36<br />

Möller wieder in Äthiopien, hat in einem<br />

Kloster zehn Nonnen an seinem Webstuhl<br />

ausgebildet. Anfang des Jahres war<br />

er nach Indien gereist, um dort ebenfalls<br />

Weber auszubilden. Wieder war ein<br />

Schüler dabei, der herausgestochen ist:<br />

Er plant nun, eine eigene Flying-8-Webschule<br />

zu errichten, das Grundstück hat<br />

der künftige Betreiber schon. Vielleicht<br />

wird sie noch in diesem Jahr eröffnet.<br />

„In Indien<br />

wird sich dieser<br />

Webstuhl schnell<br />

durchsetzen.“<br />

Der Bedarf an günstigen Produktionsmitteln<br />

sei in armen Ländern eben groß.<br />

„In Indien wird sich dieser Webstuhl<br />

noch schneller durchsetzen als in Äthiopien“,<br />

glaubt Möller. Dann könnte sich<br />

die Verbreitung seiner Ideen bald verselbstständigen,<br />

dann wird Andreas<br />

Möller vielleicht nicht mehr reisen müssen.<br />

„Ich hoffe, dass sich die Webstühle<br />

bald überall auf der Welt von alleine vervielfältigen“,<br />

sagt er. Ihn würde das freuen:<br />

„Denn wenn man das mal auf lange<br />

Sicht betrachtet: Ich bin ja auch irgendwann<br />

weg.“ •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

25 Jahre Weberei Hamburg:<br />

Werkstattausstellung, Sa., 28. und So.,<br />

29. <strong>Oktober</strong>, 14–19 Uhr, Bernstorffstraße<br />

164, www.moeller-hamburg.com


„Wir versuchen, noch<br />

mehr Jobs zu schaffen“<br />

Kurzinterview mit Weber Esmael Jemal aus Äthiopien.<br />

„From the<br />

Hands of<br />

Ethiopia“<br />

heißt das<br />

Handtuchlabel<br />

von<br />

Esmael<br />

Jemal<br />

(zweiter von<br />

links), hier<br />

mit seinen<br />

Kollegen.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Wie geht es Ihnen und den<br />

Menschen in Ihrer Umgebung?<br />

ESMAEL JEMAL: Die meisten Leute in meiner<br />

Nachbarschaft und der Großteil meiner<br />

Verwandten haben keinen Job. Viele<br />

versuchen nach Europa zu kommen,<br />

um eine Arbeit zu finden.<br />

Ich habe Andreas Möller auf einem<br />

Workshop kennengelernt. Diese<br />

Begegnung hat mein Leben verändert.<br />

Jetzt geht es mir besser als den meisten<br />

hier. Ich bin sehr dankbar für die Technologie<br />

des Flying 8. Deswegen versuche<br />

ich jetzt, hier weitere Jobs zu<br />

schaffen.<br />

Wie viele Leute arbeiten bislang in<br />

Ihrer Weberei?<br />

Bei mir arbeiten drei Weber. Ein weiterer<br />

Arbeiter kommt ab und zu zum Bügeln<br />

vorbei. Für sie ist das gut, vorher<br />

hatten sie alle keine Jobs.<br />

Werden die Arbeiter denn gut bezahlt?<br />

50 Prozent der Einnahmen fließen in<br />

meine Werkstatt. Die andere Hälfte bekommen<br />

die Weber. Ich bezahle sie pro<br />

Meter. Wenn sie fünf Handtücher pro<br />

Tag weben, haben sie genug für sich<br />

und können noch etwas sparen. Wir<br />

brauchen aber mehr Kunden in Europa.<br />

Andreas ist viel unterwegs und kann<br />

dann keine Handtücher verkaufen.<br />

Planen Sie, weitere Arbeiter einzustellen?<br />

Ich werde die Regierung um ein Stück<br />

Land bitten, um darauf weitere Weber<br />

am Flying 8 auszubilden. Wenn sie das<br />

gelernt haben, können auch sie ihr Leben<br />

verändern. Wir werden versuchen,<br />

noch mehr zu produzieren und Jobs für<br />

noch mehr Leute zu schaffen. •<br />

Das Gespräch mit Esmael Jemal haben wir<br />

telefonisch geführt.<br />

FOTOS: PRIVAT (2)<br />

Weberei Hamburg kompakt<br />

From the Hands of Ethiopia: In den vergangenen sieben Jahren<br />

haben Andreas Möller und Esmael Jemal fast 7000 Handtücher verkauft.<br />

Ladengeschäft: Bernstorffstraße 164, Hamburg<br />

Weberei: Cluster Kabele 15, Bahir Dar, Äthiopien<br />

Onlineshop: www.weberei-hamburg.com<br />

Preis: Für 7,20 Euro kauft Möller ein Handtuch aus Äthiopien. 4,80 Euro davon landen<br />

bei Jemal. Je die Hälfte davon geht an die Werkstatt und an die Weber. 2,40 Euro<br />

bekommt der Exporteur für Porto und Verpackung. Für 18 Euro inklusive Mehrwertsteuer<br />

geht ein solches Handtuch in der Bernstorffstraße über den Ladentisch.<br />

Flying 8 international: Webstühle von Andreas Möller stehen in Finnland,<br />

Estland, Schweden, Dänemark, Norwegen, Deutschland, Niederlande, Schweiz,<br />

Italien, Kanada, USA, Peru, Chile, Uruguay, Argentinien, Sierra Leone, Burkina Faso,<br />

Äthiopien, Tansania, Botswana, Russland, China, Neuseeland und Australien.<br />

stilbruch.de


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

Beim Homeless World Cup – der Weltmeisterschaft im<br />

Straßenfußball – schied das deutsche Team der Wohnungslosen<br />

zwar in der Vorrunde aus. In der Trostrunde konnte<br />

das Team aber anschließend einen Pokal einheimsen.<br />

Und Giovanni Gonzales (links) wurde zudem<br />

als bester Torhüter des Turniers ausgezeichnet. JOF<br />

•<br />

38<br />

Alkoholverbot auf dem Rathausplatz<br />

Bezirk Harburg greift gegen Trinkerszene durch<br />

Auf dem Harburger Rathausplatz<br />

herrscht zwei Monate nach dem Erlass<br />

eines Alkoholverbots Ruhe. Das bestätigt<br />

auch Olaf Bohn im Gespräch mit<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Seit dem Sommer 2004<br />

leitet der 47-Jährige den Trinkraum im<br />

benachbarten Hans-Fitze-Haus. Für<br />

die Maßnahme des Bezirks bringt Bohn<br />

zwar ein „gewisses Verständnis“ auf.<br />

Schon jetzt könne man allerdings beobachten,<br />

dass Teile der Trinkerszene einfach<br />

einige Meter weiter in den Park<br />

am Hastedtplatz abgewandert seien.<br />

„Auch da wird es sicherlich bald<br />

Beschwerden geben“, mutmaßt Bohn.<br />

Alkoholverbote auf öffentlichen Plätzen<br />

seien daher keine Lösung, sondern<br />

nur eine Verlagerung des Problems.<br />

Keine direkte Lösung, dafür aber Hilfe<br />

bietet das Hans-Fitze-Haus, Hamburgs<br />

einziger Trinkraum. Ein Rückzugsraum<br />

mit günstigem Mittagstisch und<br />

einer Tagesjobbörse, die alkoholkranken<br />

Menschen jenseits des regulären<br />

Arbeitsmarktes Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

bietet. Allerdings mit klaren Regeln:<br />

Harter Alkohol und Drogen sind<br />

in den Räumen des Hans-Fitze-Hauses<br />

verboten. Ein Dilemma, denn viele<br />

Alkoholsüchtige vom Rathausplatz<br />

seien abhängig von Hochprozentigem,<br />

so Bohn. Sie trinken weiter – jetzt an<br />

anderen Plätzen. JOF<br />


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Erfrierungsschutz für Obdachlose Sozialministerium<br />

Winternotprogramm: Eine Nahles bereitet bundesweite<br />

halbe Stunde mehr Wärme Wohnungslosenstatistik vor<br />

Das Winternotprogramm wird auch Nach langer Blockade hat das<br />

in diesem Winter nur nachts geöffnet Bundes sozialministerium von Andrea<br />

sein. Kleine Änderung im Detail: Am Nahles (SPD) damit begonnen, die<br />

neuen Standort in Hammerbrook Einführung einer landesweiten<br />

müssen die Obdachlosen erst um Wohnungslosenstatistik vorzubereiten.<br />

9.30 Uhr raus – eine halbe Stunde Gespräche mit den Bundesländern,<br />

später als bisher. Aber nicht, damit sie dem Statistischen Bundesamt und der<br />

erst später hinaus in die Kälte müssen,<br />

sondern um die Nachbarschaft nungslosenhilfe laufen bereits. Deren<br />

Bundesarbeitsgemeinschaft Woh-<br />

im Berufsverkehr „von einer zusätzlichen<br />

gleichzeitigen Wanderungsbedert<br />

das seit mehr als 30 Jahren: „So<br />

Geschäftsführer Thomas Specht forwegung<br />

der obdachlosen Menschen dicht dran waren wir noch nie“, sagte<br />

zu entlasten“, schreibt Sozialsenatorin er. Wichtig sei eine solche Statistik<br />

Melanie Leonhard (SPD) zur<br />

insbesondere für die Ermittlung des<br />

Begründung an das Bezirksamt Mitte. Wohnraumbedarfs und die Steuerung<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> und Wohlfahrtsverbände des sozialen Wohnungsbaus. Offen<br />

fordern seit Jahren vergeblich eine ist, ob sie nach der Wahl und einem<br />

ganztägige Öffnung der Winternotunterkünfte.<br />

BELA<br />

möglichen Wechsel im Ministerium<br />

•<br />

tatsächlich kommt. BELA<br />

•<br />

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FOTO: RONALD SAWATZKI<br />

Unterlassene Hilfeleistung<br />

Angeklagte hielten Opfer für<br />

einen Obdachlosen<br />

Wegen unterlassener Hilfeleistung<br />

sind in Essen zwei Männer und eine<br />

Frau zu Geldstrafen verurteilt worden.<br />

Der Fall hatte bundesweit für Schlagzeilen<br />

gesorgt. Ein 83-Jähriger war<br />

im <strong>Oktober</strong> 2016 im Vorraum einer<br />

Bankfiliale zusammengebrochen.<br />

Statt Hilfe zu holen, hoben die Angeklagten<br />

Geld ab und stiegen dabei<br />

teilweise über den Verletzten hinweg.<br />

Sie hätten den Rentner für einen<br />

schlafenden Obdachlosen gehalten,<br />

erklärten die Angeklagten jetzt vor<br />

Gericht. Nach Sichtung der Überwachungsvideos<br />

sah der Richter<br />

allerdings keine Zweifel an einem<br />

Unglücksfall. Die Angeklagten<br />

hätten sich „in nicht hinnehmbarer<br />

Weise gleichgültig verhalten“. Alle<br />

Angeklagten wurden aber lediglich<br />

zu Geldstrafen verurteilt, weil sie<br />

bisher nicht vorbestraft waren. JOF<br />

•<br />

39<br />

Universität<br />

Lehrprogramm für Studenten<br />

rund um Obdachlosigkeit<br />

Neben dem Besuch von Vorlesungen<br />

und Seminaren gehört inzwischen<br />

auch ehrenamtliches Engagement<br />

zum Lehrinhalt an der Universität.<br />

Angefangen hat alles 2015 mit<br />

einem Studienprojekt zur Flüchtlingshilfe.<br />

In diesem Semester können<br />

sich Studierende fast aller Fächer<br />

erstmals ausführlich mit dem Thema<br />

Obdachlosigkeit befassen. Ab dem<br />

23. <strong>Oktober</strong> referieren wöchentlich<br />

Experten aus der Wohnungslosenhilfe.<br />

Begleitet wird die neue<br />

Ring vor lesung durch ein praktisches<br />

Seminarprojekt. JOF<br />

•<br />

Informationen zur öffentlichen Ringvorlesung<br />

unter: www.huklink.de/ringvorlesung<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

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500 Jahre<br />

Reformation<br />

Der Luther<br />

für Arme<br />

Reformation ist nicht nur was für Kirchgänger. Vor 500 Jahren stellte sie die<br />

alte Ordnung in Deutschland in Frage. Luthers Weggefährte Johannes Bugenhagen<br />

sorgte in Hamburg dafür, dass sich auch hier die Machtverhältnisse änderten.<br />

TEXT: PASTOR SIEGHARD WILM<br />

PORTRÄT BUGENHAGEN: AKG-IMAGES; PORTRÄT WILM: MAURICIO BUSTAMANTE


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Armes Mittelalter! Kinder gerieten<br />

in Not, wenn ihre Eltern<br />

früh starben. Wer krank<br />

wurde, rutschte ins Elend. In<br />

Hamburg lebten im Mittelalter viele verarmte<br />

Menschen. Sich darum zu kümmern,<br />

war Aufgabe der Klöster. Pestkranke<br />

wurden vor den Stadttoren in<br />

St. Georg untergebracht und von Mönchen<br />

versorgt, in einem sogenannten<br />

„Seelenhaus“. Das „Heilig-Geist-Hospital“<br />

war eine klösterliche Einrichtung<br />

und versorgte die Kranken in der Hansestadt.<br />

Das Geld dafür spendeten wohlhabende<br />

Bürger, um sich bei Gott Verdienste<br />

um das Seelenheil zu erwerben.<br />

Die Angst vor Hölle und ewiger Verdammnis<br />

war ihr Antrieb. So stifteten sie<br />

Kerzen und zahlten für Seelenmessen in<br />

der Hoffnung, sich und ihre Verstorbenen<br />

retten zu können. Das waren<br />

schlechte Aussichten für alle, die kein<br />

Geld zum Spenden hatten. Der Himmel<br />

erschien als ein Platz für die Reichen.<br />

Doch dann sorgte Johannes Bugenhagen<br />

1526 mit seinem „Sendschreiben<br />

an die Hamburger“, einem langen Brief<br />

an die Bürger der Stadt, für Unruhe:<br />

Bugenhagen, ein Weggefährte Martin<br />

Luthers aus Pommern, vertrat die reformatorische<br />

Lehre. Die besagte, dass<br />

die Seele allein aus Gottes Gnaden gerettet<br />

wird, nicht durch noch so großzügige<br />

Spenden. Gott ist nicht käuflich.<br />

Aber wer sollte jetzt noch für Arme<br />

Geld geben, wenn man sich damit nicht<br />

das Seelenheil erwerben konnte?<br />

Bugenhagen warb dafür, dass die<br />

Menschen nicht mehr spenden, weil sie<br />

um ihr Seelenheil bangen, sondern aus<br />

Dankbarkeit für ihr gesegnetes Leben<br />

aus Gottes Gnade. Er hatte dafür ein<br />

starkes Bild: Der gläubige Christ ist wie<br />

ein guter Baum. Er wird seine guten<br />

Früchte bringen. Darauf vertraute der<br />

Gottesmann.<br />

Nach Hamburg berufen, hat der<br />

Reformator des Nordens 1529 eine Kirchenordnung<br />

erlassen. Sie brachte die<br />

Einrichtung des Gotteskastens: In allen<br />

Kirchen Hamburgs sollten sichtbar für<br />

Glaube und<br />

Nächstenliebe<br />

gehörten endlich<br />

zusammen.<br />

alle Gläubigen Kästen stehen, in die hinein<br />

freiwillige Spenden gegeben wurden.<br />

Besonders den reichen Bürgern<br />

wurde ins Gewissen geredet, reichlich<br />

zu spenden. Der Glaube an Gott und<br />

der Dienst der Nächstenliebe gehörten<br />

für die Reformatoren zusammen. „Was<br />

ihr getan habt einem meiner geringsten<br />

Brüder, das habt ihr mir getan“ – dieses<br />

Jesus-Wort wurde häufig von den Reformatoren<br />

zitiert. Bugenhagen glaubte,<br />

dass am Ende aller Tage vor dem<br />

Jüngsten Gericht alle Barmherzigkeit<br />

den Armen gegenüber einmal ins Gewicht<br />

fallen würde. Heftig widersprochen<br />

wurde aber der Vorstellung, das<br />

Seelenheil kaufen zu können. Gottes<br />

Himmel ist nicht käuflich. Noch heute<br />

gehört der Gotteskasten zum festen<br />

Mobiliar alter Hamburger Kirchen.<br />

Die Bugenhagensche Kirchenordnung<br />

hat das Schulwesen neu geordnet.<br />

Im Mittelalter konnten nur ganz wenige<br />

Menschen lesen und schreiben und das<br />

fast nur auf Latein. Die Reformation<br />

glaubte, dass jeder die Heilige Schrift in<br />

seiner Muttersprache lesen können sollte.<br />

Martin Luther hatte die Bibel dazu<br />

ins Deutsche übersetzt, die Buchdruckerkunst<br />

war im Aufschwung und vervielfältigte<br />

die Heilige Schrift. Das<br />

Schulgeld konnten viele aber nicht zahlen.<br />

Bettelnde Schüler gehörten zum<br />

Straßenbild. Mit der Reformation gab es<br />

die Aussicht auf Stipendien für Begabte<br />

aus dem Gotteskasten. Bildung für alle<br />

war noch ein Traum, aber mit der Reformation<br />

hatten erstmals auch Mädchen<br />

Aussichten auf einen Schulbesuch.<br />

41<br />

Reformation in Hamburg<br />

Johannes Bugenhagen (1485–1558)<br />

war Seelsorger und Freund von Martin<br />

Luther. 1528 kam der Geistliche aus<br />

Pommern nach Hamburg, um hier die<br />

Reformation umzusetzen. In nur sechs<br />

Monaten verfasste Bugenhagen eine<br />

neue Kirchenordnung, reformierte<br />

das Armenwesen, regelte das<br />

Schulwesen neu und gründete die<br />

Gelehrtenschule des Johanneums.<br />

Seit der Reformation wurde der Gotteskasten<br />

durch Armendiakone verwaltet.<br />

Die katholischen Klöster wurden geschlossen,<br />

das Armenwesen in Hamburg<br />

musste neu geordnet werden. Nun<br />

war die Bürgergemeinde zuständig, diese<br />

Aufgabe gemeinsam zu verantworten.<br />

Das Vertrauen in diese Arbeit durfte<br />

durch keine Veruntreuung zerstört<br />

werden. So entwickelten sich Kontrollsysteme<br />

und eine Buchführung. Die ist<br />

bis heute in den Archiven der Stadt<br />

einsehbar und gibt Aufschluss darüber,<br />

wofür die Mittel verwendet wurden.<br />

Es gab Brotverteilungen, aber auch<br />

Bargeld wurde den Armen ausgezahlt,<br />

einigen regelmäßig. War jemand durch<br />

Unfall oder Brand in Armut geraten,<br />

gab es größere Summen zur Unterstützung.<br />

Auch sind Fälle notiert, in denen<br />

Flüchtlingen Unterstützung gegeben<br />

wurde. Hebammen – im Mittelalter oft<br />

unter Hexereiverdacht – erhielten neue<br />

Wertschätzung und wurden aus dem<br />

Gotteskasten unterstützt. Sie mussten<br />

dafür armen Frauen bei der Geburt<br />

helfen. Die Kindersterblichkeit sank.<br />

Vieles von dem, was wir heute im<br />

Sozial staat kennen, war damals neu,<br />

reformatorisch – und revolutionär. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Sieghard Wilm<br />

ist seit 2002<br />

Pastor der<br />

St.-Pauli-Kirche.


Das ist nicht Harry<br />

Potters Eule Hedwig<br />

auf der Hand von<br />

Hinz&Künztler<br />

Michael, sondern der<br />

King persönlich: Das<br />

stolze Tier heißt Elvis.<br />

Ein Tag<br />

für die Seele<br />

Raus aus dem Stadtgrau, rein in die Natur: Bei einem<br />

Ausflug in den Wildpark Eekholt trafen Hinz&Künztler<br />

auf Wölfe, Eulen und eigenbrötlerische Fischotter.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: LENA MAJA WÖHLER<br />

„Was für ein hübsches Tier“, schwärmt<br />

Hinz&Künztler Hans-Jörg. Die Lippen<br />

des Blesshirsches kitzeln auf seiner<br />

Handfläche, er greift wieder in die Futterschachtel.<br />

„Das ist für den süßen Kleinen“,<br />

kündigt er an. Doch der Hirsch<br />

drängelt das Kitz zur Seite. Hans-Jörg<br />

protestiert: „Der muss auch groß und<br />

stark werden, so wie du!“, schimpft er.<br />

„Hast du kein Erinnerungsvermögen?“<br />

Inzwischen rennen seine Kollegen zum<br />

nächsten Gehege. Keilerei in der Wildschweinrotte.<br />

„Das muss ich aufnehmen!“,<br />

ruft Thomas und zückt seine<br />

neue Analogkamera. Ein Stammkunde<br />

schenkte sie ihm, als Anerkennung für<br />

den zweiten Platz im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Fotowettbewerb.<br />

Im Wildpark Eekholt soll<br />

der erste Film voll werden.<br />

Motive gibt es genug: Seeadler in<br />

freiem Flug, Marder, Dachse und die<br />

Wölfe mit bernsteinfarbenen wachsamen<br />

Augen. Bei der Fütterung an der<br />

Wolfsmeile wollen fast alle Hinz&<br />

Künztler zusehen. Norbert zeigt auf ein<br />

graues Tier: „Guck mal, die Narben.“<br />

„Der hat im Rudel zu oft auf die Fresse<br />

gekriegt“, erklärt Vertriebsmitarbeiter<br />

Jürgen, der die Rangordnung bereits studiert<br />

hat. Trotzdem wagt sich der Graue<br />

als Erster an das Stück Fleisch heran, das<br />

Pflegerin Sarah Köhler ins Gehege wirft.<br />

„Die Jungs wissen, dass ich genug für<br />

beide dabei habe“, erklärt sie.<br />

42<br />

Die Otter sind da schon etwas nervöser.<br />

Linkisch hüpfen sie am Zaun entlang,<br />

machen Männchen und gleiten unter<br />

Thomas’ Linse vorbei durchs Wasser.<br />

„Toll, wie das Fell das Wasser abweist“,<br />

murmelt Thomas. Dann kommt endlich<br />

das Futter. Die Fischotter springen<br />

hinter Fleischklopsen und Fisch her<br />

und bunkern alles am Fluss. Drei Tiere<br />

sind es, ein Paar und ein Weibchen, das<br />

vorübergehend von seinem Partner getrennt<br />

lebt. „Ehekrise“, erklärt die Pflegerin.<br />

„Kann man sich auch vorstellen,<br />

wenn man die ganze Zeit aufeinander<br />

hockt.“ Einige Hinz&Künztler nicken.<br />

Der Tag im Grünen macht hungrig.<br />

Gut, dass Busfahrer Peter Engmann sich


Hinz&Künztler<br />

Jan und Elsa (links) genießen es, mal aus<br />

ihrem Alltag rauszukommen. Unten: Gespannt<br />

beobachten alle die Fütterung der Wölfe.<br />

Unsere<br />

Veranstaltungen<br />

im <strong>Oktober</strong><br />

Mittwoch, 04.10.<strong>2017</strong>, 19:30 Uhr<br />

Was hat G20 in Hamburg verändert?<br />

Gewaltexzesse und die Erschütterung<br />

des Vertrauens in die Wirksamkeit<br />

des staatlichen Gewaltmonopols<br />

Diskussion mit Prof. Dr. Hans Peter<br />

Bull, Karl-Heinz Dellwo, Dr. Andreas<br />

Dressel und Joachim Lux; Moderation:<br />

Tobias Becker (DER SPIEGEL)<br />

Freitag, 06.10.<strong>2017</strong>, 19:00 Uhr<br />

Altstadt für Alle! Mehr Mut und neue<br />

Ideen für die Entwicklung von Hamburgs<br />

Innenstadt<br />

Impulsvortrag von Brigitte Bundesen<br />

Svarre (Gehl Architects, Kopenhagen)<br />

mit anschließender Diskussion<br />

In Kooperation mit der Evangelischen<br />

Akademie der Nordkirche<br />

Immer ran hier! Busfahrer Peter Engmann erwies sich beim Ausflug in den Wildpark<br />

Eekholt nicht nur als König der Herzen, sondern auch als Meister des Grills. Satt, müde<br />

und zufrieden ging es für unsere Verkäufer am Ende zurück in die Stadt.<br />

auch als hervorragender Grillmeister herausstellt.<br />

Fachmännisch hantiert er mit<br />

der Grillzange, verteilt Würstchen, Koteletts<br />

und freundliche Worte. „Na Herzelein,<br />

noch ein Stück?“ Verkäuferin Elke<br />

strahlt, Peter Engmann lacht. „Ich finde<br />

es wunderbar, wenn ich mit anpacken<br />

kann“, sagt er. Mehrmals bedankt er sich<br />

bei den Hinz&Künztlern, dass sie ihn so<br />

herzlich aufnehmen. Zurück im Bus<br />

macht er eine Durchsage: „Ihr seid echt<br />

dufte!“ Chris bedankt sich lautstark,<br />

Rainer lächelt. „Geiler Busfahrer!“<br />

Hans-Jörg kommt kaum noch aus<br />

dem Schwärmen heraus. Sein Favorit<br />

im Wildpark: „Elvis, die Eule! Wie die<br />

geguckt hat, diese Ausstrahlung!“ Wie<br />

43<br />

früher, als er als kleiner Junge mit seinem<br />

Opa früh morgens nach Eulen<br />

spähte. Elzbieta, die den ganzen Weg<br />

auf Krücken mitgemacht hat, lächelt.<br />

„Das ist mal etwas anderes als Großstadt<br />

– etwas für die Seele.“ Und Elsa<br />

seufzt: „So ein schöner Tag!“ •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Wir danken dem Busunternehmen<br />

Hörmann für die kostenfreie Fahrt zum<br />

Wildpark – und Fahrer Peter Engmann<br />

für seine Herzlichkeit und den Einsatz<br />

am Grill. Hoffentlich auf Wiedersehen!<br />

Foto: Karin Desmarowitz<br />

Donnerstag, 12.10.<strong>2017</strong>,<br />

19:00 Uhr<br />

Zahnloser Tiger? Denkmalschutz im<br />

Spannungsfeld der Politik<br />

Diskussion mit den Fachsprecherinnen<br />

und Fachsprechern der Bürgerschaft<br />

Kooperationsveranstaltung des<br />

Arbeitskreises Denkmalschutz der<br />

Patriotischen Gesellschaft von 1765<br />

und des Denkmalvereins Hamburg<br />

Eintritt frei zu allen Veranstaltungen,<br />

Anmeldung erbeten:<br />

www.patriotische-gesellschaft.de<br />

Haus der Patriotischen Gesellschaft,<br />

Trostbrücke 4-6, 20457 Hamburg


Freunde<br />

Julia Bauer kennt Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

„schon ewig“ – seit drei Jahren ist<br />

sie nun auch im Freundeskreis.<br />

Zwei Fliegen mit<br />

einer Klappe<br />

Online einkaufen und gleichzeitig für soziale Projekte spenden?<br />

Julia Bauer macht es möglich: mit smileshopping.de<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTO: LENA MAJA WÖHLER<br />

Eigentlich ist Annemarie Dose<br />

schuld. Mit der Gründerin<br />

der Hamburger Tafel war<br />

Julia Bauer (38) gut befreundet,<br />

fuhr ehrenamtlich auf Touren der<br />

Tafel mit, teilte Lebensmittel aus. Bauer:<br />

„Ami hat immer zu mir gesagt: ‚Wir<br />

müssten mal was erfinden, was von alleine<br />

Geld bringt.‘“ Irgendwann machte<br />

es klick bei der PR- und Marketingexpertin:<br />

Einkaufen tun die Leute doch<br />

immer. Was wäre, wenn man bei jedem<br />

Online-Einkauf automatisch und ohne<br />

zusätzliche Kosten etwas spenden könnte?<br />

Die Idee für ihre Onlinepräsenz<br />

smileshopping.de war geboren.<br />

Über drei Ecken fand Bauer einen<br />

Programmierer, der die Website für ei-<br />

nen Bruchteil des normalen Honorars<br />

baute. 2014 ging es los. Heute kann<br />

man in mehr als 100 Shops online einkaufen.<br />

Es sind große Namen dabei wie<br />

Ikea oder Media Markt. Tierfreunde<br />

werden ebenso fündig wie Leseratten,<br />

auch Kleidung kann man bestellen.<br />

Das Besondere: Bei jedem Einkauf<br />

spendet man gleichzeitig zwischen<br />

5 Prozent (Minimum) und 20 Prozent<br />

vom Einkaufswert. „Es soll ja auch was<br />

dabei rumkommen“, so Bauer. Kunden<br />

können sich zwischen zehn sozialen<br />

Projekten entscheiden. Neben der<br />

Hamburger Tafel sind etwa die Michael-<br />

Stich-Stiftung und der Verein Vita dabei,<br />

der Assistenzhunde für Behinderte<br />

ausbildet – und: Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Bauer<br />

nimmt nur Projekte auf, die sie kennt<br />

und gut findet: „Auf der Mönckebergstraße<br />

möchte man ja auch selbst entscheiden:<br />

Hier schmeiße ich was in den<br />

Becher und hier nicht.“<br />

Für Hinz&<strong>Kunzt</strong> sind seit dem<br />

Start schon mehr als 1500 Euro zusammengekommen.<br />

„Das freut mich, denn<br />

ich kenne Hinz&<strong>Kunzt</strong> schon ewig,<br />

kaufe immer bei meinem Stammverkäufer<br />

an der Hallerstraße“, sagt Bauer,<br />

die seit drei Jahren auch im Freundeskreis<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist.<br />

Was ist denn gerade der Renner in<br />

ihrem Shop? „Büromaterialien“, sagt<br />

Bauer wie aus der Pistole geschossen.<br />

Kein Zufall, die Marketingfachfrau akquiriert<br />

persönlich bei klein- und mittelständischen<br />

Unternehmen. „Die brauchen<br />

ihr Büromaterial jeden Monat. Da<br />

wird regelmäßig bestellt“, sagt sie. Und<br />

was kauft sie selbst am liebsten online?<br />

Julia Bauer lacht. „Ich bin da echt eine<br />

untypische Frau, weil ich eher ein Shopping-Muffel<br />

bin. Aber Pferdefutter kaufe<br />

ich immer online.“ •<br />

Mehr Infos unter<br />

www.smileshopping.de<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

44


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Freunde<br />

JA,<br />

ICH WERDE<br />

MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

Einlochen für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

und Golf?<br />

„Passt“, finden<br />

Irmhild Heller und<br />

Heiko Schüßler.<br />

„Beides bringt<br />

Menschen<br />

zusammen.“<br />

Der Golfclub Gut Immenbeck in Buxtehude lädt zum Benefizturnier.<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler/Studenten/Senioren)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum; Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN; FOTO: LENA MAJA WÖHLER<br />

Wenn Irmhild und Lutz Heller bei ihrem<br />

Stammverkäufer in Buxtehude ein<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Magazin kaufen, dann<br />

wird erst mal eine Runde geschnackt.<br />

Berührungsängste kennt das Ehepaar<br />

nicht. „Begegnungen herstellen, miteinander<br />

ins Gespräch kommen“, das ist<br />

für die beiden Ruheständler wichtig.<br />

Schon seit mehr als 20 Jahren organisieren<br />

sie deshalb mit ihrem kleinen<br />

Golfclub auf dem Gelände des Guts<br />

Immenbeck Benefizturniere für unterschiedliche<br />

Einrichtungen.<br />

Am 8. <strong>Oktober</strong> wird nun das erste<br />

Turnier zugunsten des Hamburger<br />

Straßenmagazins aus gerichtet. „Uns<br />

gefällt an Hinz&<strong>Kunzt</strong> die Idee der<br />

Hilfe zur Selbsthilfe“, so Irmhild Heller.<br />

Das Turnier hat sie mit dem Clubvorsitzenden<br />

Heiko Schüßler gemeinsam<br />

organisiert und die Bürgermeisterin der<br />

Hansestadt Buxtehude als Schirmherrin<br />

gewonnen. Nicht nur Clubmitglieder,<br />

auch Gäste sind zum Einlochen<br />

willkommen. Vom Startgeld der Teilnehmer<br />

wird eine Basisspende von<br />

20 Euro einbehalten. Wer will, kann<br />

aufstocken, auch die Zuschauer dürfen<br />

natürlich spenden. Dazu kommen noch<br />

Einnahmen aus einer Tombola. •<br />

Sonntag, 8. <strong>Oktober</strong>, 11 Uhr,<br />

Golfclub Gut Immenbeck, Inne Beek 66,<br />

21614 Buxtehude<br />

info@gut-immenbeck.de<br />

Anmeldeschluss: 4. <strong>Oktober</strong>, 16 Uhr.<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Beruf<br />

Geburtsjahr<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

Wir danken allen, die im September an<br />

uns gespendet haben, sowie allen Mitgliedern<br />

im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

für die Unterstützung unserer Arbeit!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH<br />

• wk it services<br />

• Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Dankeschön<br />

45<br />

• Hamburger Tafel<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

• bildarchiv-hamburg.de<br />

• Dank an die Spielbudenplatzbetreibergesellschaft<br />

für die Einladung zum<br />

Brötchen- und Kuchenverkauf beim Flohmarkt<br />

• Kampf der Künste für die Ausrichtung des<br />

U20 Poetry Slams zu unseren Gunsten<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Wir versichern, dass Ihre Angaben nur für interne<br />

Zwecke bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> verwendet werden. Ihre<br />

Mitgliedschaft im Freundeskreis ist jederzeit kündbar.<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Oder online im Freundeskreis anmelden unter<br />

www.hinzundkunzt.de/freundeskreis<br />

HK <strong>296</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

Was unsere Leser meinen<br />

„450.000 Deckel finanzieren 900 Impfungen“<br />

Deckel drauf<br />

H&K 295, Unser Flughafen-Kooperationsprojekt<br />

„Spende Dein Pfand“<br />

Dieses Projekt ist eine gute Sache.<br />

Man könnte ihm aber noch ein<br />

i-Tüpfelchen aufsetzen, indem man die<br />

Plastikdeckel an das Projekt „Deckel<br />

drauf“, das mit den Plastikdeckeln<br />

Spenden für die Finanzierung von<br />

Impfungen gegen Kinderlähmung erwirtschaftet,<br />

weitergeben würde. Das<br />

würde nahezu gar nichts kosten und den<br />

Allerärmsten unseres Planeten helfen.<br />

Mit den 450.000 gesammelten Deckeln<br />

etwa hätte man so bereits 900 Impfungen<br />

finanzieren können. ANDREAS WÜRTH<br />

Anmerkung der Redaktion: Unsere Pfandsammler<br />

am Flughafen machen bereits mit<br />

beim Projekt www.deckel-gegen-polio.de<br />

Nicht ohne Geburtenkontrolle<br />

H&K 295, Die Müllbergkinder von León<br />

Das Engagement von Herrn Dr.<br />

Steidinger ist bewundernswert, aber<br />

wie so oft in den Armutsgebieten der<br />

Welt – egal ob in Asien, Afrika oder<br />

Südamerika – ist dieses Elend nicht<br />

nur mit einer Mahlzeit und Lesenund<br />

Schreibenlernen zu bekämpfen,<br />

sondern mit Geburtenkontrolle. Ich<br />

kenne Fälle aus Afrika, wo Kinder aus<br />

Familien mit fünf bis acht Kindern nur<br />

für die eine tägliche warme Mahlzeit in<br />

die Schule geschickt werden. Am Ende<br />

können sie Gott sei Dank zwar lesen<br />

und schreiben, es nützt aber nichts, weil<br />

es keine Arbeit gibt und ohne Empfängnisverhütung<br />

viele neue Kinder in<br />

die Not geboren werden. ANTJE NETZ<br />

Wie aus Geretteten Leser wurden<br />

H&K allgemein<br />

Ein paar Freunde und ich machten<br />

unsere alljährliche Paddeltour auf<br />

der Alster. Im Laufe der Zeit sind einige<br />

von uns in die Jahre gekommen, der Älteste<br />

ist 84. Trotzdem hatten wir etwas<br />

zu viel Temperament und kenterten.<br />

Zum Glück war ein großes Tretboot in<br />

der Nähe und kam uns zur Hilfe. Unser<br />

Senior wurde aus dem Wasser gezogen<br />

und auch ich. Ein beherzter Paddler<br />

im knallroten Boot kam heran und hat<br />

mich aufs Boot gehievt. Die anderen<br />

schwammen ans Ufer. Wir haben<br />

anschließend noch viel Hilfsbereitschaft<br />

erfahren, besonders von zwei Frauen,<br />

Mutter und Tochter, die uns zu<br />

unserem Bootsverleih zurückgebracht<br />

haben. Meine Frage, wie ich mich<br />

erkenntlich zeigen kann, wurde abgewehrt.<br />

Wenn überhaupt, sei eine Spende<br />

an Hinz&<strong>Kunzt</strong> gerne angenommen.<br />

Dieses wird morgen geschehen.<br />

Nach langer Zeit, muss ich<br />

zugeben, habe ich wieder einmal ein<br />

Magazin gekauft und werde es in<br />

Zukunft regelmäßig tun. Die Beiträge<br />

sind toll, öffnen die Augen und wecken<br />

Verständnis. Weiter so! CHRISTEL WILKE<br />

Leserbriefe geben die Meinung des<br />

Verfassers wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

DER ETWAS<br />

ANDERE STADTRUNDGANG<br />

MIT CHRIS UND HARALD<br />

Wir trauern um<br />

Stanislaw Pietka<br />

8. Mai 1953 – 2. September <strong>2017</strong><br />

Stanislaw war seit 2003 bei uns. Bis zuletzt verkaufte er das<br />

Straßenmagazin vor Aldi in der Steilshooper Straße.<br />

Die Verkäufer und das Team von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

Hamburg hat viele Seiten – wir zeigen eine, die in keinem<br />

Reiseführer steht. Unsere Stadtführer zeigen Anlaufstellen<br />

für Obdachlose in der Hamburger Innenstadt. Die beiden<br />

Hinz&Künztler kennen das Leben auf der Straße aus eigener<br />

Erfahrung und geben bei der zweistündigen Tour authentische<br />

Einblicke in den Alltag von Wohnungslosen.<br />

Anmeldung: Bequem online unter<br />

www.hinzundkunzt.de oder<br />

Telefon: 040/32 10 83 11<br />

Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />

nächste Termine:<br />

15. und 29.10.<strong>2017</strong>, 15 Uhr<br />

trostwerk-andere bestattungen


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Abgebildet: Nacha Vollenweider stellt ihre Graphic Novel beim Comicfestival vor (S. 48).<br />

Aufgehorcht: Die „Hallo-Festspiele“ befeuern das alte Kraftwerk Bille mit neuen Tönen (S. 52).<br />

Angeschoben: Hinz&Künztler Peter begleitet Rollifahrer zu Heimspielen auf St. Pauli (S. 58).<br />

„Die Stille nach der<br />

Katastrophe“ heißt<br />

die Ausstellung von<br />

Fotograf Daniel Etter über<br />

Kinder in Syrien.<br />

Seine eindringlichen<br />

Porträts sind noch<br />

bis zum 18. <strong>Oktober</strong> zu<br />

sehen (S. 53).


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Die S-Bahn als<br />

Kreativlabor<br />

Vom Leben in Argentinien, Fremdsein in<br />

Hamburg und S-Bahn-Fahrten in die Stadt:<br />

Nacha Vollenweider hat aus ihrem Leben in<br />

zwei Welten eine Graphic Novel gemacht. Beim<br />

Comicfestival stellt sie ihre Zeichnungen aus.<br />

TEXT: FRANK KEIL<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

ILLUSTRATIONEN: NACHA VOLLENWEIDER<br />

Erst Stipendiatin an der<br />

HAW, jetzt Buchautorin:<br />

Nacha Vollenweider<br />

zeichnete eine Graphic<br />

Novel über ihre<br />

Familiengeschichte.<br />

Das Arbeitszimmer von<br />

Nacha Vollenweider in<br />

Eimsbüttel ist nicht groß.<br />

Sie braucht zum Zeichnen<br />

auch nicht viel Platz: Ein kleiner<br />

Schreibtisch, darauf ein Tablet, ein Becher<br />

mit Stiften, ein Stapel Papier bögen,<br />

das reicht. In einem Koffer liegen jede<br />

Menge Originalzeichnungen für ihre<br />

Graphic Novel „Fußnoten“, ihr erstes<br />

Buch in Deutschland. In Argen tinien ist<br />

es bereits erschienen.<br />

Dort wird Nacha Vollenweider<br />

1983 geboren, sie wächst dort auf.<br />

Schon als Kind malt sie leidenschaftlich<br />

gerne, zeichnet Comics, studiert nach<br />

der Schule Malerei. Lernt bei einem<br />

Workshop in Buenos Aires die deutsche<br />

Comicszene kennen, von der sie begeistert<br />

ist. Sie bewirbt sich für ein Stipendium<br />

für Design und Medien an der<br />

Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />

in Hamburg und bekommt es.<br />

Vorher muss sie nur einen Sprachkurs<br />

in Köln besuchen. „Köln ist nicht<br />

schön, aber witzig“, sagt sie und lacht.<br />

Mit Hamburg sei es eher umgekehrt.<br />

Die ersten Wochen und Monate an<br />

der Hochschule an der Finkenau fallen<br />

ihr nicht leicht. Deutsch zu lernen sei<br />

wirklich schwer: „Wenn ich eine Stunde<br />

Deutsch gehört hatte, wurde ich müde“,<br />

erzählt sie. Sie sagt: „Die Sprache<br />

ist eine große Grenze.“<br />

Noch etwas kommt hinzu: Man<br />

müsse in Deutschland ständig auf sich<br />

aufmerksam machen, müsse sich interessiert<br />

zeigen, müsse auffallen. Auch<br />

wenn einem vielleicht nicht immer danach<br />

zumute sei. „Die Deutschen fragen<br />

nicht so nach“, sagt sie. „Sie kommen<br />

zum Lernen, und danach gehen sie<br />

schnell nach Hause.“<br />

Entsprechend schwierig ist es für sie,<br />

Anschluss und Freunde zu finden. Ein<br />

Jahr habe es gedauert, bis sie zu sich<br />

sagen konnte: „Okay, jetzt fühle ich mich<br />

langsam wohl.“ Irgendwann hätten ihre<br />

Mitstudenten sie so kennengelernt, wie<br />

sie eigentlich sei: offen und kommunikativ<br />

und dabei ziemlich lustig. „Man hat<br />

mir hinterher gesagt, ich sei immer so<br />

sehr ernst gewesen, so seriös. Dabei war<br />

ich nur extrem konzentriert.“<br />

Sie lebt in den ersten Monaten in<br />

Bergedorf. In Erinnerung geblieben<br />

sind ihr die langen Fahrten mit der<br />

S-Bahn vom Bergedorfer Bahnhof rein<br />

in die Stadt. Lang – nicht zeitlich gesehen.<br />

Man braucht schließlich von<br />

Altona nach Barmbek ähnlich lange, um<br />

die 25 Minuten. Aber die Bergedorfer<br />

49


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

In „Fußnoten“ kontrastiert Nacha<br />

Vollenweider Alltagsbeobachtungen<br />

mit Erinnerungen aus Argentinien.<br />

Strecke führt zwischendurch entlang an<br />

Feldern und Wiesen, man sieht in der<br />

Ferne die Wolken, wie sie fast den<br />

Boden berühren. Bis ab der Station<br />

Tiefstack die Großstadt Haus um Haus<br />

heranrückt, es ist jedesmal fast eine kleine<br />

Reise. „Man hat Zeit zu gucken, und<br />

man hat Zeit zu überlegen“, sagt sie.<br />

Damals kommen ihr die ersten<br />

Ideen und Einfälle für ihr Buch. Noch<br />

ganz ungeordnet, eher assoziativ. „Ich<br />

hatte keinen Plan, keine Handlung, der<br />

ich folgen wollte; ich habe so gezeichnet<br />

wie Erinnerungen funktionieren: Plötzlich<br />

erinnerst du dich an etwas, dir fällt<br />

etwas ganz anderes ein; du schweifst ab,<br />

findest wieder zurück und weißt gar<br />

nicht genau, wie das alles passiert ist“,<br />

erzählt sie. Und so zeichnet sie auch:<br />

mit schnellen Strichen, eher grob und<br />

skizzenhaft. Und in Schwarz-Weiß,<br />

nicht in Bunt. Und sie fragte sich, ob<br />

das Buch, wenn es denn je fertig wird,<br />

veröffentlicht wird? „Ich konnte mir<br />

nicht vorstellen, dass meine Geschichte<br />

„In der Bahn<br />

hat man Zeit<br />

zu gucken“<br />

NACHA VOLLENWEIDER<br />

einen Verleger interessieren könnte“,<br />

sagt sie. Ist das nicht alles zu privat, zu<br />

speziell, was sie da zeichnerisch erzählt?<br />

„Ich habe das Buch erst mal für mich<br />

selber gemacht“, sagt sie.<br />

50<br />

Und so erzählt es von ihren Bergedorfer<br />

S-Bahn-Fahrten und darüber, dass sie<br />

sich so lange nicht an die trüben Herbstund<br />

Wintertage in Hamburg gewöhnen<br />

konnte; davon, wie sie ihre Frau heiratet,<br />

die sie noch in Argentinien kennenlernte,<br />

wo diese Deutsch am Goethe-<br />

Institut unterrichtete, auch noch, als sie<br />

selbst schon in Deutschland ist – sodass<br />

sie zeitweise eine Fernbeziehung führen.<br />

Zurück geht die Erinnerungsreise nach<br />

Argentinien, in die Provinz Buenos<br />

Aires, wo ihre Großmutter, eine überzeugte<br />

Anhängerin der Regierung<br />

Perón, Gartenzwerge im Garten aufstellt,<br />

vor denen sie sich als Kind sehr<br />

gruselt. Und wo es einen Ort namens<br />

„Altona“ gibt. Von ihrem Onkel mütterlicherseits<br />

erfahren wir, der zu Beginn<br />

der Militärdiktatur, die von 1976<br />

bis 1983 dauert, spurlos verschwindet


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

und wie sich ihre Großmutter daraufhin<br />

den „Müttern der Plaza de Mayo“<br />

anschließt, die bis heute das Schicksal<br />

vieler Verschwundener aufzuklären<br />

versuchen.<br />

Und noch weiter zurück geht ihr<br />

Buch und erzählt auch die Geschichte<br />

ihrer Vorfahren. Und wer sich bisher<br />

darüber gewundert hat, dass eine<br />

Altona gibt’s<br />

auch in<br />

Argentinien.<br />

51<br />

Argentinierin einen Nachnamen wie<br />

„Vollenweider“ trägt, erfährt nun, dass<br />

einst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts<br />

ein Heinrich Vollenweider in<br />

Argentinien für eine Schweizer Auswanderungsagentur<br />

tätig war – ihr<br />

Urur großvater, der in Familienkreisen<br />

den Spitznamen „Amerika-Heiri“ trug.<br />

Der alle seine Kinder stets zur Schulausbildung<br />

zurück in die Schweiz<br />

schickte, also auch den Großvater ihres<br />

Vaters, in den Ort Obfelden im Kanton<br />

Zürich. „Dieser Urgroßvater hat<br />

immer versucht, den Kontakt in die<br />

Schweiz zu halten und auch zu bewahren,<br />

woher unser Familienname Vollenweider<br />

kommt“, sagt sie.<br />

Nun hat sie dessen Aufgabe übernommen,<br />

sie war von Hamburg aus<br />

mehrmals in der Schweiz und hat sich<br />

gut mit einer Cousine angefreundet und<br />

auch erfahren, wie schön es sich anfühlen<br />

kann, wenn man über die Herkunft<br />

der eigenen Familie Bescheid weiß.<br />

Auch davon erzählt ihr Buch.<br />

„Meine Geschichte von Migration<br />

ist nicht dramatisch“, sagt sie. Sie musste<br />

schließlich nicht ihr Leben riskieren,<br />

als sie das Land wechselte. Trotzdem sei<br />

es schwierig, sich einen neuen Ort anzueignen<br />

und heimisch zu werden. Und<br />

sie will auch erzählen, dass im vergangenen<br />

Jahrhundert und dem davor viele<br />

Menschen aus Europa nicht nur in die<br />

USA und nach Kanada ausgewandert<br />

sind, sondern auch in die noch jungen<br />

Staaten Südamerikas, was weitaus weniger<br />

bekannt ist.<br />

Ideen, welches Buch sie als nächstes<br />

schreiben und zeichnen könnte, hat<br />

sie einige. Vielleicht zeichnet sie eine<br />

Chronik über Brasilien (denn zwischendurch<br />

war sie mit ihrer Frau, die dort<br />

für ein paar Monate einen Job hatte, in<br />

Brasilien, und man solle jetzt bitte nicht<br />

denken, Brasilien und Argentinien, das<br />

sei doch irgendwie dasselbe!); vielleicht<br />

schreibt sie eine Geschichte des Tangos;<br />

vielleicht wird es aber auch ein Bilderbuch<br />

über die Milongas, begleitet<br />

von durch sie übersetzten Tangoliedern<br />

– mal schauen, was kommt. Erst mal ist<br />

sie gespannt, wie ihr Buch hierzulande<br />

ankommt und ihre Zeichnungen, die<br />

sie jetzt beim Comicfestival ausstellt.<br />

In Hamburg wird sie erst mal bleiben,<br />

Hamburg soll es sein. Welches<br />

Detail das verrät? Sie hat sich erst neulich<br />

ein Tattoo stechen lassen: einen<br />

kleinen, schnörkellosen Anker, er hat<br />

auf der Innenseite ihres rechten Oberarmes<br />

seinen Platz gefunden. Da, wo<br />

man ihn nicht gleich sieht. Irgendwie<br />

typisch hamburgisch. •<br />

Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de<br />

Nacha Vollenweider: „Fußnoten“,<br />

Avant Verlag, Berlin; 206 Seiten, 20 Euro.<br />

Zeichnungen von Nacha Vollenweider<br />

sind auf dem Hamburger Comicfestival<br />

(5.–8.10.) zu sehen. Galerie Speckstraße<br />

(Gängeviertel), Eröffnung: Fr., 6.10.,<br />

20 Uhr; Öffnungszeiten: Sa, 11–18 Uhr,<br />

So, 12–18 Uhr, weitere Infos zum Festival<br />

unter www.comicfestivalhamburg.de<br />

Nacha Vollenweider gibt einen Comickurs<br />

im Haus 3, Hospitalstraße 3, jeden<br />

Mittwoch von 18 bis 20 Uhr, Anmeldungen:<br />

mail@nacha-vollenweider.de,<br />

www.nacha-vollenweider.de<br />

<br />

PRIME CIRCLE<br />

<br />

MACHINE GUN KELLY<br />

<br />

PHILIPP DITTBERNER<br />

<br />

KASALLA<br />

<br />

MATT ANDERSEN<br />

<br />

THE KILKENNYS<br />

<br />

JESPER MUNK, LARY & ROBOT<br />

<br />

GIORA FEIDMAN &<br />

RASTRELLI CELLO QUARTETT<br />

<br />

ROBIN SCHULZ<br />

<br />

BRIT FLOYD<br />

<br />

ÁSGEIR<br />

<br />

ASTRID S<br />

<br />

NILS LANDGREN FUNK UNIT<br />

<br />

ARRESTED DEVELOPMENT<br />

<br />

JOCO<br />

<br />

LEROY SANCHEZ<br />

<br />

CHRIS REA<br />

<br />

SYLVAN ESSO<br />

<br />

ANATHEMA<br />

<br />

KASABIAN<br />

<br />

HENNING WEHLAND<br />

<br />

WOLFGANG HAFFNER & BAND<br />

<br />

BANKS<br />

<br />

CAPO<br />

<br />

MARCUS MILLER<br />

<br />

ZARA LARSSON<br />

<br />

PVRIS<br />

<br />

ROMANO<br />

<br />

SEVEN<br />

<br />

FIVE FINGER DEATH PUNCH / IN FLAMES<br />

<br />

JOHANNES OERDING<br />

TICKETS: KJ.DE


Kult<br />

Tipps für <strong>Oktober</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Festival<br />

Klangkunst im Kraftwerk Bille<br />

Stillgelegt? Ansichtssache. Die „Hallo<br />

Festspiele“ fahren den Energiepegel im<br />

Kraftwerk Bille wieder richtig hoch und<br />

bringen das alte Gemäuer in Hammerbrook<br />

zum Klingen. Neue Saiten zieht<br />

etwa die amerikanische Klangkünstlerin<br />

Ellen Fullman auf, die das Kraftwerk<br />

zum Resonanzraum für ihre 21 Meter<br />

lange Skulptur „Long String Instrument“<br />

umbaut und während des<br />

Festivals live bespielt. In der Woche<br />

vom 4. bis 7. <strong>Oktober</strong> klingen im<br />

historischen Kohlekraftwerk die ersten<br />

Töne an, am folgenden Wochenende<br />

52<br />

Da ist Musik drin: Ellen Fullman nutzt das alte<br />

Kohlekraftwerk am Bullerdeich als Klangkörper.<br />

feiern die „Hallo Festspiele“ ihr Finale<br />

mit Livekonzerten, DJ-Sets, Musiktheaterstücken,<br />

hörbaren Kunstinstallationen<br />

und Performances. •<br />

Kraftwerk Bille, Bullerdeich 14b, 4.–7. und<br />

13.–14.10., 19 Uhr (samstags 15 Uhr),<br />

Eintritt 10 Euro, www.hallo-festspiele.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

FOTOS: CAMINO FILMVERLEIH, DANIEL KALINKE, ELKE WALFORD<br />

Ausstellung<br />

Hommage an eine Ausgegrenzte<br />

„Ich kann mich in so einer Welt nie mehr zurechtfinden“, schrieb die Künstlerin<br />

Anita Rée 1933 an ihre Schwester, bevor sie sich das Leben nahm. Dabei hatte<br />

die Hamburger Malerin schon so viele Widerstände gebrochen: Weil Frauen zu<br />

den Kunstakademien der Stadt regulär noch keinen Zugang hatten, nahm<br />

Anita Rée ihre Ausbildung selbst in die<br />

Hand, entwickelte sich zu einer der<br />

bedeutendsten Hamburger Malerinnen<br />

und schuf ab 1926 als Mitgründerin des<br />

Künstlerinnen-Netzwerks GEDOK<br />

neue Verhältnisse in der Hamburger<br />

Kultur szene. Vier Jahre später wurde sie<br />

als Tochter jüdischer Eltern von Nazis<br />

und ihren Mitläufern als „Artfremde“<br />

diffamiert und ausgeschlossen. Die<br />

Kunsthalle ehrt Anita Rée mit einer<br />

facettenreichen Retrospektive, die mehr<br />

als 200 Werke zeigt. •<br />

Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall,<br />

ab Fr, 6.10., 10 Uhr, Eintritt 6–14 Euro,<br />

www.hamburger-kunsthalle.de<br />

Film<br />

Hamburg auf die wilde Tour<br />

Anita Rée – hier ein Selbstbildnis – wurde<br />

von den Nazis als „Artfremde“ diffamiert.<br />

„Ich kann einstecken. Zur Not“, sagt Mauser. Da ist der 17-Jährige schon total<br />

verknallt. Mit Jackie an seiner Seite ist er zu allem bereit. Und dann trifft es ihn<br />

richtig hart: Sein Vater rastet aus, im Wohnzimmer liegt eine Leiche, die Polizei<br />

stellt Fragen. Sein nächster Boxgegner ist – oder war? – sein bester Freund.<br />

Die rätselhafte Brünette aus der Videothek will was von ihm. Und wieso sieht<br />

keiner außer Mauser diesen irren Indianer? Das Filmfest Hamburg zeigt mit<br />

„Es war einmal Indianerland“ ein Roadmovie vom Hamburger Stadtrand –<br />

bunt, wild und waghalsig. •<br />

Passage Kino, Mönckebergstraße 17, Sa, 7.10., 19 Uhr,<br />

Eintritt 9,50/7 Euro, www.filmfesthamburg.de<br />

Roadmovie nach dem<br />

Roman von Nils Mohl: „Es<br />

war einmal Indianerland".<br />

Literatur<br />

Starke Worte gegen die Angst<br />

Angststörungen und Panik zwangen<br />

Nicholas Müller, einst Sänger der<br />

Band Jupiter Jones, 2014 von der<br />

Bühne. Nun meldet er sich als<br />

Schriftsteller zu Wort: Sein Buch „Ich<br />

bin mal eben wieder tot“ erzählt davon,<br />

wie er lernte, Panikattacken auszuhalten<br />

und nach vorn zu blicken.<br />

In St. Georg liest er daraus vor. •<br />

Polittbüro, Steindamm 45, Do, 5.10.,<br />

20 Uhr, Eintritt 15/10 Euro,<br />

www.polittbuero.de<br />

Ausstellung<br />

Berührende Porträts<br />

Sie sind mit dem Leben davongekommen,<br />

doch ihre Gesichter spiegeln<br />

das Trauma des Krieges: Daniel Etter<br />

und SOS-Kinderdörfer zeigen Fotos<br />

von syrischen Kindern (Foto S. 47). •<br />

LFI Galerie, Springeltwiete 4, bis Mi,<br />

18.10., Mo–Fr, 10-18 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.sos-kinderdoerfer.de/ausstellung<br />

Kinder<br />

Minecraft ohne Computer<br />

Buch, Spiel, Computerspiel? „Nanos<br />

Abenteuer“ ist alles in einem. Hier<br />

bestimmt das Publikum, wie die<br />

Geschichte weitergeht. Aber aufgepasst:<br />

Nano ist in der gefährlichen<br />

Welt von Minecraft unterwegs! Karl<br />

Olsberg zeigt zum Auftakt der Code<br />

Week, wie das Spiel ohne Computer<br />

funktioniert und wie Kinder selbst<br />

interaktive Geschichten entwickeln. •<br />

Zentralbibliothek, Hühnerposten 1,<br />

Sa, 7.10., 12.30 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.hamburg.codeweek.de<br />

Konzert<br />

Taktvolle Paketzusteller<br />

Was passiert, wenn ein Jongleur und<br />

ein Schlagzeuger auf einer Minibühne<br />

einen Paketlieferdienst mimen? Die<br />

Rhythmusshow „Pakman“ macht es<br />

beim Festival KinderKinder hörbar –<br />

und begeistert auch Große. •<br />

Pakman, verschiedene Stadtteilzentren,<br />

ab Sa, 7.10., Eintritt 7–9 Euro,<br />

www.kinderkinder.de<br />

53


Film<br />

Malochen bis zum bitteren Ende<br />

Schuften ums nackte Überleben,<br />

bis der Körper den Geist aufgibt – in<br />

den reichen Ländern der Welt gilt<br />

Schwerstarbeit längst als historisch<br />

überwunden. Doch anderswo geht die<br />

Maloche weiter. Der Dokumentarfilm<br />

„Workingman’s Death“ nimmt seine<br />

Zuschauer mit zu diesen Orten:<br />

Er zeigt Minenarbeiter in der Ukraine,<br />

Schlachter in Nigeria und Schiffsabwracker<br />

in Pakistan, folgt indonesischen<br />

Schwefelarbeitern in den Krater des<br />

Vulkans Ijen und erzählt von Hoffnungen<br />

auf eine bessere Zukunft. Die Doku<br />

von Michael Glawogger, die 2005<br />

erschienen ist und mehrfach prämiert<br />

54<br />

Schwerstarbeit: Schwefelträger auf Java buckeln bis zu<br />

100 Kilo – dokumentiert von Filmemacher Michael Glawogger.<br />

wurde, schafft eine Verbindung<br />

zwischen Leben und Sterben der<br />

Schwerstarbeiter und dem Wohlstand<br />

der Industrienationen. Ein sehenswerter<br />

Film, der zum Umdenken anregt. •<br />

Metropolis Kino, Kleine Theaterstraße 10,<br />

Mi, 25.10., 19 Uhr, Eintritt 7,50/5 Euro,<br />

www.metropoliskino.de


FOTOS: GOOD!MOVIES/REAL FICTION, MICHAEL STEINHAUSER, PRIVAT<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Musik<br />

Mit Afrobeat gegen Ungerechtigkeit<br />

Fela Kuti und Toni Allen gelten nicht nur in ihrem Heimatland Nigeria als<br />

Legenden: Gemeinsam setzten sie in den 1970er-Jahren den Afrobeat in die Welt<br />

und protestierten mit ihrer Musik gegen Ausbeutung und Korruption. Wie würde<br />

der 1997 verstorbene Songschreiber Kuti die Welt heute kommentieren? Dieser<br />

Frage geht die Compagnie Follown auf dem „eigenarten Festival“ mit ihrer Show<br />

„Fela rewind“ nach. Dabei soll auch die befreiende Kraft des Afrobeat wieder<br />

Gehör finden. Das eigenarten Festival bringt Hamburger Künstler unterschiedlicher<br />

Herkunftsländer auf die Bühne und fördert gemeinsame Projekte. •<br />

Lichthof Theater, Mendelssohnstraße 15b, Fr, 27.10., 20.15 Uhr und So, 29.10., 19 Uhr,<br />

Eintritt 18/12 Euro, Reservierung und Programm: www.festival-eigenarten.de<br />

Debatte<br />

Grundeinkommen für alle?<br />

Ein Jahr lang jeden Monat 1000 Euro<br />

aufs Konto und das ohne irgendeine<br />

Bedingung – ein utopischer Traum?<br />

Für 100 Menschen ist er wahr<br />

geworden, so oft hat der Verein „Mein<br />

Grundeinkommen“ die monatliche<br />

Zuwendung schon verlost. Wie das<br />

bedingungslose Grundeinkommen ihr<br />

Leben verändert hat, erzählen einige<br />

der Gewinner im SpeedCafé der<br />

Körberstiftung. Die Gäste können<br />

dazu Fragen stellen. Und was würde<br />

passieren, wenn es bedingungsloses<br />

Grundeinkommen für alle gäbe? Das<br />

beantwortet der Hamburger Ökonom<br />

Thomas Straubhaar, der Chancen<br />

und Risiken für sein Buch „Radikal<br />

gerecht“ durchkalkuliert hat. •<br />

Körberforum, Kehrwieder 12,<br />

Mi, 18.10., 19 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.koerber-stiftung.de<br />

Was hätte Fela zu den<br />

politischen Verhältnissen<br />

heute gesagt, fragt die<br />

Compagnie Follown auf<br />

dem eigenarten Festival.<br />

Konzert<br />

Irie Révoltés sagen Tschüss<br />

Ihre Songs schallten bei Demos gegen<br />

Rechts aus den Boxen, immer wieder<br />

erhoben sie ihre Stimmen gegen Ausgrenzung<br />

und Hass. Nach 17 Jahren<br />

stöpseln die Musiker der Band Irie<br />

Révoltés nun ihre Mikros aus. Ihre<br />

Abschiedstournee führt die neunköpfige<br />

Band auch auf den Hamburger<br />

Kiez: Im Docks wollen sie mit ihrem<br />

typischen Sound aus Dancehall,<br />

Reggae, Hip-Hop und Punk noch<br />

einmal alle zum Hüpfen bringen. •<br />

Docks, Spielbudenplatz 19, Do, 19.10.,<br />

ab 19 Uhr, Eintritt 28,20 Euro + Gebühr,<br />

www.docks-prinzenbar.de<br />

Über Veranstaltungstipps bis zum<br />

10. des Vormonats freut sich Annabel<br />

Trautwein: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Kinofilm des Monats<br />

Humorfreie<br />

Zone<br />

Happy End heißt das neue<br />

Werk des leidenschaftlichen<br />

Misanthropen Michael Haneke<br />

und ist in etwa so happy<br />

wie ein Angstpatient vor der<br />

Paradontosebehandlung.<br />

Der Regisseur zwingt<br />

den Zuschauer über die gesamte<br />

Filmlänge durch die<br />

kalte, empathielose Welt einer<br />

französischen Großbürgerfamilie,<br />

die gemeinsam<br />

unter dem Dach der Familienvilla<br />

lebt. Selbst beim geneigten<br />

Zuschauer pochen<br />

die Schläfen. Ohne Mitgefühl<br />

und in emotionaler Apathie<br />

schlittern die Protagonisten<br />

auf ihr ganz persönliches<br />

Drama zu.<br />

Schonungslos konsequent<br />

zieht Haneke jedes<br />

Register des Miese-Laune-<br />

Kinos: Starre Totalen, strenge<br />

und beinahe künstlich wirkende<br />

Bilder und das fast<br />

völlige Fehlen von Witz und<br />

Filmmusik tragen dazu bei,<br />

dass der Kloß im Hals kontinuierlich<br />

wächst.<br />

Als dann kurz vor Schluss<br />

endlich der Vorhang gelüftet<br />

wird und die wahren Probleme<br />

dahinter hervorblitzen<br />

wie leuchtende Augen von<br />

Gespenstern, ist es für viele<br />

längst zu spät. Auf der Leinwand.<br />

Und davor. Die Bezüge<br />

auf das Zerbröckeln<br />

westlicher Familien- und<br />

Gesellschaftskultur mag eben<br />

doch nur noch sehen, wer bis<br />

zum Schluss durchhält.<br />

Happy End? Ein selbstverliebter<br />

Euphemismus auf<br />

allen Ebenen! Wie im echten<br />

Leben. Manchmal. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit vielen<br />

Jahren für<br />

uns ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

55


<strong>Kunzt</strong>&Comic<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

Republik<br />

in Ostafrika<br />

niederl.<br />

Moderatorin<br />

(Sylvie)<br />

balkonartiger<br />

Anbau,<br />

Söller<br />

rheinisch:<br />

Fels,<br />

Schiefer<br />

franz.<br />

Modeschöpfer<br />

† 1957<br />

völlig<br />

unwissend<br />

undeutlich<br />

reden<br />

früherer<br />

Name von<br />

Zagreb<br />

Rinder-,<br />

Schafsfett<br />

orientalische<br />

Flöte<br />

umgangssprachlich:<br />

Geld<br />

7<br />

6<br />

1<br />

von<br />

hohem,<br />

geradem<br />

Wuchs<br />

3<br />

9<br />

6<br />

8<br />

spanischer<br />

Tanz<br />

2<br />

4<br />

7<br />

5<br />

Nachahmung<br />

Marschall<br />

Napoleons<br />

III.<br />

gemietetes<br />

Auto<br />

3<br />

9<br />

8<br />

1<br />

3<br />

7<br />

österreichisch:<br />

Landschaft<br />

östlich<br />

von Paris<br />

5<br />

1<br />

7<br />

3<br />

4<br />

erster<br />

Gang,<br />

Vorspeise<br />

(franz.)<br />

orientalisches<br />

Fürstenschloss<br />

1<br />

5<br />

7<br />

Handwerk,<br />

Beruf<br />

5<br />

5<br />

8<br />

2<br />

germanischer<br />

Volksstamm<br />

Zauberwort<br />

Kasse<br />

hasenähnliches<br />

südamer.<br />

Nagetier<br />

erstklassig,<br />

hervorragend<br />

das<br />

Seiende<br />

(Philosophie)<br />

Gedichtform<br />

lateinamerikanischer<br />

Tanz<br />

10<br />

Münzeinheit<br />

in Norwegen<br />

Aarein<br />

der<br />

Schweiz<br />

Gebirge<br />

in Europa<br />

Diagramm<br />

der Hirnströme<br />

(Abk.)<br />

Fußballfreistoß<br />

(Kurzwort)<br />

fertig<br />

gebraten,<br />

gekocht,<br />

gebacken<br />

alter<br />

Stadteingang<br />

antike<br />

Weissagungsstätte<br />

Kurzform<br />

von:<br />

Timotheus<br />

Traubenernte<br />

aufgebraucht<br />

Geheimdienst<br />

der USA<br />

(Abk.)<br />

Flussmündungsform<br />

biblischer<br />

Priester<br />

Persönlichkeitsbild<br />

(engl.)<br />

ältere<br />

Einheit<br />

der<br />

Energie<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 27. <strong>Oktober</strong> <strong>2017</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />

zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von drei<br />

Exemplaren des Fotobuches „Die Datscha. 600 m 2 Glück“ von Evgeny<br />

Makarov (Sieveking Verlag). Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel war:<br />

Zentimeter. Die Sudoku-Zahlenreihe war: 849 236 715.<br />

6<br />

6<br />

8<br />

9<br />

4<br />

5<br />

6<br />

9<br />

7<br />

8<br />

1<br />

9<br />

6<br />

9<br />

10<br />

2<br />

AR1115-0617_3<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die<br />

unterste, farbig gerahmte<br />

Zahlenreihe.<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Rechtsanwalt),<br />

Rüdiger Knott (ehem. NDR 90,3-Programmchef),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Beate Behn (Lawaetz-Service GmbH), Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Dr. Jens Ade<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; v.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD),<br />

Mitarbeit Simone Deckner (sim), Jonas Füllner (jof), Ulrich Jonas (ujo),<br />

Frank Keil (fk), Benjamin Laufer (bela), Misha Leuschen (leu),<br />

Annabel Trautwein (atw), Uta Sternsdorff und Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Sonja Conrad, Dina Fedossova<br />

Online-Redaktion Simone Deckner, Jonas Füllner, Benjamin Laufer<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Christoph Wahring,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 40, info@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 20 vom 1. Januar 2015<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Marcus Chomse,<br />

Sigi Pachan, Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />

Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Cristina Stanculescu,<br />

Marcel Stein, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Rechnungswesen/Systemadministration Frank Belchhaus<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Ana-Maria Ilisiu, Isabel Kohler<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung), Stefan Calin,<br />

Adam Csizmadia, Gogan Dorel, Alexa Ionut, Ionel Lupu<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Jonas Gengnagel,<br />

Klaus Petersdorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2@ Medien GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

Verarbeitung Delle und Söhne, Buchbinderei<br />

und Papierverarbeitungsgesellschaft mbH<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 200505501280167873<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer<br />

17/414/00797, vom 15.11.2013 nach §5 Abs.1 Nr. 9<br />

des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister<br />

beim Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen. Wir bestätigen,<br />

dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong> einsetzen.<br />

Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben.<br />

Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf www.hinzundkunzt.de.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das obdachlosen und<br />

ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />

unterstützen die Verkäufer.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 3. Quartal <strong>2017</strong>:<br />

65.000 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>296</strong>/OKTOBER <strong>2017</strong><br />

„Die wilden Zeiten<br />

sind vorbei“, findet<br />

Peter. Mit 18 landete<br />

er das erste Mal<br />

auf der Straße.<br />

Stammgast<br />

am Millerntor<br />

Peter (59) verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> vor Edeka in Krupunder.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Eine Dauerkarte besitzt er nicht. Dafür<br />

fehlt das Geld. Trotzdem ist Peter bei<br />

jedem St.-Pauli-Heimspiel dabei. Er begleitet<br />

drei Rollstuhlfahrer. Ein paar<br />

Tage vor dem Spiel holt der 58-Jährige<br />

die Tickets ab. Am Spieltag hilft er<br />

schließlich den Behinderten durch den<br />

Trubel rund um das Stadion. Das ist<br />

nicht nur anstrengend, sondern erfordert<br />

vor allem ein hohes Maß an Verbindlichkeit.<br />

Peter zieht das durch, seit<br />

fünf Jahren schon.<br />

Für einen, der 20 Jahre auf der<br />

Straße lebte und der stark alkoholabhängig<br />

war, keine Selbstverständlichkeit.<br />

Was ihn motiviert? Einer der Rollifahrer<br />

ist Peters bester Freund.<br />

Seit 40 Jahren kennen sich die beiden.<br />

„Wir hatten den gleichen Bewährungshelfer,<br />

wohnten im gleichen Männerwohnheim<br />

und verbrachten viel Zeit<br />

bei der Heilsarmee auf St. Pauli“, erinnert<br />

sich Peter.<br />

Bereits als Säugling hatte ihn seine<br />

überforderte Mutter ins Heim abgegeben,<br />

mit 18 Jahren landete er das erste<br />

Mal auf der Straße. Statt eine Ausbildung<br />

zu suchen, fing er an zu klauen.<br />

Er wurde erwischt und machte schließlich<br />

„Urlaub in Fuhlsbüttel“, wie Peter<br />

das ausdrückt.<br />

Zurück in der Freiheit, verbrachte<br />

er fortan viel Zeit mit einem neuen<br />

Kumpel von der Heilsarmee. Anfangs<br />

jobbte er noch als Schausteller, später<br />

allerdings habe er nur noch „rumgebutschert“<br />

und viel getrunken, erzählt der<br />

gebürtige Hamburger. Oftmals in Begleitung<br />

seines Freundes.<br />

Der allerdings machte sich nach<br />

der Trennung von seiner Ehefrau mit<br />

einem Mal aus dem Staub. Das war etwa<br />

Mitte der 1980er-Jahre. Es gab kein<br />

Facebook. Kein StayFriends. Und so<br />

verloren sich die beiden aus den Augen.<br />

Peter bekam gar nicht mit, dass sein<br />

Kumpel wegen einer Knochenerkrankung<br />

erst im Rollstuhl und später wegen<br />

seiner Alkoholsucht sogar im Heim<br />

landete. Sie hätten sich sicherlich nie<br />

wiedergesehen, wenn sein Freund nicht<br />

vor fünf Jahren einen Platz in einem<br />

Wohnheim in Hamburg erhalten hätte.<br />

„Er hat dann nach mir gesucht“, sagt<br />

Peter. „Dort, wo er mich vermutet hat:<br />

Goldener Handschuh, Silbersack und<br />

all die anderen Kneipen, in denen wir<br />

früher rumhingen.“<br />

Doch im Unterschied zu seinem<br />

Kumpel hat Peter die Kurve gekriegt:<br />

Er ist längst nicht mehr Stammgast in<br />

irgendeiner Kneipe. Er trinkt noch,<br />

aber viel seltener. Und er hat eine eigene<br />

Wohnung. Seit 1999. Die dafür notwendige<br />

Stabilität verleiht ihm auch der<br />

regelmäßige Magazinverkauf. Vor 20<br />

Jahren kam er zu Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Der<br />

Kaffeetresen im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertrieb<br />

war schließlich auch der Ort, an dem<br />

ihn sein Freund aufspürte. „Er hat dort<br />

nach mir gefragt. Natürlich kannten die<br />

mich, und so haben wir wieder zusammengefunden“,<br />

erzählt Peter.<br />

Aus der anfänglichen Überraschung<br />

ist wieder echte Freundschaft erwachsen.<br />

Am Wochenende geht es ins<br />

Stadion – zusammen mit zwei weiteren<br />

Bewohnern aus dem Behindertenwohnheim.<br />

Oder Peter begleitet seinen<br />

Freund ans Wasser. Dort wird geangelt.<br />

„Wir sind ja inzwischen doch etwas<br />

älter geworden“, sagt Peter und muss<br />

schmunzeln: „Die wilden Zeiten sind<br />

wohl vorbei.“ •<br />

A. Beig<br />

Druckerei und Verlag<br />

GmbH & Co. KG<br />

Damm 9-19, 25421 Pinneberg<br />

Tel. 0 41 01/5 35-0<br />

Wir sorgen für den nötigen Druck!<br />

In unserer modernen und leistungsstarken Druckerei in Pinneberg<br />

produzieren wir neben unseren eigenen Publikationen auch zahlreiche<br />

Fremdaufträge. Wir stellen jährlich so ca. 90 Mio. Zeitungen her<br />

und verarbeiten über 350 Mio. Beilagen.<br />

58<br />

www.a-beig.de


KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH,<br />

www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale von 2,50 Euro bis 4 Euro,<br />

Ausland auf Anfrage. Versand ab 100 Euro Warenwert kostenlos.<br />

1. „Gegens Abstempeln“<br />

Zehn selbstklebende 70-Cent-Briefmarken mit<br />

Porträts von Hinz&Künztlern im A5-Heftchen.<br />

Konzeption: Agentur Lukas Lindemann Rosinski,<br />

Preis: 12 Euro<br />

4.<br />

2. „Mein Hamburg“<br />

Zwölf Hinz&Künztler waren unter Anleitung<br />

von Fotografi n Lena Maja Wöhler<br />

auf Fotosafari in Hamburg.<br />

Die besten Motive haben wir in einem<br />

DIN A4-Wandkalender zusammengefasst.<br />

Preis: 4,80 Euro<br />

5.<br />

1.<br />

2.<br />

3. „Lesebrettchen“<br />

Exklusiv für Hinz&<strong>Kunzt</strong> aus der<br />

Serie „Schöne Aussichten“, Pension<br />

für Produkte Hamburg.<br />

Design: Wolfgang Vogler,<br />

Material: Esche geölt (aus heimischen Wäldern),<br />

lasergraviert. Jedes Brett ist ein Unikat,<br />

in Deutschland gefertigt.<br />

Preis: 15,90 Euro<br />

4. „Non urban“-Klappkarten<br />

5 verschiedene Motive mit Umschlag,<br />

DIN A6, Fotograf Dmitrij Leltschuk.<br />

Der Erlös geht zur Hälfte an den Fotografen,<br />

zur Hälfte an das Hamburger Straßenmagazin.<br />

Preis: 8 Euro<br />

6.<br />

5. „Heiße Hilfe“<br />

Bio-Rotbuschtee, aromatisiert mit<br />

Kakao-Orangen-Note. Zutaten: Rotbuschtee<br />

(k. b. A.), Kakaoschalen, Zimt, Orangenschalen,<br />

natürliches Orangenaroma<br />

mit anderen natürlichen Aromen.<br />

Dose, 75 g, abgefüllt<br />

von Dethlefsen&Balk, Hamburg,<br />

Preis: 7,50 Euro<br />

7.<br />

3.<br />

6. „Einer muss ja das Maul aufmachen“<br />

T-Shirt vom Modelabel „Fairliebt“ aus<br />

100% Biobaumwolle, sozialverträglich<br />

genäht in Bangladesch und<br />

von Hand bedruckt in Deutschland.<br />

Größen: S, M, L, XL. Farben: Petrol für Herren,<br />

Meerwassertürkis für Damen,<br />

Preis: 24,90 Euro<br />

7. „Ein mittelschönes Leben“<br />

Eine Geschichte für Kinder<br />

über Obdachlosigkeit von Kirsten Boie,<br />

illustriert von Jutta Bauer.<br />

Preis: 4,80 Euro


<strong>Oktober</strong> <strong>2017</strong><br />

Hochverräter<br />

und Gewinner<br />

und andere Themen, die Hamburger bewegen<br />

Mi 04.10. | 19.00 Uhr | Gespräch<br />

Neue Weltunordnung Unter US-Präsident Donald Trump ziehen sich die Vereinigten Staaten immer<br />

mehr aus ihrer globalen Verantwortung zurück. Über die zukünftige Rolle der USA in der Welt sprechen<br />

Britta Sandberg, Der Spiegel, und Nora Müller, Körber-Stiftung, mit dem ehemaligen CIA-Direktor<br />

General David H. Petraeus. In Kooperation mit Der Spiegel.<br />

Di 10.10. | 19.00 Uhr | Buchvorstellung<br />

Geisterkinder: Erinnerungen an den Widerstand Die Attentäter vom 20. Juli 1944 wurden als<br />

Hochverräter hingerichtet – darunter auch der Vetter von Claus Schenk Graf von Stauffenberg,<br />

Caesar von Hofacker. In ihrem Buch »Geisterkinder« erzählt dessen Enkelin Valerie Riedesel die<br />

histori schen Ereignisse aus Sicht ihrer Familie. Carmen Ludwig, Körber-Stiftung, moderiert.<br />

Mi 18.10. | 19.00 Uhr | Input und SpeedCafé<br />

Hauptgewinn: Bedingungsloses Grundeinkommen Schon 100 Mal hat der Verein »Mein Grundeinkommen«<br />

ein solches verlost – monatlich 1.000 Euro für ein Jahr. Im SpeedCafé berichten<br />

Gewinner, was dies für sie verändert hat. Warum das Konzept für die ganze Gesellschaft funktioniert,<br />

erklärt Autor Thomas Straubhaar. Es moderiert Markus Riemann, Kulturmanager.<br />

Mi 25.10. | 19.00 Uhr | Diskussion<br />

So gelingt die Energiewende Neue Trassen für den Netzausbau? Der Jurist und Studienpreisträger<br />

Tom Pleiner schlägt eine Alternative vor: die Überplanung alter Leitungen. Darüber diskutiert er mit<br />

Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck. Barbara Schmidt-Mattern, Deutschlandfunk,<br />

moderiert. In Kooperation mit dem Deutschlandfunk.<br />

Stand: September <strong>2017</strong>, Änderungen vorbehalten. groothuis.de Fotos: Getty Images, Lea Weidenberg, Claudia Höhne, David Ausserhofer<br />

Eintritt frei, Anmeldung erforderlich: www.koerberforum.de<br />

KörberForum | Kehrwieder 12 | 20457 Hamburg | U Baumwall<br />

Telefon 040 · 80 81 92 - 0 | E-Mail info@koerberforum.de<br />

Veranstalter ist die gemeinnützige Körber-Stiftung.

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