Sea-Watch wurde 2015 gegründet und ist mit zwei Schiffen im Einsatz im Mittelmeer. Nach eigenen Angaben haben die rund 150 Aktiven im 1. Halbjahr dieses Jahres 5274 Menschen aus Seenot gerettet. Nicolas Zemke (unten rechts) ist seit anderthalb Jahren dabei. 10
WWW.HINZUNDKUNZT.DE Stadtgespräch „Am härtesten war der Schlafentzug“ Nicolas Zemke von Sea-Watch über seine Einsätze als Flüchtlingsretter und die jüngsten Entwicklungen auf dem Mittelmeer. INTERVIEW: ULRICH JONAS; FOTOS: SEA-WATCH.ORG (5), MAURICIO BUSTAMANTE (1) Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Nicolas, du warst zweimal als Seenotretter auf dem Mittelmeer unterwegs, zuletzt im Juni. Gab es eine Situation, in der du Angst um dein Leben hattest? ZEMKE: Ja. Einmal sind wir libyschem Militär begegnet. Das sind Leute mit großen Waffen, die in der Regel schlecht ausgebildet sind; da ist es wichtig, ruhig und respektvoll zu bleiben. Unser Schiff war mit 500 Menschen so überladen, dass wir eine Rettungsinsel zu Wasser gelassen hatten, auf der ich und ein „Mit jeder Meile mehr wird es gefährlicher für die Menschen.“ weiterer Aktivist mit einer Gruppe Flüchtlinge saßen. Das ist ein ekliger Moment, weil du nicht weißt, was passieren wird – es wurden ja auch schon Seenotretter beschossen. Weil die italienischen Behörden über Funk bestätigt haben, dass wir mit ihrer Erlaubnis vor Ort sind, haben die Libyer uns dann in Ruhe gelassen – nicht ohne die Bemerkung, dass wir uns so nahe an der Küste nicht wieder blicken lassen sollen. Gab es Momente, in denen du geglaubt hast: Ich halte das nicht mehr aus? Das geschieht nicht so schnell. Du kommst aus der Situation nicht raus, du musst funktionieren. Am härtesten war der Schlafentzug. Einmal waren wir als Crew deutlich länger als 24 Stunden am Stück wach. Da wird es gefährlich, weil die Konzentration nachlässt. Wenn dann noch viele Menschen an Bord sind, dürfen die Nautiker keinen Fehler machen, weil das Boot kentern könnte. Hast du Tote gesehen? Ja, bei der Juni-Mission sind wir auf zwei Wasserleichen gestoßen. Und in einem der vielen Boote, von denen wir Menschen retten konnten, lagen auch einige Verstorbene. Was hilft in solchen Situationen? Die Tatsache, dass Hunderte auf dem Schiff sind, die wir retten konnten. Wie entwickelt sich die Situation auf dem Mittelmeer? Die Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden ist deutlich schlechter geworden. Und die sizilianische Staatsanwaltschaft macht Stimmung gegen Seenotretter. Euch wird vorgeworfen, dass ihr die Geschäfte von Menschenhändlern befördert oder gar mit ihnen zusammenarbeitet. Wir kooperieren nicht mit denen, wir halten die auch für Verbrecher. Wir bieten nur eine Antwort darauf, dass es keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Sobald Europa solche Fluchtwege eröffnet, wird den Menschenhändlern das Wasser abgegraben. Die libysche Küstenwache hat ihre Hoheitszone kürzlich massiv ausgedehnt und internationalen Seenotrettern, die dort aktiv sind, Gewalt angedroht. Was sind die Folgen? Das ist noch unklar. Rechtlich betrachtet kann eine Search-and-Rescue-Zone nicht einseitig ausgeweitet werden, sondern nur in Absprache mit anderen Staaten. Wir halten die Maßnahme für illegal. 11 Die Kollegen von „Sea-Eye“ haben nach kurzer Pause beschlossen, wieder Einsätze im Mittelmeer zu fahren, allerdings nun 70 bis 90 Seemeilen vor der libyschen Küste. Auch andere Organisationen wollen mehr Abstand halten als zuvor. Was bedeutet das? Deutlich mehr Tote. Wir sind bei unseren Einsätzen schon auf Boote gestoßen, die zwölf Seemeilen vor der Küste am Sinken waren. Und da die Boote massiv überladen sind, wird es mit jeder Meile mehr gefährlicher für die Menschen. Mitte dieses Monats soll euer neues Schiff „Sea-Watch 3“ von Malta aus Richtung libysche Küste starten. Werdet ihr dieselben Routen fahren wie in der Vergangenheit? Bislang ist das der Plan. Ihr geht ein großes Risiko ein bei euren Einsätzen. Warum machst du das? Ich fände es falsch, es nicht zu machen. Europa versagt politisch. Und ich kann dieses Versagen persönlich ein wenig mindern. • Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de Soli-Party am 2. <strong>Oktober</strong>, 23.45 Uhr im Hafenklang, Große Elbstraße 84 Mehr Infos über Sea-Watch unter www.sea-watch.org Nicolas Zemke, 26, Software- und Web- Entwickler, arbeitet seit eineinhalb Jahren für Sea-Watch. Zuletzt war er fest angestellt. Seit diesem Monat entwickelt er mithilfe von Fördergeldern des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt eine App, mit deren Hilfe Seenotretter Informationen austauschen und so schneller und mehr Menschen retten können.