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EUROPA JOURNAL - HABER AVRUPA DEZEMBER 2017

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11 - INTERVIEW / INTEGRATION<br />

<strong>HABER</strong><br />

<strong>AVRUPA</strong><br />

Ö<br />

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<strong>EUROPA</strong><br />

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<strong>JOURNAL</strong><br />

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<strong>DEZEMBER</strong> <strong>2017</strong><br />

Für moderne, funktionierende Zuwanderung -<br />

gegen Hass und Gewalt<br />

Attentat auf deutschen Politiker:<br />

Im Interview:<br />

Bürgermeister Hollstein wurde<br />

Opfer eines Messerangriffs wegen<br />

seiner Flüchtlingspolitik...<br />

• Europa Journal – Haber Avrupa: Am 27. November<br />

wurden Sie Opfer eines Messerangriffs.<br />

Wie geht es Ihnen, Herr Hollstein?<br />

Mir geht es körperlich gut. Die Verletzung ist<br />

Gott sei Dank nur ein tieferer Kratzer, was der<br />

Tatsache geschuldet ist, dass es mir gemeinsam<br />

mit Abdullah und Ahmet Demir gelang das<br />

Messer weitgehend weg zu halten. Die<br />

psychischen Folgen für mich und meine Familie<br />

kann ich noch nicht übersehen. Aber natürlich<br />

gehe ich anders als vor dem Angriff durch<br />

die Stadt, auch wenn ich versuche die Normalität<br />

wieder zu gestalten.<br />

• E.J. – H.A: Können Sie unseren Leserinnen<br />

und Lesern die näheren Umstände etwas<br />

erläutern?<br />

Beim Bestellen eines Döner in einem Imbiss<br />

um die Ecke wurde ich von einem anderen<br />

Kunden angesprochen. „Sind Sie der Bürgermeister?“<br />

– Ich antwortete, so wie üblich, „Ja,<br />

wieso?“ Daraufhin sagte er, dass er mich töten<br />

wolle, weil ich Ihn verdursten lassen würde<br />

und dafür 200 Ausländer nach Altena holen<br />

würde. Er zog ein Küchenmesser, setzte es mir<br />

an die Kehle. Gemeinsam mit den Inhabern des<br />

Imbisses bekamen wir den Angreifer in eine<br />

Position, bei der er später auch das Messer<br />

fallen lassen musste und die Ehefrau eines<br />

Inhabers holte die Polizei, die sich nur 100 m<br />

weiter befand.<br />

• E.J. – H.A: Wie sieht die Situation in Altena<br />

allgemein aus – Flüchtlinge, Arbeitslosigkeit,<br />

Zuzüge und Abwanderung?<br />

Die Einwohnerzahl in Altena ist 17.300, die<br />

Arbeitslosigkeit liegt bei ca. 6,5 %, wir haben<br />

ca. 130 Geflüchtete im Leistungsbezug, ca. 450<br />

Menschen mit Fluchthintergrund befinden<br />

sich in der Stadt. Die Stadt ist mit einer<br />

schrumpfenden und alternden Bevölkerung<br />

konfrontiert.<br />

• E.J. – H.A: Wie empfinden Sie die allgemeine<br />

Stimmung in Ihrer Stadt? Gibt es viel Kritik<br />

an Ihrer Politik?<br />

Das Zusammenleben ist friedlich. Wir stellen<br />

keine Erhöhung der Kriminalitätsstatistik durch<br />

Geflüchtete fest. Kritik gab es stark 2015,<br />

wobei es eine gemeinsame Entscheidung aller<br />

politischen Kräfte war, mehr Menschen als<br />

gefordert aufzunehmen. Dies waren überwiegend<br />

Familien und Kinder. Mittlerweile gibt<br />

es kaum Kritik, allerdings schnitt die rechtspopulistische<br />

AfD bei den Landtagswahlen<br />

und Bundestagswahlen auch in Altena etwa<br />

im Durchschnitt ab.<br />

• E.J. – H.A: Wie waren die Reaktionen auf die<br />

Tat im Nachhinein?<br />

Ganz überwiegend positiv! Viele Bürger haben<br />

gesagt oder geschrieben, dass der Kurs richtig<br />

ist und sie dahinterstehen. Man kann das<br />

auch einer spontan und privat organisierten<br />

Lichterkette entnehmen, an der sich am Mittwoch<br />

nach dem Angriff 350 Bürger mit dem<br />

Vorlauf von wenigen Stunden trafen.<br />

• E.J. – H.A: Wie ist der Angriff auf Ihre Person<br />

von den Medien aufgenommen worden<br />

bzw. mit welchem „Interesse“ wurde er<br />

verfolgt?<br />

Zeitgleich fand in Köln die Staatspreisverleihung<br />

an den Schriftsteller Navid Kermani<br />

statt, bei der der Ministerpräsident von NRW,<br />

Armin Laschet, Altena erwähnte und Navid Kermani<br />

die Attentate auf die Oberbürgermeisterin<br />

von Köln, Henriette Reker und den heutigen<br />

Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble<br />

ansprach (*siehe hierzu Infobox unten) und<br />

betonte, dass sich so etwas nicht wiederholen<br />

dürfe. Als dann der Ministerpräsident allen<br />

deutschen Medien eröffnete, dass es ein<br />

Attentat auf mich gegeben habe, können Sie<br />

sich vorstellen, wie schnell sich die Nachricht<br />

medial verbreitete. Ich habe meinerseits die<br />

Gelegenheit genutzt, auf die Bedrohungen und<br />

den Hass hinzuweisen, dem heute Amtsträger,<br />

Ehrenamtliche (Feuerwehr), Sanitäter weitgehend<br />

schutzlos ausgeliefert sind. Dies hat auch<br />

der Deutsche Städte- und Gemeindebund in<br />

einer Umfrage in der Zeitung „Kommunal“<br />

<strong>2017</strong> veröffentlicht. In einer Zeit, wo ein sächsisches<br />

Gericht den Vertrieb von Galgen mit<br />

© www.fotos-braun.de<br />

Politikerbildern als Ausdruck der Kunstfreiheit<br />

wertet, wo Kollegen wegen des Hasses und der<br />

Bedrohungen zurückgetreten sind (*siehe hierzu<br />

Infobox unten), gilt es gegenzuhalten und<br />

das gesellschaftliche Problem zu benennen.<br />

• E.J. – H.A: Ein deutscher Bürgermeister, der<br />

wegen der Flüchtlingspolitik angegriffen<br />

und mithilfe der türkischen Imbissbesitzer<br />

gerettet wurde – denken Sie, dass der Aufschrei<br />

weit größer gewesen wäre, wenn die<br />

Situation umgekehrt gewesen wäre? In den<br />

österreichischen Medien beispielsweise liest<br />

man recht wenig zu den näheren Umständen<br />

der Tat.<br />

Ich glaube, dass die mediale Wirkung da war<br />

und auch international (z.B. Griechenland,<br />

Italien, NY Times, Guardian, Le Monde) haben<br />

berichtet. Spekulationen, wie die Medien<br />

berichtet hätten, wenn es anders gewesen<br />

Zur Person / Zum Thema:<br />

Dr. Andreas Hollstein, geboren und aufgewachsen in Altena, Deutschland, ist seit 1999 Bürgermeister<br />

von Altena. Er ist verheiratet und hat 4 Kinder. Die Kleinstadt Altena mit 17 300 Einwohnern hat<br />

sich 2015 bereitgefunden, verhältnismäßig viele Flüchtlinge aufzunehmen. Im Mai <strong>2017</strong> wurde<br />

die Stadt von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem "Nationalen Integrationspreis" der<br />

Bundesregierung ausgezeichnet. Forscher der OECD haben sich neben Madrid, Paris und Rom auch<br />

Altena angeschaut, um zu lernen, wie Integration gelingen kann. Im September war Hollstein<br />

eingeladen, als Sprecher am "NYC Global Mayor Summit on Migration and Refugee Policy and Practice"<br />

teilzunehmen, einem Gipfeltreffen von Bürgermeistern aus aller Welt in New York.<br />

Infobox:<br />

wäre, möchte ich nicht anstellen.<br />

• E.J. – H.A: Wird dieser Angriff für Sie etwas<br />

verändern – persönlich aber auch politisch?<br />

Politisch setze ich mich weiter für meine<br />

Kleinstadt ein, für alle Gruppen von Menschen<br />

und die Dinge, die mir für die Zukunft vor Ort<br />

wichtig sind. Überregional werde ich mich<br />

weiter für eine moderne und funktionierende<br />

Zuwanderung einsetzen und gegen Hass<br />

und Gewalt eintreten. Was der Angriff bei<br />

mir selbst verändert, kann ich noch nicht<br />

überschauen. Sie können mich gerne in einem<br />

Jahr danach fragen.<br />

• E.J. – H.A: Wir wünschen gute Besserung<br />

und bedanken uns für das interessante Interview.<br />

Ich danke Ihnen auch!<br />

Mit besten Grüßen aus Altena<br />

• Am 17. Oktober 2015, einen Tag vor ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin, wurde Henriette Reker von einem<br />

Rechtsextremen Täter mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Er beging die Tat Medienberichten zufolge<br />

aus Unzufriedenheit mit der Asylpolitik Henriette Rekers im Rahmen der Flüchtlingskrise. Nach einer Notoperation<br />

erholte sich die Politikerin relativ rasch und trat nur wenige Wochen nach dem Attentat ihr Amt an.<br />

Am 12. Oktober 1990 wurde der CDU-Politiker und damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Opfer eines<br />

Attentats. Nach einer Wahlkampfveranstaltung feuerte ein Mann aus nächster Nähe auf Schäuble. Dieser wurde<br />

durch den Mordanschlag lebensgefährlich verletzt. Der Politiker überlebte, ist seitdem querschnittsgelähmt. Nach<br />

nur sechs Wochen setzte er seine politische Karriere fort.<br />

© Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration | Foto: H. Severin<br />

Integrationsstaatssekretärin des Landes NRW Serap Güler hat Ahmet und Abdullah Demir für ihre Zivilcourage gedankt.<br />

Vater und Sohn kamen dem Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, bei einem Messerangriff in ihrem Imbiss zur Hilfe.<br />

• Bei einer Pegida-Demonstration in Dresden am 12. Oktober 2015 brachte ein Teilnehmer einen lebensgroßen<br />

Galgen mit. Dieser war beschriftet mit: "Reserviert für Angela 'Mutti' Merkel". Und "Reserviert für Sigmar 'das Pack'<br />

Gabriel". Die Staatsanwaltschaft stellte damals bereits ihre Ermittlungen gegen den Mann ein. Nun sollten<br />

kleine Nachbildungen des Galgens als Polit-Souvenirs hergestellt und verkauft werden. Die sächsische Justiz<br />

erlaubt dies, da der Galgen Kunst und nicht ganz ernst zu nehmen sei.<br />

• Wegen Hassmails, Drohungen, Schmähungen oder gar Aufmärschen gegen deutsche Politiker und deren Familien,<br />

treten immer wieder Politiker von ihren Ämtern zurück. Angriffe auf Lokalpolitiker nehmen allgemein weiter zu.

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