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ZESO_4-2016_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

04/16<br />

Ermessen Spielräume zur bemessung der hilfeleistung sind ein<br />

schwieriger balanceakt im interview Altersforscher François Höpflinger<br />

zur Arbeit im Alter wohlbefinden Je reicher, umso glücklicher?


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

NATIONALE TAGUNG<br />

Bildung statt Sozialhilfe<br />

Zugang zu Nachholbildung als Chance für Erwachsene<br />

Mittwoch, 8. März 2017, Kongresshaus Biel<br />

Mangelnde Berufsbildung ist in der Schweiz einer der wichtigsten Risikofaktoren für Armut. Der<br />

technologische Fortschritt führt dazu, dass eine grosse Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften<br />

besteht, einfache repetitive Arbeiten hingegen meist maschinell verrichtet werden und somit gering<br />

qualifizierte Personen zunehmend Mühe haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist daher absolut<br />

entscheidend, dass Personen ohne Berufsbildung auch noch im Erwachsenenalter Zugang haben zu<br />

Nachholbildung.<br />

Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur Präsentation und Diskussion von<br />

Handlungsmöglichkeiten sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />

Programm und Anmeldungen: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

Rechtsberatung für soziale Institutionen<br />

Das Beobachter-Beratungspaket für Ihre Bedürfnisse<br />

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Sind Sie auch immer wieder mit Rechtsfragen Ihrer Klienten konfrontiert? Ist Ihr juristisches Know-how jedoch<br />

oft nicht ausreichend? Dann lassen Sie sich bei Rechtsfragen Ihrer Klienten von den Beobachter-Experten<br />

beraten. Wir unterstützen Sie und bieten Durchblick im komplexen Gesetzesdschungel.<br />

Umfassende Rechtsberatung bei Fragen,<br />

die sich in der Sozial arbeit stellen. Per<br />

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Telefon: 043 444 52 35<br />

E-Mail: carmen.demund@beobachter.ch<br />

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Ingrid Hess<br />

Verantwortliche Redaktorin<br />

Ermessen – eine grosse<br />

Verantwortung<br />

Die wirtschaftliche Unterstützung, die einzelne Bürgerinnen<br />

und Bürger in schwierigen Phasen ihres Lebens zu Gute haben,<br />

ist rechtlich in der Regel ziemlich präzis definiert. Da<br />

bleibt für die Beratenden auf den Sozialämtern meist wenig<br />

zu entscheiden. Für den Lebensunterhalt sind genaue Beträge<br />

definiert, für die Wohnung der reale Mietzins bis zu einem<br />

Maximalbeitrag. Abweichungen von den Regeln sind<br />

nicht zulässig. Da gilt der Buchstabe des Gesetzes.<br />

Für andere Leistungen, wie die SIL, die situationsbedingten<br />

Leistungen oder die Integrationszulagen, besteht hingegen<br />

ein Ermessensspielraum. Doch wer wagt noch, diesen auszunützen,<br />

wenn Sparpolitik und Medien die Entscheide der<br />

Sozialarbeitenden im Visier haben? Den Ermessensspielraum<br />

wahrzunehmen, braucht dann neben fundierten<br />

Kenntnissen der Gesetze, Verordnungen und SKOS-Richtlinien<br />

auch Zeit, und umso mehr Mut und Selbstbewusstsein<br />

– eine ziemlich grosse Herausforderung und Verantwortung!<br />

Ich freue mich, Sie hiermit zu begrüssen, liebe Leserinnen<br />

und Leser der Zeso. Ich freue mich, viermal im Jahr Hintergründe<br />

und neue Entwicklungen im Sozialwesen für Sie<br />

auszuleuchten. Und ich freue mich darauf, wenn Sie uns<br />

Ihre Erfahrungen mitteilen, wenn Sie Anregungen haben,<br />

mit uns Kontakt aufnehmen; wenn Sie neue Wege ausprobieren,<br />

die vielleicht auch andere interessieren könnten,<br />

dann schreiben Sie uns: zeso@skos.ch.<br />

editorial 4/16 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT14–23<br />

ErmesseN und SPIELRäume<br />

Sozialarbeitende in der Sozialhilfe leisten täglich<br />

Massarbeit: Sie müssen die individuellen Notsituationen<br />

richtig erfassen sowie Hilfeleistungen auf<br />

die einzelnen Personen und Umstände anpassen.<br />

Dabei werden ihnen vom Gesetz verschiedene<br />

Ermessensspielräume eingeräumt. Der Schwerpunkt<br />

zeigt, wie die Sozialarbeitenden mit dieser<br />

Herausforderung umgehen, und präsentiert<br />

juristische und soziologische Konzepte, die dem<br />

Ermessensbegriff zugrunde liegen.<br />

<strong>ZESO</strong><br />

zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse<br />

22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel.<br />

031 326 19 19 Redaktion Regine Gerber, Ingrid Hess<br />

Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Catherine Arber,<br />

Monica Budowski, Therese Frösch, Martin Greter, Katrin Haltmeier,<br />

Claudia Hänzi, Cathrin Hüsser, Martin Kaiser, Claudia Kaufmann,<br />

Markus Kaufmann, Paula Krüger, Maurizia Masia, Susanna Niehaus,<br />

Iris Schaller, Benjamin Schindler, Robin Tillmann, Daniela Tschudi,<br />

Felix Wolffers, Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet,<br />

mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />

Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />

Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />

Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement ausland CHF 120.–,<br />

Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 5. Dezember <strong>2016</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im März 2017.<br />

2 ZeSo 4/16 inhalt


INHALT<br />

5 Sichere Altersvorsorge braucht eine<br />

stärkere AHV. Kommentar von<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers<br />

6 13 Fragen an den neuen SKOS-<br />

Geschäftsführer Markus Kaufmann<br />

8 Praxis: Wohnkosten und Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen<br />

9 Trotz Anspruch keine Sozialhilfe<br />

bezogen – Scham oder Unwissen?<br />

10 «Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />

zum Thema werden»<br />

Interview mit François Höpflinger<br />

14 SCHWERPUNKT:<br />

Ermessen und SPIELRäume<br />

16 Die Verwaltung muss über<br />

Spielräume verfügen<br />

18 Massgebend ist der Mensch in seiner<br />

individuellen Notsituation<br />

20 Ermessensentscheide gehören zur<br />

alltäglichen Arbeit in den<br />

Sozialdiensten<br />

22 Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />

keine Frage des Beliebens<br />

24 Führt Wohlstand zu Wohlbefinden?<br />

26 Wie viel Misstrauen verträgt die<br />

Soziale Arbeit?<br />

28 Der interkommunale Ausgleich der<br />

Soziallasten<br />

30 Reportage über die Sozialfirma<br />

Réalise in Genf<br />

32 Plattform: Der Dachverband offene<br />

Kinder- und Jugendarbeit Schweiz<br />

34 Forum: Gemeinsam gegen die<br />

«Verrentung» der Sozialhilfe.<br />

35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Heinz von Arb hat einen<br />

minderjährigen unbegleiteten<br />

Flüchtling aufgenommen<br />

Armut im Alter<br />

Misstrauen<br />

sozialfirma réalise<br />

Der Pflegevater<br />

Der Soziologe und Altersforscher François<br />

Höpflinger über die alternde Gesellschaft<br />

und die Herausforderungen, die diese<br />

Entwicklung für den Arbeitsmarkt und das<br />

Sozialsystem darstellt.<br />

10<br />

Einzelne Fälle von Sozialhilfemissbrauch<br />

sorgten für heftige Debatten in Medien<br />

und Politik. Das System Sozialhilfe und<br />

dessen Klientel standen in der Folge unter<br />

scharfer Beobachtung. Das hat bei den<br />

Sozialarbeitenden Spuren hinterlassen. Die<br />

Unsicherheit und Furcht vor Fehlern nahmen<br />

erheblich zu.<br />

26<br />

Die Sozialfirma Réalise in Genf bildet jährlich<br />

300 Frauen und Männer aus, die Mühe auf<br />

dem Arbeitsmarkt haben. Sie arbeiten in<br />

verschiedenen Berufsfeldern und erlernen<br />

die dafür notwendigen Kenntnisse. Viele<br />

von ihnen finden später wieder eine Stelle.<br />

Réalise arbeitet dafür eng mit einem Netz<br />

von Firmen zusammen.<br />

30<br />

Mit Sack und Pack stand der 14-jährige<br />

Flüchtling aus Afghanistan vor ein<br />

paar Monaten vor dem Gartentor des<br />

schmucken Einfamilienhauses – und blieb.<br />

Hausbesitzer Heinz von Arb übernahm die<br />

Pflegschaft für den unbegleiteten Flüchtling.<br />

36<br />

inhalt 4/16 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

Sozialcharta: Kompetenz<br />

bleibt beim Bundesrat<br />

Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats<br />

hat die Motion des Nationalrats de<br />

Courten «Verzicht auf eine Ratifizierung der<br />

Europäischen Sozialcharta» mit 7 zu 4 Stimmen<br />

abgelehnt. In den Augen der Kommissionsmehrheit<br />

würde die Annahme der Motion<br />

ein sehr schlechtes Signal an den Europarat<br />

aussenden, denn diese Charta sei ein wichtiger<br />

Bestandteil des Europarats. Die Mehrheit<br />

der Kommission unterstützt die Stellungnahme<br />

des Bundesrates und ist insbesondere der<br />

Auffassung, dass die Motion aus rechtsstaatlicher<br />

Sicht sinnwidrig ist, da der Bundesrat<br />

Konventionen von sich aus unterzeichnen,<br />

aber nicht ratifizieren kann. (Red.)<br />

Erste Bilanz zur Kesb<br />

Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht<br />

(KESR) ist am 1. Januar 2013 in Kraft<br />

getreten. Die 146 neu geschaffenen Kindesund<br />

Erwachsenenschutzbehörden (Kesb)<br />

ersetzten die 1415 Vormundschaftsbehörden.<br />

Der Systemwechsel rief zahlreiche Kritiker<br />

auf den Plan, die das System anhand<br />

von problematischen Einzelfällen insgesamt<br />

in Frage stellten. Die Konferenz für<br />

Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes)<br />

zog im Herbst Kesb nun eine positive Bilanz<br />

der ersten vier Jahre, zeigte aber auch Verbesserungspotenzial<br />

auf. (Red.)<br />

Charta F+F revidiert<br />

Mit der Charta «Früherkennung und Frühintervention»<br />

(F+F) setzen sich verschiedene<br />

Organisationen, Konferenzen und Behörden<br />

dafür ein, ungünstige gesellschaftliche<br />

und strukturelle Bedingungen zu erkennen<br />

und zu benennen. Sie engagieren sich<br />

entsprechend für gesundheitsförderliche<br />

Rahmenbedingungen. Ziel ist, ungünstige<br />

Entwicklungen und Rahmenbedingungen<br />

sowie problematische Verhaltensweisen<br />

von Personen aller Altersstufen frühzeitig<br />

wahrzunehmen, passende Hilfestellungen<br />

zu finden und die betroffenen Menschen<br />

in ihrer gesunden Entwicklung und gesellschaftlichen<br />

Integration zu unterstützen.<br />

Die F+F integriert strukturorientierte und<br />

individuumsbezogene Verfahren und zielt<br />

nicht ausschliesslich darauf ab, das Verhalten<br />

von Betroffenen zu ändern. Die Charta<br />

aus dem Jahr 2012 wurde dieses Jahr revidiert.<br />

(Red.)<br />

Markus Kaufmann ist neuer<br />

SKOS-Geschäftsführer<br />

Am 1. Dezember hat Markus Kaufmann<br />

sein neues Amt als Geschäftsführer der<br />

SKOS-Geschäftsstelle angetreten. Markus<br />

Kaufmann hat langjährige Erfahrung in<br />

verschiedenen Arbeitsfeldern des Sozialund<br />

Gesundheitswesens. Nach dem Studium<br />

der Sozialarbeit, Soziologie und Psychopathologie<br />

an der Universität Fribourg<br />

war Markus Kaufmann in verschiedenen<br />

Funktionen in der Jugendarbeit sowie in<br />

der Gesundheitsförderung und Gesundheitspolitik<br />

tätig. Nach Abschluss seiner<br />

Weiterbildung «Master of Public Health»<br />

wurde er 2003 zum Zentralsekretär des<br />

Fachverbands Public Health Schweiz ernannt.<br />

Vor sechs Jahren wurde Kaufmann<br />

Projektleiter Gesundheitsförderung und<br />

Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

(GDK) sowie Geschäftsführer der<br />

Vereinigung der kantonalen Beauftragten<br />

für Gesundheitsförderung (VBGF). Der<br />

neue SKOS-Geschäftsführer verfügt über<br />

grosse Erfahrung in der Zusammenarbeit<br />

Hilfswerke springen<br />

in die Lücke<br />

Die öffentliche Sozialhilfe steht unter erheblichem<br />

Kostendruck. Eine Studie zeigt,<br />

dass Hilfswerke immer häufiger Aufgaben<br />

übernehmen, die im Grunde von der<br />

öffentlichen Sozialhilfe wahrgenommen<br />

werden müssten. Die öffentliche Sozialhilfe<br />

ist gezwungen, sich mehr und mehr<br />

auf die Auszahlung der finanziellen Unterstützungsleistungen<br />

zu konzentrieren,<br />

denn die Arbeit in den Sozialdiensten ist<br />

von Spar- und Zeitdruck geprägt, so das<br />

Ergebnis der Analyse für die Jahre 2005<br />

bis 2015. Gleichzeitig haben Hilfswerke<br />

ihre Angebotspalette ausgeweitet, die Sozialberatung<br />

da und dort gestärkt und sich<br />

zunehmend auch mit Fragen des Sozialhilferechts<br />

beschäftigt. Caritas Schweiz, das<br />

Schweizerische Rote Kreuz und die Heilsarmee<br />

hatten die Studie bei Carlo Knöpfel,<br />

Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz,<br />

Hochschule für Sozialarbeit,<br />

in Auftrag gegeben. Zu diesem Zweck<br />

wurden Mitarbeitende von Hilfswerken<br />

online befragt, Fallstudien gemacht und<br />

Experten-Interviews geführt. (Red.) •<br />

von Bund, Kantonen und Gemeinden. Auf<br />

den Seiten 6 und 7 beantwortet Kaufmann<br />

13 Fragen und sagt, was er in der Schweiz<br />

gerne verändern würde. (Red.) •<br />

Markus Kaufmann <br />

Bild: B. Devènes<br />

Ausgabenwachstum<br />

verlangsamt<br />

Im Jahr 2014 gaben Bund, Kantone und<br />

Gemeinden rund 7,9 Milliarden Franken<br />

für Leistungen der Sozialhilfe und der Ergänzungsleistungen<br />

(EL) aus. Gegenüber<br />

2013 fand bei der Sozialhilfe und weiteren<br />

bedarfsabhängigen Sozialleistungen ein nominaler<br />

Zuwachs von 4,6 Prozent statt. Im<br />

Vergleich mit dem Vorjahr (+3,6 Prozent)<br />

erhöhte sich das Ausgabenwachstum also<br />

erneut. Die Zunahme von 2012 (+5,9%)<br />

wurde jedoch nicht mehr erreicht. Die<br />

grösste absolute Zunahme verzeichneten<br />

2014 mit 151 Millionen Franken die EL<br />

(+3,3%). Gut ein Drittel der Kostensteigerung<br />

ist durch den Anstieg der Anzahl unterstützter<br />

Personen zu erklären. Dieser ist<br />

teils durch die demografische Entwicklung<br />

bedingt, denn die Bevölkerung ist 2014<br />

um 1,2 Prozent gewachsen. Auch bei einer<br />

relativ stabilen Sozialhilfequote von rund<br />

3 Prozent bedeutet das automatisch einen<br />

Anstieg der Zahl der Leistungsbeziehenden<br />

insgesamt und damit auch der Kosten. Zu<br />

den übrigen Kostensteigerungen tragen<br />

viele verschiedene Faktoren bei. (Red.) •<br />

4 ZeSo 4/16 aktuell


KOMMENTAR<br />

Sichere Altersvorsorge braucht stärkere AHV<br />

Die SKOS befasst sich mit den Menschen<br />

in der Schweiz, die Armut hautnah erleben.<br />

Viele von ihnen arbeiten. Trotzdem sichert<br />

das erwirtschaftete Einkommen ihre<br />

Existenz nur knapp oder gar nicht. Und je<br />

weniger jemand in die an die Arbeitsintegration<br />

gebundene Altersversicherung einbezahlt<br />

hat, umso ärmer bleibt er bis zum<br />

Lebensende. Die Verfassung sieht vor, dass<br />

im Alter AHV und 2. Säule die Fortsetzung<br />

der gewohnten Lebenshaltung in angemessener<br />

Weise garantieren. Glücklicherweise<br />

gibt es seit den sechziger Jahren die Ergänzungsleistungen,<br />

welche die Existenzgrundlage<br />

der sozial schwächsten Menschen<br />

im Rentenalter sichert. Dennoch:<br />

Es ist absehbar, dass AHV und 2. Säule die<br />

Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung<br />

als Folge sinkender Leistungen auch für<br />

Teile des Mittelstands nicht mehr garantieren<br />

können. Auch sie werden dann auf<br />

Ergänzungsleistungen angewiesen sein. Es<br />

ist also absehbar, dass die Leistungen der<br />

EL unter Druck geraten werden. Weil die EL<br />

steuerfinanziert sind und auch die Budgets<br />

der Kantone und Gemeinden belasten,<br />

drohen hier Sparrunden zum Nachteil vieler<br />

alter Menschen. Was in der Sozialhilfe<br />

bereits heute Realität ist, kommt auch auf<br />

die EL zu. Ein Ausweg liegt klarerweise in<br />

der Stärkung der AHV.<br />

Die Revision 2020 ist richtungsweisend für<br />

die Zukunft, für einen guten Zusammenhalt<br />

der Generationen, für die Gerechtigkeit zwischen<br />

Arm und Reich, für die psychische<br />

und physische Gesundheit und die Würde<br />

aller hier in der Schweiz.<br />

Nach dem Volks-Nein zur weitergehenden<br />

AHVplus-Initiative der Gewerkschaften<br />

geht es heute darum, eine sozialpolitisch<br />

gute Lösung der Rentenrevision 2020<br />

zu erreichen. Heute zeigt sich, dass das<br />

bisherige Konzept der Altersvorsorge Risse<br />

bekommt: Die Leistungen aus der zweiten<br />

Säule werden mit tieferen Zinssätzen und<br />

sinkenden Umwandlungssätzen schlechter<br />

und instabiler.<br />

Eine Stärkung der AHV – mit einer gewissen<br />

Kompensation für Verluste in der 2.<br />

Säule – ist dringend und finanzierbar.<br />

Mit einem Ausbau der AHV ist<br />

das Geld gut investiert. Dank<br />

dem solidarischen Finanzierungsmodell<br />

erhalten<br />

Leute mit tiefen und<br />

mittleren Einkommen für<br />

ihre AHV-Beiträge später<br />

mehr Rente, als wenn sie<br />

das gleiche Geld in<br />

eine private Vorsorge<br />

stecken müssten.<br />

Das kommt vor allen<br />

auch denjenigen zugute,<br />

welche im Erwerbsalter nur<br />

ein bescheidenes Einkommen<br />

erzielen konnten.<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers<br />

Co-Präsidium der SKOS<br />

aktuell 4/16 ZeSo<br />

5


13 Fragen an Markus Kaufmann<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />

Wenn die <strong>ZESO</strong> erscheint, dann habe ich meine<br />

neue Aufgabe bei der SKOS schon in Angriff genommen.<br />

Darauf freue ich mich im Moment sehr. Bei<br />

meinem bisherigen Job bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

habe ich mich um die Koordination von<br />

Gesundheitsförderungsprogrammen in den Kantonen<br />

gekümmert. In der Freizeit bereiten wir mit dem<br />

Quartierverein gerade die Eröffnung eines Begegnungscafés<br />

für Flüchtlinge und Quartierbewohner<br />

im ehemaligen Zieglerspital in Bern vor.<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

In meiner vorherigen Arbeit sah ich mich vor allem<br />

als Vernetzer. Ich kann nur zusammen mit anderen<br />

etwas bewirken. In unserem sehr föderalen System<br />

ist es wichtig, möglichst alle miteinzubeziehen und<br />

gemeinsam tragbare Lösungen zu finden. Manchmal<br />

braucht das viel Geduld, aber dafür ist es nachhaltiger.<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Meine Frau und ich haben beide eine Stelle mit<br />

Führungsverantwortung. Dies gibt uns ein überdurchschnittliches<br />

Haushaltseinkommen, mit dem<br />

wir uns als eher reich bezeichnen können. Für uns<br />

ist es wichtig, dass das Steuersystem ein Korrektiv<br />

schafft zu den Einkommensunterschieden mit einer<br />

progressiven Besteuerung.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Glauben scheint mir hier nicht das richtige Wort.<br />

Ich weiss, dass die Chancen in unserem Land nicht<br />

gleich verteilt sind. Deutlich sieht man das zum<br />

Beispiel an der Lebenserwartung, die bei einem arbeitslosen<br />

Mann mehr als zehn Jahre tiefer ist als<br />

bei einem Kaderangestellten. Es braucht deshalb<br />

in allen Bereichen der Gesellschaft Anstrengungen,<br />

um die Chancengerechtigkeit zu verbessern, vom<br />

Lebensanfang an bis zur Pflege im hohen Alter. Ein<br />

<strong>ganz</strong> zentraler Punkt ist das Bildungssystem. Hier<br />

schneidet die Schweiz heute deutlich besser ab als<br />

andere Staaten, etwa bei der Integration der zweiten<br />

Generation von Migrantinnen und Migranten. Diese<br />

Stärke gilt es auszubauen.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Meine Unihockeykollegen würden sagen: Nicht<br />

so gut. Wenn ich mich für etwas einsetze, wurmt es<br />

mich, wenn es nicht gelingt. Im Beruf kann ich aber<br />

gut damit umgehen, in Spiel und Sport zeige ich gern<br />

auch mal Emotionen.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Erstens sollten wir weniger Gartenhag-Denken<br />

haben und <strong>ganz</strong>heitlichere Lösungen vorziehen – im<br />

Sinne der interinstitutionellen Zusammenarbeit, die<br />

in den SKOS-Richtlinien festgehalten ist. Zweitens<br />

sollten wir die sprachliche Vielfalt unseres Landes<br />

nutzen. Sie ermöglicht, verschiedene Blickwinkel zu<br />

haben und so gute Lösungen zu finden. Und drittens<br />

sollte die Schweiz ihren Beitrag für eine friedliche<br />

und gerechte Welt leisten, gerne noch etwas engagierter<br />

als heute.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Im Moment versuche ich, möglichst nicht so weit<br />

zu reisen, dass ich das Flugzeug nehmen muss, damit<br />

mein ökologischer Fussabdruck nicht zu gross<br />

wird. Immer gelingt mir das aber nicht. Spannend<br />

wäre für mich, in ein Land zu reisen, das gerade im<br />

Aufbruch ist. Vor Kurzem habe ich einen Artikel gelesen<br />

über ein Pilotprojekt in Ruanda, wo Blutkonserven<br />

per Drohnen verschickt und so die Probleme der<br />

schlechten Verkehrswege gelöst werden sollen.<br />

Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />

Insel mitnehmen?<br />

Zuerst mal Jasskarten und gute Freunde. Auf dieser<br />

Insel hätte ich sicher viel Zeit zum Jassen und<br />

zusammen mit den Freunden würde es nicht langweilig.<br />

Und dann noch mein Rennvelo, mit dem ich<br />

einmal pro Tag rund um die Insel fahren würde.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Solidarität ist für mich ein wichtiger Teil des<br />

Menschseins. In unserer Verfassung steht ja auch<br />

schon am Anfang: Die Stärke des Volkes misst sich<br />

am Wohl der Schwachen, ein sehr starker Satz. In<br />

der Schweiz haben wir in den letzten rund 70 Jahren<br />

ein Instrumentarium geschaffen, das die Solidarität<br />

sichert: So etwa die AHV, die obligatorische<br />

Krankenversicherung, die IV und als letztes Netz<br />

6 ZeSo 4/16 13 fragen


Markus kaufmann<br />

Bild: B. Devènes<br />

Markus Kaufmann, geboren 1962, lebt und arbeitet in Bern. Er hat als Nachfolger<br />

von Dorothee Guggisberg am 1. Dezember die Leitung der Geschäftsstelle<br />

der SKOS in Bern übernommen. Der ausgebildete Sozialarbeiter ist seit<br />

vielen Jahren im Sozial- und Gesundheitswesen tätig; in den letzten Jahren<br />

war er Projektleiter Gesundheitsförderung und Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

(GDK) sowie Geschäftsführer der Vereinigung der<br />

kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF).<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

die Sozialhilfe. Alle diese Einrichtungen sind unter<br />

Druck. Es gilt, sie zu verteidigen und gleichzeitig so<br />

anzupassen, dass sich die Solidarität dem gesellschaftlichen<br />

Wandel anpasst und neue Armutsrisiken<br />

einbezieht.<br />

An welches Ereignis in Ihrem Leben denken Sie besonders<br />

gerne zurück?<br />

Schon fast erwachsene Kinder haben keine Freude,<br />

in solchen Interviews vorzukommen. Deshalb<br />

gehe ich etwas weiter zurück. Im Sommer 1989<br />

stand ich mit Bekannten aus Ostberlin auf jener Seite<br />

der Mauer, an der sich der Todesstreifen befand.<br />

Die Mauer schien unverrück- und unbezwingbar.<br />

Vier Monate später wurde sie von feiernden Menschen<br />

überwunden. Das war der Abend vor meiner<br />

letzten Uni-Prüfung. Die Welt veränderte sich mit einer<br />

friedlichen Revolution und ich stand mittendrin.<br />

Ein euphorisches Gefühl, an das ich mich gerne erinnere,<br />

auch wenn sich nicht alles so gut entwickelte,<br />

wie wir damals dachten.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Ich habe einen recht guten Schlaf, aber es gibt<br />

schon Momente, in denen ich mich im Bett drehe<br />

und mir den Kopf zerbreche. Das kann ein Konflikt<br />

oder ein schwieriges Projekt sein. Manchmal kommen<br />

mir aber gerade in solchen Momenten neue Lösungsideen<br />

in den Sinn.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Eigentlich halte ich nichts von den Unwort-<br />

Debatten. Sie laufen meist nach dem Muster: Provokateure<br />

gegen politisch Korrekte und bringen einen<br />

kaum weiter. Ich störe mich oft an einem zu starken<br />

Fachjargon, der in jeder Berufsgruppe anzutreffen<br />

ist, das meine ich sehr wohl auch selbstkritisch. Am<br />

deutlichsten merke ich es jeweils, wenn unser Übersetzer<br />

mich fragt, was ich mit diesem Satz in einem<br />

Konzept gemeint hätte und ich eingestehen muss,<br />

dass ich es selber nicht mehr verstehe.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Auf mein neues Arbeitsfeld bezogen: eine Gesellschaft,<br />

die Armut und Ausgrenzung frühzeitig und<br />

wirksam verhindert, sodass weniger Menschen auf<br />

Sozialhilfe angewiesen sind.<br />

13 fragen 4/16 ZeSo<br />

7


Wohnkosten und Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen<br />

Der 20-jährige Markus Künzi erhält nach dem Tod seiner Mutter Sozialhilfe. Nach der obligatorischen<br />

Schule tritt er keine Lehrstelle an und bricht auch das auferlegte Jugendprogramm ab. Nun stellt<br />

sich die Frage, ob die Sozialhilfe gekürzt werden kann und in welcher Höhe?<br />

Markus Künzi* ist 20 Jahre alt und nach<br />

dem unerwarteten Tod seiner Mutter auf<br />

Sozialhilfe angewiesen. Nach dem Auflösen<br />

der Familienwohnung hat er ein Zimmer<br />

bei einer älteren Dame im Kellergeschoss<br />

bezogen. Markus Künzi schloss die<br />

obligatorische Schule zwar ab, trat jedoch<br />

danach keine Lehrstelle an. Ihm wurde seitens<br />

der Sozialbehörde die Auflage gemacht,<br />

ein Jugendprogramm zu besuchen,<br />

welches ihm den Anschluss an eine Berufsausbildung<br />

ermöglichen würde. Der<br />

20-Jährige zeigte von Anfang an wenig<br />

Motivation, das Programm zu absolvieren.<br />

Nach wenigen Wochen brach er es ab.<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Frage<br />

Kann in der Folge eine Kürzung verfügt<br />

werden und wie hoch darf diese ausfallen?<br />

Grundlagen<br />

Auf den 1. Januar <strong>2016</strong> sind die SKOS-<br />

Richtlinien angepasst worden. Seither gelten<br />

für junge Erwachsene, also Personen<br />

zwischen dem vollendeten 18. und dem<br />

vollendeten 25. Altersjahr, besondere<br />

Empfehlungen beim Grundbedarf und bei<br />

den Wohnkosten. Gleichzeitig wurde für<br />

alle Anspruchsgruppen der Ansatz für die<br />

maximale Kürzung des Grundbedarfs von<br />

15 auf 30 Prozent erhöht.<br />

Generell gilt, dass junge Erwachsene<br />

verpflichtet sind, Bildungs- und Integrationsangebote<br />

konsequent zu nutzen. Dies<br />

mit dem Ziel, eine langfristige Sozialhilfeabhängigkeit<br />

zu vermeiden. Wie alle<br />

anderen Anspruchsgruppen sind auch sie<br />

angehalten, alles Zumutbare zu unternehmen,<br />

um ihre Situation zu verbessern. Was<br />

im Einzelfall gilt, ist im Rahmen einer Auflage<br />

zu konkretisieren. Eine enge Betreuung<br />

und Begleitung steht in solchen Fällen<br />

allerdings noch mehr im Vordergrund als<br />

bei älteren Personen.<br />

Werden Auflagen und Weisungen nicht<br />

eingehalten, können angemessene Sanktionen<br />

angeordnet werden. Bei jungen<br />

Erwachsenen dienen Sanktionen primär<br />

der Erwirkung von Auflagen. Deshalb ist<br />

zu empfehlen, eine Sanktion dann zu beenden,<br />

sobald die erstrebte Auflage erfüllt<br />

wird.<br />

Die Spannbreite für die Kürzung des<br />

Grundbedarfs im Umfang von 5 bis 30<br />

Prozent gilt auch im Falle von Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen. Die Kürzung<br />

muss stets der Schwere der Pflichtverletzung<br />

entsprechen; die maximale Kürzung<br />

von 30 Prozent darf also generell nur bei<br />

besonders stossendem oder mehrfach<br />

wiederholtem, unentschuldbarem Fehlverhalten<br />

angeordnet werden. Besonderes<br />

Augenmass ist bei jungen Erwachsenen<br />

geboten, weil sie oft bereits einen tieferen<br />

Grundbedarf erhalten und so durch eine<br />

Kürzung härter getroffen werden. Eine<br />

Kürzung um 30 Prozent ist entsprechend<br />

nur in wenigen Ausnahmefällen rechtlich<br />

haltbar.<br />

Antwort<br />

In der vorliegenden Situation ist rasch und<br />

sorgfältig zu prüfen, weshalb die Motivation<br />

zur Teilnahme an einem Jugendprogramm<br />

bei einem jungen Menschen derart<br />

gering ausfällt, und was nötig wäre, damit<br />

eine Berufsausbildung gelingen kann. Der<br />

Beizug von Fachpersonen ist zu empfehlen.<br />

Der Abbruch des Jugendprogramms<br />

durch Herrn Künzi ist nicht als Bagatelle<br />

einzustufen. Eine Sanktion ist angezeigt,<br />

damit die Schwere der Pflichtverletzung<br />

verdeutlicht werden kann und die aufgestellten<br />

Regeln an Verbindlichkeit gewinnen.<br />

Wegen der bereits bestehenden<br />

Einschränkungen beim Grundbedarf, des<br />

Förderaspekts und weil es sich um einen<br />

erstmaligen Vorfall handelt, ist eine gewisse<br />

Zurückhaltung geboten. Angemessen<br />

erscheint eine Kürzung von maximal<br />

15 Prozent, welche in einem ersten Schritt<br />

auf drei Monate zu befristen ist. Wird das<br />

Jugendprogramm bereits vor Ablauf dieser<br />

Frist wieder aufgenommen, ist auch die<br />

Sanktion vorzeitig aufzuheben. •<br />

*Name geändert<br />

Claudia Hänzi<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

8<br />

ZeSo 4/16 praxis


Trotz Anspruch keine Sozialhilfe<br />

bezogen – Scham oder Unwissen?<br />

Viel war letzthin in den Medien von Missbrauch in der Sozialhilfe die Rede. Nun zeigt eine Studie der<br />

Universität Bern ein <strong>ganz</strong> anderes Bild: Viele, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe hätten, machen<br />

ihn nicht geltend. Die Studie versucht dem Ausmass dieses Phänomens auf die Spur zu kommen.<br />

Der Schutz vor Armut ist eine Errungenschaft<br />

moderner Wohlfahrtsstaaten: Haushalte,<br />

die aus irgendwelchen Gründen eine<br />

bestimmte Zeit nicht in der Lage sind,<br />

auch nur das Existenzminimum zu sichern,<br />

können vom Staat finanzielle Unterstützung<br />

erhalten. Doch jede vierte Person<br />

(26.3 %), die im Kanton Bern Anspruch<br />

auf Unterstützung durch die Sozialhilfe<br />

hätte, bezieht keine Leistungen. Dies jedenfalls<br />

stellt Oliver Hümbelin, Sozialwissenschaftler<br />

an der Universtät Bern im<br />

Rahmen seiner Dissertation fest. Er analysierte<br />

den Bezug von Sozialhilfe in der<br />

Schweiz erstmals auf Basis von Administrativdaten,<br />

indem er am Beispiel des Kantons<br />

Bern die Steuerdaten zu Einkommensund<br />

Vermögenswerten mit der Sozialhilfestatistik<br />

verglich.<br />

Anspruchsbedingungen zu komplex?<br />

Warum manche Anspruchsberechtigten<br />

keine Sozialhilfe beantragen, ist eine Frage,<br />

auf die es so schnell keine klare Antwort<br />

gibt. Hümbelin versuchte mit seiner Studie<br />

den Gründen auf die Spur zu kommen.<br />

Präzise Antworten erhielt er nicht. Diese<br />

sollen weitere Studien liefern, (Arbeitstitel:<br />

Ungleichheit, soziale Risiken und der<br />

Wohlfahrtsstaat), die im nächsten Jahr<br />

starten könnten, sofern sie vom Nationalfonds<br />

bewilligt werden. In vielen Fällen<br />

könnte ein Nichtbezug von Leistungen mit<br />

fehlendem Wissen oder der Komplexität<br />

der Anspruchsbedingungen erklärt werden,<br />

vermutet Hümbelin. «Gerade für<br />

Working Poor, die ein Einkommen in der<br />

Nähe zur Schwelle des Existenzminimums<br />

erzielen, ist es schwierig zu beurteilen, ob<br />

sie Leistungen geltend machen können,<br />

denn die Schwelle variiert unter anderem<br />

in Abhängigkeit von Wohnort, Grösse des<br />

Haushaltes, der Vermögenssituation und<br />

dem ohne Sozialhilfe erzielten Einkommen.»<br />

Gerade in ländlicheren Gemeinden verzichten<br />

Anspruchsberechtigte oft auf Sozialhilfe.(zvg)<br />

Erhebliche regionale Unterschiede<br />

Auffallend sind jedoch die erheblichen regionalen<br />

Unterschiede: Der Anteil der<br />

Nichtbezügerinnen und -bezüger ist in<br />

Städten mit 12 Prozent deutlich tiefer als<br />

in den Agglomerationen (28%) oder ländlichen<br />

Gemeinden (50%). Hümbelin sieht<br />

eine Erklärung für diese unterschiedlich<br />

hohe Nichtbezugsquote darin, dass Haushalte<br />

in ländlichen Gebieten eher über die<br />

Möglichkeit verfügen, eine Notlage subsistenzwirtschaftlich<br />

zu überbrücken. Auch<br />

die stärkere soziale Kontrolle auf dem Land<br />

im Vergleich zur Anonymität der Städte<br />

dürfte eine Rolle spielen, ob der Gang zum<br />

Sozialamt für einen Betroffenen in Frage<br />

kommt oder nicht.<br />

Die Scham, auf Sozialhilfe angewiesen<br />

zu sein, ist sehr verbreitet und hat im<br />

Zuge des politischen und medialen Diskurses<br />

zugenommen. Diese Erfahrung machen<br />

Sozialarbeitende auch in der Praxis.<br />

«Manche Betroffene müssen wir geradezu<br />

zwingen, einen Antrag auf Sozialhilfe zu<br />

stellen», stellt beispielsweise Fabienne Cosandier<br />

vom Service Social de La Chauxde-Fonds<br />

fest.<br />

Einfluss der politischen Zugehörigkeit<br />

Die Studienresultate zeigen schliesslich<br />

auf, dass die Nichtbezugsquote mit der politischen<br />

Landschaft der Gemeinden korreliert.<br />

In Gemeinden mit starken linken<br />

Parteien, die sich für die Sozialhilfe stark<br />

machen, ist die Nichtbezugsquote tiefer.<br />

Gemeinden mit rechtskonservativen Politikpräferenzen<br />

weisen hingegen deutlich<br />

höhere Quoten auf. Dieser Effekt bleibt<br />

unabhängig von Wirtschaftsstruktur und<br />

Bevölkerungsdichte bestehen. Es liegt daher<br />

laut Hümbelin die Vermutung nahe,<br />

dass die politische Zugehörigkeit beziehungsweise<br />

die politischen Mehrheitsverhältnisse<br />

am Wohnort das individuelle<br />

Verhalten beeinflussen: Wer einem Sozialleistungsbezug<br />

kritisch gegenüber steht<br />

oder wer Stigmatisierung durch sein soziales<br />

Umfeld, etwa seitens Nachbarn oder<br />

Bekannten, befürchtet, wird eher auf einen<br />

Leistungsbezug verzichten. •<br />

Info<br />

Ingrid Hess<br />

Die Studie «Nichtbezug von Sozialhilfe und die<br />

Bedeutung von regionalen Unterschieden» wurde<br />

von Oliver Hümbelin am Departement Sozialwissenschaften<br />

der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Bern verfasst. Sie ist<br />

unter folgendem Link zu finden:<br />

http://econpapers.repec.org/paper/bsswpaper/21.<br />

htm<br />

SOZIALHILFE 4/16 ZeSo<br />

9


«Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />

zum Thema werden»<br />

François Höpflinger, Prof. für Soziologie, hat sich überJahrzehnte mit der demografischen<br />

Entwicklung, Familienfragen, und schliesslich zunehmend mit dem Alter befasst. «Eigentlich sollte<br />

man eine Erwerbsersatzversicherung einführen», schlägt der Wissenschaftler vor.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Professor Höpflinger,<br />

die AHVplus-Initiative wurde von der<br />

Stimmbevölkerung verworfen. Die<br />

Altersreform des Bundes läuft Gefahr,<br />

ebenfalls zu scheitern. Die Altersvorsorge<br />

an künftige Entwicklungen anzupassen,<br />

scheint ein schier unmögliches<br />

Unterfangen; was ist da los?<br />

François Höpflinger: Vielen ist wohl<br />

aufgestossen, dass die Initiative auch die<br />

AHV-Renten der Millionäre angehoben<br />

hätte. Damit stellte man die Generationensolidarität<br />

in Frage. Von Armut betroffen<br />

sind heute noch mehr Familien als Rentner.<br />

Ausserdem hat die AHV-Kasse letztes<br />

Jahr erstmals schwarze Zahlen geschrieben.<br />

Im Moment hat Sozialausbau grundsätzlich<br />

keine Chance. Sozialabbau wird allerdings<br />

auch nicht akzeptiert. Es bräuchte<br />

vielleicht eine <strong>ganz</strong> andere Lösung.<br />

Woran denken Sie?<br />

Eigentlich sollte man eine Erwerbsersatzversicherung<br />

einführen. Egal ob<br />

jemand krank, arbeitslos, im Mutterschaftsurlaub<br />

oder alt ist, würde er oder<br />

sie Beiträge aus der Erwerbsersatzversicherung<br />

erhalten. Alle nicht erwerbsfähigen<br />

Menschen, also auch Kinder, bekämen<br />

zusätzlich Ergänzungsleistungen. Die<br />

Erwerbsersatzversicherung für alle hätte<br />

auch den Vorteil, dass man die Schnittstellenprobleme<br />

nicht mehr hätte, wo Einsparungen<br />

bei der einen Kasse zu Mehrausgaben<br />

in der anderen führen. Diesen Effekt<br />

spürt man gerade im Bereich der Sozialhilfe<br />

als letztes Auffangnetz immer wieder<br />

deutlich.<br />

Es wird ja viel argumentiert, es gebe<br />

gar keine Altersarmut. Stimmt das?<br />

Mit der AHV und den Ergänzungsleistungen<br />

ist die Existenzsicherung im Alter<br />

theoretisch gewährleistet. Hingegen genügt<br />

dies nicht für einkommensschwache<br />

Personen, die etwas Vermögen oder<br />

Wohneigentum haben. Auch Rentner, die<br />

aus einer günstigen Mietwohnung ausziehen<br />

müssen, haben häufig keine Chance,<br />

eine mit ihrer Rente finanzierbare Wohnung<br />

zu finden. Die anrechenbaren Mietkosten<br />

bei den Ergänzungsleistungen sind<br />

zudem tiefer als das heutige Mietzinsniveau<br />

in Städten. Viele sind sich dieser Situation<br />

nicht bewusst, solange sie in einer<br />

günstigen Wohnung leben. Natürlich betrifft<br />

das auch junge Familien, die manchmal<br />

grosse Schwierigkeiten haben, mehr<br />

als 2000 Franken pro Monat für die Miete<br />

aufzubringen. In Pflegeheimen leben deshalb<br />

auch Menschen, die an und für sich<br />

keine Pflege benötigen, aber keine andere<br />

bezahlbare Wohnform finden. Es wäre sicher<br />

sinnvoll, die anrechenbaren Mietkosten<br />

bei den EL zu erhöhen.<br />

Es heisst überall: Wohneigentum –<br />

Ihre sichere Altersvorsorge. Warum<br />

haben Hauseigentümer Probleme?<br />

Der grösste Teil der jetzt ins Rentenalter<br />

kommenden Personen – etwa 54 Prozent<br />

– sind Hauseigentümer. Eine ansehnliche<br />

Zahl von ihnen besitzt sogar noch eine<br />

Zweitwohnung. Viele haben für den Kauf<br />

des Wohneigentums Gelder aus der beruflichen<br />

Altersvorsorge vorbezogen. Sie<br />

erhalten dann im Alter weniger Rente. Zu<br />

Problemen führt es vor allem bei Wohneigentümern,<br />

die nach der Pensionierung in<br />

einer zu grossen oder zu luxuriösen Wohnung<br />

leben, die sie sich nicht mehr leisten<br />

können.<br />

Probleme haben also nicht nur diejenigen,<br />

die immer schon arm waren,<br />

sondern gerade auch die mittleren<br />

Einkommen, die besonders unter den<br />

sinkenden Renten der beruflichen<br />

Vorsorge zu leiden haben – ob mit<br />

oder ohne Wohneigentum.<br />

françois höpflinger<br />

François Höpflinger (geb. 1948) hat zwei<br />

erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.<br />

Er war bis 2013 Titularprofessor an der<br />

Universität Zürich, leitete Forschungsprojekte<br />

zu demografischen und familiensoziologischen<br />

Themen und 1992–1998 das<br />

Nationale Forschungsprogramm (NFP 32)<br />

Alter/ Vieillesse/ Anziani. Seit 2014 ist er Mitglied<br />

der Leitungsgruppe des Zentrums für<br />

Gerontologie an der Universität Zürich.<br />

Es gibt in der Tat eine grosse Polarisierung<br />

bei den Renteneinkommen aus der<br />

zweiten Säule. Bei der beruflichen Vorsorge<br />

ist das Ungleichheitsmass 0.73, bei<br />

der AHV nur 0.11 (1 entspricht völliger<br />

Ungleichheit, 0 völliger Gleichverteilung,<br />

Anm. der Red.). 44 Prozent der Menschen<br />

im Rentenalter geben das Geld aus, das<br />

reinkommt. Sie sind also nicht in der Lage,<br />

Reserven anzulegen. Und weitere 16 bis<br />

18 Prozent müssen ihr angespartes Vermögen<br />

aufbrauchen. Vor allem längere<br />

Pflegebedürftigkeit im Alter kann selbst<br />

grosse Vermögen auf Null reduzieren.<br />

Tatsache ist, dass die Menschen<br />

immer älter werden und die Altersvorsorge<br />

immer mehr in Finanzierungsprobleme<br />

rutschen wird. Als Lösung<br />

in aller Munde ist jetzt die längere<br />

Erwerbsarbeit im Alter. Auch Sie wären<br />

ja eigentlich schon im Ruhestand. Ist<br />

das Rentenalter 65 zu tief?<br />

Langfristig wird die Erhöhung des Rentenalters<br />

unumgänglich sein, schon allein<br />

deshalb, weil wir einen Fachkräftemangel<br />

haben.<br />

Stellen wir uns vor, die Politik setzt<br />

in einigen Jahren das Rentenalter auf<br />

10 ZeSo 4/16 interview


«Man muss die<br />

Lernhierarchie<br />

umkehren. Die<br />

Jungen müssen<br />

den Alten sagen,<br />

wie Management<br />

heute funktioniert.»<br />

67-70 Jahre fest. Was wären Ihrer einschätzung<br />

nach die Folgen?<br />

Ein höheres Rentenalter braucht eine<br />

Reihe von Begleitmassnahmen: Eine Weiterbildungspolitik<br />

50Plus, neue Arbeitszeiten<br />

mit Ruhephasen etc. Vieles müsste<br />

überdacht werden. Auch die klassischen<br />

Karriereverläufe. Förderlich wäre auch die<br />

Einführung von AHV-Timeout-Phasen, es<br />

müsste möglich sein, während zwei Jahren<br />

AHV-Rente zu beziehen, dann aber wieder<br />

in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Jetzt<br />

ist es ja so, dass man die AHV ab einem<br />

bestimmten Alter bezieht, ob man nun will<br />

oder nicht.<br />

Aber auch mit einem höheren Rentenalter<br />

wird die Rente für viele nicht<br />

genügen, und sie werden auch im Rentenalter<br />

noch etwas dazu verdienen<br />

müssen, sofern das möglich ist.<br />

Das wird sicher immer häufiger der Fall<br />

sein. Das Problem ist, dass jetzt viel höhere<br />

Renten ausbezahlt werden, als das in Zukunft<br />

der Fall sein wird. Das ist eigentlich<br />

nicht nachhaltig. Arbeiten im Alter wird –<br />

wie in den USA – auch in der Schweiz immer<br />

mehr ein Thema werden. Dabei kann es<br />

dazu kommen, dass pensionierte Menschen<br />

vermehrt eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt<br />

bilden und die Erwerbsarbeit im<br />

Alter je nach Konjunktur schwankt.<br />

In der Sozialhilfe wächst die Gruppe<br />

der 56- bis 65-jährigen deutlich. Es ist<br />

nach wie vor für die meisten älteren<br />

Arbeitnehmer enorm schwierig, eine<br />

neue Stelle zu finden. Sozialversicherungstechnisch<br />

fände also mit einer<br />

Rentenaltererhöhung eine Verschiebung<br />

von der AHV in die ALV resp.<br />

Sozialhilfe statt.<br />

Das stimmt natürlich. Stellen für<br />

60Plus gibt es praktisch keine. Selbst sozial<br />

engagierte Unternehmen stellen lieber<br />

einen jungen Arbeitslosen an als einen<br />

alten, weil sie es als wichtig erachten, den<br />

jungen in den Arbeitsmarkt zu verhelfen.<br />

Wer mal draussen ist, kommt deshalb so<br />

leicht nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurück.<br />

Viele, die 20 bis 30 Jahre lang im<br />

selben Betrieb gearbeitet haben, wissen<br />

zudem schlicht nicht, wie man sich bewirbt,<br />

was heute verlangt wird, wie sie die<br />

eigenen Kompetenzen richtig einschätzen.<br />

Viele Betroffene machen sich selbständig. <br />

interview 4/16 ZeSo<br />

11


«Der Trend wird sein, dass die pensionierte Generation<br />

eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt bildet.»<br />

<br />

Zwei von fünf erwerbstätigen Rentnern<br />

sind heute selbständig, 14 Prozent arbeiten<br />

im Familienbetrieb weiter.<br />

Was bräuchte es denn für Massnahmen,<br />

damit die älteren Arbeitnehmer<br />

länger berufstätig bleiben können?<br />

Müssen Betriebe zum Beispiel gezwungen<br />

werden, ihren Angestellten<br />

Weiterbildung zu ermöglichen?<br />

Man kann das Thema Weiterbildung<br />

nicht allein den Betrieben überlassen.<br />

Diese verfolgen ihre eigenen Interessen.<br />

Aber man könnte aus der AHV Beiträge<br />

an die Weiterbildung bezahlen. In vielen<br />

Branchen müssen Angestellte ihre Weiterbildung<br />

selbst bezahlen, auch wenn sie<br />

sehr sinnvoll wäre, wie zum Beispiel eine<br />

Weiterbildung in der Pflege von Demenzkranken<br />

für Pflegefachfrauen. Nicht alle<br />

können sich so eine Weiterbildung leisten.<br />

Gesundheitsvorsorge, Altersteilzeit, Umschulung<br />

gibt es nur für Arbeitslose und<br />

nicht für ältere Stelleninhaber, denen diese<br />

Massnahmen einen längeren Verbleib auf<br />

dem Arbeitsmarkt oder Selbständigkeit ermöglichen<br />

würden. Die OECD hat in einer<br />

in diesem Jahr publizierten Untersuchung<br />

kritisiert, dass in der Schweiz die Massnahmen<br />

für die Arbeitnehmenden 50+ <strong>ganz</strong><br />

der Wirtschaft überlassen sind. Immerhin<br />

passiert jetzt immer mehr hinter den Kulissen.<br />

Offenbar wird Attraktivität für 50+ allmählich<br />

als Wettbewerbsvorteil anerkannt.<br />

Wichtig ist, dass jetzt sehr viele Projekte<br />

realisiert werden.<br />

Was sind das für Projekte?<br />

Es gibt eine <strong>ganz</strong>e Reihe von Organisationen,<br />

Verbänden oder auch Unternehmen,<br />

die hinter den Kulissen neue Modelle erarbeiten<br />

und einüben. Das Netzwerk Silberfuchs<br />

befasst sich beispielsweise mit dem<br />

späteren Rückzug aus dem Arbeitsleben,<br />

andere Initiativen mit dem Thema «mit 55<br />

noch eine neue Unternehmung gründen».<br />

Es passiert viel, auch in der Wirtschaft. Es<br />

wird jetzt hinter geschlossenen Vorhängen<br />

das neue Stück geprobt, während auf der<br />

Bühne noch das alte gespielt wird. Es ist<br />

manchmal besser, die Politik nicht aufzuscheuchen.<br />

Sie sind auf diesem Gebiet selbst aktiv.<br />

Was sind Ihre Erfahrungen?<br />

Viele Angehörige der aktuellen Generation<br />

50+ leben noch in der Welt einer<br />

linearen beruflichen Karriere ohne Brüche<br />

und Neuorientierungen. Verantwortung an<br />

jüngere Personen im Betrieb abzugeben,<br />

wird oft noch als Statusverlust betrachtet.<br />

Doch genau das müsste geschehen. Vielerorts<br />

muss man die Lernhierarchie umkehren.<br />

Die Jungen müssen den Alten sagen,<br />

wie Management heute funktioniert.<br />

Was wären Ihrer Meinung nach wichtige<br />

Elemente einer neuen Arbeitswelt,<br />

in der auch ältere Menschen noch<br />

aktiv bleiben können?<br />

Wir müssen die Trennung von bezahlter<br />

und unbezahlter Arbeit aufheben, beispielsweise<br />

mit Zeitgutschriften für die<br />

Pflege im Alter. Wir müssen <strong>ganz</strong> andere<br />

Berufskarrieren verstehen lernen. Wir<br />

müssen das Hintereinander von Lernen<br />

– Arbeiten – Rente in ein Neben- und<br />

Miteinander verwandeln. Wichtig wird lebenslanges<br />

Lernen, lebenslanges Aktivsein<br />

– bezahlt und unbezahlt, möglicherweise<br />

auch in Form eines Zivildienstes; Praktika<br />

für Universitätsangehörige, lebenslange<br />

Möglichkeiten, Unternehmen oder Firmen<br />

zu gründen, und immer wieder Ruhephasen<br />

– Mutter- und Vaterschaftsurlaub, mal<br />

ein Sabbatical, Teilzeit-Arbeit. Es braucht<br />

aber in jedem Fall eine soziale Abfederung<br />

für die, die es nicht schaffen.<br />

Auch Sie sind eigentlich im Rentenalter<br />

und widmen immer noch einen<br />

grossen Teil Ihrer Zeit der Forschung.<br />

Was treibt Sie an?<br />

Ich muss betonen, dass ich nie in fester<br />

Anstellung war. Ich habe immer projektbezogen<br />

gearbeitet. Wir haben uns einfach<br />

interessante Themen gesucht. Am Anfang<br />

war das die Unternehmenskonzentration,<br />

12 ZeSo 4/16 interview


da haben wir dann aber so viel herausgefunden,<br />

dass uns die Forschungsgelder abgestellt<br />

wurden (lacht).<br />

Anhand der langen Liste Ihrer Veröffentlichungen,<br />

kann man erkennen,<br />

dass Sie in der Forschung von der Familienplanung,<br />

der Familie,und dem<br />

demografischen Wandel zum Thema<br />

Armut, Alter wanderten und damit den<br />

Phasen des eigenen Lebens folgten. Ist<br />

das eigene Leben für Sie die wichtigste<br />

Quelle der Inspiration?<br />

Das stimmt. Ich habe mich gern mit<br />

den Themen beschäftigt, die mit dem eigenen<br />

Lebenszyklus zu tun haben. Dadurch<br />

ergibt sich auch eine gewisse Verankerung<br />

meiner wissenschaftlichen Arbeit in der<br />

Praxis. Man versteht besser, was die Zahlen<br />

real bedeuten können. Seit den 90er-<br />

Jahren widme ich mich dem Alter.<br />

Eigentlich selbst schon im Rentenalter, ist François<br />

Höpflinger auf seinem Forschungsgebiet immer noch<br />

aktiv. <br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse<br />

in der Altersforschung?<br />

Zunächst lautete mein Auftrag herauszufinden,<br />

was das Alter für Katastrophen<br />

auslöst. Ich war schliesslich positiv überrascht<br />

festzustellen, dass das Alter gar<br />

nicht so katastrophal ist. Im Gegenteil,<br />

die Zahlen zeigen zu einem grossen Teil<br />

positive Trends: Beispielsweise hat die<br />

Einsamkeit eher abgenommen und auch<br />

die Altersarmut, wobei diese jetzt eher wieder<br />

ansteigen dürfte. Auch das altersspezifische<br />

Risiko einer Demenz erkrankung<br />

sinkt derzeit. Arme Alte werden deshalb<br />

immer mehr marginalisiert, weil sie in der<br />

Schweiz – anders als beispielsweise in den<br />

meisten osteuropäischen Ländern – eine<br />

kleine Minderheit darstellen. Das Problem<br />

ist, dass es denen, denen es schlecht geht,<br />

noch schlechter geht, wenn es der Mehrheit<br />

besser geht. Armsein in einem reichen<br />

Quartier ist noch schwieriger und macht<br />

einsam.<br />

•<br />

Das Gespräch führte:<br />

Ingrid Hess<br />

interview 4/16 ZeSo<br />

13


14 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT<br />

Bild: Keystone


Die Verwaltung muss<br />

über Spielräume verfügen<br />

Der Verwaltung wird in vielen Bereichen Ermessen eingeräumt, damit sie Einzelfällen gerecht<br />

werden, auf unterschiedliche Gegebenheiten reagieren kann. Diese Freiheit bedeutet aber auch<br />

Verantwortung, denn die Verwaltung ist verpflichtet, von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen.<br />

«Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht» – so<br />

steht es in Artikel 5 Absatz 1 der Schweizer Bundesverfassung. Die<br />

Verwaltung muss sich daher bei all ihren Tätigkeiten auf eine<br />

Rechtsgrundlage abstützen können, also ein Gesetz oder eine Verordnung,<br />

die sich in den wesentlichen Punkten auf ein Gesetz<br />

stützt. Der Grund, weshalb diesem Gesetzmässigkeitsprinzip in<br />

unserer Rechtsordnung eine so zentrale Bedeutung zukommt, ist<br />

ein doppelter: Die Verwaltung wird im Dienst der Allgemeinheit<br />

tätig, weshalb ihr Handeln über eine demokratisch legitimierte<br />

Rechtsgrundlage verfügen muss. Gleichzeitig soll eine Rechtsgrundlage<br />

aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht dafür sorgen, dass das<br />

Handeln der Verwaltung berechenbar wird. Klare rechtliche Vor-<br />

gaben erlauben es schliesslich den Gerichten, die Verwaltung im<br />

Streitfall an diesem Massstab zu messen.<br />

Die Rechtsbindung der Verwaltung führt dazu, dass die Verwaltung<br />

teilweise als «Exekutive» bezeichnet wird, also als «ausführende»<br />

Staatsgewalt. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend,<br />

denn die Verwaltung ist mehr als nur der verlängerte Arm des Gesetzgebers,<br />

sie hat auch eine gestaltende Aufgabe. Hierfür gibt es<br />

verschiedene Gründe: Zuerst einmal kann der Gesetzgeber nie alle<br />

Entwicklungen voraussehen. Er kann unmöglich alle Fragen, mit<br />

denen die Verwaltung dereinst konfrontiert werden könnte, auf<br />

Vorrat beantworten. Selbst im theoretischen Fall, dass der Gesetzgeber<br />

diese prognostische Fähigkeit besitzen würde, wäre es aber<br />

Das Vier-Augen-Prinzip kann zur richtigen Ermessensausübung beitragen.<br />

Bild: Keystone<br />

16 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT


ermessen und Spielräume<br />

nicht sinnvoll, mit einem detaillierten Regelwerk alle Handlungen<br />

der Verwaltung vorzuprogrammieren. Vielmehr gibt es verschiedene<br />

Gründe, der Verwaltung Ermessen einzuräumen. Zuerst einmal<br />

muss die Verwaltung den nötigen Spielraum haben, um jedem<br />

Einzelfall gerecht zu werden. Dies gilt besonders im Bereich<br />

der Sozialhilfe, wo Hilfeleistungen auf die einzelne Person und<br />

ihre konkreten Umstände angepasst werden müssen – die SKOS-<br />

Richtlinien betonen denn auch das Grundprinzip der bedarfsgerechten<br />

«Individualisierung» (s. Beitrag S.18). Im übrigen Verwaltungsrecht<br />

spricht man auch von Einzelfallermessen. Ein weiterer<br />

Grund für die Übertragung von Ermessen ist, dass die Verwaltung<br />

örtlichen Gegebenheiten oder temporären Veränderungen Rechnung<br />

tragen muss. So kann die Höhe einer Unterstützung von<br />

lokal unterschiedlichen Gegebenheiten, etwa ortsüblichen Mietzinsen,<br />

oder der zeitlich schwankenden Teuerung abhängig sein.<br />

Das Anpassungsermessen erlaubt es der Verwaltung, auf solche<br />

Umstände flexibel zu reagieren. Schliesslich soll die Verwaltung<br />

die ihr übertragenen Aufgaben nicht nur rechtmässig, sondern<br />

auch wirtschaftlich (effizient) und wirksam (effektiv) erfüllen.<br />

Dies kann sie oft nur, wenn sie einen gewissen unternehmerischen<br />

Spielraum hat, das sogenannte Managementermessen. Nicht zuletzt<br />

ist es wichtig, dass die Verwaltung je nach Tätigkeitsbereich<br />

besonderen Sachverstand einbringen kann (Sachverständigenermessen)<br />

oder politische Wertungen vorgenommen werden können<br />

(politisches Ermessen).<br />

Rechtsgleiche Praxis etablieren<br />

Überall dort, wo die Verwaltung über Ermessen verfügt, hat sie also<br />

mehr Spielraum und ist in ein weniger enges rechtliches Korsett<br />

eingebunden. Für die Verwaltung bedeutet diese Freiheit gleichzeitig<br />

aber auch eine besondere Verantwortung. Während Private<br />

die ihnen vom Recht zugestandenen Spielräume nach freiem Belieben<br />

nutzen können, beispielsweise die Vertragsfreiheit, ist dies<br />

beim Ermessen der öffentlichen Verwaltung nicht der Fall. Die<br />

Verwaltung muss von ihrem Ermessen Gebrauch machen und<br />

zwar in pflichtgemässer Art und Weise. Sie darf nicht willkürlich<br />

auf völlig unsachliche Kriterien abstellen und sie muss das Ermessen<br />

rechtsgleich ausüben. Tut sie dies nicht, begeht sie einen «Ermessensmissbrauch».<br />

Es spricht somit einiges dafür, dass sich die<br />

Verwaltung selber Regeln auferlegt, um eine sachliche und rechtsgleiche<br />

Praxis zu etablieren.<br />

Gerade in einem Bereich wie der Sozialhilfe, der weitgehend<br />

in die Kompetenz der Kantone und Gemeinden fällt, können Regelwerke<br />

wie die SKOS-Richtlinien auch dazu dienen, ein unerwünschtes<br />

Regelungsgefälle zwischen den Gemeinwesen zu verhindern.<br />

Rechtsgleiche Ermessensausübung bedeutet allerdings<br />

«Die Verwaltung ist mehr als<br />

nur der verlängerte Arm des<br />

Gesetzgebers, sie hat auch eine<br />

gestaltende Aufgabe.»<br />

nicht, dass ein völlig uniformer Massstab auf alle Fälle genau<br />

gleich angewendet wird, sondern eben auch, dass jedem Einzelfall<br />

individuell Rechnung getragen wird. Denn nach einer alten<br />

Spruchformel des Bundesgerichts bedeutet das Gleichheitsgebot,<br />

dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches<br />

nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist. In<br />

der Praxis besteht denn auch eher das Problem, dass sich die Verwaltung<br />

hinter ihren Regeln verschanzt und die Augen vor den<br />

konkreten Umständen des Einzelfalls verschliesst. In der Rechtssprache<br />

bezeichnet man dies als «Ermessensunterschreitung».<br />

Entscheide verständlich begründen<br />

Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich schon lange mit der Frage,<br />

in welchen Fällen die Gerichte die Ermessensausübung durch<br />

die Verwaltung kontrollieren dürfen, also zum Beispiel ob Ermessensmissbrauch<br />

oder Ermessensunterschreitung vorliegt. Gerichte<br />

können allerdings nur reaktiv tätig werden, wenn eine Seite ein<br />

Gericht anruft. Wenig beschäftigt hat sich die Rechtswissenschaft<br />

bislang mit der Frage, welche Massnahmen präventiv getroffen<br />

werden können, um eine richtige Ermessensausübung zu garantieren.<br />

Neben dem Erlass von Richtlinien, die so formuliert sind,<br />

dass sie eine einzelfallgerechte Praxis erlauben, gehören sicher die<br />

Personalrekrutierung sowie die Aus- und Weiterbildung zu diesen<br />

vorbeugenden Massnahmen. Aber auch organisatorisch lassen<br />

sich Vorkehrungen treffen, etwa standardisierte Abklärungsvorgänge,<br />

das Vier-Augen-Prinzip oder eine verwaltungsinterne Supervision.<br />

Schliesslich ist auch wichtig, dass Entscheide so begründet<br />

und kommuniziert werden, dass sie die Betroffenen<br />

verstehen und akzeptieren können. Der wohl wichtigste Aspekt ist<br />

aber, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen<br />

Verwaltung ihrer Verantwortung bewusst sind und diese<br />

auch wahrnehmen.<br />

•<br />

Benjamin Schindler<br />

Professor für öffentliches Recht, Universität St. Gallen<br />

SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />


Massgebend ist der Mensch in seiner<br />

individuellen Notsituation<br />

Die Sozialhilfegesetze der Kantone sehen (explizit oder implizit) vor, dass grundsätzlich die<br />

individuellen Bedürfnisse und die Gegebenheiten des Einzelfalles massgebend sind. Das<br />

sogenannte Individualisierungsprinzip gilt als typischer Leitsatz der Sozialhilfe.<br />

Mit der Aufklärung und der in der Soziologie bekannten<br />

Individualisierung erhielt das Individuum eine neue Kernstellung<br />

in der Gesellschaft. Der Mensch als autonomes Wesen mit eigener<br />

Würde, persönlichen Bedürfnissen und Interessen wurde zur<br />

Zweckbestimmung, Gestaltungs- und Beurteilungsnorm. In<br />

der Folge fand um die Wende zum 20. Jahrhundert auch im<br />

Armenwesen ein Umdenken statt. Anstelle des Almosenverteilens<br />

an das Bettlervolk trat die sogenannte rationelle Armenpflege.<br />

Neu wurden die einzelnen bedürftigen Personen regelhaft aus<br />

der Masse hervorgehoben und eine Hilfe unter Berücksichtigung<br />

ihrer individuellen Bedürfnisse und Verhältnisse gewährt<br />

(Individualisierungsprinzip). Das Ziel war eine humane,<br />

zweckdienliche und planmässige Unterstützung.<br />

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die aus den USA<br />

und Kanada stammende Methode des «social casework» durch.<br />

Die Bedürftigen wurden neu als Individuen mit eigener Subjektstellung<br />

wahrgenommen. Ihnen wurde eine Mitwirkung im<br />

Hilfeprozess zugestanden und es wurde auf eine Hilfe zur Selbsthilfe,<br />

Aktivierung der eigenen Ressourcen sowie Übernahme von<br />

Selbstverantwortung geachtet. Während die Individualisierung<br />

der Hilfe zuerst nur in Ansätzen in den kantonalen Gesetzen über<br />

das Armenwesen verankert war, figurierte sie ab Mitte des 20.<br />

Jahrhunderts als positiv-rechtlicher Grundsatz der Sozialhilfe in<br />

den Fürsorge- und späteren Sozialhilfegesetzen. Staatliche Unterstützung<br />

soll auf die individuelle Situation zugeschnitten werden.<br />

Entsprechend dieser rechtlichen Vorgabe müssen die Akteure<br />

der Sozialen Arbeit bis heute Massarbeit leisten. Im Zentrum der<br />

Fallarbeit stehen die in Not geratene Person und ihre individuelle<br />

Situation. Ihre sozialen Probleme werden methodisch erfasst. Die<br />

Bedürftigkeit wird durch die individuellen Verhältnisse, die stets<br />

auch im sozialen Kontext zu betrachten sind, bestimmt und die<br />

Hilfe entsprechend bemessen.<br />

«Die Sozialhilfe bewegt<br />

sich im Grundrechtsbereich<br />

des Persönlichkeitsschutzes,<br />

weshalb<br />

die persönlichen<br />

Bedürfnisse und<br />

Verhältnisse besonders<br />

zu beachten sind.»<br />

Der Individualisierungsgrundsatz wird auch im umfassenderen<br />

Sinne, das heisst in seiner Funktion der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit,<br />

verstanden. Er dient nicht nur als Massstab<br />

für die Bemessung, sondern auch für die Anspruchsklärung, Kürzung<br />

und Rückerstattung von Leistungen. In der Sozialhilfe wird<br />

durchwegs individualisiert. Sozialhilfeentscheide erfordern eine<br />

eingehende Sachverhaltsabklärung und eine umfassende Abwägung<br />

von Zumutbarkeits-, Bedürfnis-, Verhältnismässigkeits- und<br />

Härtefallaspekten. Es geht darum, den Menschen in einer individuellen<br />

Notsituation richtig zu sehen und in jedem Einzelfall den<br />

materiell richtigen Entscheid zu finden. Da sich die Sozialhilfe im<br />

Grundrechtsbereich des Persönlichkeitsschutzes bewegt, sind das<br />

Gebot der Menschlichkeit und die persönlichen Bedürfnisse und<br />

Verhältnisse besonders zu beachten.<br />

Wirtschaftliche Hilfe relativ bestimmt geregelt<br />

Um die Individualisierung sicherzustellen, räumen die kantonalen<br />

Gesetze, die zur Bemessung der Hilfe teilweise auf die SKOS-<br />

Richtlinien verweisen, den Sozialhilfebehörden Ermessens- und<br />

Beurteilungsspielräume bei der Gewährung von Sozialhilfe ein.<br />

Entsprechend haben die Sozialhilfebehörden unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe im Einzelfall anzuwenden, beispielsweise «situationsbedingte<br />

Leistungen im Ermessen der Sozialhilfebehörden<br />

[SIL]» gemäss SKOS-Richtlinien oder «soweit zumutbar». Weiter<br />

haben sie aus mehreren Arten von Hilfeleistungen wie Geld- oder<br />

Sachleistungen, Kostengutsprachen, Beratung, Information, Vermittlung,<br />

Betreuung und Begleitung die im Einzelfall passenden<br />

auszuwählen. Sie müssen die Hilfeleistungen kombinieren und<br />

über die Ausgestaltung und den Umfang entsprechend den individuellen<br />

Bedürfnissen und Gegebenheiten befinden. Die wirtschaftliche<br />

Hilfe ist mit Ausnahme der erwähnten SIL in den kantonalen<br />

Gesetzen relativ bestimmt geregelt. Bei der persönlichen<br />

Hilfe ist hingegen relativ wenig festgelegt. Teilweise bestehen besondere<br />

Härtefallklauseln.<br />

Die Gewährung von Hilfe muss rechtmässig, zweckmässig und<br />

insgesamt sachlich nachvollziehbar sein, damit das Ermessen als<br />

pflichtgemäss und nicht rein subjektiv ausgeübt gilt. Die Behörden<br />

haben eine Rechtspflicht zur Objektivität. Die Entscheide<br />

müssen zudem eingehend begründet werden. Um die Angemessenheit<br />

von individuellen Leistungen, insbesondere von situationsbedingten<br />

Leistungen (SIL) beurteilen zu können, kann ein<br />

Prüfschema dienen (s. Kasten).<br />

Die Zusammenarbeit mit der hilfesuchenden Person ist von<br />

erheblicher Bedeutung. Ihre persönliche Notsituation kann nur<br />

durch Kooperation und professionelle Soziale Arbeit angemessen<br />

erhoben und bearbeitet werden. Die Betroffenen sind zur Mitwir-<br />

18 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT


ermessen und Spielräume<br />

Eine gute Zusammenarbeit ist von grosser Bedeutung, um die Notsituation richtig zu erfassen.<br />

Bild: Keystone<br />

kung verpflichtet und berechtigt. Sie verfügen jedoch über kein<br />

explizites Wunsch- oder Wahlrecht in bestimmten Situationen.<br />

Solche Rechte sind beispielsweise im Erwachsenenschutzrecht<br />

oder deutschen Sozialgesetzbuch enthalten. Zu den Methoden der<br />

Beratung und Betreuung wird in den kantonalen Gesetzen wenig<br />

geregelt. Vereinzelt wird auf fachliche Grundsätze verwiesen, die<br />

eingehalten werden müssen. Es kann demnach eine Vielfalt von<br />

fachlich anerkannten Methoden angewendet werden. Diese Methodenvielfalt<br />

sollte gesetzlich stets gewährleistet bleiben, damit<br />

die Sozialarbeitenden im kommunikativen Hilfsprozess angemessen<br />

auf die betroffene Person und ihre Situation eingehen und bei<br />

Bedarf neue Methoden anwenden können. Vorgaben der Sozialdienste<br />

zwecks Vereinheitlichung der internen Beratungspraxis<br />

sind denkbar.<br />

In der Sozialhilfe wird auch generalisiert. So wird beispielsweise<br />

der Grundbedarf für den Lebensunterhalt in Form einer Pauschale<br />

ausgerichtet (GBL-Pauschale gemäss SKOS-Richtlinien).<br />

Soll die Pauschale im Einzelfall unterlaufen werden, müssen triftige<br />

Gründe vorliegen. Das Interesse an einer genau den individuellen<br />

Verhältnissen entsprechenden Hilfe muss das Interesse<br />

an einem praktikablen und ökonomischen Vollzug der Sozialhilfe<br />

und an minimaler Rechtssicherheit über die monatliche Hilfeleistung<br />

und Möglichkeit der selbstbestimmten Budgeteinteilung<br />

klar überwiegen (deutliche Privilegierung). Ansonsten könnte<br />

der Staat unter dem Deckmantel des Individualisierungsprinzips<br />

jederzeit die aufgrund einer komplexen Berechnung festgelegte<br />

GBL-Pauschale wieder unterlaufen.<br />

•<br />

Iris Schaller<br />

Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz Stadt Bern, Abteilungsjuristin<br />

Prüfschema für die<br />

Angemessenheit von SIL<br />

(1) Vorliegen einer umfassenden Sachverhaltsabklärung<br />

(2) Deckung des individuellen Bedarfs<br />

(3) Geeignetheit/Wirksamkeit<br />

(4) Zielgerichtetheit<br />

(5) Zumutbarkeit<br />

(6) Kosten-Nutzen-Verhältnis<br />

(7) Risiken-Chancen-Verhältnis<br />

(8) Wahrung der Untergrenze (Grundrecht auf Hilfe in Notlagen)<br />

(9) Wahrung der Obergrenze (soziales Existenzminimum)<br />

(10) Vermeidung eines Härtefalls<br />

(11) Rechtsgleichheit (Hilfe im Rahmen des Gesetzes und der<br />

Richtlinien; bei besonderem Einzelfall in Abweichung von<br />

Richtlinien).<br />

publikation<br />

Iris Schaller Schenk, Das Individualisierungsprinzip, Bedeutung in der<br />

Sozialhilfe aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Perspektive, DIKE<br />

Verlag, <strong>2016</strong>.<br />

SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />


Ermessensentscheide gehören zur<br />

alltäglichen Arbeit in den Sozialdiensten<br />

Die <strong>ZESO</strong> hat sich bei zwei Sozialarbeitenden in Wädenswil und Winterthur erkundigt, wie sie die<br />

Spielräume in der Sozialhilfe einschätzen und welche Herausforderungen diese in der Praxis<br />

mit sich bringen.<br />

«Spielräume erlauben, kreative<br />

und flexible Lösungen zu finden»<br />

Cathrin Hüsser<br />

Leiter-Stellvertreterin<br />

Soziale Dienste Wädenswil<br />

Wir haben aus meiner Sicht viele Ermessensspielräume im Arbeitsalltag.<br />

In unserem Sozialdienst gibt es zwar Handlungsanweisungen<br />

und Praxishilfen, die den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen<br />

eingrenzen und konkretisieren. In der Regel ist eine<br />

Maximalhöhe für situationsbedingte Leistungen (SIL) vorgesehen.<br />

Bis zu dieser Höhe sind wir Sozialarbeitenden aber frei, sofern wir<br />

dies fachlich begründen und somit gegenüber der Behörde legitimieren<br />

können. Auch bei der persönlichen Hilfe bilden interne<br />

Leitlinien den Rahmen, diese sind aber sehr offen gehalten und<br />

lassen Raum für Ermessen. Viel Spielraum habe ich bei der Integration<br />

der Klientinnen und Klienten, da uns die gesamte Programmpalette<br />

des Kantons Zürich zur Verfügung steht. Ich mache<br />

ihnen ein Angebot aufgrund ihrer Wünsche und den Fähigkeiten<br />

und stelle dann bei Einverständnis Antrag an die Behörde. Es liegt<br />

auch in meiner Befugnis zu entscheiden, ob ich für ein Gespräch<br />

einen Dolmetscher benötige oder ohne Übersetzung auskomme.<br />

Auch bei den Auszahlungsmodalitäten oder der Häufigkeit der<br />

Termine bestehen Spielräume – um nur einige wenige Themen zu<br />

nennen.<br />

Ermessensspielräume sind für mich sehr wichtig, damit ich<br />

sach- und fachgerechte Hilfe im Einzelfall anbieten und so dem<br />

Grundsatz der Individualität der Hilfe gerecht werden kann. Diese<br />

Einzelfallhilfe ist für mich eine grosse Stärke der heutigen Sozialhilfe<br />

und macht unsere Arbeit auch spannend und vielfältig. Die<br />

Spielräume erlauben immer wieder individuelle, mitunter auch<br />

kreative und flexible Lösungen zu finden. Wichtig erscheint mir<br />

jedoch, dass in eine Entscheidung möglichst alle Aspekte einbezogen<br />

werden, damit der Entscheid gut begründet werden kann und<br />

auch die Klienten nachvollziehen können, weshalb ich einmal so<br />

entscheide und in einem ähnlichen Fall anders.<br />

Bei Ermessensentscheiden prüfe ich jeweils: Liegt mein Entscheid<br />

innerhalb des rechtlichen und internen Rahmens? Wird die<br />

konkrete Situation durch die gesprochene Leistung entscheidend<br />

verbessert? Ist der Entscheid auch verhältnismässig? Sind die Leistungen<br />

mit den Möglichkeiten von nicht Unterstützten vergleichbar?<br />

Ist mein Entscheid sachlich und fachlich nachvollziehbar<br />

und begründet? Und wurde in einem vergleichbaren Fall ähnlich<br />

entschieden? Je grösser der Handlungsspielraum ist, umso besser<br />

muss die im Einzelfall gewährte Hilfe aus meiner Sicht begründet<br />

werden.<br />

Bei diesem Vorgehen laufe ich nicht Gefahr, eine Ermessensunterschreitung,<br />

-überschreitung oder sogar einen Ermessensmissbrauch<br />

zu begehen. Damit sind wir bei den Risiken: Wo ein<br />

Spielraum ist, gibt es immer ein besonderes Machtverhältnis, dessen<br />

man sich als Sozialarbeitende sehr bewusst sein muss. Solche<br />

Entscheidungen müssen aus rein sachlichen und fachlichen Aspekten<br />

erfolgen und Emotionen sollten weggelassen werden. Nur<br />

weil Klienten bisweilen schwierig, unangenehm oder negativ auffallen,<br />

rechtfertigt dies nicht, Spielräume nicht zu nutzen. Zudem<br />

sollte man sich innerhalb des Sozialdienstes einigermassen abgesprochen<br />

haben, wann welche Leistungen in welcher Höhe bewilligt<br />

werden, damit bei gleichem Sachverhalt nicht der eine Klient<br />

bei Sozialarbeiter X mehr erhält als der andere Klient bei Sozialarbeiterin<br />

Y. Da ist der Grat zur Willkür schnell schmal. Deswegen<br />

erachte ich regelmässige Fachaustauschsitzungen als sehr wichtig,<br />

in denen die Spielräume immer wieder besprochen werden. Der<br />

Austausch ermöglicht, dass alle eine ähnliche Haltung vertreten.<br />

Zudem sollten aus meiner Sicht gewisse Rahmenbedingungen,<br />

die der Gesetzgeber offengelassen hat, spezifisch für die regionalen<br />

Begebenheiten konkretisiert und als verbindliche Richtlinien<br />

oder Praxishilfen umgesetzt werden. Ich denke hierbei an<br />

Mietzinsrichtlinien oder situationsbedingte Leistungen wie Umzugskosten,<br />

Baby- und Wohnungserstausstattungen oder schulergänzende<br />

Betreuungskosten. Dies engt zwar den Spielraum etwas<br />

ein, jedoch reduziert es Willkür und die Rechtsgleichheit bleibt<br />

gewahrt. <br />

•<br />

20 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT


Ermessen und Spielräume<br />

«Es besteht die Gefahr, dass man die<br />

Spielräume nicht mehr wahrnimmt»<br />

Martin Greter<br />

Abteilungsleiter Sozialberatung 4<br />

Soziale Dienste Winterthur<br />

Schätzungsweise 90 Prozent unserer Sozialhilfe-Dossiers sind<br />

Normfälle, bei denen es um die Existenzsicherung geht und der<br />

finanzielle Hilfeprozess ziemlich klar ist. In der wirtschaftlichen<br />

Sozialhilfe ist viel vorgegeben. Die SKOS-Richtlinien und das kantonale<br />

Sozialhilfegesetz bestimmen den Rahmen. Darüber hinaus<br />

ist viel in internen Regelwerken wie Kompetenzordnung und Praxisanweisungen<br />

geregelt. Bei den situationsbedingten Leistungen<br />

tut sich ein weites Feld für Ermessensentscheide auf. Zusätzliche<br />

Leistungen müssen fachlich aber immer gut begründet sein und<br />

die Kosten müssen in einem sinnvollen Verhältnis zum erzielten<br />

Nutzen stehen. Dieser Spielraum wird zum Teil sicherlich nicht<br />

ausgeschöpft, wenn der Fokus auf die geltende Norm gelegt wird,<br />

weil Abweichungen mit zeitaufwändiger Einschätzungsarbeit<br />

verbunden sind. Zweifellos müssen wir dem Auftrag der Behörde<br />

nachkommen, die finanzielle Besserstellung unserer Klientel im<br />

Vergleich mit nicht unterstützten Haushalten zu vermeiden. Aber<br />

es besteht die Gefahr, dass man die Spielräume nicht mehr sieht,<br />

wenn man sich nur auf die reibungslose Abwicklung der Fälle konzentriert.<br />

Diese Spielräume, die immer in Verbindung mit einem<br />

fachlichen Diskurs stehen, müssen wir Sozialarbeitenden zurückerobern.<br />

Ein wichtiges Ziel der Sozialhilfe ist aber auch die persönliche<br />

Hilfe. Hier wird uns ein grosser Ermessensspielraum geschenkt.<br />

Das kann man nicht an bestimmten Themen festmachen, denn<br />

es unterscheidet sich von Fall zu Fall. Bereits beim Aufgleisen des<br />

Hilfeprozesses muss ich mit dem Klienten einen Raum schaffen,<br />

der es ermöglicht, den Willen zur Veränderung und die vorhandenen<br />

Ressourcen gemeinsam zu erkunden. Um in diesen Prozess<br />

einzusteigen, muss man sich Zeit nehmen. Es stellt sich aber die<br />

Frage, ob Sozialarbeitende überhaupt Zeit haben, diesen Raum<br />

bieten zu können. In unserer Sozialberatung betreut jeder Sozialarbeitende<br />

120 bis 130 Dossiers. Da bleibt pro Fall und Monat<br />

rund eine Stunde Zeit, von der die Hälfte für die nötige Administration<br />

und Dokumentation weggeht. Aber um Ermessensspielräume<br />

nutzen zu können, muss man Zeit haben, den Klienten mit<br />

seinen Voraussetzungen wahrzunehmen und anschliessend auch<br />

zu vereinbaren, was für den Hilfeprozess relevant ist.<br />

Es geht immer um Einschätzungen und Abwägungen und dieser<br />

Prozess lässt sich nicht standardisieren. Vielmehr kommt der<br />

Sozialarbeitende mit all seinem Fachwissen zum Zug. Ich nehme<br />

das Bild eines Surfbrettes, das für unsere Fachlichkeit und Erfahrung<br />

steht: Wenn sich Spielräume auftun, müssen wir mit Freude<br />

auf das Brett steigen und den Mut haben, uns selbstsicher in<br />

die Wellen zu stürzen. Sozialarbeiterische Methoden sind dabei<br />

natürlich wichtig. Und entscheidend ist, dass wir regelmässig interne<br />

Fallbesprechungen durchführen. Manchmal muss man den<br />

Diskurs suchen und auch Klarheit einfordern: Wie wollen wir das<br />

in unserem Sozialdienst handhaben? Als Sozialarbeitende müssen<br />

wir Glaubenssätze stets hinterfragen und wo nötig neue Strategien<br />

entwickeln, um mit bestimmten Situationen umzugehen. Wenn<br />

ein Klient mit einem besonderen Anliegen kommt, dürfen wir<br />

nicht einfach sagen, dass es nicht geht, weil wir es noch nie so gelöst<br />

haben. Und die aussergewöhnlichen Fälle sind für uns ja auch<br />

die spannenden.<br />

Auch wenn es Spielraum heisst – ein freies Spiel ist es nicht.<br />

Ein Ermessensentscheid muss immer einen fachlichen Nutzen<br />

haben. Nicht nur für den Klienten persönlich, sondern für den gesamten<br />

Hilfeprozess, der nebst der Existenzsicherung das Ziel hat,<br />

die wirtschaftliche und persönliche Selbstständigkeit zu fördern.<br />

Es ist eine doppelseitige Geschichte: Einerseits ist die Sozialhilfe<br />

sehr strukturiert und die Spielräume sind insgesamt klein. Wir<br />

dürfen aber nicht vergessen, dass der Ermessensspielraum im Einzelfall<br />

trotzdem eine sehr grosse Rolle spielen kann. •<br />

SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />

Aufgezeichnet:<br />

Regine Gerber<br />


Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />

keine Frage des Beliebens<br />

Die Ombudsstelle der Stadt Zürich macht immer wieder die Erfahrung, dass Mitarbeitende der<br />

Sozialhilfe befürchten, den Ermessensspielraum zu überreizen. Das Gegenteil ist der Fall: In der<br />

Praxis werden die bestehenden Spielräume zu wenig ausgenutzt.<br />

Ermessen ist eine Gestaltungskompetenz für die gesamte Verwaltungstätigkeit<br />

und ist bei der Anwendung in allen Bereichen der<br />

Rechtsordnung wahrzunehmen und auszufüllen. Ihr kommt aber<br />

in der Sozialhilfe aufgrund des Individualisierungsgrundsatzes<br />

besondere Bedeutung zu. Die Gesetzgebung trägt dem auch mit<br />

vielen «Kann»-Vorschriften, alternativen Handlungsmöglichkeiten<br />

und unbestimmten Rechtsbegriffen Rechnung. Die Gesetzgebung<br />

zur Sozialhilfe wie auch die SKOS-Richtlinien erfuhren in den letzten<br />

Jahren vor allem aufgrund des politischen Drucks eine grössere<br />

Regeldichte und wurden in der Regel restriktiver. Einzelfragen,<br />

beispielsweise das Autoverbot im Kanton Zürich, wurden teils heftig<br />

debattiert. Doch die Problematik liegt vor allem bei der mangelnden<br />

Ausnutzung des nach wie vor bestehenden Handlungsspielraums<br />

durch die Akteurinnen und Akteure in der Praxis.<br />

Der politische Diskurs, dem oftmals eine mediale Skandalisierung<br />

von Einzelfällen vorausgeht, verfehlt aber seine Wirkung<br />

nicht: Mitarbeitende der Sozialhilfe berichten der Ombudsstelle<br />

immer wieder, dass sie sich unter Druck fühlen, den Ermessensspielraum<br />

nicht überreizen möchten und nicht verantwortlich sein<br />

wollen für allfällig neue Polemiken, die dann wiederum zu neuen<br />

Einschränkungen und restriktiveren Regelungen führen könnten.<br />

Anderseits fehlt es teils auch am Bewusstsein, dass das dichte<br />

Regelwerk eine kritische Überprüfung des Anzuwendenden und<br />

damit die Berücksichtigung des Ermessens erfordert und nicht<br />

einfach in Stein gemeisselt ist.<br />

Bereichen Gesundheit, Erziehung und Bildung, Ausbildung und<br />

Berufsleben, Wohnen sowie gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme-<br />

und Teilhabemöglichkeiten. Nicht zu vergessen sind die<br />

spezifischen Bedürfnisse der Kinder der Klientinnen und Klienten.<br />

Spricht die Ombudsstelle diese Bedürfnisse an und erkundigt sich<br />

nach konkreter fachlicher Unterstützung und intensiverer Begleitung,<br />

stösst sie zwar häufig auf Verständnis und die Einsicht, dass<br />

diesbezüglich im konkreten Einzelfall durchaus Handlungsbedarf<br />

bestehe. Gleichzeitig wird immer wieder bedauernd auf die beschränkten<br />

Ressourcen hingewiesen, die eine Konzentration auf<br />

die korrekte Ausrichtung der Wirtschaftshilfe erforderten und andere<br />

Unterstützungsformen in den Hintergrund drängten. In diesen<br />

Fällen kommt die Sozialhilfe ihrem gesetzlichen Auftrag nicht<br />

oder zumindest nicht in genügendem Ausmass nach. Parallel dazu<br />

wird auch der Ermessensspielraum eingeengt, indem bei der Prüfung<br />

von einzelnen Massnahmen dem Verständnis für die Gesamtzusammenhänge<br />

und die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen<br />

Faktoren nicht genügend Beachtung geschenkt wird.<br />

Fokus auf korrekter Ausrichtung der Wirtschaftshilfe<br />

In der politischen Diskussion steht bei der Sozialhilfe die Wirtschaftshilfe<br />

im Fokus der Aufmerksamkeit. In der Öffentlichkeit interessieren<br />

die Ausgaben für die Wirtschaftshilfe, die Kosten für die<br />

gewährten einzelnen Leistungen und die Einzelheiten zu den jeweiligen<br />

Budgets der Bezügerinnen und Bezüger. Aber auch in der<br />

Praxis selbst ist eine Konzentration auf die Wirtschaftshilfe und damit<br />

auf die pekuniären Leistungen wahrzunehmen. Dies engt nicht<br />

nur den Blickwinkel auf die Aufgabe der Sozialhilfe unzulässig ein,<br />

sondern führt automatisch zu einer Einschränkung des Ermessens.<br />

Denn: Auftrag und Zielsetzung der Sozialhilfe ist die soziale Integration<br />

der Betroffenen – mit sämtlichen Facetten. Damit verbunden<br />

ist ein breiter Blickwinkel, der sämtliche Lebensbereiche miteinbeziehen<br />

muss. Sozialhilfe heisst so verstanden auch die<br />

Förderung und Unterstützung mit geeigneten Massnahmen in den<br />

Sozialhilfe betrifft viele Themenbereiche.<br />

Bild: Keystone<br />

22 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT


Ermessen und Spielräume<br />

Stattdessen wird der Schwerpunkt darauf gelegt, bei der Ausrichtung<br />

der finanziellen Leistungen ja keine Fehler zu machen und vor<br />

allem keine zu grosszügigen Auszahlungen vorzunehmen.<br />

Ermessensausübung ist aufwändige Alltagsarbeit<br />

Ermessensausübung verursacht Arbeit und kann zeitaufwändig<br />

sein. Sie löst zuweilen auch Verunsicherung aus und stellt eine Herausforderung<br />

dar. Es braucht die Bereitschaft, die Verantwortung<br />

für die eigenen Überlegungen und vielleicht neue Lösungen zu<br />

übernehmen und dafür einzutreten. Sie verlangt namentlich, dass<br />

die zu treffende Entscheidung auf einer eigenständigen, situativen<br />

Begründung basiert. Die Hinweise, man habe dies bisher immer so<br />

gemacht oder das Gleichbehandlungsgebot verlange dies eben, wären<br />

nicht ausreichend. Steigende Fallzahlen, mehr Klientinnen und<br />

Klienten für die einzelnen Fallführenden und Sachbearbeitenden<br />

wie auch der überall spürbare Spardruck sind sicherlich nicht förderlich<br />

für die an sich erforderliche Berücksichtigung der Gerechtigkeit,<br />

die es im Einzelfall zu beachten gilt, also für die angemessene<br />

Ausübung des Ermessens. Sie widersprechen diesem Gebot,<br />

erschweren dessen Wahrnehmung und sind für die Mitarbeitenden<br />

im Arbeitsalltag auch spürbar. Den Hinweis auf die fehlenden zeitlichen<br />

Kapazitäten hören wir öfters als Argument, wenn die Ombudsfrau<br />

ein unsorgfältiges, auf den Einzelfall zu wenig ausgerichtetes<br />

Abwägen des Ermessens kritisiert. In der Regel werden sich<br />

Ombudsstelle und die für die Sozialhilfe Zuständigen in der Beurteilung<br />

der Sache einig. Die Mitarbeitenden verweisen aber wiederholt<br />

auf den grossen Aufwand, den eine angemessene Entscheidfindung<br />

verlange und deren präjudizielle Wirkung, wenn nun immer<br />

nach diesen Anforderungen und Kriterien vorzugehen sei. Mit ihren<br />

personellen Ressourcen könne dieses an sich auch von ihnen gewünschte<br />

Vorgehen schlicht nicht geleistet werden.<br />

Die Ausübung des Ermessens stellt keine Verletzung des<br />

Gleichbehandlungsgebots dar und steht auch in keinem Widerspruch<br />

oder Spannungsverhältnis zu ihm. Im Gegenteil: Sie trägt<br />

wesentlich zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots bei,<br />

konkretisiert und gestaltet es im Einzelfall. Sie ist auch nicht eine<br />

Ausnahme, die nur zurückhaltend Beachtung finden und gröbste<br />

Fehlentscheide korrigieren soll. Dieses Missverständnis begegnet<br />

der Ombudsstelle aber in der Praxis immer wieder. Wo immer<br />

die rechtlichen Vorschriften der Sozialhilfe einen Ermessensspielraum<br />

einräumen, ist dieser wahrzunehmen. Die Ermessensausübung<br />

ist also Alltagsarbeit. Ihr kann am besten Folge geleistet<br />

werden, wenn die Mitarbeitenden bei einem Entscheid sich stets<br />

überlegen, wie sie ihn für sich materiell, inhaltlich begründen,<br />

welche Güter- und Interessenabwägungen sie vornehmen, welches<br />

Argument schliesslich für sie ausschlaggebend ist. Dieses Begründungsgebot<br />

kann die Rolle einer wirkungsvollen «Neunerprobe»<br />

gegenüber der Macht der Gewohnheit, der langjährigen Praxis<br />

oder dem Zeitdruck einnehmen.<br />

Das Bewusstsein für die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte<br />

in der Sozialhilfe ist in den letzten Jahren erfreulicherweise<br />

gestiegen. Dennoch erleben wir, wie schwierig es ist, dass das<br />

Thema nicht nur als «nice to have» wahrgenommen, sondern als<br />

Pflichtstoff erkannt wird, mit dem sich alle in der Sozialarbeit<br />

und in der Sozialhilfe Tätigen ernsthaft auseinandersetzen und<br />

beschäftigen sollten. Die Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte<br />

in der Sozialhilfe stellt eine weitere, inhaltlich unerlässliche<br />

Dimension für die Entscheidfindung dar. Sie hat daher<br />

einen gewichtigen, selbständigen Platz einzunehmen. Gleichzeitig<br />

beeinflusst sie aber auch die Ermessensausübung und liefert<br />

relevante Begründungshilfen im Einzelfall. <br />

•<br />

Claudia Kaufmann<br />

Ombudsfrau Stadt Zürich<br />


Führt Wohlstand zu Wohlbefinden?<br />

Eine Untersuchung belegt, dass in der Schweiz ein systematischer Zusammenhang zwischen<br />

Wohlstand und Zufriedenheit besteht. Die allgemeine Zufriedenheit von Personen in prekären und<br />

armen Verhältnissen ist geringer als bei Wohlhabenden. Ein Gewöhnungseffekt nach einer längeren<br />

Verweildauer in tieferen Wohlstandspositionen ist nicht beobachtbar.<br />

Studien zeigen, dass die Schweiz zusammen<br />

mit Dänemark und Island die höchsten Zufriedenheitswerte<br />

aller OECD-Mitgliedstaten<br />

aufweist. Unterschiede innerhalb der<br />

Bevölkerung in der Schweiz entsprechen jenen<br />

von internationalen Befunden. Während<br />

sich die Lebenszufriedenheit bezüglich<br />

Geschlecht oder Bildungsstand kaum unterscheidet,<br />

bestehen Unterschiede nach Altersgruppen,<br />

Haushaltstypen und Staatsangehörigkeit:<br />

Jüngere und ältere Personen<br />

sind zufriedener als Personen mittleren Alters,<br />

in Haushalten mit Kindern ist man allgemein<br />

zufriedener als in anderen Haushaltstypen<br />

und Personen ausländischer<br />

Herkunft sind weniger zufrieden als Schweizerinnen<br />

und Schweizer. Wenn neben dem<br />

allgemeinen Wohlbefinden die Zufriedenheit<br />

in anderen Lebensbereichen erfragt<br />

wird, zeigen die Daten aus dem Schweizer<br />

Haushalt-Panel, dass die Zufriedenheit mit<br />

dem sozialen Umfeld (Wohnung und soziale<br />

Beziehungen) am höchsten und die Zufriedenheit<br />

mit der persönlichen finanziellen<br />

Situation am tiefsten ausfällt.<br />

Zufriedenheit und Wohlfahrtsniveau<br />

Das allgemeine Zufriedenheitsniveau unterscheidet<br />

sich allerdings auch nach Wohlfahrtsniveau<br />

der Betroffenen. Die Forschungsliteratur<br />

liefert umfangreiche<br />

empirische Evidenz dafür, dass das individuelle<br />

Wohlbefinden mit steigender sozialer<br />

Ungleichheit abnimmt. Panelergebnisse<br />

belegen, dass Einkommensverluste die<br />

Lebenszufriedenheit stärker beeinflussen<br />

als Einkommensgewinne. Armut sollte allerdings<br />

nicht allein durch die finanzielle<br />

Situation erfasst werden. Vielmehr kommt<br />

dem Lebensstandard der Betroffenen und<br />

der damit verbundenen sozialen und kulturellen<br />

Partizipation eine zentrale Rolle<br />

zu. Die angelsächsische Armutsforschung<br />

rückte dabei die bahnbrechende Konzeption<br />

von Armut als «relative Deprivation» in<br />

den Vordergrund. In diesem Zusammenhang<br />

definierte Townsend 1979 die konsistente<br />

Armut über die Verknüpfung zweier<br />

Dimensionen: (i) über mangelnde<br />

Ressourcen wie Einkommen und (ii) über<br />

Entbehrungen einer materiellen, sozialen<br />

und kulturellen Teilnahme, verglichen mit<br />

dem durchschnittlichen Lebensstandard<br />

in einem Land. Die Verschränkung dieser<br />

zwei Dimensionen ermöglicht somit eine<br />

Typologie von Wohlstandspositionen:<br />

SOZIALBERICHT <strong>2016</strong><br />

Die ausführliche Fassung des hier präsentierten<br />

Texts ist im Sozialbericht <strong>2016</strong> mit dem Fokus<br />

Wohlbefinden erschienen. Der Sozialbericht wird<br />

herausgegeben vom Schweizer Kompetenzzentrum<br />

Sozialwissenschaften FORS mit der Unterstützung<br />

des Schweizerischen Nationalfonds.<br />

Weitere Informationen: www.sozialbericht.ch.<br />

- «Armut» liegt vor, wenn Personen sowohl<br />

einkommensarm (in der Regel<br />

liegt die Grenze bei weniger als 60 Prozent<br />

des entsprechenden Medianeinkommens)<br />

wie auch arm aufgrund der<br />

Deprivationen sind;<br />

- Eine «prekäre» Wohlstandsposition<br />

nehmen Personen ein, die materielle<br />

Deprivationen beziehungsweise Entbehrungen<br />

erfahren oder einkommensarm<br />

sind;<br />

- «Wohlstand» ist die Position von Personen,<br />

die weder einkommensarm noch<br />

depriviert sind.<br />

Ausgehend von der konzeptionellen<br />

Abgrenzung der Wohlstandspositionen<br />

kann angenommen werden, dass in den<br />

modernen Gesellschaften die finanziellen<br />

Ressourcen und ein minimaler Lebensstandard<br />

eine generelle Voraussetzung für<br />

soziale Partizipation und damit für Integration<br />

sind. Neben der materiellen Relevanz<br />

wird auch der soziale Charakter der<br />

Bedürfnisbefriedigung nach Integration,<br />

Freiheit und Selbstverwirklichung angesprochen.<br />

Die Erfahrung von Entbehrung<br />

oder Deprivation in der Lebensweise in<br />

Form von Aktivitäten, denen nicht nachgegangen<br />

werden kann, oder von Gütern,<br />

die infolge mangelnder Ressourcen fehlen<br />

(in Abgrenzung zu einer selbstbestimmten<br />

Lebensweise, in der jemand freiwillig auf<br />

Aktivitäten oder Güter verzichtet), ist demnach<br />

wichtig. Ein starker Zusammenhang<br />

zwischen den konzeptualisierten Wohlstandspositionen<br />

und der Zufriedenheit<br />

scheint naheliegend.<br />

Wohlstandsniveau und allgemeiner<br />

Lebenszufriedenheit<br />

Die Grafik rechts veranschaulicht das allgemeine<br />

Zufriedenheitsniveau je nach Verweildauer<br />

in der entsprechenden Wohlstandsposition.<br />

Zum einen zeigt sich, dass<br />

die durchschnittliche Zufriedenheit von<br />

24 ZeSo 4/<strong>2016</strong> WOHLBEFINDEN


Personen in Armut wesentlich tiefer ausfällt.<br />

Zum anderen ist ersichtlich, dass die Entwicklung<br />

über die Zeit je nach Wohlstandsniveau<br />

unterschiedlich verläuft: Im Wohlstand<br />

steigt die allgemeine Zufriedenheit<br />

minim bzw. bleibt mehr oder weniger stabil.<br />

Die Verweildauer in einer prekären Wohlstandsposition<br />

geht mit einer leicht rückläufigen<br />

Zufriedenheit einher. Die stärksten Veränderungen<br />

zeichnen sich bei<br />

armutsbetroffenen Personen ab: Deren allgemeine<br />

Zufriedenheit sinkt stärker, besonders<br />

nach einem längeren Verbleib in Armut. Armut<br />

wirkt sich also auch langfristig auf das<br />

Wohlbefinden aus und über die Jahre hinweg<br />

sind keine Gewöhnungseffekte erkennbar.<br />

Sozialer Lebenskontext<br />

Aus einem dynamischen Blickwinkel kann<br />

ein systematischer Zusammenhang zwischen<br />

den hierarchischen Wohlfahrtspositionen<br />

(Wohlstand, Prekarität und Armut) und<br />

der Zufriedenheit belegt werden. Gerade bei<br />

einer langandauernden Armutsposition<br />

kommt es zu einer langfristigen und erheblichen<br />

Senkung des allgemeinen Zufriedenheitsniveaus<br />

der Betroffenen. Besser gestellt<br />

zu sein, scheint hiermit dem Wohlbefinden<br />

förderlich, schlechter gestellt zu sein, beeinträchtigt<br />

es. Aufgrund der gewonnenen Ergebnisse<br />

sollten unterschiedliche Lebensphasen<br />

und deren Einfluss auf das<br />

Wohlbefinden nicht allein im Zusammenhang<br />

mit den individuellen Einstellungen<br />

und Aspirationen reflektiert werden. Sie sollten<br />

vielmehr auch im Kontext von gesellschaftlichen<br />

Erwartungen sowie den damit<br />

verbundenen Rollen und den zugrunde liegenden<br />

Integrationschancen betrachtet werden,<br />

mit denen jeder Mensch im sozialen Lebenskontext<br />

konfrontiert ist. •<br />

Allgemeine Lebenszufriedenheit<br />

nach jeweiliger Wohlstandsposition und Dauer<br />

Skala von 0 («gar nicht zufrieden») bis 10 («vollständig zufrieden»)<br />

8.5<br />

8.0<br />

7.5<br />

7.0<br />

6.5<br />

6.0<br />

5.5<br />

<br />

•<br />

•<br />

<br />

•<br />

•<br />

Quelle: Schweizer Haushalt-Panel<br />

(SHP 1999–2012)<br />

<br />

• •<br />

•<br />

<br />

•<br />

<br />

•<br />

•<br />

•<br />

•<br />

nach Anzahl Jahren im Wohlstand<br />

(keine Prekarität)<br />

•<br />

1 2 3 4 5 6 über 7 Jahre<br />

<br />

•<br />

• nach Anzahl Jahren in der Prekarität<br />

(aufgrund von Entbehrungen oder des<br />

Einkommens)<br />

• nach Anzahl Jahren in Armut<br />

(doppelte Prekarität)<br />

Robin Tillmann<br />

Maurizia Masia<br />

Monica Budowski<br />

WOHLBEFINDEN 4/<strong>2016</strong> ZeSo<br />

25


Wie viel Misstrauen verträgt<br />

die Soziale Arbeit?<br />

Fälle von Sozialhilfemissbrauch sorgen für heftige Debatten in Medien und Politik. In der Folge<br />

stehen das System Sozialhilfe und dessen Klientel unter scharfer Beobachtung. Ein Forschungsteam<br />

der Hochschule Luzern untersuchte, wie latentes Misstrauen die Sozialarbeitenden beeinflusst.<br />

In den letzten zehn Jahren fand eine ausgedehnte<br />

Missbrauchsdebatte bezüglich der<br />

Sozialleistungssysteme IV und Sozialhilfe<br />

statt, die angefacht wurde durch die mediale<br />

Verbreitung von Skandalfällen. Die Forderung<br />

der Bevölkerung nach Transparenz<br />

erscheint vor diesem Hintergrund legitim,<br />

denn sie hat ein Recht darauf, zu erfahren,<br />

wofür Steuergelder verwendet werden.<br />

Ist das Misstrauen gerechtfertigt? In der<br />

Schweiz beziehen über eine Viertelmillion<br />

Menschen Sozialhilfe, hinzu kommen nach<br />

seriösen Schätzungen genauso viele, die<br />

zwar hilfsbedürftig sind, sich aber nicht an<br />

den Staat wenden. Die Quote unrechtmässigen<br />

Sozialhilfebezugs bewegt sich seit<br />

Jahren um die ein bis zwei Prozent, selten<br />

handelt es sich um Fälle eindrucksvollen<br />

Ausmasses. Dennoch gerieten Sozialhilfebeziehende<br />

durch die mediale Skandalisierung<br />

spektakulärer Einzelfälle unter den<br />

Generalverdacht des Sozialschmarotzertums.<br />

Entsprechend gross war der politische<br />

Druck auf die Sozialbehörden, das beschädigte<br />

Ansehen der wirtschaftlichen Sozialhilfe<br />

wieder herzustellen. Eine einschneidende<br />

Massnahme war die Entscheidung<br />

für den Einsatz polizeilich ausgebildeter Sozialhilfedetektive.<br />

Hierdurch sollte u.a. das<br />

verloren gegangene Vertrauen in das soziale<br />

Sicherungssystem wieder gestärkt werden.<br />

Die Gemüter mag diese Massnahme<br />

beruhigt haben, dem Ansehen der Sozialen<br />

Arbeit als Profession dürfte sie geschadet<br />

haben. Das in dieser sozialpolitischen Entscheidung<br />

zum Ausdruck kommende Misstrauen<br />

richtete sich nämlich ebenso gegen<br />

die Institution Sozialhilfe. Durch das Einschalten<br />

Fachexterner wird die Funktionsfähigkeit<br />

des Sicherungssystems selbst in<br />

Zweifel gezogen, muss doch ein System,<br />

von dem angenommen wird, dass es auf<br />

fachexterne Hilfe angewiesen ist, schutzlos<br />

erscheinen und dessen Mitarbeitende nicht<br />

kompetent genug.<br />

Unter Generalverdacht: Mitarbeitende der Sozialämter haben mit dem Misstrauen gegenüber der<br />

Sozialhilfe zu kämpfen.<br />

Bild: I.Hess<br />

Informationen zur Studie<br />

Für das Forschungsprojekt «Wie viel<br />

Misstrauen verträgt die Soziale Arbeit?»<br />

wurden verschiedene Untersuchungsmethoden<br />

kombiniert, um der Komplexität des<br />

Phänomens gerecht zu werden. Es wurden<br />

59 Dossiers von Sozialhilfebeziehenden<br />

sowie 338 Ermittlungsberichte analysiert<br />

und 34 Interviews mit fallführenden<br />

Sozialarbeitenden und Führungspersonen<br />

geführt. Ferner wurden 136 mit Fallführung<br />

betraute Mitarbeitende eines Sozialdienstes<br />

einer Schweizer Stadt schriftlich befragt. Ergänzend<br />

gaben 137 Bürgerinnen und Bürger<br />

mit und ohne Sozialhilfeerfahrung zu ihren<br />

Erfahrungen und Annahmen schriftlich<br />

Auskunft. Das Projekt wurde vom Schweizerischen<br />

Nationalfonds gefördert.<br />

Diesen Schaden für ihre Profession beklagten<br />

auch Sozialarbeitende, die im Rahmen<br />

einer Studie der Hochschule Luzern –<br />

Soziale Arbeit befragt wurden. Untersucht<br />

wurde, welche unerwünschten Nebenwirkungen<br />

auftreten, wenn der politische<br />

Druck auf eine Sozialbehörde, ihre Kompetenz<br />

bei der Missbrauchsbekämpfung<br />

unter Beweis zu stellen, beherrschend wird.<br />

Innerhalb der untersuchten Sozialbehörde<br />

führte dieser Druck zu einer Kultur<br />

des Misstrauens: Der Druck von aussen<br />

wurde an die Mitarbeitenden weitergegeben<br />

und wirkte in der Organisation fort.<br />

Die Führung erliess eine Vielzahl neuer<br />

Regeln, der Aufwand für die Überprüfung,<br />

Absicherung und Kontrolle der Fälle stieg<br />

stark an. Viele Mitarbeitende werteten diese<br />

Massnahmen als mangelndes Zutrauen der<br />

26 ZeSo 4/<strong>2016</strong> Sozialarbeit


Führung in ihre Fähigkeiten. Dadurch war<br />

das Verhältnis auch Jahre nach der vorerst<br />

letzten Hochphase der öffentlichen Missbrauchsdebatte<br />

noch angespannt: Rund<br />

die Hälfte der befragten Sozialarbeitenden<br />

war sich zum Zeitpunkt der Untersuchung<br />

unsicher, ob sie nach einem Fehler Rückendeckung<br />

vom Arbeitgeber bekommen<br />

würde. Entsprechend gross waren die Unsicherheit<br />

und Furcht vor Fehlern, 80 Prozent<br />

der Interviewten berichteten hiervon.<br />

Mehr Misstrauen<br />

Und diese Furcht hat weitergehende Konsequenzen.<br />

Steigt nämlich der Druck auf die<br />

fallführenden Sozialarbeitenden, möglichst<br />

viele Missbräuche aufzudecken, dann steigt<br />

auch das generalisierte (das vom Einzelfall<br />

unabhängige) Misstrauen gegenüber der<br />

Klientel. Acht Prozent der befragten Sozialarbeitenden<br />

gaben an, bereits grundsätzlich<br />

der Klientel gegenüber misstrauisch zu<br />

sein, weitere acht Prozent gaben an, teilweise<br />

Schwierigkeiten zu haben, neuen Bezügerinnen<br />

und Bezügern Vertrauen entgegenzubringen.<br />

Beschleunigt wird diese<br />

Entwicklung durch Benchmarking, ein organisationsinternes<br />

Leistungsranking (Wer<br />

deckt die meisten Missbrauchsfälle auf?).<br />

Wer generalisiertes Misstrauen entwickelt<br />

hat, ist als Sozialarbeiter oder Sozialarbeterin<br />

im engeren Sinne nicht mehr<br />

arbeitsfähig. Sozialarbeiter können nur<br />

helfen, wenn die Klienten und Klientinnen<br />

ihre sehr persönlichen Probleme offenlegen.<br />

Dafür braucht es zwingend Vertrauen<br />

– und zwar beidseitig. Mit naiver Vertrauensseligkeit<br />

hat dies nichts zu tun. Die<br />

Sozialhilfe bewegt sich von jeher im Spannungsfeld<br />

zwischen Hilfe und Kontrolle.<br />

Kontrolle ist aber nicht mit Misstrauen zu<br />

verwechseln.<br />

Misstrauen hat eine <strong>ganz</strong> andere Qualität,<br />

ist ängstlich bis feindselig. Wer misstrauisch<br />

ist, zweifelt die Aufrichtigkeit des<br />

Gegenübers an. Der Fokus liegt nicht mehr<br />

darauf, einen Verdacht ergebnisoffen zu<br />

prüfen, vielmehr geht es darum, negative<br />

Erwartungen zu bestätigen. Beispielsweise<br />

wird die Unterstützung gekürzt, um die<br />

Reaktion der Person darauf zu erfahren.<br />

Wehrt sie sich nicht, wird dies als Beweis<br />

für mangelnde Bedürftigkeit gewertet.<br />

Oder ein Termin wird früh morgens angesetzt,<br />

um zu testen, ob die Person auch<br />

dann noch pünktlich erscheint. Jene, die<br />

das System missbrauchen wollen, erwischt<br />

man auf diese Weise weniger, denn wer etwas<br />

im Schilde führt, bemüht sich um Unauffälligkeit.<br />

Fortbleiben wird aber etwa,<br />

wer unter Depressionen leidet. Misstrauen<br />

ist grundsätzlich nicht dazu geeignet, das<br />

Gegenüber besser zu durchschauen, weil<br />

es den Blick auf wenig hilfreiche Hinweise<br />

verengt und zur einseitigen Bestätigung eigener<br />

Vorannahmen führt.<br />

Misstrauen lässt sich nicht<br />

verstecken<br />

Misstrauen lässt sich im persönlichen Gespräch<br />

zudem nicht verstecken und vergiftet<br />

so die Arbeitsbeziehung. Sozialarbeitenden,<br />

deren Selbst- und Fremdverständnis<br />

zu einem grossen Teil der Helferrolle entspricht,<br />

kann es erhebliche Rollenkonflikte<br />

bescheren, wenn die Furcht vor dem öffentlichen<br />

Scheitern eine misstrauische Grundhaltung<br />

forciert oder diese sogar von einer<br />

Behördenleitung erwartet wird. Alle Interviewten<br />

thematisierten Rollenkonflikte und<br />

90 Prozent der schriftlich befragten Mitarbeitenden<br />

gaben an, dass es vorkomme,<br />

dass sie entgegen ihrer eigenen Überzeugungen<br />

handeln müssten.<br />

Nun sind Ergebnisse aus einem Kanton<br />

oder einer Behörde nicht repräsentativ für<br />

die <strong>ganz</strong>e Schweiz, und es war auch nicht<br />

das Anliegen der Studie, eine Aussage darüber<br />

zu treffen, was in Schweizer Sozialbehörden<br />

abläuft. Die belegten ungünstigen<br />

sozialen Prozesse können jedoch grundsätzlich<br />

überall auftreten. Und zwar dann,<br />

wenn eine Institution unter Druck gerät,<br />

ihre Kompetenzen bei der Missbrauchsbekämpfung<br />

besonders unter Beweis stellen<br />

zu müssen. Positiv hervorzuheben ist<br />

die Bereitschaft einer Sozialbehörde einer<br />

Schweizer Stadt, die Auswirkungen dieses<br />

Drucks genauer analysieren zu lassen.<br />

Letztlich liegt es in der Verantwortung jeder<br />

einzelnen Behörde, sich ernsthaft damit<br />

auseinanderzusetzen, wie innerhalb der eigenen<br />

Organisation mit dem Thema der Arbeit<br />

im Spannungsfeld zwischen Vertrauen<br />

und Misstrauen umgegangen wird.<br />

Konstruktive Fehlerkultur nötig<br />

Werden unerwünschte Nebenwirkungen<br />

sozialpolitischer Entscheidungen nicht reflektiert,<br />

könnte dies ungünstige Folgen haben,<br />

die kaum dazu angetan sein dürften,<br />

das Vertrauen in das System Sozialhilfe wieder<br />

zu stärken. Wichtig erscheint es, den in<br />

der Untersuchung deutlich gewordenen<br />

Rollenkonflikt Sozialarbeitender nicht noch<br />

zu verstärken: Misstrauen darf nicht zur<br />

Routine werden. Organisationen, die dies<br />

verhindern möchten, brauchen eine konstruktive<br />

Fehlerkultur: Mitarbeitende benötigen<br />

Rückendeckung von ihren Vorgesetzten,<br />

aus Fehlern sollte man lernen können,<br />

ohne sich davor über alle Massen fürchten<br />

zu müssen. Seitens der Führung braucht es<br />

hierfür Zutrauen in die Kompetenz und<br />

Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeitenden;<br />

zu viele Vorschriften machen die Arbeit<br />

nicht besser, sondern allenfalls komplizierter.<br />

Die Soziale Arbeit verträgt zwar berechtigte<br />

Kontrollen, Misstrauen aber nicht.<br />

Susanna Niehaus<br />

Professorin Hochschule Luzern<br />

Paula Krüger<br />

Dozentin Hochschule Luzern<br />

Sozialarbeit 4/<strong>2016</strong> ZeSo<br />

27


Der interkommunale Ausgleich<br />

der Soziallasten<br />

Während die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung, kurz NFA, zu einem<br />

festen Bestandteil im Politik-Vokabular geworden ist, geniessen die vergleichbaren Instrumente<br />

auf kantonaler Ebene nicht den gleichen Bekanntheitsgrad.<br />

Interkommunale Soziallastenausgleichssysteme<br />

sind komplex und vielfältig. Gemeinsam<br />

ist ihnen – als Teil des Finanzausgleichs<br />

– das Ziel, mittels Finanztransfers<br />

allzu grosse Unterschiede zwischen Kantonen<br />

und Gemeinden zu verhindern und so<br />

den Zusammenhalt der Föderation zu sichern.<br />

Gleichzeitig gilt es, die (Finanz-)Autonomie<br />

der Kantone und Gemeinden zu<br />

wahren. In Bezug auf die wirtschaftliche<br />

Sozialhilfe (ohne Asylwesen) kennen die<br />

Kantone eine Vielzahl von Ausgleichslösungen,<br />

was die Vergleichbarkeit erschwert.<br />

Mit dem Modell «Typologie der Subventionen»<br />

des Ökonomen Bernard Dafflon lassen<br />

sie sich in eine Systematik bringen.<br />

Sozialhilfe – kantonale oder<br />

kommunale Aufgabe?<br />

Bevor auf den finanziellen Ausgleich eingegangen<br />

wird, sei darauf hingewiesen, dass<br />

dieser obsolet wird, wenn das so genannte<br />

fiskalische Äquivalenzprinzip «wer zahlt,<br />

befiehlt und hat den Nutzen davon» eingehalten<br />

wird. Dies ist der Fall in Kantonen,<br />

in denen die Durchführung der Sozialhilfe<br />

kantonale Aufgabe ist und nicht an die Gemeinden<br />

delegiert wird (AI, GE, GL). Die<br />

Mehrheit der Kantone teilt jedoch die Aufgaben<br />

der Sozialhilfe zwischen Kanton (gesetzliche<br />

Regelungen) und den Gemeinden<br />

beziehungsweise Regionen (Vollzug). In<br />

der Folge davon wird der finanzielle Ausgleich<br />

zum Thema. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten<br />

und Instrumente sind vielfältig.<br />

Dafflon bündelt sie in seiner<br />

Typologie nach drei Aspekten, die in sich<br />

wieder unterschiedlich gestaltet werden<br />

können und dementsprechend eine andere<br />

Wirkung erzielen.<br />

Als erstes ist zu klären, ob die Empfängergemeinden<br />

die Gelder zweckgebunden<br />

oder zweckfrei verwenden können. Ersteres<br />

entspricht einem Staatsbeitrag, der<br />

ungeachtet der finanziellen Lage des Empfängers<br />

ausgerichtet wird. In Bezug auf<br />

die Sozialhilfe macht dies insofern Sinn,<br />

als dass die Kantone die Durchführung<br />

der Sozialhilfe weitgehend regeln und so<br />

die Gemeindeautonomie beschränken.<br />

Staatsbeiträge haben hier die Funktion<br />

einer Kompensationszahlung. Sie sollen<br />

aber auch den Anreiz minimieren, Sozialhilfebeziehende<br />

in andere Gemeinden<br />

abzuschieben. Eine zweckfreie Vergabe,<br />

wie sie das Konzept des Finanzausgleichs<br />

vorsieht, misst hingegen der Finanzautonomie<br />

der Gemeinden einen hohen Stellenwert<br />

bei: Die Gemeinde bestimmt, ob<br />

sie das Geld für die Sozialhilfeausgaben,<br />

günstigen Wohnungsbau oder für Forstarbeit<br />

einsetzt.<br />

Komplexe Berechnungen<br />

Im zweiten Schritt geht es darum, a) die<br />

Aufgaben zu bestimmen, die staatsbeitragsberechtigt<br />

beziehungsweise eine «soziale<br />

Last» sind, und b) deren Bemessung<br />

zu definieren. Fast alle Kantone (Ausnahmen:<br />

NW, OW, ZG) kennen bei der wirtschaftlichen<br />

Sozialhilfe Staatsbeiträge oder<br />

Lastenausgleichssysteme und zählen sie<br />

somit zu den Aufgaben, respektive zu den<br />

Lasten, die es gemeinsam zu schultern gilt.<br />

Literatur<br />

Der Text basiert auf der Masterarbeit von Dr.<br />

Daniela Tschudi, eingereicht an der Universität<br />

Bern im Rahmen des Executive Master of Public<br />

Administration (MPA):<br />

Tschudi, Daniela (2015): «Ausgleich oder<br />

Wettbewerb? Die Sozialhilfe im interkommunalen<br />

Soziallastenausgleich. Ein systematisierter<br />

Überblick über die interkommunalen Soziallastenausgleichssysteme<br />

in der Schweiz und<br />

Überlegungen zum Kanton Zürich».<br />

Bei der Bemessung gehen die Kantone jedoch<br />

sehr unterschiedlich vor.<br />

Bei den Staatsbeiträgen dienen die effektiven<br />

Ausgaben als Bemessungsgrundlage,<br />

die Kompensation reicht von 4 Prozent<br />

im Kanton Zürich bis zu 75 Prozent<br />

im Kanton Tessin. Während ein hoher<br />

Staatsbeitrag stark und gezielt die Sozialhilfeausgaben<br />

kompensiert und so ausgleichend<br />

wirkt, setzt ein tiefer Staatsbeitrag<br />

Anreize, die im Widerspruch zu den Zielen<br />

der Sozialhilfegesetzgebung stehen,<br />

insbesondere zum Abschiebeverbot und<br />

zur Gleichbehandlung der Sozialhilfebeziehenden.<br />

Ein tiefer Staatsbeitrag beziehungsweise<br />

eine hohe Selbstbeteiligung<br />

dient grundsätzlich dazu, das Kostenbewusstsein<br />

beim Empfänger zu fördern,<br />

lässt aber die Unterschiede zwischen den<br />

Gemeinden etwa hinsichtlich struktureller<br />

Faktoren oder finanzieller Stärke ausser<br />

Acht. Deshalb kennen die meisten Kantone<br />

mit Staatsbeiträgen zusätzlich eine<br />

Ausgleichskomponente: Sie vergemeinschaften<br />

den Kostenanteil der Gemeinden<br />

oder verfügen über einen interkommunalen<br />

Soziallastenausgleich (BE, FR, JU,<br />

NE, VD, VS).<br />

Der Soziallastenausgleich hat das Ziel,<br />

die vom Gemeinwesen mittel- und langfristig<br />

nicht beeinflussbaren sozio-demografischen<br />

Unterschiede und den sich daraus<br />

ergebenden (Steuer-)Wettbewerbsnachteil<br />

abzubauen. Beim Soziallastenausgleich<br />

interessieren also die Lasten, die sich aus<br />

den Disparitäten ergeben. Entsprechend<br />

der jeweiligen Ausgestaltung des sozialen<br />

Sicherungssystems berücksichtigen die<br />

16 Kantone, die im Rahmen des Finanzausgleichs<br />

einen interkommunalen Soziallastenausgleich<br />

kennen, verschiedene<br />

Sozialleistungen. Gemeinsam ist allen,<br />

dass mit Hilfe komplexer Berechnungen<br />

die signifikanten Faktoren für die Grösse<br />

der Lasten ermittelt werden und davon der<br />

28 ZeSo 4/16 Finanzausgleich


Die Gemeinde bestimmt,<br />

ob sie das<br />

Geld für die Sozialhilfeausgaben,<br />

günstigen<br />

Wohnungsbau<br />

oder für die Forstarbeit<br />

einsetzt.<br />

Staatsbeiträge sollen unter anderem den Anreiz minimieren, Sozialhilfebeziehende in<br />

andere Gemeinden abzuschieben.<br />

Bild: Villnachern<br />

Finanzbedarf abgeleitet wird. Hier können<br />

die Sozialhilfeausgaben respektive die Sozialhilfequote<br />

die Rolle eines Indikators<br />

für die Bemessung der Last haben.<br />

Der ermittelte Finanzbedarf führt entweder<br />

direkt zu einer Ausgleichszahlung<br />

(BE, FR) oder diese erfolgt, sobald die Last<br />

der Gemeinde das Mittel der Belastung<br />

aller Gemeinden überschreitet. Mit dem<br />

Argument der kostenbewussten Mittelverwendung<br />

verlangen sechs Kantone (AR,<br />

GR, SG, SH, SO, TH) für den Ausgleich<br />

das Erreichen einer zusätzlichen Stufe<br />

über dem kantonalen Mittel, also eine Eigenbeteiligung<br />

der Gemeinden. Damit setzen<br />

die gleichen Anreizmechanismen wie<br />

bei einer Eigenbeteiligung am Staatsbeitrag<br />

ein. Die Eigenbeteiligung steht jedoch<br />

im Widerspruch zur Finanzautonomie der<br />

Gemeinden und zum Konzept des Soziallastenausgleichs,<br />

kaum beeinflussbare<br />

Disparitäten abzubauen. Ob ein Soziallastenausgleichssystem<br />

eine Eigenbeteiligung<br />

vorsieht oder nicht, hängt letztlich<br />

davon ab, ob man den Lastenausgleich<br />

als Teil des (Steuer-) Wettbewerbs oder als<br />

Voraussetzung für ihn versteht. Sicher ist:<br />

Eine Eigenbeteiligung verlangsamt den<br />

Abbau der Unterschiede zwischen den Gemeinden.<br />

Den Ausgleichstopf füllen und<br />

verteilen<br />

Als dritten Aspekt nennt Dafflon die zur<br />

Verfügung stehenden Mittel. Diese sind in<br />

allen Kantonen mit einem interkommunalen<br />

Soziallastenausgleich beschränkt und<br />

werden von der kantonalen Legislative<br />

oder Exekutive festgesetzt. In fünf Kantonen<br />

steht der Ausgleichsbetrag in Relation<br />

zum Steuerertrag oder zum Ressourcenausgleichsbetrag.<br />

Die meisten Kantone gestalten<br />

beim interkommunalen Soziallastenausgleich<br />

den Finanzfluss vertikal, vier<br />

Kantone (AG, AR, NE und SH) horizontal.<br />

Mit dem horizontalen Ausgleich wird das<br />

Subsidiaritätsprinzip konsequent umgesetzt<br />

und das Ausgleichsziel wird schneller<br />

erreicht als beim vertikalen Ausgleich.<br />

Der Artikel zeigt: So verschieden die<br />

Kantone den Ausgleich der Last Sozialhilfe<br />

ausgestalten – die «Typologie der Subventionen»<br />

ermöglicht eine systematisierte<br />

Auslegeordnung und erlaubt Vergleiche.<br />

Interkommunale Soziallastenausgleichssysteme<br />

sind ein wertvoller Schatz an Ideen<br />

und Erfahrungen. Sie können und sollen<br />

im Sinne des Laboratoriums des Föderalismus<br />

für die Weiterentwicklung der kantonalen<br />

Lösungen genutzt werden. •<br />

Daniela Tschudi<br />

Soziale Dienste Winterthur<br />

Finanzausgleich 4/16 ZeSo<br />

29


Arbeit und Praxisbezug – vom<br />

ersten Tag an<br />

Die Sozialfirma Réalise in Genf bildet Menschen, die Mühe auf dem ersten Arbeitsmarkt haben,<br />

aus und vermittelt sie an Unternehmen. Sie sind vom ersten Tag an vollwertige Arbeitskräfte.<br />

Tief hängt an diesem Herbsttag der Nebel<br />

über den Genfer Dächern. Grau ist auch die<br />

Fassade des Hauses an der Rue Viguet in<br />

der Industriezone. Ein Mann wischt vor<br />

dem Haus mit einem Besen die bunten<br />

Blätter weg. «Sie wollen zu Réalise?», fragt<br />

er die Besucherinnen mit einem freundlichen<br />

Lächeln und weist ihnen unaufgefordert<br />

den Weg ins Gebäude. Er führt die Besucherinnen<br />

in ein Haus, auf dem über drei<br />

Stockwerke verteilt Menschen daran arbeiten,<br />

ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu<br />

verbessern. Es sind Arbeitslose, Ausgesteuerte,<br />

Migranten oder Menschen mit einer<br />

Behinderung, die sich durch ihre Arbeit bei<br />

der Sozialfirma Réalise den Ein- oder Wiedereinstieg<br />

ins Berufsleben erhoffen.<br />

Das Besondere bei Réalise ist, dass sie vom<br />

ersten Tag an in einem bestimmten Gebiet<br />

arbeiten, das von ihrer früheren Tätigkeit<br />

abweichen kann – und sich so über die Praxis<br />

neue Fertigkeiten aneignen (siehe Kasten).<br />

Wichtig sei aber, dass die Person<br />

wenn möglich bereits gearbeitet habe und<br />

motiviert sei, betont Christophe Dunand,<br />

Generaldirektor von Réalise. Zusammen<br />

mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

in Ausbildung analysiere man, welche<br />

Hindernisse sie vom Arbeitsmarkt abhielten<br />

– und versuche sie gemeinsam zu beseitigen,<br />

um wieder in den Arbeitsmarkt<br />

einsteigen zu können. Christophe Dunand<br />

betont, dass gerade auch Migrantinnen<br />

und Migranten von dieser Integrationsmethode<br />

profitierten. «Auch wenn sie die<br />

Sprache nicht sprechen: Sie arbeiten vom<br />

ersten Tag an und lernen sukzessive die für<br />

ihre Arbeit notwendigen Wörter.»<br />

Die Auszubildenden sind vom ersten<br />

Tag an vollwertige Arbeitskräfte. Ob in<br />

der Wäscherei, der Gartenarbeit, der<br />

Elektronik, der Uhrenproduktion, im Reinigungsdienst<br />

oder der Logistik: Sie erfüllen<br />

konkrete Aufträge für Kundinnen<br />

und Kunden. So zeichnet der Reinigungsdienst<br />

von Réalise für rund 100 000<br />

Quadratmeter Bürofläche in der Stadt<br />

Genf verantwortlich. Und die Wäscherei<br />

erfüllt Aufträge von Altersheimen, Banken,<br />

Schönheitssalons oder Restaurants auf<br />

dem <strong>ganz</strong>en Stadtgebiet.<br />

«Wieder Mut gefasst, dass ich etwas<br />

kann»<br />

Florinda da Costa arbeitete bis vor sechs<br />

Monaten in der Hotellerie. Jetzt beschäftigt<br />

sie sich bei Réalise mit einer völlig anderen<br />

Materie: der Uhrenproduktion. Sie füllt Alkohol,<br />

der für die Reinigung der Einzelteile<br />

benutzt wird, in Flaschen ab und beschriftet<br />

sie. Eine untypische Arbeit,<br />

gehören doch sonst kleinste Uhrenbestandteile<br />

zu ihrem Arbeitsalltag. Hinter<br />

ihr sitzt Lif Lufuankenda und schleift gerade<br />

seine Werkzeuge nach. Er war bereits<br />

mit der Uhrmacherei vertraut, als er zu<br />

Réalise kam. Zwei Jahre lang hatte er eine<br />

Uhrmacherschule besucht, bevor es zum<br />

Zwist mit einem Lehrer kam und er die<br />

Schule verliess. Der 25-Jährige suchte eine<br />

neue Chance, fand sie jedoch nicht und<br />

wurde Sozialhilfeempfänger. Dass er durch<br />

die Sozialfirma wieder in seinem Beruf arbeiten<br />

könne, bedeute ihm viel: «Ich habe<br />

wieder Mut gefasst, dass ich etwas kann.»<br />

Ständig neue Arbeitsfelder suchen<br />

Bei Réalise ist man ständig daran, bei den<br />

Firmen Aufträge und zu vermittelnde Arbeitsstellen<br />

aufzuspüren. In der kriselnden<br />

Uhrenindustrie ist die Nachfrage zurückgegangen.<br />

Alle Hände voll zu tun haben an diesem<br />

Morgen die Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter der Elektronikabteilung. Im<br />

vorderen Teil des Ateliers kümmern sie<br />

sich um gebrauchte PCs: Sie wechseln die<br />

Harddisc aus und setzen die Computer<br />

neu auf, um sie anschliessend im eigenen<br />

Geschäft Occasion wiederverkaufen zu<br />

können. Im hinteren Teil des Ateliers sitzen<br />

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

in einer Reihe, vor sich einen Computer<br />

30 ZeSo 4/16 reportage


Bis zu 40 Prozent der Mitarbeitenden finden eine Stelle. Christophe Dunand, Generaldirektor bei<br />

Réalise, ist mit diesem Erfolg noch nicht <strong>ganz</strong> zufrieden.<br />

und auf der kleinen Arbeitsfläche ein gebrauchtes<br />

Mobiltelefon. Wenn das Gerät<br />

noch funktioniert, löschen sie sämtliche<br />

auf dem Speicher verbliebenen Daten und<br />

bereiten es entweder für den Weiterverkauf<br />

nach Asien oder in die Balkanländer, oder<br />

für den Occasion-Verkauf eines Kunden in<br />

der Schweiz vor.<br />

Rekrutierungsmethoden ändern<br />

Bis zu 40 Prozent der Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter finden nach ihrer Ausbildung<br />

bei Réalise eine Festanstellung. «Diese<br />

Zahl stimmt mich zufrieden – und doch<br />

auch wieder nicht», sagt Christophe Dunand.<br />

Réalise arbeite daran, noch mehr<br />

Menschen in den Markt integrieren zu<br />

können. Dunand gibt aber auch zu bedenken,<br />

dass die Rekrutierungsmethoden in<br />

den Unternehmen geändert werden sollten.<br />

Wenn sich eine stellensuchende Person<br />

auf herkömmliche Weise mit einem<br />

Dossier bewerben müsse, so gehe diese Bewerbung<br />

oftmals unter. Dunand schlägt<br />

stattdessen vor, dass die Firmen die gesuchten,<br />

konkreten Kompetenzen angeben<br />

und Réalise die geeignete Person suchen<br />

und nötigenfalls dafür ausbilden könne.<br />

Seit zwei Jahren sei man bereits daran –<br />

und mache mit dieser Methode gute Erfahrungen.<br />

•<br />

Catherine Arber<br />

Learning on the job<br />

Réalise mit Sitz in Genf wurde 1985<br />

gegründet. 108 Personen arbeiten für<br />

die Sozialfirma. Sie bilden Menschen, die<br />

Mühe auf dem ersten Arbeitsmarkt haben,<br />

praktisch on the job aus. Die «Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter in Ausbildung», wie<br />

sie bei Réalise genannt werden, eignen<br />

sich während vier bis sechs Monaten<br />

berufliche Fähigkeiten in einem bestimmten<br />

Gebiet an – mit dem Ziel, nach der<br />

Zeit bei der Sozialfirma direkt auf dieser<br />

Arbeit tätig sein zu können. Die Idee ist,<br />

dass durch diese Ausbildungszeit ihre<br />

Chancen auf den Ein- oder Wiedereinstieg<br />

ins Arbeitsleben steigen. Sie werden via<br />

Arbeitslosen- oder Sozialhilfestelle an<br />

Réalise vermittelt.<br />

Réalise bildet jährlich 300 Frauen und<br />

Männer aus. Sie arbeiten in verschiedenen<br />

Berufsfeldern und erlernen das dafür<br />

spezifische Wissen: in der Elektronik,<br />

der Uhrenproduktion, der Gartenarbeit,<br />

im Reinigungsdienst, in der Wäscherei<br />

und der Logistik. Réalise arbeitet eng mit<br />

einem Netz von rund 300 Firmen zusammen.<br />

Jährlich kommen 30 neue hinzu. Bei<br />

Réalise werden dem Praxisbezug und der<br />

tatsächlichen Nachfrage nach bestimmten<br />

Arbeiten in den Unternehmen grosse<br />

Wichtigkeit beigemessen. Am Schluss<br />

ihrer Ausbildungszeit erhalten die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter in Ausbildung ein<br />

Attest. Das soll ihnen bei der Stellensuche<br />

zusätzlich helfen. (car)<br />

Die Auszubildenden sind vom ersten<br />

Tag an vollwertige Arbeitskräfte: in der<br />

Uhrenproduktion, in der Elektronik oder in<br />

der Wäscherei.<br />

Bilder: Magali Girardin<br />

reportage 4/16 ZeSo<br />

31


DOJ will Dachverband der Kinder- und<br />

Jugendförderung werden<br />

Der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ) vernetzt seit 15 Jahren<br />

Kantonalverbände und lokale Fachstellen der offenen Jugendarbeit. Er unterstützt, positioniert und<br />

repräsentiert diese mit einer Reihe von Aktivitäten, Dienstleistungen, Publikationen und Projekten.<br />

Ob Hip - Hop, Elektro oder Rock und Pop,<br />

so unterschiedlich im Musikgeschmack, so<br />

unterschiedlich sind Jugendliche auch in<br />

vielen anderen Bereichen. Die offene Jugendarbeit<br />

bietet allen Jugendlichen niederschwellige<br />

Angebote. Diese können den<br />

Heranwachsenden helfen, die Schlüsselkompetenzen<br />

zu erhalten, die sie für den<br />

Eintritt ins Erwachsenenleben benötigen.<br />

Das Ziel der Offenen Kinder- und Jugendarbeit<br />

(OKJA) ist es, dass Kinder, Jugendliche<br />

und junge Erwachsene über Selbstwertgefühl<br />

sowie Handlungs- und<br />

Sozialkompetenzen verfügen, gesund sind<br />

und sich wohl fühlen, altersgemäss in die<br />

Gesellschaft integriert sind und sich aktiv<br />

und partnerschaftlich an der Gemeinschaft<br />

beteiligen. Insbesondere für bildungs- und<br />

sozial benachteiligte junge Menschen leistet<br />

die Offene Kinder- und Jugendarbeit einen<br />

wichtigen Beitrag, damit diese sozial<br />

integriert sind und nicht ausgegrenzt werden.<br />

Konkret bietet die Offene Jugendarbeit<br />

den Jugendlichen Raum in Form von Jugendtreffs<br />

und Jugendzentren, aber auch<br />

Projektarbeit, sportliche Aktivitäten, Unterhaltung<br />

oder anderes. Träger der Offenen<br />

Jugendarbeit sind vielerorts die politischen<br />

Gemeinden, teilweise in Kooperation<br />

mit den lokalen Kirchgemeinden und Pfarreien.<br />

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

grenzt sich von der verbandlichen dadurch<br />

ab, dass ihre Angebote ohne<br />

Mitgliedschaft oder andere Bedingungen<br />

von allen Kindern und Jugendlichen freiwillig<br />

genutzt werden können.<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />

und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />

Ausgabe dem Dachverband Offene Kinder- und<br />

Jugendarbeit Schweiz (DOJ).<br />

Jugendliche sollen selbstsicher, sozialkompetent, gesund sein, sich wohl fühlen und sich aktiv<br />

und partnerschaftlich an der Gemeinschaft beteiligen.<br />

Bild: Keystone<br />

Die OKJA war zwar seit den 1990er<br />

Jahren professionell geführt, strukturell<br />

blieb sie jedoch schwach. 2001 ergriff<br />

Markus Gander vom Verein «infoklick.ch<br />

- Kinder- und Jugendförderung Schweiz»<br />

die Initiative und kontaktierte sämtliche<br />

Jugendarbeitsstellen der Deutschschweiz.<br />

Es entstand eine Basisbewegung, welche<br />

2002 ihren Dachverband gründete. Bald<br />

folgten die ersten Tagungen, es wurden<br />

Fachgruppen gebildet und Publikationen<br />

erarbeitet. 2004 konnte eine Geschäftsstelle<br />

gegründet werden. «Die bescheidenen<br />

Erwartungen wurden dank dem<br />

riesigen Engagement der Basis mehr als<br />

übertroffen», stellt Gander rückblickend<br />

fest. Heute vereint der DOJ 17 kantonale<br />

und regionale Verbände, welche wiederum<br />

etwa 800 lokale Fachstellen vernetzen.<br />

Zum Netzwerk gehört zudem eine Reihe<br />

von Partnerorganisationen und Ausbildungsinstitutionen.<br />

Die Aktivitäten des DOJ können in drei<br />

Bereiche gegliedert werden:<br />

- Unterstützung der Offenen Kinderund<br />

Jugendarbeit: Der DOJ informiert<br />

über Projekte, Veranstaltungen, aktuelle<br />

Entwicklungen etc. Dazu führt er<br />

eine zweisprachige Website, gibt einen<br />

dreisprachigen Newsletter und eine<br />

zweisprachige Fachzeitschrift heraus.<br />

Er organisiert Tagungen und Weiterbildungen,<br />

setzt Projekte um, entwickelt<br />

Instrumente und koordiniert Fachgruppen.<br />

- Positionierung der Offenen Kinderund<br />

Jugendarbeit: Der DOJ entwickelt<br />

Positionen und klärt Begriffe. Auf nati-<br />

32 ZeSo 4/16 plattform


onaler Ebene vertritt er die Interessen<br />

der OKJA, indem er zum Beispiel in<br />

Gremien wie der Konferenz der kantonalen<br />

Kinder- und Jugendbeauftragten<br />

als Gast Einsitz nimmt. Mit seinem<br />

Fachwissen trägt er zu Strategien und<br />

Projekten von Partnerorganisationen<br />

bei und ermöglicht diesen den Zugang<br />

zu lokalen Jugendarbeitsstellen. Durch<br />

die Zusammenarbeit mit Ausbildungsstätten<br />

ermöglicht der DOJ den Transfer<br />

von Erkenntnissen aus der Praxis in<br />

die Aus- und Weiterbildung sowie von<br />

der Forschung in die Praxis.<br />

- Repräsentation und Vernetzung der Offenen<br />

Kinder- und Jugendarbeit: Der<br />

DOJ schafft Plattformen für die gemeinsame<br />

fachliche und strategische Entwicklung<br />

in seinem Netzwerk. Durch<br />

den Zusammenschluss im DOJ sind<br />

die kantonalen Verbände und mit ihnen<br />

die lokalen Stellen auf nationaler Ebene<br />

direkt ansprechbar. Bei relevanten Gesetzesvorlagen,<br />

wie dem Bundesgesetz<br />

über die Förderung der ausserschulischen<br />

Arbeit mit Kindern und Jugendlicher<br />

beteiligt sich der DOJ.<br />

Im Rahmen der nationalen Zusammenarbeit<br />

des DOJ resultierte eine Reihe<br />

von Tools für die Praxis, beispielsweise das<br />

Quali-Tool, das Fachleute aus der Kinderund<br />

Jugendarbeit bei der Qualitätssicherung<br />

unterstützt. Die Fachstelle Jugendarbeit<br />

Flims/GR testete einen Prototyp des<br />

Quali-Tools. Die Erfahrungen aus Flims<br />

sowie aus zwei weiteren Pilotgemeinden<br />

flossen in die Endversion des Instruments<br />

ein. Die Idee zum Quali-Tool entstand an<br />

einer Fachkonferenz der DOJ-Mitglieder,<br />

erarbeitet wurde es vom DOJ zusammen<br />

mit Interface Politikstudien und anderen<br />

Partnern. Ein weiteres Projekt des DOJ ist<br />

Kebab+. Die Abkürzung steht für Kochen –<br />

Essen – Begegnen – Ausspannen – Bewegen.<br />

Der DOJ unterstützt in Kooperation<br />

mit dem Migros-Kulturprozent Projekte,<br />

die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen<br />

fördern und dabei mindestens<br />

drei der fünf Faktoren von Kebab berücksichtigen.<br />

Das Ziel ist, Kebab+ im Tessin<br />

zu etablieren und auch das Quali-Tool in<br />

der italienischsprachigen Schweiz einzuführen.<br />

Weitere Projekte sollen in den nächsten<br />

Monaten umgesetzt werden. Eine Grundlagenbroschüre<br />

für Entscheidungsträger<br />

in Gemeinden ist in Erarbeitung. Es laufen<br />

Bestrebungen, sich vom Dachverband<br />

der Kinder- und Jugendarbeit zu einem<br />

Dachverband der Kinder- und Jugendförderung<br />

weiterzuentwickeln.<br />

Zuversicht trotz finanziellem Engpass<br />

Ob der DOJ seine Projekte verwirklichen<br />

kann, hängt vom Erfolg der Bemühungen<br />

um finanzielle Überbrückung und um eine<br />

neue Leistungsvereinbarung mit dem Bundesamt<br />

für Sozialversicherungen BSV. Der<br />

DOJ finanziert sich über Mitgliederbeiträge<br />

und Projektgelder. Mit dem BSV hat der<br />

DOJ eine Leistungsvereinbarung, doch<br />

läuft diese Ende <strong>2016</strong> aus. Den Antrag für<br />

eine neue Leistungsvereinbarung ab 2017<br />

lehnte das BSV überraschend ab. Es begründete<br />

den Entscheid damit, dass der<br />

DOJ das Kriterium einer gesamtschweizerischen<br />

Geschäftstätigkeit nicht erfülle.<br />

Dieser für den DOJ nicht nachvollziehbare<br />

Entscheid hat kurzfristig eine massive Finanzierungslücke<br />

verursacht, werden doch<br />

jährlich 200‘000 Franken wegfallen, welche<br />

ca. 40% des Budgets entsprechen. Gegen<br />

den Entscheid rekurriert der DOJ. Der<br />

DOJ hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt<br />

und bleibt zuversichtlich, dass er seine<br />

Arbeit weiterführen kann. <br />

•<br />

Katrin Haltmeier<br />

DOJ<br />

Dachverband Offene<br />

Kinder- und Jugendarbeit<br />

Schweiz (DOJ)<br />

Im Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

Schweiz (DOJ) sind 17 kantonale und<br />

regionale Verbände der Offenen Kinder- und<br />

Jugendarbeit zusammengeschlossen, welche<br />

wiederum ca. 800 lokale Fachstellen vernetzen.<br />

Zum Netzwerk des DOJ gehören zudem eine<br />

Reihe von Partnerorganisationen aus dem<br />

Kinder- und Jugendbereich sowie die wichtigen<br />

Ausbildungsinstitutionen der Sozialen Arbeit<br />

und Soziokulturellen Animation.<br />

Der DOJ führt in Bern eine Geschäftsstelle mit<br />

120 Stellenprozenten und ist in drei Bereichen<br />

aktiv:<br />

- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

unterstützen<br />

- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

positionieren<br />

- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />

repräsentieren und vernetzen<br />

www.doj.ch<br />

www.quali-tool.ch<br />

plattform 4/16 ZeSo<br />

33


FORUM<br />

Gemeinsam gegen die<br />

«Verrentung» der Sozialhilfe?<br />

Die Sozialhilfe hat jüngst positive<br />

Entwicklungen erfahren: Die Konferenz<br />

der Sozialdirektorinnen und -direktoren<br />

(SODK) und die SKOS haben sich auf<br />

einen gemeinsamen Weg geeinigt; die<br />

Richtlinien sind jetzt überarbeitet. Damit<br />

ist etwas Ruhe in die Sozialhilfe-Debatte<br />

eingekehrt. Doch sie war nicht von langer<br />

Dauer. Schon stehen neue medienträchtige<br />

Forderungen im Raum: All die Flüchtlinge<br />

seien subito in die Erwerbsarbeit zu<br />

integrieren. Sie als in der Praxis Tätige fluchen<br />

ob solcher Debatten vielleicht gelegentlich<br />

vor sich hin und denken sich, die<br />

Arbeitgeber sollen doch einfach vorwärts<br />

machen und Ihre Klienten anstellen. Doch<br />

so einfach ist es nicht – auch dann nicht,<br />

wenn es um Menschen geht, die aufgrund<br />

von gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />

bei Ihnen auf dem Sozialamt landen.<br />

Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie schon<br />

über die IV gewettert, weil sie Ihnen<br />

ausgemusterte IV-Rentner abschiebt?<br />

Bestimmt kennen Sie solche Einzelfälle.<br />

Doch handelt es sich hierbei wirklich<br />

um einen systemischen Effekt? Die IV<br />

behauptet das Gegenteil und hat mit einer<br />

Studie nachgelegt, die aufgezeigt: Fast<br />

die Hälfte der rund 13 000 Neurentner<br />

pro Jahr werden der IV aus den RAV oder<br />

der Sozialhilfe zugespielt. Die Dauer des<br />

Sozialhilfebezugs betrug in diesen Fällen<br />

Martin Kaiser,<br />

Leiter Sozialpolitik<br />

und Mitglied der<br />

Geschäftsleitung<br />

des Schweizerischen<br />

Arbeitgeberverbands<br />

SAV sowie Präsident<br />

Compasso<br />

Bild: zvg<br />

häufig mehrere Jahre. Die Sozialhilfeleitung<br />

ist eigentlich darauf ausgelegt,<br />

vorübergehende Krisen aufzufangen. Nun<br />

verkommt sie jedoch oft zu einer eigentlichen<br />

Ersatzrente. Diese «Verrentung» der<br />

Sozialhilfe ist der falsche Weg – gerade<br />

auch deshalb, weil die IV anschliessend<br />

entsprechende IV-Neurentner mit viel Aufwand<br />

wieder arbeitsmarktfähig machen<br />

muss. Als weitere Sündenböcke bieten<br />

sich die Arbeitgeber an, die entsprechende<br />

IV-Rentner gefälligst wieder einzugliedern<br />

haben. Diese Schwarzpeterspiele sind<br />

destruktiv und nicht zielführend.<br />

Fast die Hälfte der<br />

rund 13 000 Neurentner<br />

pro Jahr<br />

werden der IV aus<br />

den RAV oder der<br />

Sozialhilfe zugespielt.<br />

Der Schweizerische Arbeitgeberverband<br />

hält sich nicht mit Schuldzuweisungen<br />

auf. Er hat deshalb das Patronat des<br />

Vereins Compasso (www.compasso.ch)<br />

inne. Compasso bedient Arbeitgeber mit<br />

gezielten und praxistauglichen Informationen<br />

zum Umgang mit gesundheitlich<br />

beeinträchtigten Mitarbeitenden. Der<br />

Verein motiviert Arbeitgeber, gesundheitliche<br />

Probleme von Mitarbeitenden<br />

möglichst frühzeitig zu erfassen und die<br />

richtigen Massnahmen einzuleiten. Die<br />

Erfolgschancen auf den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit<br />

sind dann am grössten.<br />

Dies trägt langfristig vielleicht auch zur<br />

Entlastung der Sozialhilfe bei.<br />

Demnächst stellt Compasso neue Instrumente<br />

für eine erfolgreichere Eingliederung<br />

von Menschen vor, die aus<br />

gesundheitlichen Gründen aus dem<br />

Erwerbsleben ausgeschieden sind. Dies ist<br />

ein wichtiger Schritt, denn immer wieder<br />

stossen die Träger von Compasso (IV-<br />

Stellenkonferenz, Verband der Privatversicherer,<br />

SUVA, Behinderten- und Eingliederungsorganisationen<br />

sowie kleinere<br />

und grössere Arbeitgeber) im Rahmen<br />

der Weiterentwicklung von Prozessen<br />

aufgrund von scheinbar gegensätzlichen<br />

Interessen der Akteure auf Widerstand.<br />

Diese Partikularinteressen kommen sich<br />

dann in die Quere, wenn jeder Akteur nur<br />

auf die Bewirtschaftung des eigenen Gärtchens<br />

fokussiert. Im Rahmen konkreter<br />

zielorientierter Projektarbeit gelingt es<br />

aber, die gemeinsamen Interessen aufzuzeigen<br />

und Stolpersteine aus dem Weg<br />

zu räumen. Voneinander zu lernen, um<br />

konkrete Optimierungen vorzunehmen,<br />

steht dabei im Fokus. Dies lohnt sich.<br />

Auch für ein Engagement von SODK und<br />

SKOS bietet Compasso Hand, sofern sie<br />

dies wünschen. Wer weiss, vielleicht wird<br />

der Kampf gegen die «Verrentung» der<br />

Sozialhilfe bald ein gemeinsamer? •<br />

In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />

und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />

Autors resp. der Autorin wieder.<br />

34 ZeSo 4/16 FORUM


lesetipps<br />

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MIGRATIONSLAND SCHWEIZ<br />

Christine Abbt<br />

Johan Rochel<br />

HIER UND JETZT<br />

MIGRATIONS-<br />

LAND<br />

SCHWEIZ<br />

15 Vorschläge<br />

für die Zukunft<br />

Christine Abbt (Hg.)<br />

Johan Rochel (Hg.)<br />

Migrationsland<br />

Schweiz<br />

Wie sieht die Zukunft der Schweiz aus? Wie begegnen<br />

wir den Herausforderungen der Migration?<br />

Und wie verbinden wir die humanitäre Tradition<br />

mit dem Interesse an Prosperität? Diesen Fragen<br />

geht das Buch in 15 Essays nach. Expertinnen<br />

und Experten aus Wissenschaft, Kultur und Politik<br />

präsentieren konstruktive Standpunkte und<br />

konkrete Lösungsansätze. Unter den Vorschlägen sind beispielsweise<br />

die Ausweitung der demokratischen Rechte auf Nicht-Staatsbürger, die<br />

einfachere Anerkennung von Berufsqualifikationen oder ein Modell für<br />

eine dynamische Schutzklausel.<br />

Abbt, Christine, Rochel Johan (Hrsg.), Migrationsland Schweiz, 15 Vorschläge für<br />

die Zukunft, Hier und Jetzt, <strong>2016</strong>, CHF 34.−, ISBN 978-3-03919-410-0<br />

Löhne in der Sozialarbeit<br />

Der Berufsverband Avenir Social trägt in seiner<br />

neuen Publikation Antworten auf wichtige<br />

arbeitsrechtliche Fragen und Grundlagen zu<br />

Lohnfragen im Kontext der Sozialen Arbeit<br />

zusammen. Es werden Themen wie Kündigung,<br />

Rechte und Pflichten in einem Arbeitsverhältnis,<br />

Arbeitszeiten und Versicherungen erläutert.<br />

Der Verband legt seine Position betreffend Löhne<br />

dar, weist auf Lohnreferenzen hin und gibt Tipps für ein erfolgreiches<br />

Lohngespräch. Die Publikation dient somit allen interessierten Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeitern als nützliches Nachschlagewerk.<br />

Avenir Social (Hrsg.), Arbeitsrecht und Löhne in der Sozialen Arbeit in der Schweiz,<br />

<strong>2016</strong>, 36 Seiten, CHF 20.−, Bezug über www.avenirsocial.ch<br />

Migranten in Schweizer<br />

Integrationsprojekten<br />

Schweizer Integrationsprojekte tragen dazu bei,<br />

dass sich Stereotypen von Migranten verfestigen.<br />

Zu diesem Schluss kommt die Autorin<br />

anhand von vier Fallstudien, in denen sie analysierte,<br />

wie Vorannahmen und Zuschreibungen<br />

in den Projekten die beruflichen Optionen<br />

der Migranten beeinflussen. Oft passen die<br />

Teilnehmenden ihre Ziele den für sie anvisierten Möglichkeiten an. Weil<br />

die Integrationsprojekte vorrangig auf gering qualifizierte und traditionell<br />

lebende Migranten fokussieren, drohen andere Lebensrealitäten aus<br />

dem Blick zu geraten.<br />

Susanne Bachmann, Diskurse über MigrantInnen in Schweizer Integrationsprojekten,<br />

Zwischen Normalisierung von Prekarität und Konditionierung zur<br />

Markttauglichkeit, Springer VS; <strong>2016</strong>, 250 Seiten, CHF 42.−<br />

ISBN 978-3-658-13922-3<br />

Wenn das Geld nicht reicht<br />

Es braucht wenig, damit jemand in eine finanzielle<br />

Notlage gerät: ein Stellenverlust, ein Unfall,<br />

ein Exmann, der die Alimente nicht bezahlt. Der<br />

neue Beobachter-Ratgeber, der in Zusammenarbeit<br />

mit der Schweizerischen Gemeinnützigen<br />

Gesellschaft entstanden ist, gibt einen<br />

Überblick über das Netz der sozialen Sicherheit<br />

in der Schweiz und erklärt, wer Anspruch auf<br />

Sozialhilfe hat. Die Autorin zeigt Wege auf, um aus einem finanziellen<br />

Engpass wieder herauszukommen, und gibt Tipps, wie man mit wenig<br />

Geld den Alltag finanzieren kann.<br />

Corinne Strebel Schlatter, Wenn das Geld nicht reicht, So funktionieren die Sozialversicherungen<br />

und die Sozialhilfe, Beobachter-Edition, <strong>2016</strong>, 160 Seiten, CHF 19.−<br />

ISBN 978-3-85569-997-1<br />

veranstaltungen<br />

Plattform<br />

Fremdplatzierung<br />

Fremdplatzierte Kinder und Jugendliche, die<br />

ein Heim oder eine Pflegefamilie verlassen, um<br />

in ihre Familie zurückzukehren oder selbstständig<br />

zu leben, stehen meist vor einem sehr<br />

anspruchsvollen Übergang. An der Tagung des<br />

Fachverbands Sozial- und Sonderpädagogik wird<br />

diskutiert, wie Pädagogen und andere Verantwortliche<br />

die Betroffenen in diesem Übergang<br />

unterstützen können und wie Massnahmen<br />

des stationären Settings in die neue Situation<br />

einfliessen sollen.<br />

Plattform Fremdplatzierung 2017<br />

Dienstag, 24. Januar 2017; Kultur-Casino Bern<br />

www.integras.ch<br />

Recht<br />

auf Arbeit<br />

Arbeit bedeutet in der Schweiz nicht nur ökonomische<br />

Lebensgrundlage, sondern ist Quelle der<br />

sozialen Integration sowie Garant gegen Armut.<br />

Eine hohe Zahl von Working Poor, Langzeitarbeitslosen<br />

und Ausgesteuerten stellen dieses<br />

Selbstverständnis jedoch immer mehr in Frage.<br />

Am Forum setzt sich die Caritas mit den Veränderungen<br />

auf dem Arbeitsmarkt auseinander und<br />

stellt zur Diskussion, ob die integrative Rolle der<br />

Arbeit erhalten werden kann oder ob der Strukturwandel<br />

das Recht auf Arbeit aushöhlt.<br />

Caritas-Forum<br />

Freitag, 27. Januar 2017, Kultur-Casino Bern<br />

www.caritas.ch<br />

SKOS: Bieler Tagung 2017<br />

Bildung statt Sozialhilfe<br />

Mangelnde Berufsbildung ist in der Schweiz<br />

einer der wichtigsten Risikofaktoren für Armut.<br />

Der technologische Fortschritt führt dazu, dass<br />

eine grosse Nachfrage nach gut ausgebildeten<br />

Fachkräften besteht, einfache repetitive Arbeiten<br />

hingegen meist maschinell verrichtet werden und<br />

somit gering qualifizierte Personen zunehmend<br />

Mühe haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist<br />

daher absolut entscheidend, dass Personen ohne<br />

Berufsbildung auch noch im Erwachsenenalter<br />

Zugang haben zu Nachholbildung.<br />

Bieler Tagung 2017<br />

Mittwoch, 8. März 2017, Kongresshaus Biel<br />

www.skos.ch<br />

service 4/16 ZeSo<br />

35


Ein Zeitungsbericht hat Heinz von Arb überzeugt, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufzunehmen. Bild: Daniel Desborough<br />

Der Superhost<br />

Eine Trennung, ein Todesfall und ein zu grosses Haus: Die unfreiwillig veränderte Lebenssituation<br />

von Heinz von Arb führte dazu, dass er ein Bed & Breakfast eröffnete und die Pflegschaft für einen<br />

unbegleiteten 14-jährigen Flüchtling übernahm.<br />

Im grossen Haus von Heinz von Arb war es<br />

leer geworden. Nachdem er und seine Frau<br />

sich getrennt hatten und der fast erwachsene<br />

Sohn ausgezogen war, verstarb innert<br />

kurzer Zeit auch noch von Arbs Mutter, die<br />

in der Einliegerwohnung gelebt hatte. Für<br />

Heinz von Arb und seine damals 14-jährige<br />

Tochter standen die Zeiger auf Veränderung.<br />

«Ich wollte am liebsten weg aus der<br />

Schweiz – mich irgendwo sozial engagieren,<br />

wo ein Bedürfnis besteht», erzählt von<br />

Arb. Doch er blieb. Heute, zwei Jahre später,<br />

haben Vater und Tochter einen neuen<br />

Mitbewohner: Mahdi ist 14 Jahre alt und<br />

kam als unbegleiteter Flüchtling in die<br />

Schweiz. Von Arb übernahm die Pflegschaft<br />

für den jungen Afghanen.<br />

ach gegen hundert unbegleitete Minderjährige<br />

(MNA) angekommen waren, stand<br />

für ihn sofort fest: «Ich will einem Jugendlichen<br />

eine Chance geben!» Auch die Tochter<br />

war schnell überzeugt.<br />

Nachdem Heinz von Arb das administrative<br />

Verfahren durchlaufen hatte, erhielt<br />

er einen Anruf vom Amt für Soziale<br />

Sicherheit, das im Kanton Solothurn für<br />

die Platzierung der MNA in Pflegefamilien<br />

zuständig ist. Mahdi werde für ein Testwochenende<br />

vorbeikommen. Bald darauf<br />

stand der 14-Jährige mit Sack und Pack<br />

vor dem Gartentor des schmucken Hauses<br />

in Balsthal – und ist seither geblieben.<br />

Die ersten Tage verbrachte der Jugendliche<br />

mehrheitlich in seinem Zimmer, die<br />

sprachliche Verständigung war schwierig.<br />

Von Arb, das merkt man, ist einer, der die<br />

Dinge nimmt, wie sie kommen. Und so<br />

ging er die Situation ohne grosse Erwartungen<br />

an. «Ich dachte mir, wir können<br />

auch ohne viel zu sprechen etwas unternehmen»,<br />

sagt er. So machten sie bald den<br />

ersten gemeinsamen Ausflug in die Berge.<br />

Innert kurzer Zeit ging Mahdi in die<br />

Schule und hatte somit eine Tagesstruktur.<br />

Auch Deutsch lernte er schnell. «Vom<br />

zeitlichen Aufwand, der die Betreuung<br />

mit sich bringt, war ich anfangs aber überrascht»,<br />

erzählt von Arb. Zeit kann er glücklicherweise<br />

bieten: Vor einigen Jahren hat<br />

Keine grossen Erwartungen<br />

Geplant war dies nicht. Eigentlich hatte<br />

sich der 63-Jährige unterdessen gut mit<br />

der neuen Lebenssituation arrangiert. Die<br />

ehemalige Wohnung der Mutter hatte er zu<br />

einem kleinen Bed & Breakfast umfunktioniert,<br />

das er über Airbnb vermietete.<br />

Schnell wurde von Arb zum «Superhost» –<br />

eine Auszeichnung, die man auf der Internetplattform<br />

erhält, wenn die Gäste besonders<br />

zufrieden sind und gute Bewertungen<br />

abgeben. Platz im Haus gab es aber immer<br />

noch genug. Und als von Arb eines Tages in<br />

der Zeitung las, dass im Asylzentrum Selzer<br />

seine feste Stelle als Erwachsenenbildner<br />

aufgegeben.<br />

Zusammenleben wie in einer WG<br />

Seit einem Dreivierteljahr lebt Mahdi<br />

nun bei von Arbs. «Wir wohnen wie in<br />

einer WG zusammen, auch wenn ich natürlich<br />

die Verantwortung trage», sagt der<br />

Pflegevater und fügt hinzu, vielleicht werde<br />

sich mit der Zeit schon eine Art Vater-<br />

Sohn-Beziehung entwickeln. Es gibt aber<br />

auch schwierige Momente. Von der Fluchtgeschichte<br />

und vom früheren Leben des<br />

Jugendlichen weiss von Arb wenig: «Ich<br />

möchte ihm nicht zu nahe treten, aber hie<br />

und da erzählt er mir davon.»<br />

Dass von Arb seinen Schützling mag, ist<br />

nicht zu überhören: «Er hat so eine freundliche<br />

Art und wir lachen gern zusammen.»<br />

Oft müsse er den Jugendlichen fast bremsen,<br />

weil er immer bei der Gartenarbeit<br />

oder im Bed & Breakfast mithelfen wolle.<br />

«Er dürfte doch auch mal sagen: Henä, das<br />

ist dein Job!» An der Superhost-Auszeichnung<br />

ist Mahdi jedenfalls nicht unbeteiligt.<br />

Für das in den AirBnB-Bewertungen<br />

viel gelobte Frühstück macht er jeweils den<br />

Butterzopfteig, Heinz von Arb übernimmt<br />

dann das Flechten.<br />

•<br />

Regine Gerber<br />

36 ZeSo 4/16 porträt


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