ZESO_4-2016_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
04/16<br />
Ermessen Spielräume zur bemessung der hilfeleistung sind ein<br />
schwieriger balanceakt im interview Altersforscher François Höpflinger<br />
zur Arbeit im Alter wohlbefinden Je reicher, umso glücklicher?
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
NATIONALE TAGUNG<br />
Bildung statt Sozialhilfe<br />
Zugang zu Nachholbildung als Chance für Erwachsene<br />
Mittwoch, 8. März 2017, Kongresshaus Biel<br />
Mangelnde Berufsbildung ist in der Schweiz einer der wichtigsten Risikofaktoren für Armut. Der<br />
technologische Fortschritt führt dazu, dass eine grosse Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften<br />
besteht, einfache repetitive Arbeiten hingegen meist maschinell verrichtet werden und somit gering<br />
qualifizierte Personen zunehmend Mühe haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist daher absolut<br />
entscheidend, dass Personen ohne Berufsbildung auch noch im Erwachsenenalter Zugang haben zu<br />
Nachholbildung.<br />
Die nationale Tagung in Biel bietet eine Plattform zur Präsentation und Diskussion von<br />
Handlungsmöglichkeiten sowie Best-Practice-Ansätzen.<br />
Programm und Anmeldungen: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
Rechtsberatung für soziale Institutionen<br />
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oft nicht ausreichend? Dann lassen Sie sich bei Rechtsfragen Ihrer Klienten von den Beobachter-Experten<br />
beraten. Wir unterstützen Sie und bieten Durchblick im komplexen Gesetzesdschungel.<br />
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die sich in der Sozial arbeit stellen. Per<br />
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E-Mail: carmen.demund@beobachter.ch<br />
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Ingrid Hess<br />
Verantwortliche Redaktorin<br />
Ermessen – eine grosse<br />
Verantwortung<br />
Die wirtschaftliche Unterstützung, die einzelne Bürgerinnen<br />
und Bürger in schwierigen Phasen ihres Lebens zu Gute haben,<br />
ist rechtlich in der Regel ziemlich präzis definiert. Da<br />
bleibt für die Beratenden auf den Sozialämtern meist wenig<br />
zu entscheiden. Für den Lebensunterhalt sind genaue Beträge<br />
definiert, für die Wohnung der reale Mietzins bis zu einem<br />
Maximalbeitrag. Abweichungen von den Regeln sind<br />
nicht zulässig. Da gilt der Buchstabe des Gesetzes.<br />
Für andere Leistungen, wie die SIL, die situationsbedingten<br />
Leistungen oder die Integrationszulagen, besteht hingegen<br />
ein Ermessensspielraum. Doch wer wagt noch, diesen auszunützen,<br />
wenn Sparpolitik und Medien die Entscheide der<br />
Sozialarbeitenden im Visier haben? Den Ermessensspielraum<br />
wahrzunehmen, braucht dann neben fundierten<br />
Kenntnissen der Gesetze, Verordnungen und SKOS-Richtlinien<br />
auch Zeit, und umso mehr Mut und Selbstbewusstsein<br />
– eine ziemlich grosse Herausforderung und Verantwortung!<br />
Ich freue mich, Sie hiermit zu begrüssen, liebe Leserinnen<br />
und Leser der Zeso. Ich freue mich, viermal im Jahr Hintergründe<br />
und neue Entwicklungen im Sozialwesen für Sie<br />
auszuleuchten. Und ich freue mich darauf, wenn Sie uns<br />
Ihre Erfahrungen mitteilen, wenn Sie Anregungen haben,<br />
mit uns Kontakt aufnehmen; wenn Sie neue Wege ausprobieren,<br />
die vielleicht auch andere interessieren könnten,<br />
dann schreiben Sie uns: zeso@skos.ch.<br />
editorial 4/16 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT14–23<br />
ErmesseN und SPIELRäume<br />
Sozialarbeitende in der Sozialhilfe leisten täglich<br />
Massarbeit: Sie müssen die individuellen Notsituationen<br />
richtig erfassen sowie Hilfeleistungen auf<br />
die einzelnen Personen und Umstände anpassen.<br />
Dabei werden ihnen vom Gesetz verschiedene<br />
Ermessensspielräume eingeräumt. Der Schwerpunkt<br />
zeigt, wie die Sozialarbeitenden mit dieser<br />
Herausforderung umgehen, und präsentiert<br />
juristische und soziologische Konzepte, die dem<br />
Ermessensbegriff zugrunde liegen.<br />
<strong>ZESO</strong><br />
zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse<br />
22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel.<br />
031 326 19 19 Redaktion Regine Gerber, Ingrid Hess<br />
Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Catherine Arber,<br />
Monica Budowski, Therese Frösch, Martin Greter, Katrin Haltmeier,<br />
Claudia Hänzi, Cathrin Hüsser, Martin Kaiser, Claudia Kaufmann,<br />
Markus Kaufmann, Paula Krüger, Maurizia Masia, Susanna Niehaus,<br />
Iris Schaller, Benjamin Schindler, Robin Tillmann, Daniela Tschudi,<br />
Felix Wolffers, Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet,<br />
mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />
Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />
Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />
Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement ausland CHF 120.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 5. Dezember <strong>2016</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2017.<br />
2 ZeSo 4/16 inhalt
INHALT<br />
5 Sichere Altersvorsorge braucht eine<br />
stärkere AHV. Kommentar von<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers<br />
6 13 Fragen an den neuen SKOS-<br />
Geschäftsführer Markus Kaufmann<br />
8 Praxis: Wohnkosten und Sanktionen<br />
bei jungen Erwachsenen<br />
9 Trotz Anspruch keine Sozialhilfe<br />
bezogen – Scham oder Unwissen?<br />
10 «Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />
zum Thema werden»<br />
Interview mit François Höpflinger<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
Ermessen und SPIELRäume<br />
16 Die Verwaltung muss über<br />
Spielräume verfügen<br />
18 Massgebend ist der Mensch in seiner<br />
individuellen Notsituation<br />
20 Ermessensentscheide gehören zur<br />
alltäglichen Arbeit in den<br />
Sozialdiensten<br />
22 Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />
keine Frage des Beliebens<br />
24 Führt Wohlstand zu Wohlbefinden?<br />
26 Wie viel Misstrauen verträgt die<br />
Soziale Arbeit?<br />
28 Der interkommunale Ausgleich der<br />
Soziallasten<br />
30 Reportage über die Sozialfirma<br />
Réalise in Genf<br />
32 Plattform: Der Dachverband offene<br />
Kinder- und Jugendarbeit Schweiz<br />
34 Forum: Gemeinsam gegen die<br />
«Verrentung» der Sozialhilfe.<br />
35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Heinz von Arb hat einen<br />
minderjährigen unbegleiteten<br />
Flüchtling aufgenommen<br />
Armut im Alter<br />
Misstrauen<br />
sozialfirma réalise<br />
Der Pflegevater<br />
Der Soziologe und Altersforscher François<br />
Höpflinger über die alternde Gesellschaft<br />
und die Herausforderungen, die diese<br />
Entwicklung für den Arbeitsmarkt und das<br />
Sozialsystem darstellt.<br />
10<br />
Einzelne Fälle von Sozialhilfemissbrauch<br />
sorgten für heftige Debatten in Medien<br />
und Politik. Das System Sozialhilfe und<br />
dessen Klientel standen in der Folge unter<br />
scharfer Beobachtung. Das hat bei den<br />
Sozialarbeitenden Spuren hinterlassen. Die<br />
Unsicherheit und Furcht vor Fehlern nahmen<br />
erheblich zu.<br />
26<br />
Die Sozialfirma Réalise in Genf bildet jährlich<br />
300 Frauen und Männer aus, die Mühe auf<br />
dem Arbeitsmarkt haben. Sie arbeiten in<br />
verschiedenen Berufsfeldern und erlernen<br />
die dafür notwendigen Kenntnisse. Viele<br />
von ihnen finden später wieder eine Stelle.<br />
Réalise arbeitet dafür eng mit einem Netz<br />
von Firmen zusammen.<br />
30<br />
Mit Sack und Pack stand der 14-jährige<br />
Flüchtling aus Afghanistan vor ein<br />
paar Monaten vor dem Gartentor des<br />
schmucken Einfamilienhauses – und blieb.<br />
Hausbesitzer Heinz von Arb übernahm die<br />
Pflegschaft für den unbegleiteten Flüchtling.<br />
36<br />
inhalt 4/16 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
Sozialcharta: Kompetenz<br />
bleibt beim Bundesrat<br />
Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats<br />
hat die Motion des Nationalrats de<br />
Courten «Verzicht auf eine Ratifizierung der<br />
Europäischen Sozialcharta» mit 7 zu 4 Stimmen<br />
abgelehnt. In den Augen der Kommissionsmehrheit<br />
würde die Annahme der Motion<br />
ein sehr schlechtes Signal an den Europarat<br />
aussenden, denn diese Charta sei ein wichtiger<br />
Bestandteil des Europarats. Die Mehrheit<br />
der Kommission unterstützt die Stellungnahme<br />
des Bundesrates und ist insbesondere der<br />
Auffassung, dass die Motion aus rechtsstaatlicher<br />
Sicht sinnwidrig ist, da der Bundesrat<br />
Konventionen von sich aus unterzeichnen,<br />
aber nicht ratifizieren kann. (Red.)<br />
Erste Bilanz zur Kesb<br />
Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht<br />
(KESR) ist am 1. Januar 2013 in Kraft<br />
getreten. Die 146 neu geschaffenen Kindesund<br />
Erwachsenenschutzbehörden (Kesb)<br />
ersetzten die 1415 Vormundschaftsbehörden.<br />
Der Systemwechsel rief zahlreiche Kritiker<br />
auf den Plan, die das System anhand<br />
von problematischen Einzelfällen insgesamt<br />
in Frage stellten. Die Konferenz für<br />
Kindes- und Erwachsenenschutz (Kokes)<br />
zog im Herbst Kesb nun eine positive Bilanz<br />
der ersten vier Jahre, zeigte aber auch Verbesserungspotenzial<br />
auf. (Red.)<br />
Charta F+F revidiert<br />
Mit der Charta «Früherkennung und Frühintervention»<br />
(F+F) setzen sich verschiedene<br />
Organisationen, Konferenzen und Behörden<br />
dafür ein, ungünstige gesellschaftliche<br />
und strukturelle Bedingungen zu erkennen<br />
und zu benennen. Sie engagieren sich<br />
entsprechend für gesundheitsförderliche<br />
Rahmenbedingungen. Ziel ist, ungünstige<br />
Entwicklungen und Rahmenbedingungen<br />
sowie problematische Verhaltensweisen<br />
von Personen aller Altersstufen frühzeitig<br />
wahrzunehmen, passende Hilfestellungen<br />
zu finden und die betroffenen Menschen<br />
in ihrer gesunden Entwicklung und gesellschaftlichen<br />
Integration zu unterstützen.<br />
Die F+F integriert strukturorientierte und<br />
individuumsbezogene Verfahren und zielt<br />
nicht ausschliesslich darauf ab, das Verhalten<br />
von Betroffenen zu ändern. Die Charta<br />
aus dem Jahr 2012 wurde dieses Jahr revidiert.<br />
(Red.)<br />
Markus Kaufmann ist neuer<br />
SKOS-Geschäftsführer<br />
Am 1. Dezember hat Markus Kaufmann<br />
sein neues Amt als Geschäftsführer der<br />
SKOS-Geschäftsstelle angetreten. Markus<br />
Kaufmann hat langjährige Erfahrung in<br />
verschiedenen Arbeitsfeldern des Sozialund<br />
Gesundheitswesens. Nach dem Studium<br />
der Sozialarbeit, Soziologie und Psychopathologie<br />
an der Universität Fribourg<br />
war Markus Kaufmann in verschiedenen<br />
Funktionen in der Jugendarbeit sowie in<br />
der Gesundheitsförderung und Gesundheitspolitik<br />
tätig. Nach Abschluss seiner<br />
Weiterbildung «Master of Public Health»<br />
wurde er 2003 zum Zentralsekretär des<br />
Fachverbands Public Health Schweiz ernannt.<br />
Vor sechs Jahren wurde Kaufmann<br />
Projektleiter Gesundheitsförderung und<br />
Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />
(GDK) sowie Geschäftsführer der<br />
Vereinigung der kantonalen Beauftragten<br />
für Gesundheitsförderung (VBGF). Der<br />
neue SKOS-Geschäftsführer verfügt über<br />
grosse Erfahrung in der Zusammenarbeit<br />
Hilfswerke springen<br />
in die Lücke<br />
Die öffentliche Sozialhilfe steht unter erheblichem<br />
Kostendruck. Eine Studie zeigt,<br />
dass Hilfswerke immer häufiger Aufgaben<br />
übernehmen, die im Grunde von der<br />
öffentlichen Sozialhilfe wahrgenommen<br />
werden müssten. Die öffentliche Sozialhilfe<br />
ist gezwungen, sich mehr und mehr<br />
auf die Auszahlung der finanziellen Unterstützungsleistungen<br />
zu konzentrieren,<br />
denn die Arbeit in den Sozialdiensten ist<br />
von Spar- und Zeitdruck geprägt, so das<br />
Ergebnis der Analyse für die Jahre 2005<br />
bis 2015. Gleichzeitig haben Hilfswerke<br />
ihre Angebotspalette ausgeweitet, die Sozialberatung<br />
da und dort gestärkt und sich<br />
zunehmend auch mit Fragen des Sozialhilferechts<br />
beschäftigt. Caritas Schweiz, das<br />
Schweizerische Rote Kreuz und die Heilsarmee<br />
hatten die Studie bei Carlo Knöpfel,<br />
Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz,<br />
Hochschule für Sozialarbeit,<br />
in Auftrag gegeben. Zu diesem Zweck<br />
wurden Mitarbeitende von Hilfswerken<br />
online befragt, Fallstudien gemacht und<br />
Experten-Interviews geführt. (Red.) •<br />
von Bund, Kantonen und Gemeinden. Auf<br />
den Seiten 6 und 7 beantwortet Kaufmann<br />
13 Fragen und sagt, was er in der Schweiz<br />
gerne verändern würde. (Red.) •<br />
Markus Kaufmann <br />
Bild: B. Devènes<br />
Ausgabenwachstum<br />
verlangsamt<br />
Im Jahr 2014 gaben Bund, Kantone und<br />
Gemeinden rund 7,9 Milliarden Franken<br />
für Leistungen der Sozialhilfe und der Ergänzungsleistungen<br />
(EL) aus. Gegenüber<br />
2013 fand bei der Sozialhilfe und weiteren<br />
bedarfsabhängigen Sozialleistungen ein nominaler<br />
Zuwachs von 4,6 Prozent statt. Im<br />
Vergleich mit dem Vorjahr (+3,6 Prozent)<br />
erhöhte sich das Ausgabenwachstum also<br />
erneut. Die Zunahme von 2012 (+5,9%)<br />
wurde jedoch nicht mehr erreicht. Die<br />
grösste absolute Zunahme verzeichneten<br />
2014 mit 151 Millionen Franken die EL<br />
(+3,3%). Gut ein Drittel der Kostensteigerung<br />
ist durch den Anstieg der Anzahl unterstützter<br />
Personen zu erklären. Dieser ist<br />
teils durch die demografische Entwicklung<br />
bedingt, denn die Bevölkerung ist 2014<br />
um 1,2 Prozent gewachsen. Auch bei einer<br />
relativ stabilen Sozialhilfequote von rund<br />
3 Prozent bedeutet das automatisch einen<br />
Anstieg der Zahl der Leistungsbeziehenden<br />
insgesamt und damit auch der Kosten. Zu<br />
den übrigen Kostensteigerungen tragen<br />
viele verschiedene Faktoren bei. (Red.) •<br />
4 ZeSo 4/16 aktuell
KOMMENTAR<br />
Sichere Altersvorsorge braucht stärkere AHV<br />
Die SKOS befasst sich mit den Menschen<br />
in der Schweiz, die Armut hautnah erleben.<br />
Viele von ihnen arbeiten. Trotzdem sichert<br />
das erwirtschaftete Einkommen ihre<br />
Existenz nur knapp oder gar nicht. Und je<br />
weniger jemand in die an die Arbeitsintegration<br />
gebundene Altersversicherung einbezahlt<br />
hat, umso ärmer bleibt er bis zum<br />
Lebensende. Die Verfassung sieht vor, dass<br />
im Alter AHV und 2. Säule die Fortsetzung<br />
der gewohnten Lebenshaltung in angemessener<br />
Weise garantieren. Glücklicherweise<br />
gibt es seit den sechziger Jahren die Ergänzungsleistungen,<br />
welche die Existenzgrundlage<br />
der sozial schwächsten Menschen<br />
im Rentenalter sichert. Dennoch:<br />
Es ist absehbar, dass AHV und 2. Säule die<br />
Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung<br />
als Folge sinkender Leistungen auch für<br />
Teile des Mittelstands nicht mehr garantieren<br />
können. Auch sie werden dann auf<br />
Ergänzungsleistungen angewiesen sein. Es<br />
ist also absehbar, dass die Leistungen der<br />
EL unter Druck geraten werden. Weil die EL<br />
steuerfinanziert sind und auch die Budgets<br />
der Kantone und Gemeinden belasten,<br />
drohen hier Sparrunden zum Nachteil vieler<br />
alter Menschen. Was in der Sozialhilfe<br />
bereits heute Realität ist, kommt auch auf<br />
die EL zu. Ein Ausweg liegt klarerweise in<br />
der Stärkung der AHV.<br />
Die Revision 2020 ist richtungsweisend für<br />
die Zukunft, für einen guten Zusammenhalt<br />
der Generationen, für die Gerechtigkeit zwischen<br />
Arm und Reich, für die psychische<br />
und physische Gesundheit und die Würde<br />
aller hier in der Schweiz.<br />
Nach dem Volks-Nein zur weitergehenden<br />
AHVplus-Initiative der Gewerkschaften<br />
geht es heute darum, eine sozialpolitisch<br />
gute Lösung der Rentenrevision 2020<br />
zu erreichen. Heute zeigt sich, dass das<br />
bisherige Konzept der Altersvorsorge Risse<br />
bekommt: Die Leistungen aus der zweiten<br />
Säule werden mit tieferen Zinssätzen und<br />
sinkenden Umwandlungssätzen schlechter<br />
und instabiler.<br />
Eine Stärkung der AHV – mit einer gewissen<br />
Kompensation für Verluste in der 2.<br />
Säule – ist dringend und finanzierbar.<br />
Mit einem Ausbau der AHV ist<br />
das Geld gut investiert. Dank<br />
dem solidarischen Finanzierungsmodell<br />
erhalten<br />
Leute mit tiefen und<br />
mittleren Einkommen für<br />
ihre AHV-Beiträge später<br />
mehr Rente, als wenn sie<br />
das gleiche Geld in<br />
eine private Vorsorge<br />
stecken müssten.<br />
Das kommt vor allen<br />
auch denjenigen zugute,<br />
welche im Erwerbsalter nur<br />
ein bescheidenes Einkommen<br />
erzielen konnten.<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers<br />
Co-Präsidium der SKOS<br />
aktuell 4/16 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Markus Kaufmann<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />
Wenn die <strong>ZESO</strong> erscheint, dann habe ich meine<br />
neue Aufgabe bei der SKOS schon in Angriff genommen.<br />
Darauf freue ich mich im Moment sehr. Bei<br />
meinem bisherigen Job bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />
habe ich mich um die Koordination von<br />
Gesundheitsförderungsprogrammen in den Kantonen<br />
gekümmert. In der Freizeit bereiten wir mit dem<br />
Quartierverein gerade die Eröffnung eines Begegnungscafés<br />
für Flüchtlinge und Quartierbewohner<br />
im ehemaligen Zieglerspital in Bern vor.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
In meiner vorherigen Arbeit sah ich mich vor allem<br />
als Vernetzer. Ich kann nur zusammen mit anderen<br />
etwas bewirken. In unserem sehr föderalen System<br />
ist es wichtig, möglichst alle miteinzubeziehen und<br />
gemeinsam tragbare Lösungen zu finden. Manchmal<br />
braucht das viel Geduld, aber dafür ist es nachhaltiger.<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Meine Frau und ich haben beide eine Stelle mit<br />
Führungsverantwortung. Dies gibt uns ein überdurchschnittliches<br />
Haushaltseinkommen, mit dem<br />
wir uns als eher reich bezeichnen können. Für uns<br />
ist es wichtig, dass das Steuersystem ein Korrektiv<br />
schafft zu den Einkommensunterschieden mit einer<br />
progressiven Besteuerung.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Glauben scheint mir hier nicht das richtige Wort.<br />
Ich weiss, dass die Chancen in unserem Land nicht<br />
gleich verteilt sind. Deutlich sieht man das zum<br />
Beispiel an der Lebenserwartung, die bei einem arbeitslosen<br />
Mann mehr als zehn Jahre tiefer ist als<br />
bei einem Kaderangestellten. Es braucht deshalb<br />
in allen Bereichen der Gesellschaft Anstrengungen,<br />
um die Chancengerechtigkeit zu verbessern, vom<br />
Lebensanfang an bis zur Pflege im hohen Alter. Ein<br />
<strong>ganz</strong> zentraler Punkt ist das Bildungssystem. Hier<br />
schneidet die Schweiz heute deutlich besser ab als<br />
andere Staaten, etwa bei der Integration der zweiten<br />
Generation von Migrantinnen und Migranten. Diese<br />
Stärke gilt es auszubauen.<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Meine Unihockeykollegen würden sagen: Nicht<br />
so gut. Wenn ich mich für etwas einsetze, wurmt es<br />
mich, wenn es nicht gelingt. Im Beruf kann ich aber<br />
gut damit umgehen, in Spiel und Sport zeige ich gern<br />
auch mal Emotionen.<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Erstens sollten wir weniger Gartenhag-Denken<br />
haben und <strong>ganz</strong>heitlichere Lösungen vorziehen – im<br />
Sinne der interinstitutionellen Zusammenarbeit, die<br />
in den SKOS-Richtlinien festgehalten ist. Zweitens<br />
sollten wir die sprachliche Vielfalt unseres Landes<br />
nutzen. Sie ermöglicht, verschiedene Blickwinkel zu<br />
haben und so gute Lösungen zu finden. Und drittens<br />
sollte die Schweiz ihren Beitrag für eine friedliche<br />
und gerechte Welt leisten, gerne noch etwas engagierter<br />
als heute.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Im Moment versuche ich, möglichst nicht so weit<br />
zu reisen, dass ich das Flugzeug nehmen muss, damit<br />
mein ökologischer Fussabdruck nicht zu gross<br />
wird. Immer gelingt mir das aber nicht. Spannend<br />
wäre für mich, in ein Land zu reisen, das gerade im<br />
Aufbruch ist. Vor Kurzem habe ich einen Artikel gelesen<br />
über ein Pilotprojekt in Ruanda, wo Blutkonserven<br />
per Drohnen verschickt und so die Probleme der<br />
schlechten Verkehrswege gelöst werden sollen.<br />
Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />
Insel mitnehmen?<br />
Zuerst mal Jasskarten und gute Freunde. Auf dieser<br />
Insel hätte ich sicher viel Zeit zum Jassen und<br />
zusammen mit den Freunden würde es nicht langweilig.<br />
Und dann noch mein Rennvelo, mit dem ich<br />
einmal pro Tag rund um die Insel fahren würde.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität ist für mich ein wichtiger Teil des<br />
Menschseins. In unserer Verfassung steht ja auch<br />
schon am Anfang: Die Stärke des Volkes misst sich<br />
am Wohl der Schwachen, ein sehr starker Satz. In<br />
der Schweiz haben wir in den letzten rund 70 Jahren<br />
ein Instrumentarium geschaffen, das die Solidarität<br />
sichert: So etwa die AHV, die obligatorische<br />
Krankenversicherung, die IV und als letztes Netz<br />
6 ZeSo 4/16 13 fragen
Markus kaufmann<br />
Bild: B. Devènes<br />
Markus Kaufmann, geboren 1962, lebt und arbeitet in Bern. Er hat als Nachfolger<br />
von Dorothee Guggisberg am 1. Dezember die Leitung der Geschäftsstelle<br />
der SKOS in Bern übernommen. Der ausgebildete Sozialarbeiter ist seit<br />
vielen Jahren im Sozial- und Gesundheitswesen tätig; in den letzten Jahren<br />
war er Projektleiter Gesundheitsförderung und Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />
(GDK) sowie Geschäftsführer der Vereinigung der<br />
kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF).<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
die Sozialhilfe. Alle diese Einrichtungen sind unter<br />
Druck. Es gilt, sie zu verteidigen und gleichzeitig so<br />
anzupassen, dass sich die Solidarität dem gesellschaftlichen<br />
Wandel anpasst und neue Armutsrisiken<br />
einbezieht.<br />
An welches Ereignis in Ihrem Leben denken Sie besonders<br />
gerne zurück?<br />
Schon fast erwachsene Kinder haben keine Freude,<br />
in solchen Interviews vorzukommen. Deshalb<br />
gehe ich etwas weiter zurück. Im Sommer 1989<br />
stand ich mit Bekannten aus Ostberlin auf jener Seite<br />
der Mauer, an der sich der Todesstreifen befand.<br />
Die Mauer schien unverrück- und unbezwingbar.<br />
Vier Monate später wurde sie von feiernden Menschen<br />
überwunden. Das war der Abend vor meiner<br />
letzten Uni-Prüfung. Die Welt veränderte sich mit einer<br />
friedlichen Revolution und ich stand mittendrin.<br />
Ein euphorisches Gefühl, an das ich mich gerne erinnere,<br />
auch wenn sich nicht alles so gut entwickelte,<br />
wie wir damals dachten.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Ich habe einen recht guten Schlaf, aber es gibt<br />
schon Momente, in denen ich mich im Bett drehe<br />
und mir den Kopf zerbreche. Das kann ein Konflikt<br />
oder ein schwieriges Projekt sein. Manchmal kommen<br />
mir aber gerade in solchen Momenten neue Lösungsideen<br />
in den Sinn.<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Eigentlich halte ich nichts von den Unwort-<br />
Debatten. Sie laufen meist nach dem Muster: Provokateure<br />
gegen politisch Korrekte und bringen einen<br />
kaum weiter. Ich störe mich oft an einem zu starken<br />
Fachjargon, der in jeder Berufsgruppe anzutreffen<br />
ist, das meine ich sehr wohl auch selbstkritisch. Am<br />
deutlichsten merke ich es jeweils, wenn unser Übersetzer<br />
mich fragt, was ich mit diesem Satz in einem<br />
Konzept gemeint hätte und ich eingestehen muss,<br />
dass ich es selber nicht mehr verstehe.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Auf mein neues Arbeitsfeld bezogen: eine Gesellschaft,<br />
die Armut und Ausgrenzung frühzeitig und<br />
wirksam verhindert, sodass weniger Menschen auf<br />
Sozialhilfe angewiesen sind.<br />
13 fragen 4/16 ZeSo<br />
7
Wohnkosten und Sanktionen<br />
bei jungen Erwachsenen<br />
Der 20-jährige Markus Künzi erhält nach dem Tod seiner Mutter Sozialhilfe. Nach der obligatorischen<br />
Schule tritt er keine Lehrstelle an und bricht auch das auferlegte Jugendprogramm ab. Nun stellt<br />
sich die Frage, ob die Sozialhilfe gekürzt werden kann und in welcher Höhe?<br />
Markus Künzi* ist 20 Jahre alt und nach<br />
dem unerwarteten Tod seiner Mutter auf<br />
Sozialhilfe angewiesen. Nach dem Auflösen<br />
der Familienwohnung hat er ein Zimmer<br />
bei einer älteren Dame im Kellergeschoss<br />
bezogen. Markus Künzi schloss die<br />
obligatorische Schule zwar ab, trat jedoch<br />
danach keine Lehrstelle an. Ihm wurde seitens<br />
der Sozialbehörde die Auflage gemacht,<br />
ein Jugendprogramm zu besuchen,<br />
welches ihm den Anschluss an eine Berufsausbildung<br />
ermöglichen würde. Der<br />
20-Jährige zeigte von Anfang an wenig<br />
Motivation, das Programm zu absolvieren.<br />
Nach wenigen Wochen brach er es ab.<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
Frage<br />
Kann in der Folge eine Kürzung verfügt<br />
werden und wie hoch darf diese ausfallen?<br />
Grundlagen<br />
Auf den 1. Januar <strong>2016</strong> sind die SKOS-<br />
Richtlinien angepasst worden. Seither gelten<br />
für junge Erwachsene, also Personen<br />
zwischen dem vollendeten 18. und dem<br />
vollendeten 25. Altersjahr, besondere<br />
Empfehlungen beim Grundbedarf und bei<br />
den Wohnkosten. Gleichzeitig wurde für<br />
alle Anspruchsgruppen der Ansatz für die<br />
maximale Kürzung des Grundbedarfs von<br />
15 auf 30 Prozent erhöht.<br />
Generell gilt, dass junge Erwachsene<br />
verpflichtet sind, Bildungs- und Integrationsangebote<br />
konsequent zu nutzen. Dies<br />
mit dem Ziel, eine langfristige Sozialhilfeabhängigkeit<br />
zu vermeiden. Wie alle<br />
anderen Anspruchsgruppen sind auch sie<br />
angehalten, alles Zumutbare zu unternehmen,<br />
um ihre Situation zu verbessern. Was<br />
im Einzelfall gilt, ist im Rahmen einer Auflage<br />
zu konkretisieren. Eine enge Betreuung<br />
und Begleitung steht in solchen Fällen<br />
allerdings noch mehr im Vordergrund als<br />
bei älteren Personen.<br />
Werden Auflagen und Weisungen nicht<br />
eingehalten, können angemessene Sanktionen<br />
angeordnet werden. Bei jungen<br />
Erwachsenen dienen Sanktionen primär<br />
der Erwirkung von Auflagen. Deshalb ist<br />
zu empfehlen, eine Sanktion dann zu beenden,<br />
sobald die erstrebte Auflage erfüllt<br />
wird.<br />
Die Spannbreite für die Kürzung des<br />
Grundbedarfs im Umfang von 5 bis 30<br />
Prozent gilt auch im Falle von Sanktionen<br />
bei jungen Erwachsenen. Die Kürzung<br />
muss stets der Schwere der Pflichtverletzung<br />
entsprechen; die maximale Kürzung<br />
von 30 Prozent darf also generell nur bei<br />
besonders stossendem oder mehrfach<br />
wiederholtem, unentschuldbarem Fehlverhalten<br />
angeordnet werden. Besonderes<br />
Augenmass ist bei jungen Erwachsenen<br />
geboten, weil sie oft bereits einen tieferen<br />
Grundbedarf erhalten und so durch eine<br />
Kürzung härter getroffen werden. Eine<br />
Kürzung um 30 Prozent ist entsprechend<br />
nur in wenigen Ausnahmefällen rechtlich<br />
haltbar.<br />
Antwort<br />
In der vorliegenden Situation ist rasch und<br />
sorgfältig zu prüfen, weshalb die Motivation<br />
zur Teilnahme an einem Jugendprogramm<br />
bei einem jungen Menschen derart<br />
gering ausfällt, und was nötig wäre, damit<br />
eine Berufsausbildung gelingen kann. Der<br />
Beizug von Fachpersonen ist zu empfehlen.<br />
Der Abbruch des Jugendprogramms<br />
durch Herrn Künzi ist nicht als Bagatelle<br />
einzustufen. Eine Sanktion ist angezeigt,<br />
damit die Schwere der Pflichtverletzung<br />
verdeutlicht werden kann und die aufgestellten<br />
Regeln an Verbindlichkeit gewinnen.<br />
Wegen der bereits bestehenden<br />
Einschränkungen beim Grundbedarf, des<br />
Förderaspekts und weil es sich um einen<br />
erstmaligen Vorfall handelt, ist eine gewisse<br />
Zurückhaltung geboten. Angemessen<br />
erscheint eine Kürzung von maximal<br />
15 Prozent, welche in einem ersten Schritt<br />
auf drei Monate zu befristen ist. Wird das<br />
Jugendprogramm bereits vor Ablauf dieser<br />
Frist wieder aufgenommen, ist auch die<br />
Sanktion vorzeitig aufzuheben. •<br />
*Name geändert<br />
Claudia Hänzi<br />
Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />
8<br />
ZeSo 4/16 praxis
Trotz Anspruch keine Sozialhilfe<br />
bezogen – Scham oder Unwissen?<br />
Viel war letzthin in den Medien von Missbrauch in der Sozialhilfe die Rede. Nun zeigt eine Studie der<br />
Universität Bern ein <strong>ganz</strong> anderes Bild: Viele, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe hätten, machen<br />
ihn nicht geltend. Die Studie versucht dem Ausmass dieses Phänomens auf die Spur zu kommen.<br />
Der Schutz vor Armut ist eine Errungenschaft<br />
moderner Wohlfahrtsstaaten: Haushalte,<br />
die aus irgendwelchen Gründen eine<br />
bestimmte Zeit nicht in der Lage sind,<br />
auch nur das Existenzminimum zu sichern,<br />
können vom Staat finanzielle Unterstützung<br />
erhalten. Doch jede vierte Person<br />
(26.3 %), die im Kanton Bern Anspruch<br />
auf Unterstützung durch die Sozialhilfe<br />
hätte, bezieht keine Leistungen. Dies jedenfalls<br />
stellt Oliver Hümbelin, Sozialwissenschaftler<br />
an der Universtät Bern im<br />
Rahmen seiner Dissertation fest. Er analysierte<br />
den Bezug von Sozialhilfe in der<br />
Schweiz erstmals auf Basis von Administrativdaten,<br />
indem er am Beispiel des Kantons<br />
Bern die Steuerdaten zu Einkommensund<br />
Vermögenswerten mit der Sozialhilfestatistik<br />
verglich.<br />
Anspruchsbedingungen zu komplex?<br />
Warum manche Anspruchsberechtigten<br />
keine Sozialhilfe beantragen, ist eine Frage,<br />
auf die es so schnell keine klare Antwort<br />
gibt. Hümbelin versuchte mit seiner Studie<br />
den Gründen auf die Spur zu kommen.<br />
Präzise Antworten erhielt er nicht. Diese<br />
sollen weitere Studien liefern, (Arbeitstitel:<br />
Ungleichheit, soziale Risiken und der<br />
Wohlfahrtsstaat), die im nächsten Jahr<br />
starten könnten, sofern sie vom Nationalfonds<br />
bewilligt werden. In vielen Fällen<br />
könnte ein Nichtbezug von Leistungen mit<br />
fehlendem Wissen oder der Komplexität<br />
der Anspruchsbedingungen erklärt werden,<br />
vermutet Hümbelin. «Gerade für<br />
Working Poor, die ein Einkommen in der<br />
Nähe zur Schwelle des Existenzminimums<br />
erzielen, ist es schwierig zu beurteilen, ob<br />
sie Leistungen geltend machen können,<br />
denn die Schwelle variiert unter anderem<br />
in Abhängigkeit von Wohnort, Grösse des<br />
Haushaltes, der Vermögenssituation und<br />
dem ohne Sozialhilfe erzielten Einkommen.»<br />
Gerade in ländlicheren Gemeinden verzichten<br />
Anspruchsberechtigte oft auf Sozialhilfe.(zvg)<br />
Erhebliche regionale Unterschiede<br />
Auffallend sind jedoch die erheblichen regionalen<br />
Unterschiede: Der Anteil der<br />
Nichtbezügerinnen und -bezüger ist in<br />
Städten mit 12 Prozent deutlich tiefer als<br />
in den Agglomerationen (28%) oder ländlichen<br />
Gemeinden (50%). Hümbelin sieht<br />
eine Erklärung für diese unterschiedlich<br />
hohe Nichtbezugsquote darin, dass Haushalte<br />
in ländlichen Gebieten eher über die<br />
Möglichkeit verfügen, eine Notlage subsistenzwirtschaftlich<br />
zu überbrücken. Auch<br />
die stärkere soziale Kontrolle auf dem Land<br />
im Vergleich zur Anonymität der Städte<br />
dürfte eine Rolle spielen, ob der Gang zum<br />
Sozialamt für einen Betroffenen in Frage<br />
kommt oder nicht.<br />
Die Scham, auf Sozialhilfe angewiesen<br />
zu sein, ist sehr verbreitet und hat im<br />
Zuge des politischen und medialen Diskurses<br />
zugenommen. Diese Erfahrung machen<br />
Sozialarbeitende auch in der Praxis.<br />
«Manche Betroffene müssen wir geradezu<br />
zwingen, einen Antrag auf Sozialhilfe zu<br />
stellen», stellt beispielsweise Fabienne Cosandier<br />
vom Service Social de La Chauxde-Fonds<br />
fest.<br />
Einfluss der politischen Zugehörigkeit<br />
Die Studienresultate zeigen schliesslich<br />
auf, dass die Nichtbezugsquote mit der politischen<br />
Landschaft der Gemeinden korreliert.<br />
In Gemeinden mit starken linken<br />
Parteien, die sich für die Sozialhilfe stark<br />
machen, ist die Nichtbezugsquote tiefer.<br />
Gemeinden mit rechtskonservativen Politikpräferenzen<br />
weisen hingegen deutlich<br />
höhere Quoten auf. Dieser Effekt bleibt<br />
unabhängig von Wirtschaftsstruktur und<br />
Bevölkerungsdichte bestehen. Es liegt daher<br />
laut Hümbelin die Vermutung nahe,<br />
dass die politische Zugehörigkeit beziehungsweise<br />
die politischen Mehrheitsverhältnisse<br />
am Wohnort das individuelle<br />
Verhalten beeinflussen: Wer einem Sozialleistungsbezug<br />
kritisch gegenüber steht<br />
oder wer Stigmatisierung durch sein soziales<br />
Umfeld, etwa seitens Nachbarn oder<br />
Bekannten, befürchtet, wird eher auf einen<br />
Leistungsbezug verzichten. •<br />
Info<br />
Ingrid Hess<br />
Die Studie «Nichtbezug von Sozialhilfe und die<br />
Bedeutung von regionalen Unterschieden» wurde<br />
von Oliver Hümbelin am Departement Sozialwissenschaften<br />
der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen<br />
Fakultät der Universität Bern verfasst. Sie ist<br />
unter folgendem Link zu finden:<br />
http://econpapers.repec.org/paper/bsswpaper/21.<br />
htm<br />
SOZIALHILFE 4/16 ZeSo<br />
9
«Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />
zum Thema werden»<br />
François Höpflinger, Prof. für Soziologie, hat sich überJahrzehnte mit der demografischen<br />
Entwicklung, Familienfragen, und schliesslich zunehmend mit dem Alter befasst. «Eigentlich sollte<br />
man eine Erwerbsersatzversicherung einführen», schlägt der Wissenschaftler vor.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Herr Professor Höpflinger,<br />
die AHVplus-Initiative wurde von der<br />
Stimmbevölkerung verworfen. Die<br />
Altersreform des Bundes läuft Gefahr,<br />
ebenfalls zu scheitern. Die Altersvorsorge<br />
an künftige Entwicklungen anzupassen,<br />
scheint ein schier unmögliches<br />
Unterfangen; was ist da los?<br />
François Höpflinger: Vielen ist wohl<br />
aufgestossen, dass die Initiative auch die<br />
AHV-Renten der Millionäre angehoben<br />
hätte. Damit stellte man die Generationensolidarität<br />
in Frage. Von Armut betroffen<br />
sind heute noch mehr Familien als Rentner.<br />
Ausserdem hat die AHV-Kasse letztes<br />
Jahr erstmals schwarze Zahlen geschrieben.<br />
Im Moment hat Sozialausbau grundsätzlich<br />
keine Chance. Sozialabbau wird allerdings<br />
auch nicht akzeptiert. Es bräuchte<br />
vielleicht eine <strong>ganz</strong> andere Lösung.<br />
Woran denken Sie?<br />
Eigentlich sollte man eine Erwerbsersatzversicherung<br />
einführen. Egal ob<br />
jemand krank, arbeitslos, im Mutterschaftsurlaub<br />
oder alt ist, würde er oder<br />
sie Beiträge aus der Erwerbsersatzversicherung<br />
erhalten. Alle nicht erwerbsfähigen<br />
Menschen, also auch Kinder, bekämen<br />
zusätzlich Ergänzungsleistungen. Die<br />
Erwerbsersatzversicherung für alle hätte<br />
auch den Vorteil, dass man die Schnittstellenprobleme<br />
nicht mehr hätte, wo Einsparungen<br />
bei der einen Kasse zu Mehrausgaben<br />
in der anderen führen. Diesen Effekt<br />
spürt man gerade im Bereich der Sozialhilfe<br />
als letztes Auffangnetz immer wieder<br />
deutlich.<br />
Es wird ja viel argumentiert, es gebe<br />
gar keine Altersarmut. Stimmt das?<br />
Mit der AHV und den Ergänzungsleistungen<br />
ist die Existenzsicherung im Alter<br />
theoretisch gewährleistet. Hingegen genügt<br />
dies nicht für einkommensschwache<br />
Personen, die etwas Vermögen oder<br />
Wohneigentum haben. Auch Rentner, die<br />
aus einer günstigen Mietwohnung ausziehen<br />
müssen, haben häufig keine Chance,<br />
eine mit ihrer Rente finanzierbare Wohnung<br />
zu finden. Die anrechenbaren Mietkosten<br />
bei den Ergänzungsleistungen sind<br />
zudem tiefer als das heutige Mietzinsniveau<br />
in Städten. Viele sind sich dieser Situation<br />
nicht bewusst, solange sie in einer<br />
günstigen Wohnung leben. Natürlich betrifft<br />
das auch junge Familien, die manchmal<br />
grosse Schwierigkeiten haben, mehr<br />
als 2000 Franken pro Monat für die Miete<br />
aufzubringen. In Pflegeheimen leben deshalb<br />
auch Menschen, die an und für sich<br />
keine Pflege benötigen, aber keine andere<br />
bezahlbare Wohnform finden. Es wäre sicher<br />
sinnvoll, die anrechenbaren Mietkosten<br />
bei den EL zu erhöhen.<br />
Es heisst überall: Wohneigentum –<br />
Ihre sichere Altersvorsorge. Warum<br />
haben Hauseigentümer Probleme?<br />
Der grösste Teil der jetzt ins Rentenalter<br />
kommenden Personen – etwa 54 Prozent<br />
– sind Hauseigentümer. Eine ansehnliche<br />
Zahl von ihnen besitzt sogar noch eine<br />
Zweitwohnung. Viele haben für den Kauf<br />
des Wohneigentums Gelder aus der beruflichen<br />
Altersvorsorge vorbezogen. Sie<br />
erhalten dann im Alter weniger Rente. Zu<br />
Problemen führt es vor allem bei Wohneigentümern,<br />
die nach der Pensionierung in<br />
einer zu grossen oder zu luxuriösen Wohnung<br />
leben, die sie sich nicht mehr leisten<br />
können.<br />
Probleme haben also nicht nur diejenigen,<br />
die immer schon arm waren,<br />
sondern gerade auch die mittleren<br />
Einkommen, die besonders unter den<br />
sinkenden Renten der beruflichen<br />
Vorsorge zu leiden haben – ob mit<br />
oder ohne Wohneigentum.<br />
françois höpflinger<br />
François Höpflinger (geb. 1948) hat zwei<br />
erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.<br />
Er war bis 2013 Titularprofessor an der<br />
Universität Zürich, leitete Forschungsprojekte<br />
zu demografischen und familiensoziologischen<br />
Themen und 1992–1998 das<br />
Nationale Forschungsprogramm (NFP 32)<br />
Alter/ Vieillesse/ Anziani. Seit 2014 ist er Mitglied<br />
der Leitungsgruppe des Zentrums für<br />
Gerontologie an der Universität Zürich.<br />
Es gibt in der Tat eine grosse Polarisierung<br />
bei den Renteneinkommen aus der<br />
zweiten Säule. Bei der beruflichen Vorsorge<br />
ist das Ungleichheitsmass 0.73, bei<br />
der AHV nur 0.11 (1 entspricht völliger<br />
Ungleichheit, 0 völliger Gleichverteilung,<br />
Anm. der Red.). 44 Prozent der Menschen<br />
im Rentenalter geben das Geld aus, das<br />
reinkommt. Sie sind also nicht in der Lage,<br />
Reserven anzulegen. Und weitere 16 bis<br />
18 Prozent müssen ihr angespartes Vermögen<br />
aufbrauchen. Vor allem längere<br />
Pflegebedürftigkeit im Alter kann selbst<br />
grosse Vermögen auf Null reduzieren.<br />
Tatsache ist, dass die Menschen<br />
immer älter werden und die Altersvorsorge<br />
immer mehr in Finanzierungsprobleme<br />
rutschen wird. Als Lösung<br />
in aller Munde ist jetzt die längere<br />
Erwerbsarbeit im Alter. Auch Sie wären<br />
ja eigentlich schon im Ruhestand. Ist<br />
das Rentenalter 65 zu tief?<br />
Langfristig wird die Erhöhung des Rentenalters<br />
unumgänglich sein, schon allein<br />
deshalb, weil wir einen Fachkräftemangel<br />
haben.<br />
Stellen wir uns vor, die Politik setzt<br />
in einigen Jahren das Rentenalter auf<br />
10 ZeSo 4/16 interview
«Man muss die<br />
Lernhierarchie<br />
umkehren. Die<br />
Jungen müssen<br />
den Alten sagen,<br />
wie Management<br />
heute funktioniert.»<br />
67-70 Jahre fest. Was wären Ihrer einschätzung<br />
nach die Folgen?<br />
Ein höheres Rentenalter braucht eine<br />
Reihe von Begleitmassnahmen: Eine Weiterbildungspolitik<br />
50Plus, neue Arbeitszeiten<br />
mit Ruhephasen etc. Vieles müsste<br />
überdacht werden. Auch die klassischen<br />
Karriereverläufe. Förderlich wäre auch die<br />
Einführung von AHV-Timeout-Phasen, es<br />
müsste möglich sein, während zwei Jahren<br />
AHV-Rente zu beziehen, dann aber wieder<br />
in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Jetzt<br />
ist es ja so, dass man die AHV ab einem<br />
bestimmten Alter bezieht, ob man nun will<br />
oder nicht.<br />
Aber auch mit einem höheren Rentenalter<br />
wird die Rente für viele nicht<br />
genügen, und sie werden auch im Rentenalter<br />
noch etwas dazu verdienen<br />
müssen, sofern das möglich ist.<br />
Das wird sicher immer häufiger der Fall<br />
sein. Das Problem ist, dass jetzt viel höhere<br />
Renten ausbezahlt werden, als das in Zukunft<br />
der Fall sein wird. Das ist eigentlich<br />
nicht nachhaltig. Arbeiten im Alter wird –<br />
wie in den USA – auch in der Schweiz immer<br />
mehr ein Thema werden. Dabei kann es<br />
dazu kommen, dass pensionierte Menschen<br />
vermehrt eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt<br />
bilden und die Erwerbsarbeit im<br />
Alter je nach Konjunktur schwankt.<br />
In der Sozialhilfe wächst die Gruppe<br />
der 56- bis 65-jährigen deutlich. Es ist<br />
nach wie vor für die meisten älteren<br />
Arbeitnehmer enorm schwierig, eine<br />
neue Stelle zu finden. Sozialversicherungstechnisch<br />
fände also mit einer<br />
Rentenaltererhöhung eine Verschiebung<br />
von der AHV in die ALV resp.<br />
Sozialhilfe statt.<br />
Das stimmt natürlich. Stellen für<br />
60Plus gibt es praktisch keine. Selbst sozial<br />
engagierte Unternehmen stellen lieber<br />
einen jungen Arbeitslosen an als einen<br />
alten, weil sie es als wichtig erachten, den<br />
jungen in den Arbeitsmarkt zu verhelfen.<br />
Wer mal draussen ist, kommt deshalb so<br />
leicht nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurück.<br />
Viele, die 20 bis 30 Jahre lang im<br />
selben Betrieb gearbeitet haben, wissen<br />
zudem schlicht nicht, wie man sich bewirbt,<br />
was heute verlangt wird, wie sie die<br />
eigenen Kompetenzen richtig einschätzen.<br />
Viele Betroffene machen sich selbständig. <br />
interview 4/16 ZeSo<br />
11
«Der Trend wird sein, dass die pensionierte Generation<br />
eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt bildet.»<br />
<br />
Zwei von fünf erwerbstätigen Rentnern<br />
sind heute selbständig, 14 Prozent arbeiten<br />
im Familienbetrieb weiter.<br />
Was bräuchte es denn für Massnahmen,<br />
damit die älteren Arbeitnehmer<br />
länger berufstätig bleiben können?<br />
Müssen Betriebe zum Beispiel gezwungen<br />
werden, ihren Angestellten<br />
Weiterbildung zu ermöglichen?<br />
Man kann das Thema Weiterbildung<br />
nicht allein den Betrieben überlassen.<br />
Diese verfolgen ihre eigenen Interessen.<br />
Aber man könnte aus der AHV Beiträge<br />
an die Weiterbildung bezahlen. In vielen<br />
Branchen müssen Angestellte ihre Weiterbildung<br />
selbst bezahlen, auch wenn sie<br />
sehr sinnvoll wäre, wie zum Beispiel eine<br />
Weiterbildung in der Pflege von Demenzkranken<br />
für Pflegefachfrauen. Nicht alle<br />
können sich so eine Weiterbildung leisten.<br />
Gesundheitsvorsorge, Altersteilzeit, Umschulung<br />
gibt es nur für Arbeitslose und<br />
nicht für ältere Stelleninhaber, denen diese<br />
Massnahmen einen längeren Verbleib auf<br />
dem Arbeitsmarkt oder Selbständigkeit ermöglichen<br />
würden. Die OECD hat in einer<br />
in diesem Jahr publizierten Untersuchung<br />
kritisiert, dass in der Schweiz die Massnahmen<br />
für die Arbeitnehmenden 50+ <strong>ganz</strong><br />
der Wirtschaft überlassen sind. Immerhin<br />
passiert jetzt immer mehr hinter den Kulissen.<br />
Offenbar wird Attraktivität für 50+ allmählich<br />
als Wettbewerbsvorteil anerkannt.<br />
Wichtig ist, dass jetzt sehr viele Projekte<br />
realisiert werden.<br />
Was sind das für Projekte?<br />
Es gibt eine <strong>ganz</strong>e Reihe von Organisationen,<br />
Verbänden oder auch Unternehmen,<br />
die hinter den Kulissen neue Modelle erarbeiten<br />
und einüben. Das Netzwerk Silberfuchs<br />
befasst sich beispielsweise mit dem<br />
späteren Rückzug aus dem Arbeitsleben,<br />
andere Initiativen mit dem Thema «mit 55<br />
noch eine neue Unternehmung gründen».<br />
Es passiert viel, auch in der Wirtschaft. Es<br />
wird jetzt hinter geschlossenen Vorhängen<br />
das neue Stück geprobt, während auf der<br />
Bühne noch das alte gespielt wird. Es ist<br />
manchmal besser, die Politik nicht aufzuscheuchen.<br />
Sie sind auf diesem Gebiet selbst aktiv.<br />
Was sind Ihre Erfahrungen?<br />
Viele Angehörige der aktuellen Generation<br />
50+ leben noch in der Welt einer<br />
linearen beruflichen Karriere ohne Brüche<br />
und Neuorientierungen. Verantwortung an<br />
jüngere Personen im Betrieb abzugeben,<br />
wird oft noch als Statusverlust betrachtet.<br />
Doch genau das müsste geschehen. Vielerorts<br />
muss man die Lernhierarchie umkehren.<br />
Die Jungen müssen den Alten sagen,<br />
wie Management heute funktioniert.<br />
Was wären Ihrer Meinung nach wichtige<br />
Elemente einer neuen Arbeitswelt,<br />
in der auch ältere Menschen noch<br />
aktiv bleiben können?<br />
Wir müssen die Trennung von bezahlter<br />
und unbezahlter Arbeit aufheben, beispielsweise<br />
mit Zeitgutschriften für die<br />
Pflege im Alter. Wir müssen <strong>ganz</strong> andere<br />
Berufskarrieren verstehen lernen. Wir<br />
müssen das Hintereinander von Lernen<br />
– Arbeiten – Rente in ein Neben- und<br />
Miteinander verwandeln. Wichtig wird lebenslanges<br />
Lernen, lebenslanges Aktivsein<br />
– bezahlt und unbezahlt, möglicherweise<br />
auch in Form eines Zivildienstes; Praktika<br />
für Universitätsangehörige, lebenslange<br />
Möglichkeiten, Unternehmen oder Firmen<br />
zu gründen, und immer wieder Ruhephasen<br />
– Mutter- und Vaterschaftsurlaub, mal<br />
ein Sabbatical, Teilzeit-Arbeit. Es braucht<br />
aber in jedem Fall eine soziale Abfederung<br />
für die, die es nicht schaffen.<br />
Auch Sie sind eigentlich im Rentenalter<br />
und widmen immer noch einen<br />
grossen Teil Ihrer Zeit der Forschung.<br />
Was treibt Sie an?<br />
Ich muss betonen, dass ich nie in fester<br />
Anstellung war. Ich habe immer projektbezogen<br />
gearbeitet. Wir haben uns einfach<br />
interessante Themen gesucht. Am Anfang<br />
war das die Unternehmenskonzentration,<br />
12 ZeSo 4/16 interview
da haben wir dann aber so viel herausgefunden,<br />
dass uns die Forschungsgelder abgestellt<br />
wurden (lacht).<br />
Anhand der langen Liste Ihrer Veröffentlichungen,<br />
kann man erkennen,<br />
dass Sie in der Forschung von der Familienplanung,<br />
der Familie,und dem<br />
demografischen Wandel zum Thema<br />
Armut, Alter wanderten und damit den<br />
Phasen des eigenen Lebens folgten. Ist<br />
das eigene Leben für Sie die wichtigste<br />
Quelle der Inspiration?<br />
Das stimmt. Ich habe mich gern mit<br />
den Themen beschäftigt, die mit dem eigenen<br />
Lebenszyklus zu tun haben. Dadurch<br />
ergibt sich auch eine gewisse Verankerung<br />
meiner wissenschaftlichen Arbeit in der<br />
Praxis. Man versteht besser, was die Zahlen<br />
real bedeuten können. Seit den 90er-<br />
Jahren widme ich mich dem Alter.<br />
Eigentlich selbst schon im Rentenalter, ist François<br />
Höpflinger auf seinem Forschungsgebiet immer noch<br />
aktiv. <br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse<br />
in der Altersforschung?<br />
Zunächst lautete mein Auftrag herauszufinden,<br />
was das Alter für Katastrophen<br />
auslöst. Ich war schliesslich positiv überrascht<br />
festzustellen, dass das Alter gar<br />
nicht so katastrophal ist. Im Gegenteil,<br />
die Zahlen zeigen zu einem grossen Teil<br />
positive Trends: Beispielsweise hat die<br />
Einsamkeit eher abgenommen und auch<br />
die Altersarmut, wobei diese jetzt eher wieder<br />
ansteigen dürfte. Auch das altersspezifische<br />
Risiko einer Demenz erkrankung<br />
sinkt derzeit. Arme Alte werden deshalb<br />
immer mehr marginalisiert, weil sie in der<br />
Schweiz – anders als beispielsweise in den<br />
meisten osteuropäischen Ländern – eine<br />
kleine Minderheit darstellen. Das Problem<br />
ist, dass es denen, denen es schlecht geht,<br />
noch schlechter geht, wenn es der Mehrheit<br />
besser geht. Armsein in einem reichen<br />
Quartier ist noch schwieriger und macht<br />
einsam.<br />
•<br />
Das Gespräch führte:<br />
Ingrid Hess<br />
interview 4/16 ZeSo<br />
13
14 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT<br />
Bild: Keystone
Die Verwaltung muss<br />
über Spielräume verfügen<br />
Der Verwaltung wird in vielen Bereichen Ermessen eingeräumt, damit sie Einzelfällen gerecht<br />
werden, auf unterschiedliche Gegebenheiten reagieren kann. Diese Freiheit bedeutet aber auch<br />
Verantwortung, denn die Verwaltung ist verpflichtet, von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen.<br />
«Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht» – so<br />
steht es in Artikel 5 Absatz 1 der Schweizer Bundesverfassung. Die<br />
Verwaltung muss sich daher bei all ihren Tätigkeiten auf eine<br />
Rechtsgrundlage abstützen können, also ein Gesetz oder eine Verordnung,<br />
die sich in den wesentlichen Punkten auf ein Gesetz<br />
stützt. Der Grund, weshalb diesem Gesetzmässigkeitsprinzip in<br />
unserer Rechtsordnung eine so zentrale Bedeutung zukommt, ist<br />
ein doppelter: Die Verwaltung wird im Dienst der Allgemeinheit<br />
tätig, weshalb ihr Handeln über eine demokratisch legitimierte<br />
Rechtsgrundlage verfügen muss. Gleichzeitig soll eine Rechtsgrundlage<br />
aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht dafür sorgen, dass das<br />
Handeln der Verwaltung berechenbar wird. Klare rechtliche Vor-<br />
gaben erlauben es schliesslich den Gerichten, die Verwaltung im<br />
Streitfall an diesem Massstab zu messen.<br />
Die Rechtsbindung der Verwaltung führt dazu, dass die Verwaltung<br />
teilweise als «Exekutive» bezeichnet wird, also als «ausführende»<br />
Staatsgewalt. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend,<br />
denn die Verwaltung ist mehr als nur der verlängerte Arm des Gesetzgebers,<br />
sie hat auch eine gestaltende Aufgabe. Hierfür gibt es<br />
verschiedene Gründe: Zuerst einmal kann der Gesetzgeber nie alle<br />
Entwicklungen voraussehen. Er kann unmöglich alle Fragen, mit<br />
denen die Verwaltung dereinst konfrontiert werden könnte, auf<br />
Vorrat beantworten. Selbst im theoretischen Fall, dass der Gesetzgeber<br />
diese prognostische Fähigkeit besitzen würde, wäre es aber<br />
Das Vier-Augen-Prinzip kann zur richtigen Ermessensausübung beitragen.<br />
Bild: Keystone<br />
16 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT
ermessen und Spielräume<br />
nicht sinnvoll, mit einem detaillierten Regelwerk alle Handlungen<br />
der Verwaltung vorzuprogrammieren. Vielmehr gibt es verschiedene<br />
Gründe, der Verwaltung Ermessen einzuräumen. Zuerst einmal<br />
muss die Verwaltung den nötigen Spielraum haben, um jedem<br />
Einzelfall gerecht zu werden. Dies gilt besonders im Bereich<br />
der Sozialhilfe, wo Hilfeleistungen auf die einzelne Person und<br />
ihre konkreten Umstände angepasst werden müssen – die SKOS-<br />
Richtlinien betonen denn auch das Grundprinzip der bedarfsgerechten<br />
«Individualisierung» (s. Beitrag S.18). Im übrigen Verwaltungsrecht<br />
spricht man auch von Einzelfallermessen. Ein weiterer<br />
Grund für die Übertragung von Ermessen ist, dass die Verwaltung<br />
örtlichen Gegebenheiten oder temporären Veränderungen Rechnung<br />
tragen muss. So kann die Höhe einer Unterstützung von<br />
lokal unterschiedlichen Gegebenheiten, etwa ortsüblichen Mietzinsen,<br />
oder der zeitlich schwankenden Teuerung abhängig sein.<br />
Das Anpassungsermessen erlaubt es der Verwaltung, auf solche<br />
Umstände flexibel zu reagieren. Schliesslich soll die Verwaltung<br />
die ihr übertragenen Aufgaben nicht nur rechtmässig, sondern<br />
auch wirtschaftlich (effizient) und wirksam (effektiv) erfüllen.<br />
Dies kann sie oft nur, wenn sie einen gewissen unternehmerischen<br />
Spielraum hat, das sogenannte Managementermessen. Nicht zuletzt<br />
ist es wichtig, dass die Verwaltung je nach Tätigkeitsbereich<br />
besonderen Sachverstand einbringen kann (Sachverständigenermessen)<br />
oder politische Wertungen vorgenommen werden können<br />
(politisches Ermessen).<br />
Rechtsgleiche Praxis etablieren<br />
Überall dort, wo die Verwaltung über Ermessen verfügt, hat sie also<br />
mehr Spielraum und ist in ein weniger enges rechtliches Korsett<br />
eingebunden. Für die Verwaltung bedeutet diese Freiheit gleichzeitig<br />
aber auch eine besondere Verantwortung. Während Private<br />
die ihnen vom Recht zugestandenen Spielräume nach freiem Belieben<br />
nutzen können, beispielsweise die Vertragsfreiheit, ist dies<br />
beim Ermessen der öffentlichen Verwaltung nicht der Fall. Die<br />
Verwaltung muss von ihrem Ermessen Gebrauch machen und<br />
zwar in pflichtgemässer Art und Weise. Sie darf nicht willkürlich<br />
auf völlig unsachliche Kriterien abstellen und sie muss das Ermessen<br />
rechtsgleich ausüben. Tut sie dies nicht, begeht sie einen «Ermessensmissbrauch».<br />
Es spricht somit einiges dafür, dass sich die<br />
Verwaltung selber Regeln auferlegt, um eine sachliche und rechtsgleiche<br />
Praxis zu etablieren.<br />
Gerade in einem Bereich wie der Sozialhilfe, der weitgehend<br />
in die Kompetenz der Kantone und Gemeinden fällt, können Regelwerke<br />
wie die SKOS-Richtlinien auch dazu dienen, ein unerwünschtes<br />
Regelungsgefälle zwischen den Gemeinwesen zu verhindern.<br />
Rechtsgleiche Ermessensausübung bedeutet allerdings<br />
«Die Verwaltung ist mehr als<br />
nur der verlängerte Arm des<br />
Gesetzgebers, sie hat auch eine<br />
gestaltende Aufgabe.»<br />
nicht, dass ein völlig uniformer Massstab auf alle Fälle genau<br />
gleich angewendet wird, sondern eben auch, dass jedem Einzelfall<br />
individuell Rechnung getragen wird. Denn nach einer alten<br />
Spruchformel des Bundesgerichts bedeutet das Gleichheitsgebot,<br />
dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches<br />
nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist. In<br />
der Praxis besteht denn auch eher das Problem, dass sich die Verwaltung<br />
hinter ihren Regeln verschanzt und die Augen vor den<br />
konkreten Umständen des Einzelfalls verschliesst. In der Rechtssprache<br />
bezeichnet man dies als «Ermessensunterschreitung».<br />
Entscheide verständlich begründen<br />
Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich schon lange mit der Frage,<br />
in welchen Fällen die Gerichte die Ermessensausübung durch<br />
die Verwaltung kontrollieren dürfen, also zum Beispiel ob Ermessensmissbrauch<br />
oder Ermessensunterschreitung vorliegt. Gerichte<br />
können allerdings nur reaktiv tätig werden, wenn eine Seite ein<br />
Gericht anruft. Wenig beschäftigt hat sich die Rechtswissenschaft<br />
bislang mit der Frage, welche Massnahmen präventiv getroffen<br />
werden können, um eine richtige Ermessensausübung zu garantieren.<br />
Neben dem Erlass von Richtlinien, die so formuliert sind,<br />
dass sie eine einzelfallgerechte Praxis erlauben, gehören sicher die<br />
Personalrekrutierung sowie die Aus- und Weiterbildung zu diesen<br />
vorbeugenden Massnahmen. Aber auch organisatorisch lassen<br />
sich Vorkehrungen treffen, etwa standardisierte Abklärungsvorgänge,<br />
das Vier-Augen-Prinzip oder eine verwaltungsinterne Supervision.<br />
Schliesslich ist auch wichtig, dass Entscheide so begründet<br />
und kommuniziert werden, dass sie die Betroffenen<br />
verstehen und akzeptieren können. Der wohl wichtigste Aspekt ist<br />
aber, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen<br />
Verwaltung ihrer Verantwortung bewusst sind und diese<br />
auch wahrnehmen.<br />
•<br />
Benjamin Schindler<br />
Professor für öffentliches Recht, Universität St. Gallen<br />
SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />
Massgebend ist der Mensch in seiner<br />
individuellen Notsituation<br />
Die Sozialhilfegesetze der Kantone sehen (explizit oder implizit) vor, dass grundsätzlich die<br />
individuellen Bedürfnisse und die Gegebenheiten des Einzelfalles massgebend sind. Das<br />
sogenannte Individualisierungsprinzip gilt als typischer Leitsatz der Sozialhilfe.<br />
Mit der Aufklärung und der in der Soziologie bekannten<br />
Individualisierung erhielt das Individuum eine neue Kernstellung<br />
in der Gesellschaft. Der Mensch als autonomes Wesen mit eigener<br />
Würde, persönlichen Bedürfnissen und Interessen wurde zur<br />
Zweckbestimmung, Gestaltungs- und Beurteilungsnorm. In<br />
der Folge fand um die Wende zum 20. Jahrhundert auch im<br />
Armenwesen ein Umdenken statt. Anstelle des Almosenverteilens<br />
an das Bettlervolk trat die sogenannte rationelle Armenpflege.<br />
Neu wurden die einzelnen bedürftigen Personen regelhaft aus<br />
der Masse hervorgehoben und eine Hilfe unter Berücksichtigung<br />
ihrer individuellen Bedürfnisse und Verhältnisse gewährt<br />
(Individualisierungsprinzip). Das Ziel war eine humane,<br />
zweckdienliche und planmässige Unterstützung.<br />
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die aus den USA<br />
und Kanada stammende Methode des «social casework» durch.<br />
Die Bedürftigen wurden neu als Individuen mit eigener Subjektstellung<br />
wahrgenommen. Ihnen wurde eine Mitwirkung im<br />
Hilfeprozess zugestanden und es wurde auf eine Hilfe zur Selbsthilfe,<br />
Aktivierung der eigenen Ressourcen sowie Übernahme von<br />
Selbstverantwortung geachtet. Während die Individualisierung<br />
der Hilfe zuerst nur in Ansätzen in den kantonalen Gesetzen über<br />
das Armenwesen verankert war, figurierte sie ab Mitte des 20.<br />
Jahrhunderts als positiv-rechtlicher Grundsatz der Sozialhilfe in<br />
den Fürsorge- und späteren Sozialhilfegesetzen. Staatliche Unterstützung<br />
soll auf die individuelle Situation zugeschnitten werden.<br />
Entsprechend dieser rechtlichen Vorgabe müssen die Akteure<br />
der Sozialen Arbeit bis heute Massarbeit leisten. Im Zentrum der<br />
Fallarbeit stehen die in Not geratene Person und ihre individuelle<br />
Situation. Ihre sozialen Probleme werden methodisch erfasst. Die<br />
Bedürftigkeit wird durch die individuellen Verhältnisse, die stets<br />
auch im sozialen Kontext zu betrachten sind, bestimmt und die<br />
Hilfe entsprechend bemessen.<br />
«Die Sozialhilfe bewegt<br />
sich im Grundrechtsbereich<br />
des Persönlichkeitsschutzes,<br />
weshalb<br />
die persönlichen<br />
Bedürfnisse und<br />
Verhältnisse besonders<br />
zu beachten sind.»<br />
Der Individualisierungsgrundsatz wird auch im umfassenderen<br />
Sinne, das heisst in seiner Funktion der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit,<br />
verstanden. Er dient nicht nur als Massstab<br />
für die Bemessung, sondern auch für die Anspruchsklärung, Kürzung<br />
und Rückerstattung von Leistungen. In der Sozialhilfe wird<br />
durchwegs individualisiert. Sozialhilfeentscheide erfordern eine<br />
eingehende Sachverhaltsabklärung und eine umfassende Abwägung<br />
von Zumutbarkeits-, Bedürfnis-, Verhältnismässigkeits- und<br />
Härtefallaspekten. Es geht darum, den Menschen in einer individuellen<br />
Notsituation richtig zu sehen und in jedem Einzelfall den<br />
materiell richtigen Entscheid zu finden. Da sich die Sozialhilfe im<br />
Grundrechtsbereich des Persönlichkeitsschutzes bewegt, sind das<br />
Gebot der Menschlichkeit und die persönlichen Bedürfnisse und<br />
Verhältnisse besonders zu beachten.<br />
Wirtschaftliche Hilfe relativ bestimmt geregelt<br />
Um die Individualisierung sicherzustellen, räumen die kantonalen<br />
Gesetze, die zur Bemessung der Hilfe teilweise auf die SKOS-<br />
Richtlinien verweisen, den Sozialhilfebehörden Ermessens- und<br />
Beurteilungsspielräume bei der Gewährung von Sozialhilfe ein.<br />
Entsprechend haben die Sozialhilfebehörden unbestimmte<br />
Rechtsbegriffe im Einzelfall anzuwenden, beispielsweise «situationsbedingte<br />
Leistungen im Ermessen der Sozialhilfebehörden<br />
[SIL]» gemäss SKOS-Richtlinien oder «soweit zumutbar». Weiter<br />
haben sie aus mehreren Arten von Hilfeleistungen wie Geld- oder<br />
Sachleistungen, Kostengutsprachen, Beratung, Information, Vermittlung,<br />
Betreuung und Begleitung die im Einzelfall passenden<br />
auszuwählen. Sie müssen die Hilfeleistungen kombinieren und<br />
über die Ausgestaltung und den Umfang entsprechend den individuellen<br />
Bedürfnissen und Gegebenheiten befinden. Die wirtschaftliche<br />
Hilfe ist mit Ausnahme der erwähnten SIL in den kantonalen<br />
Gesetzen relativ bestimmt geregelt. Bei der persönlichen<br />
Hilfe ist hingegen relativ wenig festgelegt. Teilweise bestehen besondere<br />
Härtefallklauseln.<br />
Die Gewährung von Hilfe muss rechtmässig, zweckmässig und<br />
insgesamt sachlich nachvollziehbar sein, damit das Ermessen als<br />
pflichtgemäss und nicht rein subjektiv ausgeübt gilt. Die Behörden<br />
haben eine Rechtspflicht zur Objektivität. Die Entscheide<br />
müssen zudem eingehend begründet werden. Um die Angemessenheit<br />
von individuellen Leistungen, insbesondere von situationsbedingten<br />
Leistungen (SIL) beurteilen zu können, kann ein<br />
Prüfschema dienen (s. Kasten).<br />
Die Zusammenarbeit mit der hilfesuchenden Person ist von<br />
erheblicher Bedeutung. Ihre persönliche Notsituation kann nur<br />
durch Kooperation und professionelle Soziale Arbeit angemessen<br />
erhoben und bearbeitet werden. Die Betroffenen sind zur Mitwir-<br />
18 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT
ermessen und Spielräume<br />
Eine gute Zusammenarbeit ist von grosser Bedeutung, um die Notsituation richtig zu erfassen.<br />
Bild: Keystone<br />
kung verpflichtet und berechtigt. Sie verfügen jedoch über kein<br />
explizites Wunsch- oder Wahlrecht in bestimmten Situationen.<br />
Solche Rechte sind beispielsweise im Erwachsenenschutzrecht<br />
oder deutschen Sozialgesetzbuch enthalten. Zu den Methoden der<br />
Beratung und Betreuung wird in den kantonalen Gesetzen wenig<br />
geregelt. Vereinzelt wird auf fachliche Grundsätze verwiesen, die<br />
eingehalten werden müssen. Es kann demnach eine Vielfalt von<br />
fachlich anerkannten Methoden angewendet werden. Diese Methodenvielfalt<br />
sollte gesetzlich stets gewährleistet bleiben, damit<br />
die Sozialarbeitenden im kommunikativen Hilfsprozess angemessen<br />
auf die betroffene Person und ihre Situation eingehen und bei<br />
Bedarf neue Methoden anwenden können. Vorgaben der Sozialdienste<br />
zwecks Vereinheitlichung der internen Beratungspraxis<br />
sind denkbar.<br />
In der Sozialhilfe wird auch generalisiert. So wird beispielsweise<br />
der Grundbedarf für den Lebensunterhalt in Form einer Pauschale<br />
ausgerichtet (GBL-Pauschale gemäss SKOS-Richtlinien).<br />
Soll die Pauschale im Einzelfall unterlaufen werden, müssen triftige<br />
Gründe vorliegen. Das Interesse an einer genau den individuellen<br />
Verhältnissen entsprechenden Hilfe muss das Interesse<br />
an einem praktikablen und ökonomischen Vollzug der Sozialhilfe<br />
und an minimaler Rechtssicherheit über die monatliche Hilfeleistung<br />
und Möglichkeit der selbstbestimmten Budgeteinteilung<br />
klar überwiegen (deutliche Privilegierung). Ansonsten könnte<br />
der Staat unter dem Deckmantel des Individualisierungsprinzips<br />
jederzeit die aufgrund einer komplexen Berechnung festgelegte<br />
GBL-Pauschale wieder unterlaufen.<br />
•<br />
Iris Schaller<br />
Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz Stadt Bern, Abteilungsjuristin<br />
Prüfschema für die<br />
Angemessenheit von SIL<br />
(1) Vorliegen einer umfassenden Sachverhaltsabklärung<br />
(2) Deckung des individuellen Bedarfs<br />
(3) Geeignetheit/Wirksamkeit<br />
(4) Zielgerichtetheit<br />
(5) Zumutbarkeit<br />
(6) Kosten-Nutzen-Verhältnis<br />
(7) Risiken-Chancen-Verhältnis<br />
(8) Wahrung der Untergrenze (Grundrecht auf Hilfe in Notlagen)<br />
(9) Wahrung der Obergrenze (soziales Existenzminimum)<br />
(10) Vermeidung eines Härtefalls<br />
(11) Rechtsgleichheit (Hilfe im Rahmen des Gesetzes und der<br />
Richtlinien; bei besonderem Einzelfall in Abweichung von<br />
Richtlinien).<br />
publikation<br />
Iris Schaller Schenk, Das Individualisierungsprinzip, Bedeutung in der<br />
Sozialhilfe aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Perspektive, DIKE<br />
Verlag, <strong>2016</strong>.<br />
SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />
Ermessensentscheide gehören zur<br />
alltäglichen Arbeit in den Sozialdiensten<br />
Die <strong>ZESO</strong> hat sich bei zwei Sozialarbeitenden in Wädenswil und Winterthur erkundigt, wie sie die<br />
Spielräume in der Sozialhilfe einschätzen und welche Herausforderungen diese in der Praxis<br />
mit sich bringen.<br />
«Spielräume erlauben, kreative<br />
und flexible Lösungen zu finden»<br />
Cathrin Hüsser<br />
Leiter-Stellvertreterin<br />
Soziale Dienste Wädenswil<br />
Wir haben aus meiner Sicht viele Ermessensspielräume im Arbeitsalltag.<br />
In unserem Sozialdienst gibt es zwar Handlungsanweisungen<br />
und Praxishilfen, die den vorgegebenen gesetzlichen Rahmen<br />
eingrenzen und konkretisieren. In der Regel ist eine<br />
Maximalhöhe für situationsbedingte Leistungen (SIL) vorgesehen.<br />
Bis zu dieser Höhe sind wir Sozialarbeitenden aber frei, sofern wir<br />
dies fachlich begründen und somit gegenüber der Behörde legitimieren<br />
können. Auch bei der persönlichen Hilfe bilden interne<br />
Leitlinien den Rahmen, diese sind aber sehr offen gehalten und<br />
lassen Raum für Ermessen. Viel Spielraum habe ich bei der Integration<br />
der Klientinnen und Klienten, da uns die gesamte Programmpalette<br />
des Kantons Zürich zur Verfügung steht. Ich mache<br />
ihnen ein Angebot aufgrund ihrer Wünsche und den Fähigkeiten<br />
und stelle dann bei Einverständnis Antrag an die Behörde. Es liegt<br />
auch in meiner Befugnis zu entscheiden, ob ich für ein Gespräch<br />
einen Dolmetscher benötige oder ohne Übersetzung auskomme.<br />
Auch bei den Auszahlungsmodalitäten oder der Häufigkeit der<br />
Termine bestehen Spielräume – um nur einige wenige Themen zu<br />
nennen.<br />
Ermessensspielräume sind für mich sehr wichtig, damit ich<br />
sach- und fachgerechte Hilfe im Einzelfall anbieten und so dem<br />
Grundsatz der Individualität der Hilfe gerecht werden kann. Diese<br />
Einzelfallhilfe ist für mich eine grosse Stärke der heutigen Sozialhilfe<br />
und macht unsere Arbeit auch spannend und vielfältig. Die<br />
Spielräume erlauben immer wieder individuelle, mitunter auch<br />
kreative und flexible Lösungen zu finden. Wichtig erscheint mir<br />
jedoch, dass in eine Entscheidung möglichst alle Aspekte einbezogen<br />
werden, damit der Entscheid gut begründet werden kann und<br />
auch die Klienten nachvollziehen können, weshalb ich einmal so<br />
entscheide und in einem ähnlichen Fall anders.<br />
Bei Ermessensentscheiden prüfe ich jeweils: Liegt mein Entscheid<br />
innerhalb des rechtlichen und internen Rahmens? Wird die<br />
konkrete Situation durch die gesprochene Leistung entscheidend<br />
verbessert? Ist der Entscheid auch verhältnismässig? Sind die Leistungen<br />
mit den Möglichkeiten von nicht Unterstützten vergleichbar?<br />
Ist mein Entscheid sachlich und fachlich nachvollziehbar<br />
und begründet? Und wurde in einem vergleichbaren Fall ähnlich<br />
entschieden? Je grösser der Handlungsspielraum ist, umso besser<br />
muss die im Einzelfall gewährte Hilfe aus meiner Sicht begründet<br />
werden.<br />
Bei diesem Vorgehen laufe ich nicht Gefahr, eine Ermessensunterschreitung,<br />
-überschreitung oder sogar einen Ermessensmissbrauch<br />
zu begehen. Damit sind wir bei den Risiken: Wo ein<br />
Spielraum ist, gibt es immer ein besonderes Machtverhältnis, dessen<br />
man sich als Sozialarbeitende sehr bewusst sein muss. Solche<br />
Entscheidungen müssen aus rein sachlichen und fachlichen Aspekten<br />
erfolgen und Emotionen sollten weggelassen werden. Nur<br />
weil Klienten bisweilen schwierig, unangenehm oder negativ auffallen,<br />
rechtfertigt dies nicht, Spielräume nicht zu nutzen. Zudem<br />
sollte man sich innerhalb des Sozialdienstes einigermassen abgesprochen<br />
haben, wann welche Leistungen in welcher Höhe bewilligt<br />
werden, damit bei gleichem Sachverhalt nicht der eine Klient<br />
bei Sozialarbeiter X mehr erhält als der andere Klient bei Sozialarbeiterin<br />
Y. Da ist der Grat zur Willkür schnell schmal. Deswegen<br />
erachte ich regelmässige Fachaustauschsitzungen als sehr wichtig,<br />
in denen die Spielräume immer wieder besprochen werden. Der<br />
Austausch ermöglicht, dass alle eine ähnliche Haltung vertreten.<br />
Zudem sollten aus meiner Sicht gewisse Rahmenbedingungen,<br />
die der Gesetzgeber offengelassen hat, spezifisch für die regionalen<br />
Begebenheiten konkretisiert und als verbindliche Richtlinien<br />
oder Praxishilfen umgesetzt werden. Ich denke hierbei an<br />
Mietzinsrichtlinien oder situationsbedingte Leistungen wie Umzugskosten,<br />
Baby- und Wohnungserstausstattungen oder schulergänzende<br />
Betreuungskosten. Dies engt zwar den Spielraum etwas<br />
ein, jedoch reduziert es Willkür und die Rechtsgleichheit bleibt<br />
gewahrt. <br />
•<br />
20 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT
Ermessen und Spielräume<br />
«Es besteht die Gefahr, dass man die<br />
Spielräume nicht mehr wahrnimmt»<br />
Martin Greter<br />
Abteilungsleiter Sozialberatung 4<br />
Soziale Dienste Winterthur<br />
Schätzungsweise 90 Prozent unserer Sozialhilfe-Dossiers sind<br />
Normfälle, bei denen es um die Existenzsicherung geht und der<br />
finanzielle Hilfeprozess ziemlich klar ist. In der wirtschaftlichen<br />
Sozialhilfe ist viel vorgegeben. Die SKOS-Richtlinien und das kantonale<br />
Sozialhilfegesetz bestimmen den Rahmen. Darüber hinaus<br />
ist viel in internen Regelwerken wie Kompetenzordnung und Praxisanweisungen<br />
geregelt. Bei den situationsbedingten Leistungen<br />
tut sich ein weites Feld für Ermessensentscheide auf. Zusätzliche<br />
Leistungen müssen fachlich aber immer gut begründet sein und<br />
die Kosten müssen in einem sinnvollen Verhältnis zum erzielten<br />
Nutzen stehen. Dieser Spielraum wird zum Teil sicherlich nicht<br />
ausgeschöpft, wenn der Fokus auf die geltende Norm gelegt wird,<br />
weil Abweichungen mit zeitaufwändiger Einschätzungsarbeit<br />
verbunden sind. Zweifellos müssen wir dem Auftrag der Behörde<br />
nachkommen, die finanzielle Besserstellung unserer Klientel im<br />
Vergleich mit nicht unterstützten Haushalten zu vermeiden. Aber<br />
es besteht die Gefahr, dass man die Spielräume nicht mehr sieht,<br />
wenn man sich nur auf die reibungslose Abwicklung der Fälle konzentriert.<br />
Diese Spielräume, die immer in Verbindung mit einem<br />
fachlichen Diskurs stehen, müssen wir Sozialarbeitenden zurückerobern.<br />
Ein wichtiges Ziel der Sozialhilfe ist aber auch die persönliche<br />
Hilfe. Hier wird uns ein grosser Ermessensspielraum geschenkt.<br />
Das kann man nicht an bestimmten Themen festmachen, denn<br />
es unterscheidet sich von Fall zu Fall. Bereits beim Aufgleisen des<br />
Hilfeprozesses muss ich mit dem Klienten einen Raum schaffen,<br />
der es ermöglicht, den Willen zur Veränderung und die vorhandenen<br />
Ressourcen gemeinsam zu erkunden. Um in diesen Prozess<br />
einzusteigen, muss man sich Zeit nehmen. Es stellt sich aber die<br />
Frage, ob Sozialarbeitende überhaupt Zeit haben, diesen Raum<br />
bieten zu können. In unserer Sozialberatung betreut jeder Sozialarbeitende<br />
120 bis 130 Dossiers. Da bleibt pro Fall und Monat<br />
rund eine Stunde Zeit, von der die Hälfte für die nötige Administration<br />
und Dokumentation weggeht. Aber um Ermessensspielräume<br />
nutzen zu können, muss man Zeit haben, den Klienten mit<br />
seinen Voraussetzungen wahrzunehmen und anschliessend auch<br />
zu vereinbaren, was für den Hilfeprozess relevant ist.<br />
Es geht immer um Einschätzungen und Abwägungen und dieser<br />
Prozess lässt sich nicht standardisieren. Vielmehr kommt der<br />
Sozialarbeitende mit all seinem Fachwissen zum Zug. Ich nehme<br />
das Bild eines Surfbrettes, das für unsere Fachlichkeit und Erfahrung<br />
steht: Wenn sich Spielräume auftun, müssen wir mit Freude<br />
auf das Brett steigen und den Mut haben, uns selbstsicher in<br />
die Wellen zu stürzen. Sozialarbeiterische Methoden sind dabei<br />
natürlich wichtig. Und entscheidend ist, dass wir regelmässig interne<br />
Fallbesprechungen durchführen. Manchmal muss man den<br />
Diskurs suchen und auch Klarheit einfordern: Wie wollen wir das<br />
in unserem Sozialdienst handhaben? Als Sozialarbeitende müssen<br />
wir Glaubenssätze stets hinterfragen und wo nötig neue Strategien<br />
entwickeln, um mit bestimmten Situationen umzugehen. Wenn<br />
ein Klient mit einem besonderen Anliegen kommt, dürfen wir<br />
nicht einfach sagen, dass es nicht geht, weil wir es noch nie so gelöst<br />
haben. Und die aussergewöhnlichen Fälle sind für uns ja auch<br />
die spannenden.<br />
Auch wenn es Spielraum heisst – ein freies Spiel ist es nicht.<br />
Ein Ermessensentscheid muss immer einen fachlichen Nutzen<br />
haben. Nicht nur für den Klienten persönlich, sondern für den gesamten<br />
Hilfeprozess, der nebst der Existenzsicherung das Ziel hat,<br />
die wirtschaftliche und persönliche Selbstständigkeit zu fördern.<br />
Es ist eine doppelseitige Geschichte: Einerseits ist die Sozialhilfe<br />
sehr strukturiert und die Spielräume sind insgesamt klein. Wir<br />
dürfen aber nicht vergessen, dass der Ermessensspielraum im Einzelfall<br />
trotzdem eine sehr grosse Rolle spielen kann. •<br />
SCHWERPUNKT 4/16 ZeSo<br />
Aufgezeichnet:<br />
Regine Gerber<br />
Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />
keine Frage des Beliebens<br />
Die Ombudsstelle der Stadt Zürich macht immer wieder die Erfahrung, dass Mitarbeitende der<br />
Sozialhilfe befürchten, den Ermessensspielraum zu überreizen. Das Gegenteil ist der Fall: In der<br />
Praxis werden die bestehenden Spielräume zu wenig ausgenutzt.<br />
Ermessen ist eine Gestaltungskompetenz für die gesamte Verwaltungstätigkeit<br />
und ist bei der Anwendung in allen Bereichen der<br />
Rechtsordnung wahrzunehmen und auszufüllen. Ihr kommt aber<br />
in der Sozialhilfe aufgrund des Individualisierungsgrundsatzes<br />
besondere Bedeutung zu. Die Gesetzgebung trägt dem auch mit<br />
vielen «Kann»-Vorschriften, alternativen Handlungsmöglichkeiten<br />
und unbestimmten Rechtsbegriffen Rechnung. Die Gesetzgebung<br />
zur Sozialhilfe wie auch die SKOS-Richtlinien erfuhren in den letzten<br />
Jahren vor allem aufgrund des politischen Drucks eine grössere<br />
Regeldichte und wurden in der Regel restriktiver. Einzelfragen,<br />
beispielsweise das Autoverbot im Kanton Zürich, wurden teils heftig<br />
debattiert. Doch die Problematik liegt vor allem bei der mangelnden<br />
Ausnutzung des nach wie vor bestehenden Handlungsspielraums<br />
durch die Akteurinnen und Akteure in der Praxis.<br />
Der politische Diskurs, dem oftmals eine mediale Skandalisierung<br />
von Einzelfällen vorausgeht, verfehlt aber seine Wirkung<br />
nicht: Mitarbeitende der Sozialhilfe berichten der Ombudsstelle<br />
immer wieder, dass sie sich unter Druck fühlen, den Ermessensspielraum<br />
nicht überreizen möchten und nicht verantwortlich sein<br />
wollen für allfällig neue Polemiken, die dann wiederum zu neuen<br />
Einschränkungen und restriktiveren Regelungen führen könnten.<br />
Anderseits fehlt es teils auch am Bewusstsein, dass das dichte<br />
Regelwerk eine kritische Überprüfung des Anzuwendenden und<br />
damit die Berücksichtigung des Ermessens erfordert und nicht<br />
einfach in Stein gemeisselt ist.<br />
Bereichen Gesundheit, Erziehung und Bildung, Ausbildung und<br />
Berufsleben, Wohnen sowie gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme-<br />
und Teilhabemöglichkeiten. Nicht zu vergessen sind die<br />
spezifischen Bedürfnisse der Kinder der Klientinnen und Klienten.<br />
Spricht die Ombudsstelle diese Bedürfnisse an und erkundigt sich<br />
nach konkreter fachlicher Unterstützung und intensiverer Begleitung,<br />
stösst sie zwar häufig auf Verständnis und die Einsicht, dass<br />
diesbezüglich im konkreten Einzelfall durchaus Handlungsbedarf<br />
bestehe. Gleichzeitig wird immer wieder bedauernd auf die beschränkten<br />
Ressourcen hingewiesen, die eine Konzentration auf<br />
die korrekte Ausrichtung der Wirtschaftshilfe erforderten und andere<br />
Unterstützungsformen in den Hintergrund drängten. In diesen<br />
Fällen kommt die Sozialhilfe ihrem gesetzlichen Auftrag nicht<br />
oder zumindest nicht in genügendem Ausmass nach. Parallel dazu<br />
wird auch der Ermessensspielraum eingeengt, indem bei der Prüfung<br />
von einzelnen Massnahmen dem Verständnis für die Gesamtzusammenhänge<br />
und die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen<br />
Faktoren nicht genügend Beachtung geschenkt wird.<br />
Fokus auf korrekter Ausrichtung der Wirtschaftshilfe<br />
In der politischen Diskussion steht bei der Sozialhilfe die Wirtschaftshilfe<br />
im Fokus der Aufmerksamkeit. In der Öffentlichkeit interessieren<br />
die Ausgaben für die Wirtschaftshilfe, die Kosten für die<br />
gewährten einzelnen Leistungen und die Einzelheiten zu den jeweiligen<br />
Budgets der Bezügerinnen und Bezüger. Aber auch in der<br />
Praxis selbst ist eine Konzentration auf die Wirtschaftshilfe und damit<br />
auf die pekuniären Leistungen wahrzunehmen. Dies engt nicht<br />
nur den Blickwinkel auf die Aufgabe der Sozialhilfe unzulässig ein,<br />
sondern führt automatisch zu einer Einschränkung des Ermessens.<br />
Denn: Auftrag und Zielsetzung der Sozialhilfe ist die soziale Integration<br />
der Betroffenen – mit sämtlichen Facetten. Damit verbunden<br />
ist ein breiter Blickwinkel, der sämtliche Lebensbereiche miteinbeziehen<br />
muss. Sozialhilfe heisst so verstanden auch die<br />
Förderung und Unterstützung mit geeigneten Massnahmen in den<br />
Sozialhilfe betrifft viele Themenbereiche.<br />
Bild: Keystone<br />
22 ZeSo 4/16 SCHWERPUNKT
Ermessen und Spielräume<br />
Stattdessen wird der Schwerpunkt darauf gelegt, bei der Ausrichtung<br />
der finanziellen Leistungen ja keine Fehler zu machen und vor<br />
allem keine zu grosszügigen Auszahlungen vorzunehmen.<br />
Ermessensausübung ist aufwändige Alltagsarbeit<br />
Ermessensausübung verursacht Arbeit und kann zeitaufwändig<br />
sein. Sie löst zuweilen auch Verunsicherung aus und stellt eine Herausforderung<br />
dar. Es braucht die Bereitschaft, die Verantwortung<br />
für die eigenen Überlegungen und vielleicht neue Lösungen zu<br />
übernehmen und dafür einzutreten. Sie verlangt namentlich, dass<br />
die zu treffende Entscheidung auf einer eigenständigen, situativen<br />
Begründung basiert. Die Hinweise, man habe dies bisher immer so<br />
gemacht oder das Gleichbehandlungsgebot verlange dies eben, wären<br />
nicht ausreichend. Steigende Fallzahlen, mehr Klientinnen und<br />
Klienten für die einzelnen Fallführenden und Sachbearbeitenden<br />
wie auch der überall spürbare Spardruck sind sicherlich nicht förderlich<br />
für die an sich erforderliche Berücksichtigung der Gerechtigkeit,<br />
die es im Einzelfall zu beachten gilt, also für die angemessene<br />
Ausübung des Ermessens. Sie widersprechen diesem Gebot,<br />
erschweren dessen Wahrnehmung und sind für die Mitarbeitenden<br />
im Arbeitsalltag auch spürbar. Den Hinweis auf die fehlenden zeitlichen<br />
Kapazitäten hören wir öfters als Argument, wenn die Ombudsfrau<br />
ein unsorgfältiges, auf den Einzelfall zu wenig ausgerichtetes<br />
Abwägen des Ermessens kritisiert. In der Regel werden sich<br />
Ombudsstelle und die für die Sozialhilfe Zuständigen in der Beurteilung<br />
der Sache einig. Die Mitarbeitenden verweisen aber wiederholt<br />
auf den grossen Aufwand, den eine angemessene Entscheidfindung<br />
verlange und deren präjudizielle Wirkung, wenn nun immer<br />
nach diesen Anforderungen und Kriterien vorzugehen sei. Mit ihren<br />
personellen Ressourcen könne dieses an sich auch von ihnen gewünschte<br />
Vorgehen schlicht nicht geleistet werden.<br />
Die Ausübung des Ermessens stellt keine Verletzung des<br />
Gleichbehandlungsgebots dar und steht auch in keinem Widerspruch<br />
oder Spannungsverhältnis zu ihm. Im Gegenteil: Sie trägt<br />
wesentlich zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots bei,<br />
konkretisiert und gestaltet es im Einzelfall. Sie ist auch nicht eine<br />
Ausnahme, die nur zurückhaltend Beachtung finden und gröbste<br />
Fehlentscheide korrigieren soll. Dieses Missverständnis begegnet<br />
der Ombudsstelle aber in der Praxis immer wieder. Wo immer<br />
die rechtlichen Vorschriften der Sozialhilfe einen Ermessensspielraum<br />
einräumen, ist dieser wahrzunehmen. Die Ermessensausübung<br />
ist also Alltagsarbeit. Ihr kann am besten Folge geleistet<br />
werden, wenn die Mitarbeitenden bei einem Entscheid sich stets<br />
überlegen, wie sie ihn für sich materiell, inhaltlich begründen,<br />
welche Güter- und Interessenabwägungen sie vornehmen, welches<br />
Argument schliesslich für sie ausschlaggebend ist. Dieses Begründungsgebot<br />
kann die Rolle einer wirkungsvollen «Neunerprobe»<br />
gegenüber der Macht der Gewohnheit, der langjährigen Praxis<br />
oder dem Zeitdruck einnehmen.<br />
Das Bewusstsein für die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte<br />
in der Sozialhilfe ist in den letzten Jahren erfreulicherweise<br />
gestiegen. Dennoch erleben wir, wie schwierig es ist, dass das<br />
Thema nicht nur als «nice to have» wahrgenommen, sondern als<br />
Pflichtstoff erkannt wird, mit dem sich alle in der Sozialarbeit<br />
und in der Sozialhilfe Tätigen ernsthaft auseinandersetzen und<br />
beschäftigen sollten. Die Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte<br />
in der Sozialhilfe stellt eine weitere, inhaltlich unerlässliche<br />
Dimension für die Entscheidfindung dar. Sie hat daher<br />
einen gewichtigen, selbständigen Platz einzunehmen. Gleichzeitig<br />
beeinflusst sie aber auch die Ermessensausübung und liefert<br />
relevante Begründungshilfen im Einzelfall. <br />
•<br />
Claudia Kaufmann<br />
Ombudsfrau Stadt Zürich<br />
Führt Wohlstand zu Wohlbefinden?<br />
Eine Untersuchung belegt, dass in der Schweiz ein systematischer Zusammenhang zwischen<br />
Wohlstand und Zufriedenheit besteht. Die allgemeine Zufriedenheit von Personen in prekären und<br />
armen Verhältnissen ist geringer als bei Wohlhabenden. Ein Gewöhnungseffekt nach einer längeren<br />
Verweildauer in tieferen Wohlstandspositionen ist nicht beobachtbar.<br />
Studien zeigen, dass die Schweiz zusammen<br />
mit Dänemark und Island die höchsten Zufriedenheitswerte<br />
aller OECD-Mitgliedstaten<br />
aufweist. Unterschiede innerhalb der<br />
Bevölkerung in der Schweiz entsprechen jenen<br />
von internationalen Befunden. Während<br />
sich die Lebenszufriedenheit bezüglich<br />
Geschlecht oder Bildungsstand kaum unterscheidet,<br />
bestehen Unterschiede nach Altersgruppen,<br />
Haushaltstypen und Staatsangehörigkeit:<br />
Jüngere und ältere Personen<br />
sind zufriedener als Personen mittleren Alters,<br />
in Haushalten mit Kindern ist man allgemein<br />
zufriedener als in anderen Haushaltstypen<br />
und Personen ausländischer<br />
Herkunft sind weniger zufrieden als Schweizerinnen<br />
und Schweizer. Wenn neben dem<br />
allgemeinen Wohlbefinden die Zufriedenheit<br />
in anderen Lebensbereichen erfragt<br />
wird, zeigen die Daten aus dem Schweizer<br />
Haushalt-Panel, dass die Zufriedenheit mit<br />
dem sozialen Umfeld (Wohnung und soziale<br />
Beziehungen) am höchsten und die Zufriedenheit<br />
mit der persönlichen finanziellen<br />
Situation am tiefsten ausfällt.<br />
Zufriedenheit und Wohlfahrtsniveau<br />
Das allgemeine Zufriedenheitsniveau unterscheidet<br />
sich allerdings auch nach Wohlfahrtsniveau<br />
der Betroffenen. Die Forschungsliteratur<br />
liefert umfangreiche<br />
empirische Evidenz dafür, dass das individuelle<br />
Wohlbefinden mit steigender sozialer<br />
Ungleichheit abnimmt. Panelergebnisse<br />
belegen, dass Einkommensverluste die<br />
Lebenszufriedenheit stärker beeinflussen<br />
als Einkommensgewinne. Armut sollte allerdings<br />
nicht allein durch die finanzielle<br />
Situation erfasst werden. Vielmehr kommt<br />
dem Lebensstandard der Betroffenen und<br />
der damit verbundenen sozialen und kulturellen<br />
Partizipation eine zentrale Rolle<br />
zu. Die angelsächsische Armutsforschung<br />
rückte dabei die bahnbrechende Konzeption<br />
von Armut als «relative Deprivation» in<br />
den Vordergrund. In diesem Zusammenhang<br />
definierte Townsend 1979 die konsistente<br />
Armut über die Verknüpfung zweier<br />
Dimensionen: (i) über mangelnde<br />
Ressourcen wie Einkommen und (ii) über<br />
Entbehrungen einer materiellen, sozialen<br />
und kulturellen Teilnahme, verglichen mit<br />
dem durchschnittlichen Lebensstandard<br />
in einem Land. Die Verschränkung dieser<br />
zwei Dimensionen ermöglicht somit eine<br />
Typologie von Wohlstandspositionen:<br />
SOZIALBERICHT <strong>2016</strong><br />
Die ausführliche Fassung des hier präsentierten<br />
Texts ist im Sozialbericht <strong>2016</strong> mit dem Fokus<br />
Wohlbefinden erschienen. Der Sozialbericht wird<br />
herausgegeben vom Schweizer Kompetenzzentrum<br />
Sozialwissenschaften FORS mit der Unterstützung<br />
des Schweizerischen Nationalfonds.<br />
Weitere Informationen: www.sozialbericht.ch.<br />
- «Armut» liegt vor, wenn Personen sowohl<br />
einkommensarm (in der Regel<br />
liegt die Grenze bei weniger als 60 Prozent<br />
des entsprechenden Medianeinkommens)<br />
wie auch arm aufgrund der<br />
Deprivationen sind;<br />
- Eine «prekäre» Wohlstandsposition<br />
nehmen Personen ein, die materielle<br />
Deprivationen beziehungsweise Entbehrungen<br />
erfahren oder einkommensarm<br />
sind;<br />
- «Wohlstand» ist die Position von Personen,<br />
die weder einkommensarm noch<br />
depriviert sind.<br />
Ausgehend von der konzeptionellen<br />
Abgrenzung der Wohlstandspositionen<br />
kann angenommen werden, dass in den<br />
modernen Gesellschaften die finanziellen<br />
Ressourcen und ein minimaler Lebensstandard<br />
eine generelle Voraussetzung für<br />
soziale Partizipation und damit für Integration<br />
sind. Neben der materiellen Relevanz<br />
wird auch der soziale Charakter der<br />
Bedürfnisbefriedigung nach Integration,<br />
Freiheit und Selbstverwirklichung angesprochen.<br />
Die Erfahrung von Entbehrung<br />
oder Deprivation in der Lebensweise in<br />
Form von Aktivitäten, denen nicht nachgegangen<br />
werden kann, oder von Gütern,<br />
die infolge mangelnder Ressourcen fehlen<br />
(in Abgrenzung zu einer selbstbestimmten<br />
Lebensweise, in der jemand freiwillig auf<br />
Aktivitäten oder Güter verzichtet), ist demnach<br />
wichtig. Ein starker Zusammenhang<br />
zwischen den konzeptualisierten Wohlstandspositionen<br />
und der Zufriedenheit<br />
scheint naheliegend.<br />
Wohlstandsniveau und allgemeiner<br />
Lebenszufriedenheit<br />
Die Grafik rechts veranschaulicht das allgemeine<br />
Zufriedenheitsniveau je nach Verweildauer<br />
in der entsprechenden Wohlstandsposition.<br />
Zum einen zeigt sich, dass<br />
die durchschnittliche Zufriedenheit von<br />
24 ZeSo 4/<strong>2016</strong> WOHLBEFINDEN
Personen in Armut wesentlich tiefer ausfällt.<br />
Zum anderen ist ersichtlich, dass die Entwicklung<br />
über die Zeit je nach Wohlstandsniveau<br />
unterschiedlich verläuft: Im Wohlstand<br />
steigt die allgemeine Zufriedenheit<br />
minim bzw. bleibt mehr oder weniger stabil.<br />
Die Verweildauer in einer prekären Wohlstandsposition<br />
geht mit einer leicht rückläufigen<br />
Zufriedenheit einher. Die stärksten Veränderungen<br />
zeichnen sich bei<br />
armutsbetroffenen Personen ab: Deren allgemeine<br />
Zufriedenheit sinkt stärker, besonders<br />
nach einem längeren Verbleib in Armut. Armut<br />
wirkt sich also auch langfristig auf das<br />
Wohlbefinden aus und über die Jahre hinweg<br />
sind keine Gewöhnungseffekte erkennbar.<br />
Sozialer Lebenskontext<br />
Aus einem dynamischen Blickwinkel kann<br />
ein systematischer Zusammenhang zwischen<br />
den hierarchischen Wohlfahrtspositionen<br />
(Wohlstand, Prekarität und Armut) und<br />
der Zufriedenheit belegt werden. Gerade bei<br />
einer langandauernden Armutsposition<br />
kommt es zu einer langfristigen und erheblichen<br />
Senkung des allgemeinen Zufriedenheitsniveaus<br />
der Betroffenen. Besser gestellt<br />
zu sein, scheint hiermit dem Wohlbefinden<br />
förderlich, schlechter gestellt zu sein, beeinträchtigt<br />
es. Aufgrund der gewonnenen Ergebnisse<br />
sollten unterschiedliche Lebensphasen<br />
und deren Einfluss auf das<br />
Wohlbefinden nicht allein im Zusammenhang<br />
mit den individuellen Einstellungen<br />
und Aspirationen reflektiert werden. Sie sollten<br />
vielmehr auch im Kontext von gesellschaftlichen<br />
Erwartungen sowie den damit<br />
verbundenen Rollen und den zugrunde liegenden<br />
Integrationschancen betrachtet werden,<br />
mit denen jeder Mensch im sozialen Lebenskontext<br />
konfrontiert ist. •<br />
Allgemeine Lebenszufriedenheit<br />
nach jeweiliger Wohlstandsposition und Dauer<br />
Skala von 0 («gar nicht zufrieden») bis 10 («vollständig zufrieden»)<br />
8.5<br />
8.0<br />
7.5<br />
7.0<br />
6.5<br />
6.0<br />
5.5<br />
<br />
•<br />
•<br />
<br />
•<br />
•<br />
Quelle: Schweizer Haushalt-Panel<br />
(SHP 1999–2012)<br />
<br />
• •<br />
•<br />
<br />
•<br />
<br />
•<br />
•<br />
•<br />
•<br />
nach Anzahl Jahren im Wohlstand<br />
(keine Prekarität)<br />
•<br />
1 2 3 4 5 6 über 7 Jahre<br />
<br />
•<br />
• nach Anzahl Jahren in der Prekarität<br />
(aufgrund von Entbehrungen oder des<br />
Einkommens)<br />
• nach Anzahl Jahren in Armut<br />
(doppelte Prekarität)<br />
Robin Tillmann<br />
Maurizia Masia<br />
Monica Budowski<br />
WOHLBEFINDEN 4/<strong>2016</strong> ZeSo<br />
25
Wie viel Misstrauen verträgt<br />
die Soziale Arbeit?<br />
Fälle von Sozialhilfemissbrauch sorgen für heftige Debatten in Medien und Politik. In der Folge<br />
stehen das System Sozialhilfe und dessen Klientel unter scharfer Beobachtung. Ein Forschungsteam<br />
der Hochschule Luzern untersuchte, wie latentes Misstrauen die Sozialarbeitenden beeinflusst.<br />
In den letzten zehn Jahren fand eine ausgedehnte<br />
Missbrauchsdebatte bezüglich der<br />
Sozialleistungssysteme IV und Sozialhilfe<br />
statt, die angefacht wurde durch die mediale<br />
Verbreitung von Skandalfällen. Die Forderung<br />
der Bevölkerung nach Transparenz<br />
erscheint vor diesem Hintergrund legitim,<br />
denn sie hat ein Recht darauf, zu erfahren,<br />
wofür Steuergelder verwendet werden.<br />
Ist das Misstrauen gerechtfertigt? In der<br />
Schweiz beziehen über eine Viertelmillion<br />
Menschen Sozialhilfe, hinzu kommen nach<br />
seriösen Schätzungen genauso viele, die<br />
zwar hilfsbedürftig sind, sich aber nicht an<br />
den Staat wenden. Die Quote unrechtmässigen<br />
Sozialhilfebezugs bewegt sich seit<br />
Jahren um die ein bis zwei Prozent, selten<br />
handelt es sich um Fälle eindrucksvollen<br />
Ausmasses. Dennoch gerieten Sozialhilfebeziehende<br />
durch die mediale Skandalisierung<br />
spektakulärer Einzelfälle unter den<br />
Generalverdacht des Sozialschmarotzertums.<br />
Entsprechend gross war der politische<br />
Druck auf die Sozialbehörden, das beschädigte<br />
Ansehen der wirtschaftlichen Sozialhilfe<br />
wieder herzustellen. Eine einschneidende<br />
Massnahme war die Entscheidung<br />
für den Einsatz polizeilich ausgebildeter Sozialhilfedetektive.<br />
Hierdurch sollte u.a. das<br />
verloren gegangene Vertrauen in das soziale<br />
Sicherungssystem wieder gestärkt werden.<br />
Die Gemüter mag diese Massnahme<br />
beruhigt haben, dem Ansehen der Sozialen<br />
Arbeit als Profession dürfte sie geschadet<br />
haben. Das in dieser sozialpolitischen Entscheidung<br />
zum Ausdruck kommende Misstrauen<br />
richtete sich nämlich ebenso gegen<br />
die Institution Sozialhilfe. Durch das Einschalten<br />
Fachexterner wird die Funktionsfähigkeit<br />
des Sicherungssystems selbst in<br />
Zweifel gezogen, muss doch ein System,<br />
von dem angenommen wird, dass es auf<br />
fachexterne Hilfe angewiesen ist, schutzlos<br />
erscheinen und dessen Mitarbeitende nicht<br />
kompetent genug.<br />
Unter Generalverdacht: Mitarbeitende der Sozialämter haben mit dem Misstrauen gegenüber der<br />
Sozialhilfe zu kämpfen.<br />
Bild: I.Hess<br />
Informationen zur Studie<br />
Für das Forschungsprojekt «Wie viel<br />
Misstrauen verträgt die Soziale Arbeit?»<br />
wurden verschiedene Untersuchungsmethoden<br />
kombiniert, um der Komplexität des<br />
Phänomens gerecht zu werden. Es wurden<br />
59 Dossiers von Sozialhilfebeziehenden<br />
sowie 338 Ermittlungsberichte analysiert<br />
und 34 Interviews mit fallführenden<br />
Sozialarbeitenden und Führungspersonen<br />
geführt. Ferner wurden 136 mit Fallführung<br />
betraute Mitarbeitende eines Sozialdienstes<br />
einer Schweizer Stadt schriftlich befragt. Ergänzend<br />
gaben 137 Bürgerinnen und Bürger<br />
mit und ohne Sozialhilfeerfahrung zu ihren<br />
Erfahrungen und Annahmen schriftlich<br />
Auskunft. Das Projekt wurde vom Schweizerischen<br />
Nationalfonds gefördert.<br />
Diesen Schaden für ihre Profession beklagten<br />
auch Sozialarbeitende, die im Rahmen<br />
einer Studie der Hochschule Luzern –<br />
Soziale Arbeit befragt wurden. Untersucht<br />
wurde, welche unerwünschten Nebenwirkungen<br />
auftreten, wenn der politische<br />
Druck auf eine Sozialbehörde, ihre Kompetenz<br />
bei der Missbrauchsbekämpfung<br />
unter Beweis zu stellen, beherrschend wird.<br />
Innerhalb der untersuchten Sozialbehörde<br />
führte dieser Druck zu einer Kultur<br />
des Misstrauens: Der Druck von aussen<br />
wurde an die Mitarbeitenden weitergegeben<br />
und wirkte in der Organisation fort.<br />
Die Führung erliess eine Vielzahl neuer<br />
Regeln, der Aufwand für die Überprüfung,<br />
Absicherung und Kontrolle der Fälle stieg<br />
stark an. Viele Mitarbeitende werteten diese<br />
Massnahmen als mangelndes Zutrauen der<br />
26 ZeSo 4/<strong>2016</strong> Sozialarbeit
Führung in ihre Fähigkeiten. Dadurch war<br />
das Verhältnis auch Jahre nach der vorerst<br />
letzten Hochphase der öffentlichen Missbrauchsdebatte<br />
noch angespannt: Rund<br />
die Hälfte der befragten Sozialarbeitenden<br />
war sich zum Zeitpunkt der Untersuchung<br />
unsicher, ob sie nach einem Fehler Rückendeckung<br />
vom Arbeitgeber bekommen<br />
würde. Entsprechend gross waren die Unsicherheit<br />
und Furcht vor Fehlern, 80 Prozent<br />
der Interviewten berichteten hiervon.<br />
Mehr Misstrauen<br />
Und diese Furcht hat weitergehende Konsequenzen.<br />
Steigt nämlich der Druck auf die<br />
fallführenden Sozialarbeitenden, möglichst<br />
viele Missbräuche aufzudecken, dann steigt<br />
auch das generalisierte (das vom Einzelfall<br />
unabhängige) Misstrauen gegenüber der<br />
Klientel. Acht Prozent der befragten Sozialarbeitenden<br />
gaben an, bereits grundsätzlich<br />
der Klientel gegenüber misstrauisch zu<br />
sein, weitere acht Prozent gaben an, teilweise<br />
Schwierigkeiten zu haben, neuen Bezügerinnen<br />
und Bezügern Vertrauen entgegenzubringen.<br />
Beschleunigt wird diese<br />
Entwicklung durch Benchmarking, ein organisationsinternes<br />
Leistungsranking (Wer<br />
deckt die meisten Missbrauchsfälle auf?).<br />
Wer generalisiertes Misstrauen entwickelt<br />
hat, ist als Sozialarbeiter oder Sozialarbeterin<br />
im engeren Sinne nicht mehr<br />
arbeitsfähig. Sozialarbeiter können nur<br />
helfen, wenn die Klienten und Klientinnen<br />
ihre sehr persönlichen Probleme offenlegen.<br />
Dafür braucht es zwingend Vertrauen<br />
– und zwar beidseitig. Mit naiver Vertrauensseligkeit<br />
hat dies nichts zu tun. Die<br />
Sozialhilfe bewegt sich von jeher im Spannungsfeld<br />
zwischen Hilfe und Kontrolle.<br />
Kontrolle ist aber nicht mit Misstrauen zu<br />
verwechseln.<br />
Misstrauen hat eine <strong>ganz</strong> andere Qualität,<br />
ist ängstlich bis feindselig. Wer misstrauisch<br />
ist, zweifelt die Aufrichtigkeit des<br />
Gegenübers an. Der Fokus liegt nicht mehr<br />
darauf, einen Verdacht ergebnisoffen zu<br />
prüfen, vielmehr geht es darum, negative<br />
Erwartungen zu bestätigen. Beispielsweise<br />
wird die Unterstützung gekürzt, um die<br />
Reaktion der Person darauf zu erfahren.<br />
Wehrt sie sich nicht, wird dies als Beweis<br />
für mangelnde Bedürftigkeit gewertet.<br />
Oder ein Termin wird früh morgens angesetzt,<br />
um zu testen, ob die Person auch<br />
dann noch pünktlich erscheint. Jene, die<br />
das System missbrauchen wollen, erwischt<br />
man auf diese Weise weniger, denn wer etwas<br />
im Schilde führt, bemüht sich um Unauffälligkeit.<br />
Fortbleiben wird aber etwa,<br />
wer unter Depressionen leidet. Misstrauen<br />
ist grundsätzlich nicht dazu geeignet, das<br />
Gegenüber besser zu durchschauen, weil<br />
es den Blick auf wenig hilfreiche Hinweise<br />
verengt und zur einseitigen Bestätigung eigener<br />
Vorannahmen führt.<br />
Misstrauen lässt sich nicht<br />
verstecken<br />
Misstrauen lässt sich im persönlichen Gespräch<br />
zudem nicht verstecken und vergiftet<br />
so die Arbeitsbeziehung. Sozialarbeitenden,<br />
deren Selbst- und Fremdverständnis<br />
zu einem grossen Teil der Helferrolle entspricht,<br />
kann es erhebliche Rollenkonflikte<br />
bescheren, wenn die Furcht vor dem öffentlichen<br />
Scheitern eine misstrauische Grundhaltung<br />
forciert oder diese sogar von einer<br />
Behördenleitung erwartet wird. Alle Interviewten<br />
thematisierten Rollenkonflikte und<br />
90 Prozent der schriftlich befragten Mitarbeitenden<br />
gaben an, dass es vorkomme,<br />
dass sie entgegen ihrer eigenen Überzeugungen<br />
handeln müssten.<br />
Nun sind Ergebnisse aus einem Kanton<br />
oder einer Behörde nicht repräsentativ für<br />
die <strong>ganz</strong>e Schweiz, und es war auch nicht<br />
das Anliegen der Studie, eine Aussage darüber<br />
zu treffen, was in Schweizer Sozialbehörden<br />
abläuft. Die belegten ungünstigen<br />
sozialen Prozesse können jedoch grundsätzlich<br />
überall auftreten. Und zwar dann,<br />
wenn eine Institution unter Druck gerät,<br />
ihre Kompetenzen bei der Missbrauchsbekämpfung<br />
besonders unter Beweis stellen<br />
zu müssen. Positiv hervorzuheben ist<br />
die Bereitschaft einer Sozialbehörde einer<br />
Schweizer Stadt, die Auswirkungen dieses<br />
Drucks genauer analysieren zu lassen.<br />
Letztlich liegt es in der Verantwortung jeder<br />
einzelnen Behörde, sich ernsthaft damit<br />
auseinanderzusetzen, wie innerhalb der eigenen<br />
Organisation mit dem Thema der Arbeit<br />
im Spannungsfeld zwischen Vertrauen<br />
und Misstrauen umgegangen wird.<br />
Konstruktive Fehlerkultur nötig<br />
Werden unerwünschte Nebenwirkungen<br />
sozialpolitischer Entscheidungen nicht reflektiert,<br />
könnte dies ungünstige Folgen haben,<br />
die kaum dazu angetan sein dürften,<br />
das Vertrauen in das System Sozialhilfe wieder<br />
zu stärken. Wichtig erscheint es, den in<br />
der Untersuchung deutlich gewordenen<br />
Rollenkonflikt Sozialarbeitender nicht noch<br />
zu verstärken: Misstrauen darf nicht zur<br />
Routine werden. Organisationen, die dies<br />
verhindern möchten, brauchen eine konstruktive<br />
Fehlerkultur: Mitarbeitende benötigen<br />
Rückendeckung von ihren Vorgesetzten,<br />
aus Fehlern sollte man lernen können,<br />
ohne sich davor über alle Massen fürchten<br />
zu müssen. Seitens der Führung braucht es<br />
hierfür Zutrauen in die Kompetenz und<br />
Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeitenden;<br />
zu viele Vorschriften machen die Arbeit<br />
nicht besser, sondern allenfalls komplizierter.<br />
Die Soziale Arbeit verträgt zwar berechtigte<br />
Kontrollen, Misstrauen aber nicht.<br />
Susanna Niehaus<br />
Professorin Hochschule Luzern<br />
Paula Krüger<br />
Dozentin Hochschule Luzern<br />
Sozialarbeit 4/<strong>2016</strong> ZeSo<br />
27
Der interkommunale Ausgleich<br />
der Soziallasten<br />
Während die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung, kurz NFA, zu einem<br />
festen Bestandteil im Politik-Vokabular geworden ist, geniessen die vergleichbaren Instrumente<br />
auf kantonaler Ebene nicht den gleichen Bekanntheitsgrad.<br />
Interkommunale Soziallastenausgleichssysteme<br />
sind komplex und vielfältig. Gemeinsam<br />
ist ihnen – als Teil des Finanzausgleichs<br />
– das Ziel, mittels Finanztransfers<br />
allzu grosse Unterschiede zwischen Kantonen<br />
und Gemeinden zu verhindern und so<br />
den Zusammenhalt der Föderation zu sichern.<br />
Gleichzeitig gilt es, die (Finanz-)Autonomie<br />
der Kantone und Gemeinden zu<br />
wahren. In Bezug auf die wirtschaftliche<br />
Sozialhilfe (ohne Asylwesen) kennen die<br />
Kantone eine Vielzahl von Ausgleichslösungen,<br />
was die Vergleichbarkeit erschwert.<br />
Mit dem Modell «Typologie der Subventionen»<br />
des Ökonomen Bernard Dafflon lassen<br />
sie sich in eine Systematik bringen.<br />
Sozialhilfe – kantonale oder<br />
kommunale Aufgabe?<br />
Bevor auf den finanziellen Ausgleich eingegangen<br />
wird, sei darauf hingewiesen, dass<br />
dieser obsolet wird, wenn das so genannte<br />
fiskalische Äquivalenzprinzip «wer zahlt,<br />
befiehlt und hat den Nutzen davon» eingehalten<br />
wird. Dies ist der Fall in Kantonen,<br />
in denen die Durchführung der Sozialhilfe<br />
kantonale Aufgabe ist und nicht an die Gemeinden<br />
delegiert wird (AI, GE, GL). Die<br />
Mehrheit der Kantone teilt jedoch die Aufgaben<br />
der Sozialhilfe zwischen Kanton (gesetzliche<br />
Regelungen) und den Gemeinden<br />
beziehungsweise Regionen (Vollzug). In<br />
der Folge davon wird der finanzielle Ausgleich<br />
zum Thema. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten<br />
und Instrumente sind vielfältig.<br />
Dafflon bündelt sie in seiner<br />
Typologie nach drei Aspekten, die in sich<br />
wieder unterschiedlich gestaltet werden<br />
können und dementsprechend eine andere<br />
Wirkung erzielen.<br />
Als erstes ist zu klären, ob die Empfängergemeinden<br />
die Gelder zweckgebunden<br />
oder zweckfrei verwenden können. Ersteres<br />
entspricht einem Staatsbeitrag, der<br />
ungeachtet der finanziellen Lage des Empfängers<br />
ausgerichtet wird. In Bezug auf<br />
die Sozialhilfe macht dies insofern Sinn,<br />
als dass die Kantone die Durchführung<br />
der Sozialhilfe weitgehend regeln und so<br />
die Gemeindeautonomie beschränken.<br />
Staatsbeiträge haben hier die Funktion<br />
einer Kompensationszahlung. Sie sollen<br />
aber auch den Anreiz minimieren, Sozialhilfebeziehende<br />
in andere Gemeinden<br />
abzuschieben. Eine zweckfreie Vergabe,<br />
wie sie das Konzept des Finanzausgleichs<br />
vorsieht, misst hingegen der Finanzautonomie<br />
der Gemeinden einen hohen Stellenwert<br />
bei: Die Gemeinde bestimmt, ob<br />
sie das Geld für die Sozialhilfeausgaben,<br />
günstigen Wohnungsbau oder für Forstarbeit<br />
einsetzt.<br />
Komplexe Berechnungen<br />
Im zweiten Schritt geht es darum, a) die<br />
Aufgaben zu bestimmen, die staatsbeitragsberechtigt<br />
beziehungsweise eine «soziale<br />
Last» sind, und b) deren Bemessung<br />
zu definieren. Fast alle Kantone (Ausnahmen:<br />
NW, OW, ZG) kennen bei der wirtschaftlichen<br />
Sozialhilfe Staatsbeiträge oder<br />
Lastenausgleichssysteme und zählen sie<br />
somit zu den Aufgaben, respektive zu den<br />
Lasten, die es gemeinsam zu schultern gilt.<br />
Literatur<br />
Der Text basiert auf der Masterarbeit von Dr.<br />
Daniela Tschudi, eingereicht an der Universität<br />
Bern im Rahmen des Executive Master of Public<br />
Administration (MPA):<br />
Tschudi, Daniela (2015): «Ausgleich oder<br />
Wettbewerb? Die Sozialhilfe im interkommunalen<br />
Soziallastenausgleich. Ein systematisierter<br />
Überblick über die interkommunalen Soziallastenausgleichssysteme<br />
in der Schweiz und<br />
Überlegungen zum Kanton Zürich».<br />
Bei der Bemessung gehen die Kantone jedoch<br />
sehr unterschiedlich vor.<br />
Bei den Staatsbeiträgen dienen die effektiven<br />
Ausgaben als Bemessungsgrundlage,<br />
die Kompensation reicht von 4 Prozent<br />
im Kanton Zürich bis zu 75 Prozent<br />
im Kanton Tessin. Während ein hoher<br />
Staatsbeitrag stark und gezielt die Sozialhilfeausgaben<br />
kompensiert und so ausgleichend<br />
wirkt, setzt ein tiefer Staatsbeitrag<br />
Anreize, die im Widerspruch zu den Zielen<br />
der Sozialhilfegesetzgebung stehen,<br />
insbesondere zum Abschiebeverbot und<br />
zur Gleichbehandlung der Sozialhilfebeziehenden.<br />
Ein tiefer Staatsbeitrag beziehungsweise<br />
eine hohe Selbstbeteiligung<br />
dient grundsätzlich dazu, das Kostenbewusstsein<br />
beim Empfänger zu fördern,<br />
lässt aber die Unterschiede zwischen den<br />
Gemeinden etwa hinsichtlich struktureller<br />
Faktoren oder finanzieller Stärke ausser<br />
Acht. Deshalb kennen die meisten Kantone<br />
mit Staatsbeiträgen zusätzlich eine<br />
Ausgleichskomponente: Sie vergemeinschaften<br />
den Kostenanteil der Gemeinden<br />
oder verfügen über einen interkommunalen<br />
Soziallastenausgleich (BE, FR, JU,<br />
NE, VD, VS).<br />
Der Soziallastenausgleich hat das Ziel,<br />
die vom Gemeinwesen mittel- und langfristig<br />
nicht beeinflussbaren sozio-demografischen<br />
Unterschiede und den sich daraus<br />
ergebenden (Steuer-)Wettbewerbsnachteil<br />
abzubauen. Beim Soziallastenausgleich<br />
interessieren also die Lasten, die sich aus<br />
den Disparitäten ergeben. Entsprechend<br />
der jeweiligen Ausgestaltung des sozialen<br />
Sicherungssystems berücksichtigen die<br />
16 Kantone, die im Rahmen des Finanzausgleichs<br />
einen interkommunalen Soziallastenausgleich<br />
kennen, verschiedene<br />
Sozialleistungen. Gemeinsam ist allen,<br />
dass mit Hilfe komplexer Berechnungen<br />
die signifikanten Faktoren für die Grösse<br />
der Lasten ermittelt werden und davon der<br />
28 ZeSo 4/16 Finanzausgleich
Die Gemeinde bestimmt,<br />
ob sie das<br />
Geld für die Sozialhilfeausgaben,<br />
günstigen<br />
Wohnungsbau<br />
oder für die Forstarbeit<br />
einsetzt.<br />
Staatsbeiträge sollen unter anderem den Anreiz minimieren, Sozialhilfebeziehende in<br />
andere Gemeinden abzuschieben.<br />
Bild: Villnachern<br />
Finanzbedarf abgeleitet wird. Hier können<br />
die Sozialhilfeausgaben respektive die Sozialhilfequote<br />
die Rolle eines Indikators<br />
für die Bemessung der Last haben.<br />
Der ermittelte Finanzbedarf führt entweder<br />
direkt zu einer Ausgleichszahlung<br />
(BE, FR) oder diese erfolgt, sobald die Last<br />
der Gemeinde das Mittel der Belastung<br />
aller Gemeinden überschreitet. Mit dem<br />
Argument der kostenbewussten Mittelverwendung<br />
verlangen sechs Kantone (AR,<br />
GR, SG, SH, SO, TH) für den Ausgleich<br />
das Erreichen einer zusätzlichen Stufe<br />
über dem kantonalen Mittel, also eine Eigenbeteiligung<br />
der Gemeinden. Damit setzen<br />
die gleichen Anreizmechanismen wie<br />
bei einer Eigenbeteiligung am Staatsbeitrag<br />
ein. Die Eigenbeteiligung steht jedoch<br />
im Widerspruch zur Finanzautonomie der<br />
Gemeinden und zum Konzept des Soziallastenausgleichs,<br />
kaum beeinflussbare<br />
Disparitäten abzubauen. Ob ein Soziallastenausgleichssystem<br />
eine Eigenbeteiligung<br />
vorsieht oder nicht, hängt letztlich<br />
davon ab, ob man den Lastenausgleich<br />
als Teil des (Steuer-) Wettbewerbs oder als<br />
Voraussetzung für ihn versteht. Sicher ist:<br />
Eine Eigenbeteiligung verlangsamt den<br />
Abbau der Unterschiede zwischen den Gemeinden.<br />
Den Ausgleichstopf füllen und<br />
verteilen<br />
Als dritten Aspekt nennt Dafflon die zur<br />
Verfügung stehenden Mittel. Diese sind in<br />
allen Kantonen mit einem interkommunalen<br />
Soziallastenausgleich beschränkt und<br />
werden von der kantonalen Legislative<br />
oder Exekutive festgesetzt. In fünf Kantonen<br />
steht der Ausgleichsbetrag in Relation<br />
zum Steuerertrag oder zum Ressourcenausgleichsbetrag.<br />
Die meisten Kantone gestalten<br />
beim interkommunalen Soziallastenausgleich<br />
den Finanzfluss vertikal, vier<br />
Kantone (AG, AR, NE und SH) horizontal.<br />
Mit dem horizontalen Ausgleich wird das<br />
Subsidiaritätsprinzip konsequent umgesetzt<br />
und das Ausgleichsziel wird schneller<br />
erreicht als beim vertikalen Ausgleich.<br />
Der Artikel zeigt: So verschieden die<br />
Kantone den Ausgleich der Last Sozialhilfe<br />
ausgestalten – die «Typologie der Subventionen»<br />
ermöglicht eine systematisierte<br />
Auslegeordnung und erlaubt Vergleiche.<br />
Interkommunale Soziallastenausgleichssysteme<br />
sind ein wertvoller Schatz an Ideen<br />
und Erfahrungen. Sie können und sollen<br />
im Sinne des Laboratoriums des Föderalismus<br />
für die Weiterentwicklung der kantonalen<br />
Lösungen genutzt werden. •<br />
Daniela Tschudi<br />
Soziale Dienste Winterthur<br />
Finanzausgleich 4/16 ZeSo<br />
29
Arbeit und Praxisbezug – vom<br />
ersten Tag an<br />
Die Sozialfirma Réalise in Genf bildet Menschen, die Mühe auf dem ersten Arbeitsmarkt haben,<br />
aus und vermittelt sie an Unternehmen. Sie sind vom ersten Tag an vollwertige Arbeitskräfte.<br />
Tief hängt an diesem Herbsttag der Nebel<br />
über den Genfer Dächern. Grau ist auch die<br />
Fassade des Hauses an der Rue Viguet in<br />
der Industriezone. Ein Mann wischt vor<br />
dem Haus mit einem Besen die bunten<br />
Blätter weg. «Sie wollen zu Réalise?», fragt<br />
er die Besucherinnen mit einem freundlichen<br />
Lächeln und weist ihnen unaufgefordert<br />
den Weg ins Gebäude. Er führt die Besucherinnen<br />
in ein Haus, auf dem über drei<br />
Stockwerke verteilt Menschen daran arbeiten,<br />
ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu<br />
verbessern. Es sind Arbeitslose, Ausgesteuerte,<br />
Migranten oder Menschen mit einer<br />
Behinderung, die sich durch ihre Arbeit bei<br />
der Sozialfirma Réalise den Ein- oder Wiedereinstieg<br />
ins Berufsleben erhoffen.<br />
Das Besondere bei Réalise ist, dass sie vom<br />
ersten Tag an in einem bestimmten Gebiet<br />
arbeiten, das von ihrer früheren Tätigkeit<br />
abweichen kann – und sich so über die Praxis<br />
neue Fertigkeiten aneignen (siehe Kasten).<br />
Wichtig sei aber, dass die Person<br />
wenn möglich bereits gearbeitet habe und<br />
motiviert sei, betont Christophe Dunand,<br />
Generaldirektor von Réalise. Zusammen<br />
mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />
in Ausbildung analysiere man, welche<br />
Hindernisse sie vom Arbeitsmarkt abhielten<br />
– und versuche sie gemeinsam zu beseitigen,<br />
um wieder in den Arbeitsmarkt<br />
einsteigen zu können. Christophe Dunand<br />
betont, dass gerade auch Migrantinnen<br />
und Migranten von dieser Integrationsmethode<br />
profitierten. «Auch wenn sie die<br />
Sprache nicht sprechen: Sie arbeiten vom<br />
ersten Tag an und lernen sukzessive die für<br />
ihre Arbeit notwendigen Wörter.»<br />
Die Auszubildenden sind vom ersten<br />
Tag an vollwertige Arbeitskräfte. Ob in<br />
der Wäscherei, der Gartenarbeit, der<br />
Elektronik, der Uhrenproduktion, im Reinigungsdienst<br />
oder der Logistik: Sie erfüllen<br />
konkrete Aufträge für Kundinnen<br />
und Kunden. So zeichnet der Reinigungsdienst<br />
von Réalise für rund 100 000<br />
Quadratmeter Bürofläche in der Stadt<br />
Genf verantwortlich. Und die Wäscherei<br />
erfüllt Aufträge von Altersheimen, Banken,<br />
Schönheitssalons oder Restaurants auf<br />
dem <strong>ganz</strong>en Stadtgebiet.<br />
«Wieder Mut gefasst, dass ich etwas<br />
kann»<br />
Florinda da Costa arbeitete bis vor sechs<br />
Monaten in der Hotellerie. Jetzt beschäftigt<br />
sie sich bei Réalise mit einer völlig anderen<br />
Materie: der Uhrenproduktion. Sie füllt Alkohol,<br />
der für die Reinigung der Einzelteile<br />
benutzt wird, in Flaschen ab und beschriftet<br />
sie. Eine untypische Arbeit,<br />
gehören doch sonst kleinste Uhrenbestandteile<br />
zu ihrem Arbeitsalltag. Hinter<br />
ihr sitzt Lif Lufuankenda und schleift gerade<br />
seine Werkzeuge nach. Er war bereits<br />
mit der Uhrmacherei vertraut, als er zu<br />
Réalise kam. Zwei Jahre lang hatte er eine<br />
Uhrmacherschule besucht, bevor es zum<br />
Zwist mit einem Lehrer kam und er die<br />
Schule verliess. Der 25-Jährige suchte eine<br />
neue Chance, fand sie jedoch nicht und<br />
wurde Sozialhilfeempfänger. Dass er durch<br />
die Sozialfirma wieder in seinem Beruf arbeiten<br />
könne, bedeute ihm viel: «Ich habe<br />
wieder Mut gefasst, dass ich etwas kann.»<br />
Ständig neue Arbeitsfelder suchen<br />
Bei Réalise ist man ständig daran, bei den<br />
Firmen Aufträge und zu vermittelnde Arbeitsstellen<br />
aufzuspüren. In der kriselnden<br />
Uhrenindustrie ist die Nachfrage zurückgegangen.<br />
Alle Hände voll zu tun haben an diesem<br />
Morgen die Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter der Elektronikabteilung. Im<br />
vorderen Teil des Ateliers kümmern sie<br />
sich um gebrauchte PCs: Sie wechseln die<br />
Harddisc aus und setzen die Computer<br />
neu auf, um sie anschliessend im eigenen<br />
Geschäft Occasion wiederverkaufen zu<br />
können. Im hinteren Teil des Ateliers sitzen<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
in einer Reihe, vor sich einen Computer<br />
30 ZeSo 4/16 reportage
Bis zu 40 Prozent der Mitarbeitenden finden eine Stelle. Christophe Dunand, Generaldirektor bei<br />
Réalise, ist mit diesem Erfolg noch nicht <strong>ganz</strong> zufrieden.<br />
und auf der kleinen Arbeitsfläche ein gebrauchtes<br />
Mobiltelefon. Wenn das Gerät<br />
noch funktioniert, löschen sie sämtliche<br />
auf dem Speicher verbliebenen Daten und<br />
bereiten es entweder für den Weiterverkauf<br />
nach Asien oder in die Balkanländer, oder<br />
für den Occasion-Verkauf eines Kunden in<br />
der Schweiz vor.<br />
Rekrutierungsmethoden ändern<br />
Bis zu 40 Prozent der Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter finden nach ihrer Ausbildung<br />
bei Réalise eine Festanstellung. «Diese<br />
Zahl stimmt mich zufrieden – und doch<br />
auch wieder nicht», sagt Christophe Dunand.<br />
Réalise arbeite daran, noch mehr<br />
Menschen in den Markt integrieren zu<br />
können. Dunand gibt aber auch zu bedenken,<br />
dass die Rekrutierungsmethoden in<br />
den Unternehmen geändert werden sollten.<br />
Wenn sich eine stellensuchende Person<br />
auf herkömmliche Weise mit einem<br />
Dossier bewerben müsse, so gehe diese Bewerbung<br />
oftmals unter. Dunand schlägt<br />
stattdessen vor, dass die Firmen die gesuchten,<br />
konkreten Kompetenzen angeben<br />
und Réalise die geeignete Person suchen<br />
und nötigenfalls dafür ausbilden könne.<br />
Seit zwei Jahren sei man bereits daran –<br />
und mache mit dieser Methode gute Erfahrungen.<br />
•<br />
Catherine Arber<br />
Learning on the job<br />
Réalise mit Sitz in Genf wurde 1985<br />
gegründet. 108 Personen arbeiten für<br />
die Sozialfirma. Sie bilden Menschen, die<br />
Mühe auf dem ersten Arbeitsmarkt haben,<br />
praktisch on the job aus. Die «Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter in Ausbildung», wie<br />
sie bei Réalise genannt werden, eignen<br />
sich während vier bis sechs Monaten<br />
berufliche Fähigkeiten in einem bestimmten<br />
Gebiet an – mit dem Ziel, nach der<br />
Zeit bei der Sozialfirma direkt auf dieser<br />
Arbeit tätig sein zu können. Die Idee ist,<br />
dass durch diese Ausbildungszeit ihre<br />
Chancen auf den Ein- oder Wiedereinstieg<br />
ins Arbeitsleben steigen. Sie werden via<br />
Arbeitslosen- oder Sozialhilfestelle an<br />
Réalise vermittelt.<br />
Réalise bildet jährlich 300 Frauen und<br />
Männer aus. Sie arbeiten in verschiedenen<br />
Berufsfeldern und erlernen das dafür<br />
spezifische Wissen: in der Elektronik,<br />
der Uhrenproduktion, der Gartenarbeit,<br />
im Reinigungsdienst, in der Wäscherei<br />
und der Logistik. Réalise arbeitet eng mit<br />
einem Netz von rund 300 Firmen zusammen.<br />
Jährlich kommen 30 neue hinzu. Bei<br />
Réalise werden dem Praxisbezug und der<br />
tatsächlichen Nachfrage nach bestimmten<br />
Arbeiten in den Unternehmen grosse<br />
Wichtigkeit beigemessen. Am Schluss<br />
ihrer Ausbildungszeit erhalten die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter in Ausbildung ein<br />
Attest. Das soll ihnen bei der Stellensuche<br />
zusätzlich helfen. (car)<br />
Die Auszubildenden sind vom ersten<br />
Tag an vollwertige Arbeitskräfte: in der<br />
Uhrenproduktion, in der Elektronik oder in<br />
der Wäscherei.<br />
Bilder: Magali Girardin<br />
reportage 4/16 ZeSo<br />
31
DOJ will Dachverband der Kinder- und<br />
Jugendförderung werden<br />
Der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ) vernetzt seit 15 Jahren<br />
Kantonalverbände und lokale Fachstellen der offenen Jugendarbeit. Er unterstützt, positioniert und<br />
repräsentiert diese mit einer Reihe von Aktivitäten, Dienstleistungen, Publikationen und Projekten.<br />
Ob Hip - Hop, Elektro oder Rock und Pop,<br />
so unterschiedlich im Musikgeschmack, so<br />
unterschiedlich sind Jugendliche auch in<br />
vielen anderen Bereichen. Die offene Jugendarbeit<br />
bietet allen Jugendlichen niederschwellige<br />
Angebote. Diese können den<br />
Heranwachsenden helfen, die Schlüsselkompetenzen<br />
zu erhalten, die sie für den<br />
Eintritt ins Erwachsenenleben benötigen.<br />
Das Ziel der Offenen Kinder- und Jugendarbeit<br />
(OKJA) ist es, dass Kinder, Jugendliche<br />
und junge Erwachsene über Selbstwertgefühl<br />
sowie Handlungs- und<br />
Sozialkompetenzen verfügen, gesund sind<br />
und sich wohl fühlen, altersgemäss in die<br />
Gesellschaft integriert sind und sich aktiv<br />
und partnerschaftlich an der Gemeinschaft<br />
beteiligen. Insbesondere für bildungs- und<br />
sozial benachteiligte junge Menschen leistet<br />
die Offene Kinder- und Jugendarbeit einen<br />
wichtigen Beitrag, damit diese sozial<br />
integriert sind und nicht ausgegrenzt werden.<br />
Konkret bietet die Offene Jugendarbeit<br />
den Jugendlichen Raum in Form von Jugendtreffs<br />
und Jugendzentren, aber auch<br />
Projektarbeit, sportliche Aktivitäten, Unterhaltung<br />
oder anderes. Träger der Offenen<br />
Jugendarbeit sind vielerorts die politischen<br />
Gemeinden, teilweise in Kooperation<br />
mit den lokalen Kirchgemeinden und Pfarreien.<br />
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
grenzt sich von der verbandlichen dadurch<br />
ab, dass ihre Angebote ohne<br />
Mitgliedschaft oder andere Bedingungen<br />
von allen Kindern und Jugendlichen freiwillig<br />
genutzt werden können.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Rubrik als Plattform an, auf der sie sich<br />
und ihre Tätigkeit vorstellen können: in dieser<br />
Ausgabe dem Dachverband Offene Kinder- und<br />
Jugendarbeit Schweiz (DOJ).<br />
Jugendliche sollen selbstsicher, sozialkompetent, gesund sein, sich wohl fühlen und sich aktiv<br />
und partnerschaftlich an der Gemeinschaft beteiligen.<br />
Bild: Keystone<br />
Die OKJA war zwar seit den 1990er<br />
Jahren professionell geführt, strukturell<br />
blieb sie jedoch schwach. 2001 ergriff<br />
Markus Gander vom Verein «infoklick.ch<br />
- Kinder- und Jugendförderung Schweiz»<br />
die Initiative und kontaktierte sämtliche<br />
Jugendarbeitsstellen der Deutschschweiz.<br />
Es entstand eine Basisbewegung, welche<br />
2002 ihren Dachverband gründete. Bald<br />
folgten die ersten Tagungen, es wurden<br />
Fachgruppen gebildet und Publikationen<br />
erarbeitet. 2004 konnte eine Geschäftsstelle<br />
gegründet werden. «Die bescheidenen<br />
Erwartungen wurden dank dem<br />
riesigen Engagement der Basis mehr als<br />
übertroffen», stellt Gander rückblickend<br />
fest. Heute vereint der DOJ 17 kantonale<br />
und regionale Verbände, welche wiederum<br />
etwa 800 lokale Fachstellen vernetzen.<br />
Zum Netzwerk gehört zudem eine Reihe<br />
von Partnerorganisationen und Ausbildungsinstitutionen.<br />
Die Aktivitäten des DOJ können in drei<br />
Bereiche gegliedert werden:<br />
- Unterstützung der Offenen Kinderund<br />
Jugendarbeit: Der DOJ informiert<br />
über Projekte, Veranstaltungen, aktuelle<br />
Entwicklungen etc. Dazu führt er<br />
eine zweisprachige Website, gibt einen<br />
dreisprachigen Newsletter und eine<br />
zweisprachige Fachzeitschrift heraus.<br />
Er organisiert Tagungen und Weiterbildungen,<br />
setzt Projekte um, entwickelt<br />
Instrumente und koordiniert Fachgruppen.<br />
- Positionierung der Offenen Kinderund<br />
Jugendarbeit: Der DOJ entwickelt<br />
Positionen und klärt Begriffe. Auf nati-<br />
32 ZeSo 4/16 plattform
onaler Ebene vertritt er die Interessen<br />
der OKJA, indem er zum Beispiel in<br />
Gremien wie der Konferenz der kantonalen<br />
Kinder- und Jugendbeauftragten<br />
als Gast Einsitz nimmt. Mit seinem<br />
Fachwissen trägt er zu Strategien und<br />
Projekten von Partnerorganisationen<br />
bei und ermöglicht diesen den Zugang<br />
zu lokalen Jugendarbeitsstellen. Durch<br />
die Zusammenarbeit mit Ausbildungsstätten<br />
ermöglicht der DOJ den Transfer<br />
von Erkenntnissen aus der Praxis in<br />
die Aus- und Weiterbildung sowie von<br />
der Forschung in die Praxis.<br />
- Repräsentation und Vernetzung der Offenen<br />
Kinder- und Jugendarbeit: Der<br />
DOJ schafft Plattformen für die gemeinsame<br />
fachliche und strategische Entwicklung<br />
in seinem Netzwerk. Durch<br />
den Zusammenschluss im DOJ sind<br />
die kantonalen Verbände und mit ihnen<br />
die lokalen Stellen auf nationaler Ebene<br />
direkt ansprechbar. Bei relevanten Gesetzesvorlagen,<br />
wie dem Bundesgesetz<br />
über die Förderung der ausserschulischen<br />
Arbeit mit Kindern und Jugendlicher<br />
beteiligt sich der DOJ.<br />
Im Rahmen der nationalen Zusammenarbeit<br />
des DOJ resultierte eine Reihe<br />
von Tools für die Praxis, beispielsweise das<br />
Quali-Tool, das Fachleute aus der Kinderund<br />
Jugendarbeit bei der Qualitätssicherung<br />
unterstützt. Die Fachstelle Jugendarbeit<br />
Flims/GR testete einen Prototyp des<br />
Quali-Tools. Die Erfahrungen aus Flims<br />
sowie aus zwei weiteren Pilotgemeinden<br />
flossen in die Endversion des Instruments<br />
ein. Die Idee zum Quali-Tool entstand an<br />
einer Fachkonferenz der DOJ-Mitglieder,<br />
erarbeitet wurde es vom DOJ zusammen<br />
mit Interface Politikstudien und anderen<br />
Partnern. Ein weiteres Projekt des DOJ ist<br />
Kebab+. Die Abkürzung steht für Kochen –<br />
Essen – Begegnen – Ausspannen – Bewegen.<br />
Der DOJ unterstützt in Kooperation<br />
mit dem Migros-Kulturprozent Projekte,<br />
die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen<br />
fördern und dabei mindestens<br />
drei der fünf Faktoren von Kebab berücksichtigen.<br />
Das Ziel ist, Kebab+ im Tessin<br />
zu etablieren und auch das Quali-Tool in<br />
der italienischsprachigen Schweiz einzuführen.<br />
Weitere Projekte sollen in den nächsten<br />
Monaten umgesetzt werden. Eine Grundlagenbroschüre<br />
für Entscheidungsträger<br />
in Gemeinden ist in Erarbeitung. Es laufen<br />
Bestrebungen, sich vom Dachverband<br />
der Kinder- und Jugendarbeit zu einem<br />
Dachverband der Kinder- und Jugendförderung<br />
weiterzuentwickeln.<br />
Zuversicht trotz finanziellem Engpass<br />
Ob der DOJ seine Projekte verwirklichen<br />
kann, hängt vom Erfolg der Bemühungen<br />
um finanzielle Überbrückung und um eine<br />
neue Leistungsvereinbarung mit dem Bundesamt<br />
für Sozialversicherungen BSV. Der<br />
DOJ finanziert sich über Mitgliederbeiträge<br />
und Projektgelder. Mit dem BSV hat der<br />
DOJ eine Leistungsvereinbarung, doch<br />
läuft diese Ende <strong>2016</strong> aus. Den Antrag für<br />
eine neue Leistungsvereinbarung ab 2017<br />
lehnte das BSV überraschend ab. Es begründete<br />
den Entscheid damit, dass der<br />
DOJ das Kriterium einer gesamtschweizerischen<br />
Geschäftstätigkeit nicht erfülle.<br />
Dieser für den DOJ nicht nachvollziehbare<br />
Entscheid hat kurzfristig eine massive Finanzierungslücke<br />
verursacht, werden doch<br />
jährlich 200‘000 Franken wegfallen, welche<br />
ca. 40% des Budgets entsprechen. Gegen<br />
den Entscheid rekurriert der DOJ. Der<br />
DOJ hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt<br />
und bleibt zuversichtlich, dass er seine<br />
Arbeit weiterführen kann. <br />
•<br />
Katrin Haltmeier<br />
DOJ<br />
Dachverband Offene<br />
Kinder- und Jugendarbeit<br />
Schweiz (DOJ)<br />
Im Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
Schweiz (DOJ) sind 17 kantonale und<br />
regionale Verbände der Offenen Kinder- und<br />
Jugendarbeit zusammengeschlossen, welche<br />
wiederum ca. 800 lokale Fachstellen vernetzen.<br />
Zum Netzwerk des DOJ gehören zudem eine<br />
Reihe von Partnerorganisationen aus dem<br />
Kinder- und Jugendbereich sowie die wichtigen<br />
Ausbildungsinstitutionen der Sozialen Arbeit<br />
und Soziokulturellen Animation.<br />
Der DOJ führt in Bern eine Geschäftsstelle mit<br />
120 Stellenprozenten und ist in drei Bereichen<br />
aktiv:<br />
- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
unterstützen<br />
- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
positionieren<br />
- Offene Kinder- und Jugendarbeit<br />
repräsentieren und vernetzen<br />
www.doj.ch<br />
www.quali-tool.ch<br />
plattform 4/16 ZeSo<br />
33
FORUM<br />
Gemeinsam gegen die<br />
«Verrentung» der Sozialhilfe?<br />
Die Sozialhilfe hat jüngst positive<br />
Entwicklungen erfahren: Die Konferenz<br />
der Sozialdirektorinnen und -direktoren<br />
(SODK) und die SKOS haben sich auf<br />
einen gemeinsamen Weg geeinigt; die<br />
Richtlinien sind jetzt überarbeitet. Damit<br />
ist etwas Ruhe in die Sozialhilfe-Debatte<br />
eingekehrt. Doch sie war nicht von langer<br />
Dauer. Schon stehen neue medienträchtige<br />
Forderungen im Raum: All die Flüchtlinge<br />
seien subito in die Erwerbsarbeit zu<br />
integrieren. Sie als in der Praxis Tätige fluchen<br />
ob solcher Debatten vielleicht gelegentlich<br />
vor sich hin und denken sich, die<br />
Arbeitgeber sollen doch einfach vorwärts<br />
machen und Ihre Klienten anstellen. Doch<br />
so einfach ist es nicht – auch dann nicht,<br />
wenn es um Menschen geht, die aufgrund<br />
von gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />
bei Ihnen auf dem Sozialamt landen.<br />
Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie schon<br />
über die IV gewettert, weil sie Ihnen<br />
ausgemusterte IV-Rentner abschiebt?<br />
Bestimmt kennen Sie solche Einzelfälle.<br />
Doch handelt es sich hierbei wirklich<br />
um einen systemischen Effekt? Die IV<br />
behauptet das Gegenteil und hat mit einer<br />
Studie nachgelegt, die aufgezeigt: Fast<br />
die Hälfte der rund 13 000 Neurentner<br />
pro Jahr werden der IV aus den RAV oder<br />
der Sozialhilfe zugespielt. Die Dauer des<br />
Sozialhilfebezugs betrug in diesen Fällen<br />
Martin Kaiser,<br />
Leiter Sozialpolitik<br />
und Mitglied der<br />
Geschäftsleitung<br />
des Schweizerischen<br />
Arbeitgeberverbands<br />
SAV sowie Präsident<br />
Compasso<br />
Bild: zvg<br />
häufig mehrere Jahre. Die Sozialhilfeleitung<br />
ist eigentlich darauf ausgelegt,<br />
vorübergehende Krisen aufzufangen. Nun<br />
verkommt sie jedoch oft zu einer eigentlichen<br />
Ersatzrente. Diese «Verrentung» der<br />
Sozialhilfe ist der falsche Weg – gerade<br />
auch deshalb, weil die IV anschliessend<br />
entsprechende IV-Neurentner mit viel Aufwand<br />
wieder arbeitsmarktfähig machen<br />
muss. Als weitere Sündenböcke bieten<br />
sich die Arbeitgeber an, die entsprechende<br />
IV-Rentner gefälligst wieder einzugliedern<br />
haben. Diese Schwarzpeterspiele sind<br />
destruktiv und nicht zielführend.<br />
Fast die Hälfte der<br />
rund 13 000 Neurentner<br />
pro Jahr<br />
werden der IV aus<br />
den RAV oder der<br />
Sozialhilfe zugespielt.<br />
Der Schweizerische Arbeitgeberverband<br />
hält sich nicht mit Schuldzuweisungen<br />
auf. Er hat deshalb das Patronat des<br />
Vereins Compasso (www.compasso.ch)<br />
inne. Compasso bedient Arbeitgeber mit<br />
gezielten und praxistauglichen Informationen<br />
zum Umgang mit gesundheitlich<br />
beeinträchtigten Mitarbeitenden. Der<br />
Verein motiviert Arbeitgeber, gesundheitliche<br />
Probleme von Mitarbeitenden<br />
möglichst frühzeitig zu erfassen und die<br />
richtigen Massnahmen einzuleiten. Die<br />
Erfolgschancen auf den Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit<br />
sind dann am grössten.<br />
Dies trägt langfristig vielleicht auch zur<br />
Entlastung der Sozialhilfe bei.<br />
Demnächst stellt Compasso neue Instrumente<br />
für eine erfolgreichere Eingliederung<br />
von Menschen vor, die aus<br />
gesundheitlichen Gründen aus dem<br />
Erwerbsleben ausgeschieden sind. Dies ist<br />
ein wichtiger Schritt, denn immer wieder<br />
stossen die Träger von Compasso (IV-<br />
Stellenkonferenz, Verband der Privatversicherer,<br />
SUVA, Behinderten- und Eingliederungsorganisationen<br />
sowie kleinere<br />
und grössere Arbeitgeber) im Rahmen<br />
der Weiterentwicklung von Prozessen<br />
aufgrund von scheinbar gegensätzlichen<br />
Interessen der Akteure auf Widerstand.<br />
Diese Partikularinteressen kommen sich<br />
dann in die Quere, wenn jeder Akteur nur<br />
auf die Bewirtschaftung des eigenen Gärtchens<br />
fokussiert. Im Rahmen konkreter<br />
zielorientierter Projektarbeit gelingt es<br />
aber, die gemeinsamen Interessen aufzuzeigen<br />
und Stolpersteine aus dem Weg<br />
zu räumen. Voneinander zu lernen, um<br />
konkrete Optimierungen vorzunehmen,<br />
steht dabei im Fokus. Dies lohnt sich.<br />
Auch für ein Engagement von SODK und<br />
SKOS bietet Compasso Hand, sofern sie<br />
dies wünschen. Wer weiss, vielleicht wird<br />
der Kampf gegen die «Verrentung» der<br />
Sozialhilfe bald ein gemeinsamer? •<br />
In dieser Rubrik schafft die <strong>ZESO</strong> Raum für Debatten<br />
und Meinungen. Der Inhalt gibt die Meinung des<br />
Autors resp. der Autorin wieder.<br />
34 ZeSo 4/16 FORUM
lesetipps<br />
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lust<br />
che<br />
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MIGRATIONSLAND SCHWEIZ<br />
Christine Abbt<br />
Johan Rochel<br />
HIER UND JETZT<br />
MIGRATIONS-<br />
LAND<br />
SCHWEIZ<br />
15 Vorschläge<br />
für die Zukunft<br />
Christine Abbt (Hg.)<br />
Johan Rochel (Hg.)<br />
Migrationsland<br />
Schweiz<br />
Wie sieht die Zukunft der Schweiz aus? Wie begegnen<br />
wir den Herausforderungen der Migration?<br />
Und wie verbinden wir die humanitäre Tradition<br />
mit dem Interesse an Prosperität? Diesen Fragen<br />
geht das Buch in 15 Essays nach. Expertinnen<br />
und Experten aus Wissenschaft, Kultur und Politik<br />
präsentieren konstruktive Standpunkte und<br />
konkrete Lösungsansätze. Unter den Vorschlägen sind beispielsweise<br />
die Ausweitung der demokratischen Rechte auf Nicht-Staatsbürger, die<br />
einfachere Anerkennung von Berufsqualifikationen oder ein Modell für<br />
eine dynamische Schutzklausel.<br />
Abbt, Christine, Rochel Johan (Hrsg.), Migrationsland Schweiz, 15 Vorschläge für<br />
die Zukunft, Hier und Jetzt, <strong>2016</strong>, CHF 34.−, ISBN 978-3-03919-410-0<br />
Löhne in der Sozialarbeit<br />
Der Berufsverband Avenir Social trägt in seiner<br />
neuen Publikation Antworten auf wichtige<br />
arbeitsrechtliche Fragen und Grundlagen zu<br />
Lohnfragen im Kontext der Sozialen Arbeit<br />
zusammen. Es werden Themen wie Kündigung,<br />
Rechte und Pflichten in einem Arbeitsverhältnis,<br />
Arbeitszeiten und Versicherungen erläutert.<br />
Der Verband legt seine Position betreffend Löhne<br />
dar, weist auf Lohnreferenzen hin und gibt Tipps für ein erfolgreiches<br />
Lohngespräch. Die Publikation dient somit allen interessierten Sozialarbeiterinnen<br />
und Sozialarbeitern als nützliches Nachschlagewerk.<br />
Avenir Social (Hrsg.), Arbeitsrecht und Löhne in der Sozialen Arbeit in der Schweiz,<br />
<strong>2016</strong>, 36 Seiten, CHF 20.−, Bezug über www.avenirsocial.ch<br />
Migranten in Schweizer<br />
Integrationsprojekten<br />
Schweizer Integrationsprojekte tragen dazu bei,<br />
dass sich Stereotypen von Migranten verfestigen.<br />
Zu diesem Schluss kommt die Autorin<br />
anhand von vier Fallstudien, in denen sie analysierte,<br />
wie Vorannahmen und Zuschreibungen<br />
in den Projekten die beruflichen Optionen<br />
der Migranten beeinflussen. Oft passen die<br />
Teilnehmenden ihre Ziele den für sie anvisierten Möglichkeiten an. Weil<br />
die Integrationsprojekte vorrangig auf gering qualifizierte und traditionell<br />
lebende Migranten fokussieren, drohen andere Lebensrealitäten aus<br />
dem Blick zu geraten.<br />
Susanne Bachmann, Diskurse über MigrantInnen in Schweizer Integrationsprojekten,<br />
Zwischen Normalisierung von Prekarität und Konditionierung zur<br />
Markttauglichkeit, Springer VS; <strong>2016</strong>, 250 Seiten, CHF 42.−<br />
ISBN 978-3-658-13922-3<br />
Wenn das Geld nicht reicht<br />
Es braucht wenig, damit jemand in eine finanzielle<br />
Notlage gerät: ein Stellenverlust, ein Unfall,<br />
ein Exmann, der die Alimente nicht bezahlt. Der<br />
neue Beobachter-Ratgeber, der in Zusammenarbeit<br />
mit der Schweizerischen Gemeinnützigen<br />
Gesellschaft entstanden ist, gibt einen<br />
Überblick über das Netz der sozialen Sicherheit<br />
in der Schweiz und erklärt, wer Anspruch auf<br />
Sozialhilfe hat. Die Autorin zeigt Wege auf, um aus einem finanziellen<br />
Engpass wieder herauszukommen, und gibt Tipps, wie man mit wenig<br />
Geld den Alltag finanzieren kann.<br />
Corinne Strebel Schlatter, Wenn das Geld nicht reicht, So funktionieren die Sozialversicherungen<br />
und die Sozialhilfe, Beobachter-Edition, <strong>2016</strong>, 160 Seiten, CHF 19.−<br />
ISBN 978-3-85569-997-1<br />
veranstaltungen<br />
Plattform<br />
Fremdplatzierung<br />
Fremdplatzierte Kinder und Jugendliche, die<br />
ein Heim oder eine Pflegefamilie verlassen, um<br />
in ihre Familie zurückzukehren oder selbstständig<br />
zu leben, stehen meist vor einem sehr<br />
anspruchsvollen Übergang. An der Tagung des<br />
Fachverbands Sozial- und Sonderpädagogik wird<br />
diskutiert, wie Pädagogen und andere Verantwortliche<br />
die Betroffenen in diesem Übergang<br />
unterstützen können und wie Massnahmen<br />
des stationären Settings in die neue Situation<br />
einfliessen sollen.<br />
Plattform Fremdplatzierung 2017<br />
Dienstag, 24. Januar 2017; Kultur-Casino Bern<br />
www.integras.ch<br />
Recht<br />
auf Arbeit<br />
Arbeit bedeutet in der Schweiz nicht nur ökonomische<br />
Lebensgrundlage, sondern ist Quelle der<br />
sozialen Integration sowie Garant gegen Armut.<br />
Eine hohe Zahl von Working Poor, Langzeitarbeitslosen<br />
und Ausgesteuerten stellen dieses<br />
Selbstverständnis jedoch immer mehr in Frage.<br />
Am Forum setzt sich die Caritas mit den Veränderungen<br />
auf dem Arbeitsmarkt auseinander und<br />
stellt zur Diskussion, ob die integrative Rolle der<br />
Arbeit erhalten werden kann oder ob der Strukturwandel<br />
das Recht auf Arbeit aushöhlt.<br />
Caritas-Forum<br />
Freitag, 27. Januar 2017, Kultur-Casino Bern<br />
www.caritas.ch<br />
SKOS: Bieler Tagung 2017<br />
Bildung statt Sozialhilfe<br />
Mangelnde Berufsbildung ist in der Schweiz<br />
einer der wichtigsten Risikofaktoren für Armut.<br />
Der technologische Fortschritt führt dazu, dass<br />
eine grosse Nachfrage nach gut ausgebildeten<br />
Fachkräften besteht, einfache repetitive Arbeiten<br />
hingegen meist maschinell verrichtet werden und<br />
somit gering qualifizierte Personen zunehmend<br />
Mühe haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist<br />
daher absolut entscheidend, dass Personen ohne<br />
Berufsbildung auch noch im Erwachsenenalter<br />
Zugang haben zu Nachholbildung.<br />
Bieler Tagung 2017<br />
Mittwoch, 8. März 2017, Kongresshaus Biel<br />
www.skos.ch<br />
service 4/16 ZeSo<br />
35
Ein Zeitungsbericht hat Heinz von Arb überzeugt, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufzunehmen. Bild: Daniel Desborough<br />
Der Superhost<br />
Eine Trennung, ein Todesfall und ein zu grosses Haus: Die unfreiwillig veränderte Lebenssituation<br />
von Heinz von Arb führte dazu, dass er ein Bed & Breakfast eröffnete und die Pflegschaft für einen<br />
unbegleiteten 14-jährigen Flüchtling übernahm.<br />
Im grossen Haus von Heinz von Arb war es<br />
leer geworden. Nachdem er und seine Frau<br />
sich getrennt hatten und der fast erwachsene<br />
Sohn ausgezogen war, verstarb innert<br />
kurzer Zeit auch noch von Arbs Mutter, die<br />
in der Einliegerwohnung gelebt hatte. Für<br />
Heinz von Arb und seine damals 14-jährige<br />
Tochter standen die Zeiger auf Veränderung.<br />
«Ich wollte am liebsten weg aus der<br />
Schweiz – mich irgendwo sozial engagieren,<br />
wo ein Bedürfnis besteht», erzählt von<br />
Arb. Doch er blieb. Heute, zwei Jahre später,<br />
haben Vater und Tochter einen neuen<br />
Mitbewohner: Mahdi ist 14 Jahre alt und<br />
kam als unbegleiteter Flüchtling in die<br />
Schweiz. Von Arb übernahm die Pflegschaft<br />
für den jungen Afghanen.<br />
ach gegen hundert unbegleitete Minderjährige<br />
(MNA) angekommen waren, stand<br />
für ihn sofort fest: «Ich will einem Jugendlichen<br />
eine Chance geben!» Auch die Tochter<br />
war schnell überzeugt.<br />
Nachdem Heinz von Arb das administrative<br />
Verfahren durchlaufen hatte, erhielt<br />
er einen Anruf vom Amt für Soziale<br />
Sicherheit, das im Kanton Solothurn für<br />
die Platzierung der MNA in Pflegefamilien<br />
zuständig ist. Mahdi werde für ein Testwochenende<br />
vorbeikommen. Bald darauf<br />
stand der 14-Jährige mit Sack und Pack<br />
vor dem Gartentor des schmucken Hauses<br />
in Balsthal – und ist seither geblieben.<br />
Die ersten Tage verbrachte der Jugendliche<br />
mehrheitlich in seinem Zimmer, die<br />
sprachliche Verständigung war schwierig.<br />
Von Arb, das merkt man, ist einer, der die<br />
Dinge nimmt, wie sie kommen. Und so<br />
ging er die Situation ohne grosse Erwartungen<br />
an. «Ich dachte mir, wir können<br />
auch ohne viel zu sprechen etwas unternehmen»,<br />
sagt er. So machten sie bald den<br />
ersten gemeinsamen Ausflug in die Berge.<br />
Innert kurzer Zeit ging Mahdi in die<br />
Schule und hatte somit eine Tagesstruktur.<br />
Auch Deutsch lernte er schnell. «Vom<br />
zeitlichen Aufwand, der die Betreuung<br />
mit sich bringt, war ich anfangs aber überrascht»,<br />
erzählt von Arb. Zeit kann er glücklicherweise<br />
bieten: Vor einigen Jahren hat<br />
Keine grossen Erwartungen<br />
Geplant war dies nicht. Eigentlich hatte<br />
sich der 63-Jährige unterdessen gut mit<br />
der neuen Lebenssituation arrangiert. Die<br />
ehemalige Wohnung der Mutter hatte er zu<br />
einem kleinen Bed & Breakfast umfunktioniert,<br />
das er über Airbnb vermietete.<br />
Schnell wurde von Arb zum «Superhost» –<br />
eine Auszeichnung, die man auf der Internetplattform<br />
erhält, wenn die Gäste besonders<br />
zufrieden sind und gute Bewertungen<br />
abgeben. Platz im Haus gab es aber immer<br />
noch genug. Und als von Arb eines Tages in<br />
der Zeitung las, dass im Asylzentrum Selzer<br />
seine feste Stelle als Erwachsenenbildner<br />
aufgegeben.<br />
Zusammenleben wie in einer WG<br />
Seit einem Dreivierteljahr lebt Mahdi<br />
nun bei von Arbs. «Wir wohnen wie in<br />
einer WG zusammen, auch wenn ich natürlich<br />
die Verantwortung trage», sagt der<br />
Pflegevater und fügt hinzu, vielleicht werde<br />
sich mit der Zeit schon eine Art Vater-<br />
Sohn-Beziehung entwickeln. Es gibt aber<br />
auch schwierige Momente. Von der Fluchtgeschichte<br />
und vom früheren Leben des<br />
Jugendlichen weiss von Arb wenig: «Ich<br />
möchte ihm nicht zu nahe treten, aber hie<br />
und da erzählt er mir davon.»<br />
Dass von Arb seinen Schützling mag, ist<br />
nicht zu überhören: «Er hat so eine freundliche<br />
Art und wir lachen gern zusammen.»<br />
Oft müsse er den Jugendlichen fast bremsen,<br />
weil er immer bei der Gartenarbeit<br />
oder im Bed & Breakfast mithelfen wolle.<br />
«Er dürfte doch auch mal sagen: Henä, das<br />
ist dein Job!» An der Superhost-Auszeichnung<br />
ist Mahdi jedenfalls nicht unbeteiligt.<br />
Für das in den AirBnB-Bewertungen<br />
viel gelobte Frühstück macht er jeweils den<br />
Butterzopfteig, Heinz von Arb übernimmt<br />
dann das Flechten.<br />
•<br />
Regine Gerber<br />
36 ZeSo 4/16 porträt
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