E_1936_Zeitung_Nr.072
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12 iuIomobü-Bevue — N°72<br />
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Nicht, dass der Grossindustrielle in einem<br />
Lancia fährt, sondern, dass gerade er, wie so<br />
viele andere, auch in einem Lancia fährt, das<br />
bewegt uns.<br />
Vielleicht klingt es zu einfach, um wahr<br />
zu sein:<br />
Der Elefant ist am schönsten, wenn er präsentiert<br />
wird. Dieser Moment ist nicht nur der<br />
Superlativ aller Zirkusarbeit: er ist der ganze<br />
Inhalt, ist alles. Das übrige Dasein ist leer —<br />
Alltag zwischen Essen und Schlafen.<br />
... Die gleichen Rasierklingen, die gleichen<br />
Globusseifen, das gleiche Briefpapier, die gleichen<br />
Fünfliber leben hier ihre Daseinsform wie<br />
anderswo: auf der Bude des Schreinergesellen<br />
Meier, oder des Bankangestellten Vontobel. —<br />
Das Neue, Persönliche, Schöpferische, Geistige<br />
ist die menschliche Arbeit: hier die Nummer...<br />
Und die sehen Sie vor den Kulissen, in der<br />
bestmöglichen Form.<br />
Was sehen Sie hinter den Kulassen?<br />
Garderoben mit defekten Rasierspiegeln, Puderquasten,<br />
illustrierten <strong>Zeitung</strong>en — Garderoben<br />
mit ganzen Rasierspiegeln, ohne Puderquasten,<br />
ohne Illustrierte ... geduldige Spassmacher,<br />
auf einem schmutzigen Sockel hockend,<br />
auf ihre Nummer wartend ... gelangweilte Managers,<br />
die über die Person oder die Existenzberechtigung<br />
Hitlers und Mussolinis streiten...<br />
nervöse Frauen, die über ein falsch angebrachtes<br />
Bouquet in chronische Verstimmung geraten<br />
... Zirkusdiener, die zum tausendsten Male<br />
die gleiche Leiter in die Manege tragen helfen<br />
und alles Menschliche, was Sie bei<br />
Ihnen zu Hause, auf der Strasse, in der Fabrik<br />
immer wieder sehen, — Aber es ist eben nicht<br />
dasselbe, ob der Handlanger Hans Müller auf<br />
dem Bauplatz während der Znünipause auf<br />
einem schmutzigen Sockel hockt, oder ob das<br />
der gefeierte Solotänzer Miracolo hinter den<br />
Kulissen genau so macht.<br />
Was suchen Sie hinter den Kulissen? — Rätsel,<br />
Wunder, Geheimnisse und ihre Lösungen.<br />
Was finden Sie? Alltägliches, Selbstverständliches.<br />
Der Alltag.<br />
Der Extrazug ist angekommen. Es ist morgens<br />
zehn Uhr. Der Elefant streckt sorgfältig<br />
seinen Rüssel durch die Wagenluke. Er macht<br />
Bekanntschaft mit seinem neuen Publikum.<br />
Zimmer.<br />
« Tag, Herr Lehrer, wie geht's? »<br />
— Morgen, Frau Turner, danke — haben Säe<br />
Glück?<br />
« Und wol Sagen Sie, Herr Lehrer. Sie kennen<br />
die Stadt, wie? Haben Sie schon Zimmer?<br />
Und für die Buben? — Ach, die schlafen<br />
im Wagen, nicht? »<br />
— Ja, diesmal ging's rasch. Schwein muss<br />
der Mensch haben. Eigentlich geht's bei mir<br />
immer rasch. — Sie suchen noch?<br />
« O ja, Sie wissen? »<br />
— Da oben, gleich in diesem Neubau..„<br />
« Aber teuer, wie? »<br />
— Wollen Sie ein Doppelzimmer?<br />
« Ja, wissen Sie, das ist bei uns so: wenn<br />
wir arbeiten, müssen wir sparen, damit wir<br />
auch mal wieder anständig leben können, wenn<br />
wir wieder nix haben. »<br />
— Sie haben im Winter kein Engagement?<br />
« Gewöhnlich nicht; fragen Sie mal meinen<br />
Mann, der wird Ihnen schon sagen, wie schwierig<br />
das heute ist... In der letzten Stadt —<br />
na — wie hiess das Ding — Lausanne — da<br />
haben wir drei Frank fünfzig bezahlt. Wissen<br />
Sie, das ist unverschämt: ein ganz gewöhnliches<br />
Zimmer — zwei einfache Betten, dann<br />
haben sie sich noch! über uns geärgert — wegen<br />
— ja, wegen den Hunden — dem lieben<br />
Musi, gell: Musi-Musil Die haben auch gar<br />
kein Herz für dich. Dabei weiss ich nicht, wie<br />
grossartig die Leute hier leben! Und jammern<br />
^rühherbst<br />
Weissf do 7 jefzf kommt das Schönste vom Jahr:<br />
Hoch wölbt sich ein Himmel saphirklar<br />
lieber Bäumen, die sommersatt.<br />
Und in Milde gebettet, so träumt die Stadt<br />
Ihrem Herbst entgegen.<br />
Zarte Silberschleier legen<br />
Sich um der Berge strenges Gesicht,<br />
Und wie sie fern im Abendlicht<br />
Den Raum begrenzen, das ist Gnade! —<br />
Jetzt wächst die Stille, fuhren deine Pfade<br />
Zu der Entrücktheit seligem Genüsse.<br />
Jetzt streift der göttlichmilde Herbst mit erstem Kusse<br />
Der Sommerfee versengte Lippe sacht,<br />
Und perlenkühl umdämmert uns Septembernachf.<br />
noch! Wissen Sie, bei uns in Deutschland bekommen<br />
Sie eine ganze Wohnung, sag' ich<br />
Ihnen, um diesen Preis. Dann darf ich aber<br />
alles machen, kochen und waschen und soo...<br />
wissen Sie, »dann bin ich wie daheim. Und<br />
wenn ich mal schnell meine Schuhe putzen<br />
will — — ja, wir haben ja in der Schweiz<br />
auch schon sehr gut gewohnt, muss ich sagen,<br />
zum Beispiel in Glarus — die Leute waren ja<br />
sehr nett zu uns. Ich finde überhaupt: auf dem<br />
Lande sind die Leute viel netter, aufrichtiger...<br />
Fragen wir mal da. Waren Sie schon hier<br />
drin? Ich bin gleich wieder da. Entschuldigen<br />
Sie, Herr Lehrer, Mahlzeit, Herr Lehrer J<br />
— Mahlzeit, Frau Turner, viel Glück!<br />
... Bei den Artisten lernte ich .Mahlzeit'<br />
sagen — einmal vor, meistens aber nach dem<br />
Essen. Das kam mir immer etwas komisch<br />
vor. Wir finden eben anderer Leute Sitten und<br />
Gewohnheiten stets komischer als die unsrigen.<br />
Beharrliche Kameraden.<br />
Unser Neger hat jetzt noch kein Zimmer gefunden.<br />
« Tag, Salem: »<br />
— Morgen, Herr Schaffner. Ist nix, wie?<br />
« Warten Sie, dort kommt gleich Cervantes.»<br />
— Tag!<br />
« Tag!»<br />
Nun? — Ach, Sie sprechen franzosisch,<br />
Herr Schaffner — o bitte: Wollen Sie<br />
nicht mal schnell mitkommen? Man kann sich<br />
nicht so recht aussprechen mit diesen Leuten.<br />
Sie haben schon? Na, Sie haben's leichter wie<br />
wir. Sie kennen die Schweizer — und man<br />
kennt sie. Aber wenn wir mit unserer Sprache<br />
kommen, dann werden die Leute so ängstlich.<br />
Diesen Morgen war ich schon in einem Haus<br />
— hat mich die Frau gleich so angeguckt, als<br />
ob ich sie fressen wollte. Sag' ich: vom Zirkus.<br />
Da hätten Sie das Gesicht sehen sollen! Dem<br />
Salem hat die überhaupt nicht geöffnet.<br />
c Ja, der hat's eben schwer mit seiner Negerhaut.<br />
Die Leute meinen, er mache ihnen das<br />
Bett schmutzig — dabei ist er so sauber wie<br />
ein Kind und hockt täglich im Strandbad —<br />
aber das kann man ihnen nicht nehmen. —<br />
Kommen Sie doch auch gleich mit, Salem!»<br />
— Natürlich!<br />
... Cervantes unterlässt auch jetzt nicht, mit<br />
seiner einfachen .Zeichensprache' zu arbeiten,<br />
trotzdem ich mich als Dolmetscher produziere.<br />
Er ist aus Berlin. Französisch ist für ihn eine<br />
schwere und vor allem sonderbare Sprache.<br />
Aber er ist weder bequem, noch nervös. Er ist<br />
Akrobat. Seine gleichmütige Entschlossenheit<br />
verlässt ihn auch beim Zimmersuchen nicht.<br />
Das gehört zum Leben, und er liebt Korrektheit,<br />
überall. Zwei Finger der linken Hand bedeuten<br />
zwei Zimmer, drei Finger der rechten<br />
drei Betten. Alors: zwei Finger links: zwei<br />
Mark — und fünf Finger rechts: fünfzig Pfennig.<br />
— Er denkt dabei hartnäckig an Franken<br />
und Rappen. Natürlich macht er dazu noch<br />
manche ergänzende Bewegung — und stumm<br />
und dumm ist er auch nicht. Als Truppenchef<br />
muss er allwöchentlich seine fünf Personen<br />
irgendwo unterbringen — und zwar: billig und<br />
gut, Zirkusnähe, Kochgelegenheit, Hausschlüssel.<br />
Nicht alle Artisten wollen auf dem<br />
Zimmer kochen. Oft ist eine Pension: vier<br />
Franken pro Person und Tag vorteilhaft; einige<br />
wohnen auch im Hotel, zum Beispiel der Seiltänzer.<br />
— Soll er sich leisten! sagen die andern —<br />
wir können das nicht. Denken Sie: wir müssten<br />
ja eine Fantasiegage kriegen!<br />
... Aber die Lebensart der Artisten verhält<br />
sich zu ihren Gagen, ähnlich wie bei uns —<br />
nicht unbedingt proportional — oft sogar gerade<br />
umgekehrt proportional. Man muss mit<br />
Lis Gampec<br />
den Wölfen heulen können — auch wenn man<br />
satt ist. Das Land, worin man gerade arbeitet,<br />
ist immer das teuerste, um Geld auszugeben —<br />
und das billigste, um zu verdienen. Das ist<br />
nun einmal überall so in der Weltwirtschaft.<br />
Das weiss der Herr Direktor so gut wie der<br />
Stiefelputzer, jeder auf seine Weise...<br />
... Salem fand erst am Nachmittag ein definitives<br />
Zimmer. Aber er fand eines; er hat<br />
noch nie im Freien geschlafen: es wäre ihm<br />
dort zu kalt. Ueberall findet sich ,trotz' Wohnungsüberfluss<br />
mit mehr oder weniger Geduld<br />
ein unbenutztes, möbliertes Zimmer, das einer<br />
Person gehört, die für exotische und andere<br />
Extravaganzen schwärmt, oder für einen weltenbummelnden<br />
Einzelgänger ein mitleidiges<br />
Herz übrig hat. Nun war zwar Salem kein<br />
Einzelgänger, denn er hatte eine schöne und<br />
liebe weisse Frau. Er bewies aber in kurzer<br />
Zeit, dass er trotzdem ein Einzelgänger war,<br />
indem er eine noch schönere und liebere fand:,<br />
die Schuld daran trägt ein Blumenstrauss.<br />
Ein Künstler der Manege lebt in erster Linie<br />
von Gagen — in zweiter Linie von Bouquets.<br />
Was dann noch folgt, sind tertiäre Erscheinungen.<br />
Eine gute Nummer darf wegen eines .Verhältnisses'<br />
nicht auf die Probe gestellt werden,<br />
es bestehe denn die Möglichkeit einer passenden<br />
Einheirat. Die Fabrikantentochter soll<br />
doch auch einen Typ heiraten, der etwas vom<br />
Geschäft versteht. Und eine Luftnummer weiss<br />
mit der idealsten Person furchtbar wenig anzufangen,<br />
die am Trapez keinen Trick fertig'<br />
bringt. Man sagt es immer wieder: ich lebe<br />
von der Liebe; dabei liebst du vom Leben —<br />
und nur ein ganz kleines Stück davon.<br />
Der Elefant als Scharfrichter.<br />
Unter den Reformen, die Bao Dai, der junge,<br />
in Frankreich erzogene Herrscher von Annam durchgeführt<br />
hat, ist die Abschaffung des Scharfrichter-<br />
Elefanten eine der interessantesten. Früher war es<br />
in Annam üblich gewesen, Personen, die zum Tode<br />
verurteilt waren, in einen engen Hof einzusperren<br />
zusammen mit einem Elefanten, der «auf den Mann<br />
dressiert» war, einem bösartigen Tier, das den<br />
Delinquenten mit dem Rüssel packte, ihn in die<br />
Luft schleuderte und dann zerstampfte. Bao Dai<br />
hat diese kaum human zu nennende Hinrichtungsart<br />
aufgehoben; ursprünglich wollte er auch den Elefanten<br />
selbst umbringen lassen, doch hiergegen<br />
protestierte die Priesterschaft. So lebt jetzt der<br />
Scharfrichter-Elefant in einem Tempel und genieist<br />
dort göttliche Verehrung, während die Todeskandidaten<br />
in Annam neuerdings mittels einer<br />
Guillotine umgebracht werden, die ihrerseits auch<br />
bald durch den elektrischen Stuhl ersetzt werden<br />
soll.<br />
cpr.