„Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.“ – Das Groteske in ...
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Grenzen se<strong>in</strong>es Bewusstse<strong>in</strong>s. Die Güllener versuchen mit dem Angebot von Claire<br />
umzugehen, wobei sie anfangs <strong>die</strong> moralische Position mit strikter Vehemenz e<strong>in</strong>nehmen<br />
wollen <strong>–</strong><br />
DER BÜGERMEISTER Frau Zachanassian: Noch s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> Europa, noch s<strong>in</strong>d wir ke<strong>in</strong>e Heiden. Ich<br />
lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben<br />
wir arm denn blutbefleckt.<br />
Riesiger Beifall. 105<br />
<strong>–</strong>, aber gleichzeitig auf ihre „Selbsttäuschung<strong>“</strong> aufbauen, <strong>die</strong> man durchaus als „bewusst<strong>“</strong><br />
bezeichnen kann:<br />
DER POLIZIST Eben. Nun kann der Vorschlag nicht ernst geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>, weil der Preis von e<strong>in</strong>er<br />
Milliarde übertrieben ist, das müssen Sie doch selber zugeben, für so was bietet man tausend oder<br />
vielleicht zweitausend, mehr bestimmt nicht, da können Sie Gift drauf nehmen, was wiederum<br />
beweist, daß der Vorschlag nicht ernst geme<strong>in</strong>t war, und sollte er ernst geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>, so kann <strong>die</strong><br />
Polizei <strong>die</strong> Dame nicht ernst nehmen, weil sie dann verrückt ist: Kapiert? 106<br />
Die Güllener werden im Späteren zu Objekten von Claire, zu Automaten. So versuchen sie<br />
konträre, also paradoxe Ansichten zu vere<strong>in</strong>en: Sie wollen Ill töten und gleichzeitig ihre<br />
Unschuld bewahren, der Gerechtigkeit anhängen und den Verrat f<strong>in</strong>anziert bekommen.<br />
Indem sich <strong>die</strong> Güllener im Laufe des Stücks <strong>die</strong>ser Illusion immer fester anhängen,<br />
verlassen sie das Harmlos-Komische und begeben sich <strong>in</strong> das <strong>Groteske</strong>, <strong>in</strong> <strong>die</strong> von<br />
„Menschen verübte Unmenschlichkeit<strong>“</strong> 107 . Sie <strong>die</strong>nen damit <strong>die</strong>sem Gleichnis der<br />
<strong>Wirklichkeit</strong>, da sie nicht nur übersteigerte Sonderfälle s<strong>in</strong>d, sondern auch e<strong>in</strong>en<br />
Ausschnitt der Realität füllen. Es ist nicht e<strong>in</strong>e Darstellung von „Güllen h<strong>in</strong>ter den<br />
Bergen<strong>“</strong> 108 , sondern e<strong>in</strong> Zustand der Menschheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zwickmühle zwischen begrenzt<br />
geistigem und universellem Welt-Zustand, der zwangsläufig auf den Zusammenhang von<br />
Macht und Ohnmacht h<strong>in</strong>auslaufen muss und der im Versagen sichtbar wird.<br />
B. Alfred Ill gew<strong>in</strong>nt im Laufe des Dramas, isoliert von den Güllenern betrachtet,<br />
tragische Züge, weil er se<strong>in</strong>e Schuld erkennt <strong>–</strong> sowohl durch Furcht und Entsetzen aber<br />
auch durch etwas „höchst Persönliches<strong>“</strong> <strong>–</strong> und weil er erst „durch se<strong>in</strong> Sterben<strong>“</strong> Größe<br />
erhält, „zum Helden<strong>“</strong> wird. „Se<strong>in</strong> Tod ist s<strong>in</strong>nvoll und s<strong>in</strong>nlos zugleich.<strong>“</strong> 109<br />
105<br />
Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, S. 50.<br />
106<br />
Ebd., S. 63. (Hervorhebung von mir)<br />
<strong>–</strong> Der Polizist bezieht sich auf ermittlungstechnische Grundlagen und Erfahrungen, nimmt aber kaum e<strong>in</strong><br />
Blatt vor den Mund, wenn es um se<strong>in</strong>e eigenen Ansichten geht. Wer, mit Verlaub, ist denn verrückt?<br />
Claire oder <strong>die</strong> Polizei?<br />
107<br />
s. Fußnote 24.<br />
108<br />
Müller: Komö<strong>die</strong> im Atomzeitalter, S. 133.<br />
109<br />
Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, S. 143. (Anmerkung I)<br />
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