Magazin - ÖKK
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Titelgeschichte <strong>ÖKK</strong> <strong>Magazin</strong><br />
Dicke Tränen kullern über Lisas* Gesicht. Immer wieder<br />
streicht sie sich über die Stelle im Haar, wo frühmorgens<br />
noch die glitzernde Haarspange gesteckt hatte.<br />
«Was habe ich euch über die Sachen gesagt, die ihr<br />
von Zuhause mitbringt?», fragt die Kindergärtnerin in<br />
die Runde. Zehn Hände schnellen in die Höhe. «Wir<br />
müssen selber darauf aufpassen», sagt Lisas Kindergartenkollegin.<br />
Die Kindergärtnerin nickt: «Genau!» Tagtäglich<br />
erinnert sie die Mädchen und Buben des Städtischen<br />
Kindergartens Luzern daran, Verantwortung für<br />
die eigenen Sachen zu übernehmen. Das ist Teil ihres<br />
Erziehungsauftrags.<br />
Schon früh hören Kinder von den Erwachsenen, dass<br />
sie für ihre Taten oder Untaten selbst einstehen müssen.<br />
Je älter sie werden, desto mehr. Spätestens aber mit<br />
der Mündigkeit, in der Schweiz mit 18 Jahren. Noch<br />
werden die Eltern der fünfjährigen Lisa den Verlust<br />
der Haarspange verzeihen und ihr eine neue kaufen. In<br />
15 Jahren aber würden sie sagen: Selber schuld! Eigenverantwortung<br />
bedeutet, dass man die Konsequenzen<br />
seines Handelns – oder Unterlassens – selber trägt. Im<br />
Erwachsenenalter heisst Eigenverantwortung vor allem,<br />
dass man für sich selber sorgt und nicht von anderen<br />
finanziell abhängig ist.<br />
Dennoch gibt es Grenzen der Eigenverantwortung.<br />
Auch für Erwachsene. Denn wir alle sind auch dem<br />
Schicksal ausgesetzt, d.h. Ereignissen, die uns heimsuchen,<br />
ohne dass wir etwas dafür können.<br />
KRANKHEIT UND DIE GRENZEN<br />
DER EIGENVERANTWORTUNG<br />
Fast täglich ist Bettina Tanay (43) früher mit dem Velo<br />
von ihrem Wohnort im luzernischen Oberkirch zum<br />
Einkaufen oder Arbeiten nach Sursee gefahren. «Das<br />
hielt mich fit», erinnert sich die Mutter von drei Kindern.<br />
Sie war aktiv, lebte gesund – und doch musste sie<br />
ihr Velo schon in jungen Jahren gegen einen Rollstuhl<br />
eintauschen. 1994 hatte sie während der Schwangerschaft<br />
zum ersten Mal dieses eigentümliche Taubheitsgefühl<br />
in der linken Hand und im rechten Bein gespürt.<br />
Das Kind liege ungünstig, hatte sie ihr Arzt beruhigt.<br />
Doch die Schübe traten auch nach der Schwangerschaft<br />
immer wieder auf. 1997 dann die Diagnose: multiple<br />
Sklerose, eine unheilbare Erkrankung des zentralen<br />
Nervensystems. Drei Jahre später ging es Bettina Tanay<br />
trotz intensiver Behandlung so schlecht, dass sie<br />
zu Hause von einem Pflegedienst unterstützt werden<br />
musste. Jeden Tag. Selbst zum Aufstehen war sie allein<br />
zu schwach.<br />
Warum gerade sie von diesem Schicksalsschlag getroffen<br />
wurde, fragt sich Bettina Tanay bis heute. Eines<br />
aber ist sicher: Nichts, was sie gemacht oder unterlassen<br />
hat, steht in einem Zusammenhang mit ihrer Krankheit.<br />
Sie kann für sie in keiner Weise verantwortlich gemacht<br />
werden. Genau dieser Erkenntnis, dass jeder und jede<br />
schuldlos schwer erkranken und hilfsbedürftig werden<br />
kann, entspringt der Versicherungsgedanke: Viele mehr<br />
oder weniger gesunde Menschen zahlen Geld in einen<br />
gemeinsamen Topf, damit wenige mehr oder weniger<br />
kranke Menschen durch das Geld in diesem Topf geheilt<br />
oder zumindest unterstützt werden können. Denn natürlich<br />
hätte Bettina Tanay für die vielen Behandlungen<br />
und Medikamente niemals selbst aufkommen können.<br />
Die Therapiekosten für schwere chronische Erkrankungen<br />
können über die Jahre und Jahrzehnte ins Unermessliche<br />
anwachsen. Dank der guten medizinischen Betreuung<br />
gehe es ihr heute aber viel besser, sagt Bettina Tanay,<br />
und dafür sei sie unendlich dankbar. An guten Tagen<br />
schafft sie es heute, allein die Wohnung zu putzen und<br />
sogar für ihre Familie zu kochen. Nur für eine berufliche