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EVENT JOURNAL - SOMMER 2018

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Diogenes von Sinope<br />

(altgriechisch Διογένης ὁ<br />

Σινωπεύς Diogénēs ho<br />

Sinōpeús, latinisiert Diogenes<br />

Sinopeus; * vermutlich<br />

um 413 v. Chr. in Sinope; †<br />

vermutlich 323 v. Chr. in<br />

Korinth) war ein antiker<br />

griechischer Philosoph. Er<br />

zählt zur Strömung des Kynismus.<br />

baumeln-lassen“, Verwöhnprogramm<br />

und einem gelegentlichen<br />

kleinen Flirt in eine Reihe<br />

zu stellen mit „Lazarus, komm<br />

heraus!“? Je nachdem, welche<br />

Saite dieser Ton bei uns anschlägt,<br />

wie stark der Wunsch<br />

nach einem Verweilen im jeweiligen<br />

Urlaubsland ist, wird auch<br />

dessen Bedeutung individuell<br />

stark oder schwach eingeschätzt.<br />

Die Atheisten unter uns<br />

messen ja auch dem Lazarus-<br />

Ruf kaum Bedeutung bei, vergleichbar<br />

den werberesistenten<br />

Urlaubsmuffeln, von denen es<br />

ja recht wenig gibt. Also sowas.<br />

Dieses ketzerische Gepräge<br />

könnte aber auch<br />

umgekehrt verstanden<br />

werden,<br />

nämlich im Sinne<br />

einer Sinnsuche,<br />

dem Nachgeben<br />

einer Intuition, die<br />

unser Leben in<br />

wertvollere, spirituellere<br />

Bahnen<br />

lenken könnte.<br />

Yoga auf Bali,<br />

ayurvedische Kliniken<br />

in Sri Lanka,<br />

buddhistische<br />

Teezeremonien im<br />

fernen China und<br />

viele weitere fernöstliche<br />

Gelegenheiten,<br />

die eigene<br />

Erleuchtungsreise<br />

in Gang zu bringen,<br />

was jetzt<br />

aber bitte nicht<br />

ironisch gemeint<br />

ist. Nun sind wir<br />

dem Thema ganz<br />

nahe, wir spüren,<br />

dass das Urlaubsphänomen<br />

nicht<br />

nur auf der Prestige-,<br />

Konsum-, Erholungs-,<br />

Abschalt-,<br />

Fressebene existiert,<br />

sondern auch<br />

eine geistige Entsprechung<br />

in uns<br />

lostritt. Denn haben<br />

wir auf einer<br />

Reise nicht vor allem<br />

eines im Gepäck:<br />

Uns. Nützt<br />

uns der Locationwechsel<br />

dann<br />

überhaupt? Gibt<br />

es ein Urlaub vom Ich? Wollen<br />

wir das? Wollen wir das nicht?<br />

Wo sind die Antworten, wo die<br />

Fragen, die uns weiterbringen,<br />

die uns wegbringen und uns<br />

auch noch ein tolles Urlaubserlebnis<br />

ermöglichen! Dieser unleidliche<br />

Hund aus dem östlichen<br />

Mittelmeerraum, ja, selbst<br />

hat er sich als Hund bezeichnet,<br />

und hat an der Selbsterkenntnis<br />

herum-gefeilt wie viele vor und<br />

viele nach ihm. Bedürfnislosigkeit<br />

war sein Ziel, hat er doch<br />

die eigenen Bedürfnisse und<br />

Begierden als absolute Zumutung<br />

empfunden, als Fehler in<br />

seinem System, als reine Hürden,<br />

die es zu überwinden gelte<br />

und denen auf gnadenlose Art<br />

und Weise der Kampf angesagt<br />

werden musste. Von Urlaub war<br />

bei ihm nicht die Rede, sondern<br />

von der Freiheit, in letzter Konsequenz<br />

die Freiheit vom Ich,<br />

vom Ego, das uns vorgaukelt<br />

und suggeriert, das Verlangen<br />

weckt und uns so unterjocht.<br />

Um das irdisch größtmögliche<br />

Ideal zu erlangen, schlief also<br />

dieser seltsame Typ angeblich<br />

Alexander und Diogenes | Gemälde von Gaspare Diziani (1689 - 1767)<br />

event journal 35<br />

„Die Griechen […] beschlossen, mit Alexander gegen die Perser einen Kriegszug zu unternehmen, wobei er<br />

auch zum Oberfeldherrn ernannt worden war. Da bei dieser Gelegenheit viele Staatsmänner und Philosophen<br />

ihm die Aufwartung machten und Glück wünschten, dachte er, dass auch Diogenes von Sinope, der sich eben<br />

in Korinth aufhielt, ein Gleiches tun würde. Aber dieser blieb ungestört in seiner Ruhe im Kraneion [Platz in Korinth],<br />

ohne sich im Geringsten um Alexander zu kümmern; daher begab der sich zu Diogenes hin. Diogenes<br />

lag eben an der Sonne. Als aber so viele Leute auf ihn zukamen, reckte er sich ein wenig in die Höhe und sah<br />

Alexander starr an. Dieser grüßte ihn freundlich und fragte, womit er ihm dienen könnte. ‚Geh mir nur‘, versetzte<br />

er, ‚ein wenig aus der Sonne!‘ Davon soll Alexander so sehr betroffen gewesen sein und, ungeachtet der<br />

ihm bewiesenen Verachtung, den Stolz und die Seelengröße des Mannes so sehr bewundert haben, dass er,<br />

als seine Begleiter beim Weggehen darüber scherzten und lachten, ausrief: ‚Wahrlich, wäre ich nicht Alexander,<br />

ich möchte wohl Diogenes sein.‘“ – Plutarch: Alexandros 14<br />

immer mal wieder in einem alten<br />

Vorratsfass, unter den<br />

Tempelsäulen oder anderen<br />

unbequemen Orten, verzichtete<br />

auf alle materiellen Annehmlichkeiten<br />

und war auch strikt<br />

gegen die Ehe, eine interessante<br />

Forderung in diesem Kontext.<br />

Der Leser ahnt es bereits, es<br />

handelt sich um den wahrscheinlich<br />

in Sinope geborenen<br />

Diogenes, der durch seine radikalen<br />

und kuriosen Gedankengänge<br />

auch nach über 2000<br />

Jahren noch ein Rockstar der<br />

Philosophie ist, vielleicht weil er<br />

mit manchem Recht hatte, bestimmt<br />

aber, weil er sein Leben<br />

radikal und kompromisslos und<br />

gegen sämtliche gesellschaftlichen<br />

Regeln gestaltete. Against<br />

all odds also, aber nicht unbedingt<br />

gegen jeden Sinn und<br />

Verstand, auch wenn er für<br />

Fragen der Dialektik nicht viel<br />

übrig hatte und sich unter anderem,<br />

wer hätte es gedacht,<br />

durch durchtriebene aber unsinnige<br />

Schlussfolgerungen<br />

über den damals populären Syllogismus<br />

lustig machte, eine<br />

Methode, logische Schlüsse in<br />

Form von Dreierschritten zu<br />

ziehen. Die Authentizität vieler<br />

seiner Zitate wird von Historikern<br />

allerdings misstrauisch<br />

beäugt und vieles über ihn<br />

„wissen“ wir nur aus Anekdoten,<br />

die sich um seine Person ranken.<br />

Bestimmt kein angenehmer<br />

Zeitgenosse also, einer,<br />

der viele Philosophenkollegen<br />

an den Pranger stellte oder sie<br />

öffentlich demütigte, nicht unbedingt<br />

einer, den man im<br />

Freundeskreis aufnehmen oder<br />

dem man im Urlaub treffen<br />

möchte. Im Urlaub. Na, da wären<br />

wir ihm sowieso nie begegnet<br />

und auch die eingangs zitierte<br />

Forderung bezüglich der<br />

Sonne, angeblich geäußert in<br />

die Richtung eines der größten<br />

und grausamsten Usurpatoren<br />

der Weltgeschichte, ist bestimmt<br />

nicht als Ausdruck eines<br />

sonnenanbetenden Erholungswütigen<br />

mit Chillout-Mentalität<br />

zu verstehen, sondern als absolute<br />

Respektlosigkeit. Wie<br />

schön.<br />

Sonya Hochrein

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