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ZAP-2018-16

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>16</strong> <strong>2018</strong><br />

22. August<br />

30. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />

• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />

Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />

Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />

Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Prozesskostenhilfe: Anwälte haben es beim (Mehr‐)Vergleich schwer (S. 807)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Ausgebremste Mietpreisbremser (S. 812) • Freie Berufe verbuchen solides Wachstum (S. 813) •<br />

Empfehlungen zur Ausbildungsvergütung (S. 814)<br />

Aufsätze<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 821)<br />

Burhoff, Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten (S. 835)<br />

Hillenbrand, Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung (S. 851)<br />

Eilnachrichten<br />

BGH: Beschränkung des Ausgleichsanspruchs bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft (S. 817)<br />

EuGH: Urheberrechte bei Verwendung von Fotografien aus dem Internet (S. 818)<br />

BVerfG: Zur Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen (S. 819)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 807–808<br />

Anwaltsmagazin – – 808–814<br />

Eilnachrichten 1 125–130 815–820<br />

Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />

zum Wohnraummietrecht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong> 4 R 921–934 821–834<br />

Burhoff, Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten 9 1029–1044 835–850<br />

Hillenbrand, Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung –<br />

Beiordnungsvoraussetzungen, Verteidigerauswahl und<br />

Rücknahme der Bestellung 22 927–938 851–862<br />

Nutzen Sie die <strong>ZAP</strong> auch digital: mit der <strong>ZAP</strong> App für PC, Smartphone und Tablet. Sie finden<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F <strong>16</strong>) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />

Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />

Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Prozesskostenhilfe: Anwälte haben es beim (Mehr-)Vergleich schwer<br />

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese<br />

Kolumne mit folgender Frage eröffnen: Führen<br />

Sie viele Mandate als beigeordnete Prozessbevollmächtigte?<br />

Nein? Dann haben Sie mit Ihren zahlungskräftigen<br />

Mandanten Glück. Wenn Sie aber vermehrt Beratungs-<br />

und Prozesskostenhilfemandate betreuen,<br />

stellt ein arbeitsaufwändiges Prozesskostenhilfemandat<br />

eigentlich eine betriebswirtschaftliche Katastrophe<br />

dar. Denn ab Gegenstandswerten von<br />

über 4.000 € stagniert der Gebührenanspruch des<br />

beigeordneten Anwalts nahezu. Wegen der Bestimmung<br />

des § 49 RVG dürften daher bei dem<br />

einen oder anderen Kollegen, der ein vermeintlich<br />

lukratives Mandat in den Händen wähnte, was sich<br />

später aber als PKH-Verfahren herausstellte, innerlich<br />

schon etliche bittere Tränen geflossen sein.<br />

Zudem sind Prozesskostenhilfemandate i.d.R. über<br />

Gebühr zeitaufwändig. Ich kann aus eigener Erfahrung<br />

sagen, dass kaum ein PKH-Berechtigter in<br />

der Lage ist, den für die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />

notwendigen komplexen Fragebogen<br />

über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse<br />

eigenständig und ohne Hilfe auszufüllen. Oft<br />

sitze ich gemeinsam mit der meist nicht studierten<br />

und oft nur unzureichend Deutsch sprechenden<br />

Mandantschaft samt Ausfüllhinweisen über dem<br />

Fragebogen, um alles richtig zu machen. Ist der<br />

PKH-Antrag dann mit den Anlagen vollständig und<br />

endlich bei Gericht eingereicht, geht es in das<br />

Verfahren. Wenn man Glück hat, wird Prozesskostenhilfe<br />

auch tatsächlich bewilligt.<br />

Vorsicht ist allerdings dann angebracht, wenn<br />

man als Prozessbevollmächtigter einen Vergleich<br />

schließt. Hier ist insbesondere darauf zu achten,<br />

dass nicht vergessen wird, den Zusatzantrag<br />

rechtzeitig zu stellen und die Beiordnung auf<br />

mitverglichene nicht rechtshängige Ansprüche zu<br />

erstrecken. Sonst gibt es für diesen Mehrvergleich<br />

nicht einmal eine Einigungsgebühr!<br />

Wussten Sie übrigens, dass in München die Lebensverhältnisse<br />

für Anwälte mit PKH-Mandaten<br />

schlechter sind als anderswo? In München sind<br />

nicht nur die Mieten wesentlich teurer als woanders,<br />

es gibt auch deutlich weniger vom Staat.<br />

Früher wurde von den Gerichten mehrheitlich<br />

geurteilt, dass schon der Antrag, die Bewilligung<br />

von Prozesskostenhilfe auf den Abschluss eines<br />

Mehrvergleichs zu erstrecken, eine erhöhte Einigungsgebühr<br />

(nach Nr. 1000 VV RVG) ausschließe.<br />

Es käme grundsätzlich immer nur die 1,0 Einigungsgebühr<br />

nach Nr. 1000, 1003 VV RVG zur Anwendung.<br />

Begründung: Die Gerichte müssten ja grundsätzlich<br />

immer prüfen, ob die Voraussetzungen für<br />

PKH auch für den Abschluss des Mehrvergleichs<br />

vorliegen und würden damit „in Anspruch genommen“.<br />

Was früher dabei aber übersehen wurde:<br />

Eine fehlende Mitwirkung des Gerichts am Zustandekommen<br />

des Mehrvergleichs ist keine Tatbestandsvoraussetzung<br />

des Nr. 1000 VV RVG (so der<br />

BGH, Beschl. v. 17.9.2008 – IV ZB 14/08).<br />

Die Rechtsprechung der Gerichte hat sich in den<br />

vergangenen zehn Jahren gewandelt: Für den<br />

Mehrvergleich erhält auch der PKH-Anwalt jetzt<br />

grundsätzlich eine 1,5 Einigungsgebühr gem.<br />

Nr. 1000 VV RVG (s. DORNDÖRFER, Kostenhilferecht<br />

für Anfänger, 6. Aufl. 2014, S. 34, Rn 39). Das<br />

wird auch in der überwiegenden Rechtsprechung<br />

so vertreten (vgl. LAG Düsseldorf, Beschl. v.<br />

25.9.2014 – 5 Sa 273/14; LAG Düsseldorf, Beschl.<br />

v. 13.10.2014 – 13 Ta 342/14; LAG Baden-Württemberg,<br />

Beschl. v. 27.4.20<strong>16</strong> – 5 Ta 118/15 (anders<br />

noch: LAG Baden-Württemberg, Beschl. v.<br />

7.9.2010 – 5 Ta 132/10); LAG Hamm, Beschl. v.<br />

<strong>16</strong>.9.2015 – 6 Ta 419/15 (anders noch: LAG Hamm,<br />

Beschl. v. 31.8.2007 – 6 Ta 402/07).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 807


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Aber entscheiden die Gerichte in ganz Deutschland<br />

einheitlich über die Höhe der gesetzlichen<br />

Prozesskostenhilfe? Erhalten alle Anwälte bundeseinheitlich<br />

die gleiche gesetzliche Vergütung<br />

aus der Staatskasse?<br />

Nein! Um es in die Worte eines allseits bekannten<br />

Comics zu fassen: Es gibt immer noch das eine<br />

oder andere von unbeugsamen LAG-Richtern<br />

(ohne Herz für PKH-Anwälte) bevölkerte Dorf,<br />

das nicht aufhört, dem Eindringen der 1,5 Einigungsgebühr<br />

Widerstand zu leisten. Als Münchener<br />

Anwalt beispielsweise bekommt man von den<br />

Bezirksrevisoren und den darauf aufbauenden<br />

– sich selbst zitierenden – Kostenbeschlüssen der<br />

Münchener Arbeitsgerichtsbarkeit regelmäßig zu<br />

lesen: „Das Landesarbeitsgericht München sieht trotz<br />

gegenteiliger Auffassung anderer Landesarbeitsgerichte<br />

keine Veranlassung seine bisherige Rechtsprechung<br />

(LAG München, Beschl. v. 19.6.2017 – 6 Ta 123/17 u. 6<br />

Ta <strong>16</strong>7/17; Beschl. v. 22.12.20<strong>16</strong> – 6 Ta 314/<strong>16</strong>; Beschl.<br />

v. 2.11.20<strong>16</strong> – 6 Ta 287/<strong>16</strong>; Beschl. v. 17.3.2009 – 10 Ta<br />

394/07; Beschl. v. 15.4.2008 – 10 Ta 237/06; Beschl.<br />

v. 7.6.2005 – 10 Ta 244/05) zu ändern.“<br />

Jegliche Beschwerde: sinn- und fruchtlos! Jüngst<br />

habe ich im Rahmen einer vor der 42. Kammer des<br />

Arbeitsgerichts München geführten Kündigungsschutzklage<br />

abseits des Gütetermins die vergleichsweise<br />

Beilegung des Rechtsstreits – unter<br />

Einschluss bisher nicht rechtshängiger Gegenstände<br />

– mit der Prozessvertreterin der Gegenseite<br />

vereinbart und es wurde Vergleichsfeststellung<br />

beantragt. In dieser Konstellation befürwortet<br />

hinsichtlich der im Vergleich miterledigten Streitgegenstände<br />

auch ein bayerisches (wenngleich<br />

auch „nur“ fränkisches) Landesarbeitsgericht den<br />

Anfall der 1,5 Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV<br />

RVG (LAG Nürnberg, Beschl. v. 22.6.2009 – 4Ta<br />

26/09). Und die Münchener? Die 42. Kammer<br />

verweist in ihrem Beschluss vom 26.5.<strong>2018</strong> (Az. 42<br />

Ca 4784/17) darauf, dass auch in der Kommentierung<br />

von HARTMANN (Kostengesetze, VV 1003 Rn 12)<br />

die Ansicht des LAG München geteilt würde. In der<br />

48. Auflage des „HARTMANN“ findet sich zur Begründung<br />

der 1,0 Einigungsgebühr – neben Entscheidungen<br />

zum alten Recht (BRAGO) – als<br />

einzige Fundstelle aus diesem Jahrhundert zum<br />

RVG eine Entscheidung des LAG München. Anders<br />

ausgedrückt heißt das: „Mia in Oberbayern,<br />

mia san mia“. Da hilft es auch wenig, wenn<br />

die Münchener Arbeitsgerichtsbarkeit dabei nicht<br />

ganz mutterseelenallein ist (s. LAG Rheinland-<br />

Pfalz, Beschl. v. 12.3.2015 – 5 Ta 51/15).<br />

Kein leichtes Leben für Arbeitsrechtsanwälte, die<br />

als Beigeordnete ihre Arbeit für ihre Geringverdiener<br />

verrichten.<br />

Rechtsanwalt BERND PONETSMÜLLER, München<br />

Anwaltsmagazin<br />

BRAK lehnt Verschiebung des<br />

beA-Neustarts ab<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hält an<br />

dem Termin 3.9.<strong>2018</strong> für die Wiederinbetriebnahme<br />

der besonderen elektronischen Anwaltspostfächer<br />

(beA) fest, obwohl bis dahin nicht alle<br />

festgestellten Mängel beseitigt werden können.<br />

Das haben die Präsidentinnen und Präsidenten der<br />

Rechtsanwaltskammern am 8.8.<strong>2018</strong> in Abänderung<br />

ihres früheren Beschlusses v. 27.6.<strong>2018</strong> (vgl.<br />

dazu <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 13/<strong>2018</strong>, S. 648 f.)<br />

beschlossen. Fehler sollen anschließend im laufenden<br />

Betrieb des beA behoben werden.<br />

808 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Ende Juli war bekannt geworden, dass eine<br />

Schwachstelle, die den Zugriff auf sämtliche über<br />

das beA versandte Nachrichten möglich machen<br />

soll, nicht bis zum 3. September behoben werden<br />

kann. Hintergrund ist, das ein neu zu implementierendes<br />

Verfahren, mit dem die zur Verschlüsselung<br />

erforderliche Mindestlänge von Nachrichten<br />

oder die erforderliche Länge von Datenblöcken<br />

erreicht wird (OAEP-Verfahren), nicht so rechtzeitig<br />

eingeführt werden kann, dass die justizinterne<br />

Frist von sechs bis acht Wochen zum<br />

Testen der neuen EGVP-Version vor der verpflichtenden<br />

Inbetriebnahme einzuhalten ist.<br />

Die Kammerpräsidentinnen und -präsidenten übergingen<br />

mit ihrem Beschluss, am Starttermin festzuhalten,<br />

auch eine Forderung des Deutschen<br />

Anwaltvereins (DAV). Dieser hatte zuvor in einer<br />

Initiativstellungnahme, die u.a. auch an den Deutschen<br />

Bundestag und die Bundesministerien des<br />

Inneren und der Justiz adressiert war, die Einhaltung<br />

des Grundsatzes „Sicherheit vor Schnelligkeit“<br />

angemahnt.<br />

Nach Einschätzung der Gutachter, so teilt der DAV<br />

in seiner Stellungnahme mit, sei die Ausnutzbarkeit<br />

des Fehlers zwar niedrig, allerdings sei – weil<br />

potenziell alle im beA gespeicherte Nachrichten<br />

betroffen sind – die Bedrohung der Vertraulichkeit<br />

als hoch zu bewerten. Der Verein fordert daher, die<br />

Implementierung des endgültigen OAEP-Verfahrens<br />

sowohl beim beA als auch mit Blick auf den<br />

Abschluss der justizseitigen Tests abzuwarten.<br />

Eine weitere kurze Verschiebung des Neustarts der<br />

Anwaltspostfächer brächte weder die Justiz noch<br />

die BRAK in Erklärungsnot. Demgegenüber berge<br />

eine Umstellung des OAEP-Verfahrens im laufenden<br />

Betrieb nach Abschluss der Testphase das<br />

Risiko, dass es zu Fehlern und vorübergehenden<br />

Ausfällen beim Postfachsystem komme. Dies könne<br />

zu einem weiteren Vertrauensverlust in die Systeme<br />

des elektronischen Rechtsverkehrs führen.<br />

Unterdessen hat die BRAK entgegen anderslautender<br />

Presseberichten klargestellt, dass sie<br />

sich gegenüber dem Bundesministerium der<br />

Justiz und für Verbraucherschutz weiterhin für<br />

eine vierwöchige Testphase nach der geplanten<br />

Wiederinbetriebnahme des beA einsetzt. Bislang,<br />

so die BRAK, habe das Ministerium aber noch<br />

nicht auf diese Bitte reagiert.<br />

[Quellen: DAV/BRAK]<br />

Besserer Schutz von Geschäftsgeheimnissen<br />

und Whistleblowern<br />

geplant<br />

Die Bundesregierung hat Mitte Juli den vom<br />

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes zur<br />

Umsetzung der Richtlinie (EU) 20<strong>16</strong>/943 zum<br />

Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem<br />

Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und<br />

Offenlegung beschlossen. Mit dieser Richtlinie soll<br />

ein europaweit einheitlicher Mindestschutz für<br />

Geschäftsgeheimnisse erreicht werden. Zugleich<br />

werden erstmals ausdrückliche Regelungen für<br />

den Schutz von Whistleblowern geschaffen.<br />

Kernstück des Gesetzentwurfs ist das neue Gesetz<br />

zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Danach<br />

können Unternehmen bei einer unerlaubten Erlangung,<br />

Nutzung oder Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen<br />

zivilrechtliche Ansprüche wie<br />

Unterlassung und Schadensersatz geltend machen.<br />

Der bereits bestehende Schutz im deutschen Recht<br />

soll damit verbessert und die Rechtssicherheit für<br />

Unternehmen erhöht werden.<br />

Auch der Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor<br />

einer Offenlegung im Rahmen eines gerichtlichen<br />

Verfahrens wird erweitert. So können streitgegenständliche<br />

Informationen bei Einreichung<br />

einer Klage künftig als geheimhaltungsbedürftig<br />

eingestuft werden und dadurch der Personenkreis<br />

begrenzt werden, der Zugang zu Dokumenten<br />

und Verhandlungen hat, in denen Geschäftsgeheimnisse<br />

eröffnet werden.<br />

Das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen<br />

will zugleich dem Schutz von Whistleblowern und<br />

Journalisten Rechnung tragen. Zu diesem Zweck<br />

enthält es Regelungen für Sachverhalte, in denen der<br />

Erwerb, die Nutzung oder die Offenlegung von<br />

Geschäftsgeheimnissen nicht rechtswidrig ist. Das<br />

gilt z.B. für Fälle, in denen die Handlung der Ausübung<br />

der Meinungs- und Informationsfreiheit oder<br />

der Aufdeckung von Fehlverhalten und rechtswidrigen<br />

Handlungen dient.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Familiennachzug für subsidiär<br />

Schutzberechtigte<br />

Seit dem 1. August sind die neuen Regelungen<br />

zum Familiennachzug für Flüchtlinge mit einge-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 809


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

schränktem Schutzstatus in Kraft. Sie können<br />

jetzt wieder engste Angehörige nach Deutschland<br />

nachziehen lassen.<br />

Die Neuregelung sieht vor, dass bundesweit pro<br />

Monat nicht mehr als 1.000 Personen nachziehen<br />

dürfen. Erwachsene sollen ihre Ehepartner und<br />

minderjährige Kinder zu sich holen dürfen, unbegleitete<br />

Minderjährige ihre Eltern. Ein Rechtsanspruch<br />

wird damit aber nicht begründet, der<br />

Nachzug soll vielmehr nur aus humanitären<br />

Gründen erfolgen. Hierzu sind u.a. die Dauer der<br />

Trennung, das Kindeswohl und die Frage, ob den<br />

Angehörigen Gefahr droht, zu berücksichtigen.<br />

Zudem ist darauf abzustellen, ob jemand krank<br />

bzw. pflegebedürftig ist oder ob er zur Sicherung<br />

des Familienunterhalts beiträgt.<br />

Der Nachzug wird im Rahmen des Visumverfahrens<br />

gewährt. Hier sind insgesamt drei Behörden<br />

involviert: Die Ausländerbehörde, die Auslandsvertretungen<br />

sowie das Bundesverwaltungsamt,<br />

das die endgültige Auswahlentscheidung trifft.<br />

Ausnahmen für den Familiennachzug sind für<br />

sog. Gefährder vorgesehen, ebenso für Menschen,<br />

die zu Hass gegen Teile der Bevölkerung<br />

aufrufen, einen verbotenen Verein leiten oder<br />

sich zur Verfolgung politischer und religiöser<br />

Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen. [Red.]<br />

Neue Verschärfungen im Asylrecht<br />

beschlossen<br />

Die Bundesregierung hat Anfang August erneut<br />

Änderungen im Asylrecht beschlossen. Künftig<br />

sollen Schutzberechtigte zur Mitwirkung verpflichtet<br />

werden, wenn es zu einem Widerrufsund<br />

Rücknahmeverfahren kommt. Zudem müssen<br />

nach drei Jahren die im Asylverfahren getroffenen<br />

Entscheidungen überprüft werden.<br />

Bislang besteht eine ausdrückliche Regelung zur<br />

Mitwirkungspflicht der Betroffenen lediglich im<br />

Asylantragsverfahren, nicht aber in Widerrufs- und<br />

Rücknahmeverfahren. Künftig werden die Schutzberechtigten<br />

auch in letzteren zur Mitwirkung<br />

verpflichtet. Diese Neuregelung setzt eine Vereinbarung<br />

aus dem Koalitionsvertrag um. Die Mitwirkungspflicht<br />

der Betroffenen hat bei der Überprüfung<br />

der Asylbescheide des Bundesamts für<br />

Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheidende<br />

Bedeutung: Dem BAMF würden hierdurch, so die<br />

Begründung, künftig mehr Informationen vorliegen.<br />

Damit könne die Prüfung umfassender und<br />

effektiver durchgeführt werden.<br />

Bei einem Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht<br />

ohne hinreichende Gründe oder ohne unverzügliches<br />

Nachholen wird das BAMF ermächtigt, den<br />

Schutzberechtigten mit den Mitteln des Verwaltungszwangs<br />

– insbesondere des Zwangsgelds<br />

und unter weiteren Voraussetzungen auch der<br />

Zwangshaft – zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten<br />

anzuhalten.<br />

Zudem muss künftig spätestens nach drei Jahren<br />

bei einer Asyl-Entscheidung geprüft werden, ob<br />

die Voraussetzungen für einen Widerruf oder für<br />

eine Rücknahme vorliegen. Wenn die Prüfung<br />

ergibt, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung<br />

als Asylberechtigter oder die Zuerkennung<br />

der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht<br />

mehr vorliegen, muss diese unverzüglich widerrufen<br />

bzw. zurückgenommen werden.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Bekämpfung des Steuerbetrugs<br />

im Online-Handel<br />

Beschlossen hat das Bundeskabinett auch einen<br />

vom Bundesfinanzministerium erarbeiteten Gesetzentwurf<br />

zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs<br />

beim Handel mit Waren im Internet.<br />

Durch Steuerbetrug im Internet entsteht dem<br />

Fiskus nach Angaben der Regierung jedes Jahr ein<br />

immenser Schaden. Vor allem ausländische Händler,<br />

die ihrer Steuerpflicht nicht nachkommen, sind<br />

für die Behörden schwer greifbar. Deshalb sollen<br />

künftig die Betreiber elektronischer Marktplätze<br />

stärker in die Verantwortung genommen werden.<br />

Sie haften dann selbst für nicht abgeführte Umsatzsteuern<br />

ihrer Händler. Das soll neben den<br />

Steuermehreinnahmen auch die steuerehrlichen<br />

Unternehmen vor Wettbewerbsnachteilen bewahren.<br />

Die geplante Regelung wird Teil des Jahressteuergesetzes<br />

<strong>2018</strong>.<br />

Bereits ab Januar 2019 sollen alle Betreiber elektronischer<br />

Marktplätze dazu verpflichtet werden,<br />

bestimmte Daten der Verkäufer zu erfassen, um<br />

eine Prüfung der Steuerbehörden zu ermöglichen.<br />

810 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Darüber hinaus können Betreiber für nicht entrichtete<br />

Umsatzsteuern aus dem Handel über ihre<br />

Plattform in Haftung genommen werden. Vor<br />

allem in Drittländern ansässige Unternehmen, die<br />

in Deutschland steuerlich nicht registriert sind,<br />

verletzen auf elektronischen Marktplätzen häufig<br />

ihre hier bestehenden steuerlichen Pflichten. Insbesondere<br />

führen sie für ihre Umsätze, die sie in<br />

Deutschland aus den Verkäufen erzielen, keine<br />

Umsatzsteuer ab.<br />

Da die Bundesländer für die Kontrolle und<br />

Erhebung der Umsatzsteuer zuständig sind, wird<br />

eine enge Zusammenarbeit der Behörden angestrebt.<br />

Bund und Länder haben bereits in einer<br />

gemeinsamen Arbeitsgruppe eine nationale Regelung<br />

im Einklang mit EU-Recht erarbeitet.<br />

Diese umfasst zwei Kernelemente:<br />

• Alle Betreiber elektronischer Marktplätze sollen<br />

dazu verpflichtet werden, bestimmte Daten<br />

von Verkäufern zu erfassen, u.a. Name,<br />

vollständige Anschrift, Steuernummer, Versand-<br />

und Lieferadresse, Zeitpunkt und Höhe<br />

des Umsatzes.<br />

• Die Betreiber sollen für nicht entrichtete<br />

Steuern aus Lieferungen haften, die über ihren<br />

elektronischen Marktplatz rechtlich begründet<br />

wurden. Hiervon können sie sich befreien,<br />

wenn sie gewisse Aufzeichnungspflichten erfüllen<br />

oder steuerunehrliche Händler von<br />

ihrem Marktplatz ausschließen.<br />

Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende des<br />

Jahres abgeschlossen sein, so dass die neue<br />

Regelung am 1.1.2019 in Kraft treten kann.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Immer mehr Kontenabfragen<br />

durch Behörden<br />

In den vergangenen Jahren ist das Bankgeheimnis<br />

zunehmend ausgehöhlt worden. Die neuen<br />

Möglichkeiten nutzen offenbar immer mehr<br />

Steuerbehörden, Sozialämter und Gerichtsvollzieher<br />

aus. Wie die Wirtschaftspresse kürzlich<br />

berichtete, haben die Behörden im ersten Halbjahr<br />

<strong>2018</strong> bei der Verfolgung von Steuerbetrug,<br />

Sozialmissbrauch und säumigen Privatschuldnern<br />

so häufig Daten von Bankkunden beim<br />

Bundeszentralamt für Steuern abgefragt wie<br />

nie zuvor.<br />

Die Zahl sei regelrecht explodiert, wie es in den<br />

Berichten heißt. Sie stieg von 57.000 im Jahr 2010<br />

auf 692.000 im Jahr 2017. Und in diesem Jahr<br />

dürfte dieser Rekord nochmals deutlich übertroffen<br />

werden: Allein im ersten Halbjahr <strong>2018</strong> gingen<br />

391.442 Kontenabrufe beim Bundeszentralamt<br />

ein. Damit gab es in den ersten sechs Monaten<br />

38 % mehr Anfragen als im Vorjahreszeitraum mit<br />

283.000 Abfragen.<br />

Ursprünglich wurde die Kontenabfrage allein<br />

zur Terrorismusbekämpfung eingeführt. Doch<br />

mit der Zeit bekamen immer mehr Stellen Zugriff<br />

auf die Bankkonten. So dürfen seit 2005 Finanzämter<br />

und Sozialbehörden die Konten von<br />

Bürgern ermitteln, um, so hieß es, „Steuerbetrügern<br />

und Sozialschmarotzern auf die Schliche<br />

zu kommen“. Seit 2013 haben zusätzlich<br />

Gerichtsvollzieher das Recht, Kontodaten abzufragen.<br />

Diese Entwicklung wird unterschiedlich beurteilt.<br />

Während etwa die Steuer-Gewerkschaft die gewachsene<br />

Transparenz für richtig hält, um sowohl<br />

den Staat vor Sozialmissbrauch und Steuerhinterziehung<br />

als auch private Gläubiger vor zahlungsunwilligen<br />

Schuldnern zu schützen, warnen<br />

Datenschützer vor dem „gläsernen Bürger“. Die<br />

Bundesdatenschutzbeauftragte ANDREA VOßHOFF<br />

hat kürzlich darauf hingewiesen, dass mit der<br />

steigenden Zahl der Abrufe auch das Risiko für<br />

fehlerhafte Datenübermittlungen oder Personenverwechslungen<br />

steigt. Für die Betroffenen hat das<br />

jeweils äußerst unangenehme Folgen wie z.B.<br />

Kontensperrungen. Der Gesetzgeber solle daher<br />

prüfen, so VOßHOFF, ob weit gestreute Abrufbefugnisse<br />

wie beim Kontenabrufverfahren wirklich<br />

zwingend erforderlich seien.<br />

[Red.]<br />

Quote der SGB-II-Leistungsempfänger<br />

an der Bevölkerung<br />

Der Anteil der Leistungsberechtigten in der<br />

Grundsicherung für Arbeitsuchende an der Bevölkerung<br />

unter der Regelaltersgrenze (SGB-II-<br />

Quote) belief sich im Jahr 2017 im Jahresdurchschnitt<br />

auf 9,3 %. Dies teilte die Bundesregierung<br />

kürzlich mit (BT-Drucks 19/31<strong>16</strong>). Der Anteil der<br />

erwerbsfähigen Leistungsberechtigten an der Bevölkerung<br />

im erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren<br />

bis zur Regelaltersgrenze betrug im Jahr 2017<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 811


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

jahresdurchschnittlich 8 %, für deutsche Staatsangehörige<br />

6,1 % und für ausländische Staatsangehörige<br />

20,1 %.<br />

Bei den Langzeitarbeitslosen ergab sich für 2017<br />

folgendes Bild: Der Anteil der erwerbsfähigen<br />

Leistungsberechtigten, die ein Jahr und länger<br />

arbeitslos waren, an der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />

Alter von 15 Jahren bis zur Regelaltersgrenze<br />

belief sich im Jahresdurchschnitt auf 1,4 %.<br />

Für deutsche Staatsangehörige betrug der Anteil<br />

1,3 %, für ausländische Staatsangehörige belief<br />

sich der Anteil auf 2,4 %. Der Anteil der erwerbsfähigen<br />

Leistungsberechtigten, die fünf Jahre und<br />

länger arbeitslos waren, an der Bevölkerung im<br />

erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren bis zur Regelaltersgrenze<br />

betrug im Jahr 2017 im Jahresdurchschnitt<br />

0,3 %. Für deutsche Staatsangehörige<br />

belief sich der Anteil auf 0,2 % und für ausländische<br />

Staatsangehörige auf 0,4 %.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Zentrales Implantateregister<br />

geplant<br />

Die Bundesregierung hält an ihren bereits in der<br />

letzten Legislaturperiode begonnenen Planungen<br />

für ein zentrales Implantateregister fest. Der<br />

Referentenentwurf für ein solches Gesetz solle<br />

im zweiten Halbjahr <strong>2018</strong> vorgelegt werden, teilte<br />

die Regierung im Juli mit (BT-Drucks 19/3193). Das<br />

Register soll direkt nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens<br />

den Betrieb aufnehmen.<br />

Mit dem Register soll die Sicherheit und Qualität<br />

von Implantaten sowie der medizinischen Versorgung<br />

bei Implantationen verbessert werden.<br />

Dazu würden insbesondere durch Erfassung von<br />

Implantationen und Revisionsoperationen die<br />

sog. Standzeiten der Implantate ermittelt und<br />

bewertet.<br />

Die Regierung verweist auf bereits geleistete<br />

umfangreiche Vorarbeiten, um die Einbeziehung<br />

schon bestehender Register zu gewährleisten.<br />

Unter anderem sei die Weiterentwicklung des<br />

Endoprothesenregisters Deutschland (EPRD) mit<br />

Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit<br />

(BMG) gefördert und fachlich begleitet worden.<br />

Auch sei eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter<br />

Beteiligung des Bundesinstituts für Arzneimittel<br />

und Medizinprodukte (BfArM) und des Deutschen<br />

Instituts für Medizinische Dokumentation und<br />

Information (DIMDI) gebildet worden, welche<br />

die Zielsetzung des Registers konkretisiert und<br />

grundsätzliche Überlegungen zu Struktur und<br />

Organisation des Registers diskutiert habe.<br />

Um zu neutralen Auswertungen zu kommen und<br />

die datenschutzrechtlichen Vorgaben zu gewährleisten,<br />

sollen die Daten beim DIMDI zentral<br />

gesammelt werden. Geliefert werden die Daten<br />

von Krankenhäusern, Krankenversicherungen<br />

und Herstellern. Zunächst soll das Register mit<br />

wenigen Produkten starten und dann ausgebaut<br />

werden. Gesammelt werden sollen sowohl die<br />

Daten von gesetzlich als auch von privat Versicherten.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Ausgebremste Mietpreisbremser<br />

Dass die Mieten trotz der gesetzlichen Mietpreisbremse<br />

vielerorts weiter ungebremst steigen,<br />

hat sich inzwischen herumgesprochen. Aus<br />

diesem Grund will jetzt u.a. der Gesetzgeber<br />

wieder tätig werden (vgl. auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin<br />

15/<strong>2018</strong>, S. 763). Einer der Gründe,<br />

warum die Bremse nicht richtig funktioniert, ist,<br />

dass sich die Vermieter vielfach einfach nicht<br />

daran halten. Die Konsequenzen eines Verstoßes<br />

halten sie offenbar für überschaubar.<br />

Dabei ließe sich seitens der Mieter – haben sie<br />

erst einmal alle Eckdaten beisammen – relativ<br />

einfach ausrechnen, ob sich ihr Hauseigentümer<br />

an die gesetzlichen Vorgaben hält. Dies hat findige<br />

Existenzgründer auf den Plan gerufen, die<br />

entsprechende Berechnungsprogramme ins Internet<br />

gestellt haben. Portale wie etwa „Mietwaechter.de“,<br />

„Wirsparendeinemiete.de“, „wenigermiete.de“<br />

oder „Mietbuddy.de“ haben den<br />

Versuch unternommen, niederschwellige Angebote<br />

für solche Mieter zu entwickeln, die den<br />

Gang zum Anwalt nicht wagen, um es sich nicht<br />

mit ihrem Vermieter zu verderben. Das Geschäftsmodell<br />

sieht i.d.R. so aus, dass der Mieter<br />

auf der Webseite alle relevanten Daten zur Miete<br />

in ein Online-Formular einträgt und anschließend<br />

vom Programm ausrechnen lässt, ob er zu viel<br />

zahlt. Gelingt es, die Miete zu mindern, muss er<br />

eine Provision in Höhe einiger Monatsersparnisse<br />

an das Internetunternehmen zahlen.<br />

812 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Allerdings sind viele dieser neuen Startup-Unternehmen<br />

auch schon wieder vom Markt verschwunden.<br />

Grund ist, dass sie alsbald Ärger mit<br />

den örtlichen Rechtsanwaltskammern (RAK) bekommen<br />

haben, die hier einen Verstoß gegen das<br />

Rechtsberatungsgesetz witterten und entsprechende<br />

Unterlassungs- und Verpflichtungserklärungen<br />

eingetrieben haben. Nach Auffassung<br />

der Anwaltskammern dürfen die Portale zwar<br />

Forderungen einziehen, aber keine rechtliche<br />

Beratung anbieten. „Die Problematik der Legal-<br />

Tech-Firmen besteht darin, dass sie i.d.R. über eine<br />

Inkassoerlaubnis verfügen, darüber hinaus aber<br />

Rechtsdienstleistungen erbringen, zu denen sie nicht<br />

befugt sind“, wurde kürzlich der Geschäftsführer<br />

der RAK Berlin zitiert.<br />

Das Berliner Mietrechtsportal „wenigermiete.de“<br />

will die ihm zugegangene Abmahnung allerdings<br />

nicht hinnehmen und wagt den Gang vor die Gerichte.<br />

Die Gründer verweisen darauf, dass hinter<br />

ihrem Internetangebot eine zugelassene Rechtsdienstleistungs-GmbH<br />

steht, die alle nötigen Lizenzen<br />

besitzen soll. Auch hätten sie vor dem<br />

LG Berlin bereits ein Urteil gegen eine zahlungsunwillige<br />

Kundin erstritten; das Landgericht habe<br />

sich dabei eingehend auch mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz<br />

auseinandergesetzt. Der<br />

Berliner Anwaltskammer werfen sie vor, unter<br />

dem Vorwand des Verbraucherschutzes allein<br />

ihre Mitglieder vor unliebsamer Konkurrenz<br />

schützen zu wollen.<br />

Am Ende werden wieder einmal die Gerichte<br />

entscheiden. Das Urteil in dem Fall des Mietpreisbremse-Startups<br />

könnte sogar Signalwirkung<br />

weit über das Mietrecht hinaus entfalten.<br />

Experten verweisen darauf, dass es zahlreiche<br />

Felder gibt, auf denen automatisierte Programme<br />

den Gang zum Anwalt ersparen könnten.<br />

Nicht umsonst taucht das Stichwort „Legal-<br />

Tech“ immer häufiger in der rechtspolitischen<br />

Diskussion und auf Tagungen auf. [Red.]<br />

Freie Berufe verbuchen solides<br />

Wachstum<br />

Während bei den Anwaltszulassungen mittlerweile<br />

Stagnation zu verzeichnen ist (vgl. <strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin 8/<strong>2018</strong>, S. 361), vermerkt eine<br />

Studie des Bundesverbands der Freien Berufe<br />

(BFB) nun einen Anstieg der selbstständigen<br />

Freiberufler: Insgesamt stieg ihre Anzahl um<br />

1,8 % auf 1,407 Mio. Personen an. Bei den rechts-,<br />

wirtschafts- und steuerberatenden Freiberuflern<br />

konnte mit 2,9 % der zweithöchste Zuwachs<br />

verzeichnet werden. Mit 3,8 % legte nur<br />

der Anteil der technisch-naturwissenschaftlichen<br />

Freiberufler noch mehr zu. Die Statistik<br />

mit Stand 1.1.<strong>2018</strong> weist folgende Zahlen aus:<br />

Am stärksten gewachsen ist im vergangenen<br />

Jahr die Gruppe der technisch-naturwissenschaftlichen<br />

Freiberufler; sie stieg von 261.000<br />

auf 271.000 Personen an. Es folgen die rechts-,<br />

wirtschafts- und steuerberatenden Freiberufler,<br />

zu denen nach 379.000 nunmehr 390.000<br />

Personen zählen. Die freien Heilberufe wachsen<br />

um 0,7 % von 414.000 auf 417.000 Berufsträger.<br />

Bei den freien Kulturberufen steigt<br />

die Zahl um 0,3 % von 328.000 auf 329.000<br />

Personen.<br />

3,46 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte<br />

arbeiten mittlerweile bei einem Freiberufler,<br />

ein Jahr zuvor waren es 3,3 Mio. Personen.<br />

Dies ist ein Anstieg um 4,9 %. Eine leichte<br />

Zunahme von 0,7 % gab es bei den Auszubildenden.<br />

Deren Zahl kletterte von 123.100 auf<br />

124.000. Die Zahl der mitarbeitenden, nicht<br />

sozialversicherungspflichtigen Familienangehörigen<br />

stieg von 301.000 auf 307.000 Personen<br />

und somit um 2 %.<br />

In Summe sind 5.298.000 Personen in den Freien<br />

Berufen tätig – ein Plus von knapp 3,8 % gegenüber<br />

5.105.100 Personen im Vorjahr.<br />

BFB-Präsident Prof. Dr. WOLFGANG EWER kommentierte<br />

die Entwicklung u.a. wie folgt: „Ein ums<br />

andere Jahr verbuchen die Freien Berufe ein solides<br />

Wachstum für sich. Das ist umso außerordentlicher,<br />

da angesichts der guten Lage am Arbeitsmarkt das<br />

Interesse an einer Selbstständigkeit eher gedämpft<br />

ist und der Trend zum Angestellten-Dasein geht.<br />

Die Nachfrage nach Dienstleistungen der Freien<br />

Berufe steigt durch den ungebrochenen Trend zur<br />

Tertiarisierung weiter. Das weist den Freien Berufen<br />

eine Schlüsselrolle in der Dienstleistungsgesellschaft<br />

zu. Auch als Arbeitgeber und Ausbilder sind die Freien<br />

Berufe wertvoll. Bemerkenswert ist dabei, dass jeder<br />

zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte<br />

Mitglied in einem Freiberufler-Team ist. Ein erfreuliches<br />

Verhältnis, das so bald nicht umschlagen wird.<br />

Schließlich hat die jüngste, Mitte Juni veröffentlichte<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 813


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

BFB-Konjunkturumfrage ergeben, dass 15 % der<br />

Befragten in zwei Jahren noch mehr Mitarbeiter<br />

beschäftigen wollen“.<br />

[Quelle: BFB]<br />

EU-Kommission mahnt Einhaltung<br />

des Unionsrechts an<br />

Nach Auffassung der EU-Kommission besteht bei<br />

der Einhaltung des EU-Rechts in den einzelnen<br />

Mitgliedstaaten noch Verbesserungsbedarf. Sie<br />

verweist auf den Mitte Juli vorgelegten Jahresbericht<br />

für 2017 über die Kontrolle der Anwendung<br />

des Unionsrechts.<br />

Danach ging 2017 die Zahl neuer Vertragsverletzungsverfahren<br />

wegen verspäteter Umsetzung<br />

um 34 % zurück (von 847 im Jahr 20<strong>16</strong><br />

auf 558 im Jahr 2017) und nähert sich nun wieder<br />

dem Niveau von 2015 (543) an. Neue Vertragsverletzungsverfahren<br />

gegen die Mehrzahl<br />

der Mitgliedstaaten hat die Kommission wegen<br />

Nichtumsetzung der Richtlinien über den Verbrauch<br />

von Plastiktüten, über Abfälle und über<br />

die Verkehrssicherheit von Fahrzeugen eingeleitet.<br />

Klage beim Gerichtshof der EU wurde<br />

gegen fünf Mitgliedstaaten eingereicht; in ihnen<br />

forderte die Kommission die Verhängung finanzieller<br />

Sanktionen.<br />

In dem zeitgleich mit dem Jahresbericht vorgelegten<br />

„Binnenmarktanzeiger“ zeigt die EU-<br />

Kommission auf, dass die Mitgliedstaaten beim<br />

Ausbau des Binnenmarkts – etwa bei der<br />

Anerkennung von Berufsqualifikationen, der Umsetzung<br />

von Binnenmarktvorschriften und der<br />

Entwicklung von Tools zur Unterstützung des<br />

reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts<br />

– in der Praxis besser geworden sind. Zugleich<br />

werden aber auch mehr „rote Karten“ in den<br />

Bereichen Offenheit für den grenzüberschreitenden<br />

Waren- und Dienstleistungsverkehr, Fairness<br />

der öffentlichen Auftragsvergabe und Zahl der<br />

Vertragsverletzungsverfahren vergeben.<br />

Die wirksame Anwendung des Unionsrechts sei<br />

– so die Kommission – die Voraussetzung dafür,<br />

dass Bürger und Unternehmen in den Genuss<br />

der damit verbundenen Vorteile kommen. Eine<br />

Vorschrift, und sei sie noch so sorgfältig vorbereitet<br />

und ausgearbeitet worden, sei nur so<br />

wirksam wie ihre Anwendung. Deshalb gehe es<br />

für die Kommission bei der Verfolgung ihrer<br />

vorrangigen politischen Ziele nicht nur darum,<br />

neue Rechtsvorschriften vorzuschlagen, sondern<br />

auch darum, deren ordnungsgemäße Anwendung<br />

sicherzustellen. So habe sie im vergangenen<br />

Jahr konsequent die Durchsetzung der<br />

Vorschriften auf den Gebieten des Datenschutzes,<br />

der Migration, des Verbraucherschutzes, der<br />

Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung<br />

oder der Verbesserung der<br />

Luftqualität betrieben.<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

Empfehlungen zur Ausbildungsvergütung<br />

Vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres hat die<br />

Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) eine aktualisierte<br />

Übersicht über die von den regionalen<br />

Rechtsanwaltskammern empfohlene Ausbildungsvergütung<br />

für angehende Rechtsanwaltsbzw.<br />

Rechtsanwalts- und Notar-Fachangestellte<br />

erstellt. In der Tabelle mit Stand Juli <strong>2018</strong> finden<br />

sich Empfehlungen für die Ausbildungsvergütung<br />

im ersten, zweiten und dritten Lehrjahr.<br />

Im Vergleich zur letzten Auswertung im Jahr 2017<br />

sind die Durchschnittswerte für das erste Ausbildungsjahr<br />

um ca. 4,9 %, für das zweite Ausbildungsjahr<br />

um 4,7 % und für das dritte Ausbildungsjahr<br />

um 4 % gestiegen. Die Empfehlungen<br />

sind aber weiterhin regional stark unterschiedlich.<br />

Sie reichen je nach Kammerbezirk jetzt von<br />

310–850 € (Bundesdurchschnitt: 559,50 €) im<br />

ersten Ausbildungsjahr und von 550–1.050 €<br />

(Bundesdurchschnitt: 751 €) im dritten Ausbildungsjahr.<br />

Die Vergütungsempfehlungen sind z.T. auf<br />

den Internetseiten der regionalen Rechtsanwaltskammern,<br />

meist in der Rubrik „Ausbildung“,<br />

einsehbar, bei der BRAK unter der Adresse<br />

https://www.brak.de/w/files/newsletter_archiv/berlin/<br />

<strong>2018</strong>/<strong>2018</strong>_stand_juli_ausbildungsverguetungrefa_reno.<br />

pdf.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

814 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 125<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/zap/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Aufwendungsersatzanspruch: Verjährung<br />

(BGH, Urt. v. 5.7.<strong>2018</strong> – III ZR 273/<strong>16</strong>) • Die Ansprüche auf Ersatz von Aufwendungen, die im Rahmen<br />

einer mehraktigen Geschäftsbesorgung in aufeinander folgenden Jahren getätigt worden sind,<br />

entstehen sukzessive und verjähren dementsprechend nacheinander. Der Anspruch entsteht nicht<br />

bereits mit der ersten Aufwendung einheitlich auch für alle nachfolgenden Aufwendungen und kann<br />

nicht schon dann mit der Feststellungsklage gerichtlich geltend gemacht werden. Ein feststellungsfähiges<br />

Rechtsverhältnis besteht nur wegen der in der Vergangenheit liegenden Aufwendungen, die der<br />

Geschäftsführer bereits getätigt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 452/<strong>2018</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Sachmangel: Fehlerhafte Herkunftszuordnung eines Kunstwerks im Auktionskatalog<br />

(OLG Frankfurt, Urt. v. 3.5.<strong>2018</strong> – 19 U 188/15) • Die Echtheit eines Kunstwerks im Sinne seiner Herkunft<br />

aus der Hand eines konkreten Künstlers bestimmt maßgeblich die Eignung eines Kunstwerks<br />

als Sammlerstück und Wertanlage und bildet daher regelmäßig dessen zentrale Eigenschaft für seine<br />

– im Rahmen eines Kaufvertrags sowohl vorausgesetzte wie gewöhnliche – Verwendung. Eine<br />

Zeichnung, die entgegen der vom Verkäufer erstellten Katalogbeschreibung nicht der Hand des<br />

konkret benannten Künstlers zuzuordnen ist, ist mangelhaft. Arglist ist schon dann anzunehmen,<br />

wenn der Verkäufer ohne tatsächliche Grundlage unrichtige Angaben über die Mängelfreiheit oder<br />

über wesentliche Eigenschaften der Kaufsache macht, die geeignet sind, den Kaufentschluss des<br />

Käufers mitzubeeinflussen. Der die Arglist begründende Vorwurf gegenüber dem Verkäufer liegt in<br />

einem solchen Fall in dem Umstand, dass der Erklärende, obschon ihm bewusst ist, dass ihm die zur<br />

sachgemäßen Beantwortung erforderliche Kenntnis fehlt, diesen Umstand gleichwohl gegenüber dem<br />

anderen Teil verschweigt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 453/<strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Maklervertrag: Provisionsanspruch bei Vermittlung von Wohnräumen<br />

(BGH, Urt. v. 22.2.<strong>2018</strong> – I ZR 38/17) • Nach der Zielsetzung des Wohnungsvermittlungsgesetzes<br />

(WoVermittG) verliert der Wohnungsvermittler seinen Provisionsanspruch nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 815


Fach 1, Seite 126 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

WoVermittG i.d.R. auch dann, wenn er selbst oder – wenn es sich bei ihm um eine juristische Person<br />

handelt – sein Organ zum Zeitpunkt der Vermittlung oder des Nachweises der Gelegenheit zum<br />

Abschluss des Mietvertrags oder beim Abschluss des Mietvertrags Gehilfe des Verwalters der<br />

vermittelten Wohnung ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 454/<strong>2018</strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Transportrecht: Verlust des Transportguts<br />

(BGH, Urt. v. 26.4.<strong>2018</strong> – I ZR 269/<strong>16</strong>) • Bei einem Streit über die Ursachen des Verlusts von Transportgut<br />

und des Verschuldens des Transportunternehmens hat das Berufungsgericht nach § 538 Abs. 1 ZPO die<br />

notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Nur ausnahmsweise darf es<br />

die Sache nach § 538 Abs. 2 ZPO, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des<br />

Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweisen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 455/<strong>2018</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

WEG: Unwirksame Zustellung an einen ehemaligen Verwalter<br />

(BGH, Urt. v. 20.4.<strong>2018</strong> – V ZR 202/<strong>16</strong>) • Führt der ehemalige Verwalter über das Ende seiner Bestellungszeit<br />

die Verwaltung fort, ist er nicht mehr nach § 45 Abs. 1 WEG Zustellungsvertreter der Wohnungseigentümer.<br />

Die Zustellung an den Verwalter ist unwirksam, wenn sie vor Beginn oder nach dem Ende seiner Bestellung<br />

erfolgt. Die Regelung des § 45 Abs. 1 WEG ist auch nicht entsprechend anwendbar, wenn der ehemalige<br />

Verwalter nach Ablauf seiner Bestellungszeit noch als Verwalter tätig ist. Für eine entsprechende<br />

Anwendung fehlt es bereits an einer Regelungslücke. Ist die Bestellung des Verwalters abgelaufen oder ein<br />

bestellter Verwalter aus anderen Gründen nicht vorhanden, kann die Zustellung entweder direkt an die<br />

beklagten Wohnungseigentümer oder in entsprechender Anwendung von § 45 Abs. 2 WEG an den von den<br />

Wohnungseigentümern bestellten Ersatzzustellungsvertreter oder nach § 45 Abs. 3 WEG an einen durch<br />

das Gericht bestellten Ersatzzustellungsvertreter erfolgen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 456/<strong>2018</strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Darlehen: Verjährung von Rückzahlungsansprüchen<br />

(BGH, Urt. v. 21.6.<strong>2018</strong> – IX ZR 129/17) • Darlehensrückzahlungsansprüche verjähren nach § 195 BGB in drei<br />

Jahren. Gemäß § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der<br />

Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den, den Anspruch begründenden Umständen und der<br />

Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste. Der Anspruch<br />

auf Darlehensrückzahlung ist in diesem Sinne entstanden, sobald er im Wege der Klage geltend gemacht<br />

werden kann. Voraussetzung hierfür ist grds. die Fälligkeit des Rückzahlungsanspruchs. Diese hängt, wenn<br />

eine Zeit für die Rückzahlung des Darlehens nicht bestimmt war, von einer Kündigung ab, i.Ü. vom Ablauf<br />

der vereinbarten Zeit. Zwar liegt in der vorbehaltlosen Teilzahlung ebenso wie in der vorbehaltlosen<br />

Zinszahlung ein Anerkenntnis i.S.d. § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Wenn das in der Raten- oder Zinszahlung liegende<br />

Anerkenntnis jedoch vor Beginn der Verjährung erfolgte, war es nicht geeignet, den Neubeginn der<br />

Verjährung zu erreichen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 457/<strong>2018</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Dashcam-Aufnahmen: Verwertung im Zivilprozess<br />

(BGH, Beschl. v. 15.5.<strong>2018</strong> – VI ZR 233/17) • Die permanente und anlasslose Aufzeichnung des<br />

Verkehrsgeschehens ist mit den datenschutzrechtlichen Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes<br />

8<strong>16</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 127<br />

grds. nicht vereinbar. Die Verwertung von sog. Dashcam-Aufzeichnungen, die ein Unfallbeteiligter vom<br />

Unfallgeschehen gefertigt hat, als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess ist dennoch zulässig.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 458/<strong>2018</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Deckungsprozess: Prüfungsumfang bei Vorwegnahme<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 2.5.<strong>2018</strong> – 4 U 1782/17) • Eine Prüfung der Ansprüche des geschädigten Dritten<br />

erfolgt auch im vorweggenommenen Deckungsprozess des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtversicherer<br />

grds. nicht. Geringfügige Abweichungen zum Schadenshergang in unterschiedlichen<br />

Einlassungen des Versicherungsnehmers, deren Einfluss auf das Regulierungsverhalten des Versicherers<br />

nicht auf der Hand liegen, rechtfertigen den Schluss auf eine arglistige Täuschung nicht.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 459/<strong>2018</strong><br />

Familienrecht<br />

Nichteheliche Lebensgemeinschaft: Beschränkung des Ausgleichsanspruchs<br />

(BGH, Urt. v. 11.7.<strong>2018</strong> – XII ZR 108/17) • Nutzt ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit<br />

Duldung des anderen das im hälftigen Miteigentum beider stehende Haus nach der Trennung weiterhin<br />

und trägt wie bisher die Lasten, ohne zu erkennen zu geben, einen hälftigen Ausgleich geltend machen<br />

zu wollen, und ohne dass der andere Partner ihm ein Nutzungsentgelt abverlangt, so ist sein<br />

Ausgleichsanspruch in Höhe des hälftigen Nutzungswerts des Anwesens beschränkt. Zur Bestimmung<br />

des Nutzungswerts kann mit sachverständiger Hilfe die für das Hausanwesen erzielbare monatliche<br />

Marktmiete ermittelt und hiervon die Hälfte angesetzt werden. Hinweis: Fortführung der Senats-Rspr.<br />

(vgl. Urt. v. 13.1.1993 – XII ZR 212/90; Beschl. v. 20.5.2015 – XII ZB 314/14). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 460/<strong>2018</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Digitaler Nachlass: Vererbbarkeit von Benutzerkonten sog. sozialer Netzwerke<br />

(BGH, Urt. v. 12.7.<strong>2018</strong> – III ZR 183/17) • Beim Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks geht der<br />

Nutzungsvertrag grds. nach § 1922 BGB auf dessen Erben über. Dem Zugang zu dem Benutzerkonto und<br />

den darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalten stehen weder das postmortale Persönlichkeitsrecht<br />

des Erblassers noch das Fernmeldegeheimnis oder das Datenschutzrecht entgegen. Hinweis: Der BGH<br />

weist u.a. auch darauf hin, dass höchstpersönliche analoge Dokumente, z.B. Tagebücher und Briefe,<br />

vererbt werden können. Digitale Inhalte sind aus Sicht des BGH nicht anders zu behandeln (zur<br />

Entscheidung des BGH s. auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 15/<strong>2018</strong>, S. 465 f.). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 461/<strong>2018</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Fristberechnung: Silvester kein gesetzlicher Feiertag<br />

(BFH, Beschl. v. 20.3.<strong>2018</strong> – III B 135/17) • Der 31. Dezember ist bei der Fristberechnung nicht einem<br />

gesetzlichen Feiertag gleichzustellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 462/<strong>2018</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Insolvenzverwalter: Verwertungsrecht bei Finanzierungsleasing<br />

(BGH, Urt. v. 11.1.<strong>2018</strong> – IX ZR 295/<strong>16</strong>) • Beim Finanzierungsleasing scheidet ein Verwertungsrecht des<br />

Insolvenzverwalters aus, wenn der Schuldner die Sache dem Leasingnehmer für eine feste, nicht<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 817


Fach 1, Seite 128 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

ordentlich kündbare Grundlaufzeit überlassen hat und bei deren Ablauf eine Vollamortisation erlangt,<br />

weil der Leasingnehmer aufgrund der vertraglichen Regelungen – sei es auch erst in Verbindung mit<br />

besonderen Vertragsbestimmungen wie einer Abschlusszahlung, einer Restwertgarantie, einer Kaufoption<br />

oder einem Andienungsrecht – insgesamt einen Betrag zu zahlen hat, der das vom Schuldner für<br />

die Anschaffung der Sache eingesetzte Kapital zzgl. Verzinsung und Gewinn erreicht oder übersteigt.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 463/<strong>2018</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Gesellschafterstreit: Eingriff in das Unternehmerpersönlichkeitsrecht<br />

(BGH, Urt. v. <strong>16</strong>.1.<strong>2018</strong> – VI ZR 498/<strong>16</strong>) • Bei Äußerungen, in denen sich wertende und tatsächliche<br />

Elemente in der Weise vermengen, dass die Äußerung insgesamt als Werturteil anzusehen ist, fällt bei<br />

der Abwägung maßgeblich der Wahrheitsgehalt der tatsächlichen Bestandteile ins Gewicht. Enthält die<br />

Meinungsäußerung einen erwiesenen falschen oder bewusst unwahren Tatsachenkern, so tritt das<br />

Grundrecht der Meinungsfreiheit regelmäßig hinter die Schutzinteressen des von der Äußerung<br />

Betroffenen zurück. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen dagegen i.d.R. hingenommen werden.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 464/<strong>2018</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Urheberrecht: Verwendung von Fotografien aus dem Internet<br />

(EuGH, Urt. v. 7.8.<strong>2018</strong> – C-<strong>16</strong>1/17) • Wird eine Fotografie, die mit Zustimmung des Urhebers auf einer<br />

Website frei zugänglich ist, auf eine andere Website eingestellt, bedarf dies einer neuen Zustimmung des<br />

Urhebers, denn die Fotografie wird durch ein solches Einstellen einem neuen Publikum zugänglich<br />

gemacht. Dabei spielt es keine Rolle, wenn der Urheberrechtsinhaber die Möglichkeiten der Internetnutzer<br />

zur Nutzung der Fotografie nicht eingeschränkt hat. Hinweis: Die Entscheidung erging auf Vorlage des<br />

BGH. Zugrunde lag der Fall eine Schülerin aus NRW, die die streitbefangene Fotografie aus einem<br />

Internet-Reiseportal heruntergeladen und in ihr Schülerreferat eingebaut hatte, welches anschließend auf<br />

der Website der Schule veröffentlicht wurde. Anders als noch in den Fällen des Verlinkens und des sog.<br />

Framings entschied der EuGH hier klar und ohne auf die Frage einer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht<br />

einzugehen, dass die Zustimmung des Urheberrechtsinhabers erforderlich ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 465/<strong>2018</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Arbeitszeitbetrug: Außerordentliche Kündigung<br />

(LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.5.<strong>2018</strong> – 19 Sa 61/17) • Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers<br />

gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit<br />

korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung<br />

i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Ein Arbeitnehmer, der über Jahre hinweg monatlich zu den geleisteten<br />

Überstunden weitere sieben Stunden sich abzeichnen und vergüten lässt, begeht eine schwerwiegende<br />

Pflichtverletzung. Er kann sich regelmäßig nicht darauf berufen, er habe auch sonstige Überstunden<br />

geleistet, die nicht geltend gemacht wurden. In einem solchen Fall ist der Ausspruch einer Abmahnung vor<br />

dem Ausspruch der Kündigung entbehrlich. Im Rahmen der Interessenabwägung ist u.a. das Verschulden<br />

des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 466/<strong>2018</strong><br />

Sozialrecht<br />

Arbeitslosenversicherung: Transferzahlungen der Bundesagentur an den Bundeshaushalt<br />

(BVerfG, Beschl. v. 22.5.<strong>2018</strong> – 1 BvR 1728/12, 1 BvR 1756/12) • Die Transferzahlungen der Bundesagentur für<br />

Arbeit (BA) an den Bundeshaushalt aus Beiträgen von versicherungspflichtigen Arbeitnehmern und<br />

818 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 129<br />

Arbeitgebern verstoßen – trotz vorliegender Ungleichbehandlung – für die Jahre 2005 und 2008 nicht<br />

gegen das Gebot der Belastungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleichbehandlung ist wegen der<br />

grundlegenden und umfassenden Neuregelung des Sozialsystems für das Jahr 2005 gerechtfertigt: Die<br />

durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe freiwerdenden Beitragsmittel waren im Übergangsjahr 2005<br />

ausnahmsweise nicht strikt zweckgebunden, sondern durften zur Finanzierung des Bundeshaushalts<br />

verwendet werden, um so die Mittel für die Eingliederung in Arbeit der Bezieher der neu eingeführten<br />

Grundsicherung für Arbeitsuchende aufzubringen. Für 2008 gilt diese aus dem Systemwechsel folgende<br />

Rechtfertigung zwar nicht. Die Transferzahlungen der BA sind jedoch mit einem u.a. in diesem Jahr zur<br />

Verfügung stehenden zweckungebundenen Bundeszuschuss zu saldieren, so dass diese wechselseitigen<br />

Zahlungen im Ergebnis ohne nachteilige Auswirkungen für den Beitragszahler blieben. Hinweis: Mit dieser<br />

Begründung hat der Erste Senat des BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden von Beitragszahlern zurückgewiesen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 467/<strong>2018</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Religionsgemeinschaft: Verarbeitung personenbezogener Daten<br />

(EuGH, Urt. v. 10.7.<strong>2018</strong> – C-25/17) • Eine Religionsgemeinschaft wie die der Zeugen Jehovas ist<br />

gemeinsam mit ihren als Verkündigern tätigen Mitgliedern für die Verarbeitung der personenbezogenen<br />

Daten verantwortlich, die im Rahmen einer von Tür zu Tür durchgeführten Verkündigungstätigkeit<br />

erhoben werden. Die im Rahmen einer solchen Tätigkeit erfolgenden Verarbeitungen personenbezogener<br />

Daten müssen mit den unionsrechtlichen Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten<br />

im Einklang stehen. Hinweis: Der EuGH zählt auch handschriftliche, nicht zentral verwaltete,<br />

Notizen der einzelnen missionierenden Mitglieder zu den datenschutzrelevanten „Dateien“. Maßgeblich<br />

sei, dass diese Daten nach bestimmten Kriterien so strukturiert sind, dass sie zur späteren Verwendung<br />

leicht wiederauffindbar seien. Nicht erforderlich sei, dass sie aus spezifischen Kartotheken oder Verzeichnissen<br />

oder anderen der Recherche dienenden Ordnungssystemen bestehen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 468/<strong>2018</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Volksverhetzung: Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords<br />

(BVerfG, Beschl. v. 22.6.<strong>2018</strong> – 1 BvR 673/18, 1 BvR 2083/15) • Die Billigung und die Leugnung des<br />

nationalsozialistischen Völkermordes überschreiten die Grenzen der Friedlichkeit der öffentlichen<br />

Auseinandersetzung und indizieren eine Störung des öffentlichen Friedens. Bei der Tatbestandsalternative<br />

des Verharmlosens ist die Gefährdung des öffentlichen Friedens dagegen eigens festzustellen. Die<br />

mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz<br />

gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet<br />

sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Eine Verharmlosung des Nationalsozialismus als Ideologie<br />

oder eine anstößige Geschichtsinterpretation dieser Zeit allein begründen eine Strafbarkeit nicht.<br />

Hinweis: Aufgrund dieser Unterscheidung zwischen den Tatbestandsvarianten des § 130 Abs. 3 StGB hat<br />

das BVerfG die strafrechtliche Verurteilung einer Leugnerin der massenhafte Tötung von Menschen<br />

jüdischen Glaubens während der NS-Herrschaft bestätigt, dagegen die Verurteilung eines Beschwerdeführers<br />

aufgehoben, der die Taten der Wehrmacht und der SS verharmlost hatte; hier vermissten die<br />

Verfassungsrichter Feststellung dazu, dass die „Schwelle einer Gefährdung der Friedlichkeit“ überschritten<br />

war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 469/<strong>2018</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Beschwerdeverfahren: Beiordnung eines Vertreters<br />

(OLG Bremen, Beschl. v. 19.6.<strong>2018</strong> – 1 Ws 146/17) • Steht eine mögliche Einziehung und ein Eingriff in<br />

dingliche Rechte des Beteiligungsinteressenten nicht (mehr) in Rede, ist für seine Beteiligung am<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 819


Fach 1, Seite 130 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />

Strafverfahren gem. §§ 424 Abs. 1, 438 Abs. 1 StPO kein Raum. Die Beiordnung eines Vertreters nach<br />

§ 428 Abs. 2 StPO lediglich für das Beschwerdeverfahren zur Frage der Klärung der Rechtsstellung als<br />

Einziehungs- oder Nebenbeteiligte kommt nicht in Betracht. § 428 Abs. 2 StPO setzt dem Wortlaut nach<br />

die formale Stellung als Einziehungs- oder Nebenbeteiligte voraus. Eine entsprechende Anwendung des<br />

§ 428 Abs. 2 StPO allein bei Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage in einem Beschwerdeverfahren, in<br />

dem die Rechtsstellung als Einziehungs- oder Nebenbeteiligte erst geklärt werden soll, scheidet aus.<br />

Hinweis: Zu Fragen der notwendigen Verteidigung s. HILLENBRAND F. 22, S. 927 ff. – in diesem Heft.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 470/<strong>2018</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

beA: Unterlassung der Einführung des elektronischen Postfachs<br />

(BGH, Beschl. v. 28.6.<strong>2018</strong> – AnwZ (Brfg) 5/18) • Die Vorschrift des § 31a BRAO, wonach die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK) für jedes im Gesamtverzeichnis eingetragene Mitglied einer Rechtsanwaltskammer<br />

ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) empfangsbereit einzurichten hat,<br />

beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, dass eine sichere Übermittlung der Daten möglich sei. Nach<br />

§ 31 Abs. 3 S. 1 BRAO n.F. hat die Beklagte sicherzustellen, dass der Zugang zu dem beA nur durch ein<br />

sicheres Verfahren mit zwei voneinander unabhängigen Sicherungsmitteln möglich ist. Es sei nicht<br />

Aufgabe des AGH und auch nicht des BGH, diese gesetzgeberische Einschätzung durch eine eigene<br />

Bewertung der heute möglichen und zu erwartenden Datensicherheit zu ersetzen. Hinweis: Die von der<br />

BRAK in Aussicht genommene konkrete technische Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben des § 31a<br />

BRAO ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits; der Kläger will die Einführung des besonderen elektronischen<br />

Anwaltspostfachs insgesamt verhindern. Er wendet sich nicht gegen eine konkrete technische<br />

Lösung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 471/<strong>2018</strong><br />

beA: Umlage zur Finanzierung des elektronischen Rechtsverkehrs<br />

(BGH, Beschl. v. 25.6.<strong>2018</strong> – AnwZ (Brfg) 23/18) • Die Umlage zur Finanzierung des elektronischen<br />

Rechtsverkehrs (ERV) setze nicht voraus, dass das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA)<br />

empfangsbereit sei. Diese Kosten fielen bereits während der Entwicklung des Postfachs und nicht erst<br />

mit dessen abgeschlossener Einrichtung an, daher entstehe der durch Beiträge der Kammern zu<br />

deckende Bedarf der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ebenfalls bereits vorher. Die Zulässigkeit der<br />

Umlage hänge auch nicht davon ab, ob das beA tatsächlich genutzt werde. Die Kosten entstünden der<br />

BRAK aufgrund der Einrichtung des beA als ihrer gem. § 31a Abs. 1 S. 1 BRAO übertragenen Aufgabe, und<br />

nicht aufgrund der Nutzung des Postfachs durch einzelne Rechtsanwälte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 472/<strong>2018</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Längenzuschlag: Hauptverhandlungsdauer<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 10.7.<strong>2018</strong> – 1 Ws 142/18) • Auch längere Sitzungspausen sind grds. nicht von der<br />

Verhandlungsdauer in Abzug zu bringen. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob und inwieweit der Verteidiger<br />

die Sitzungspause anderweitig für seine berufliche Tätigkeit sinnvoll hätte nutzen können,<br />

wobei schon aus Gründen der Praktikabilität kein an individuellen Möglichkeiten ausgerichteter Maßstab<br />

anzulegen ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 473/<strong>2018</strong><br />

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820 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 921<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht<br />

– 1. Halbjahr <strong>2018</strong><br />

Von weiterem aufsichtführenden RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Mietvertragsabschluss/-aufhebung<br />

1. Teilweise Personenidentität<br />

2. Zwischenvermietung durch Arbeitgeber<br />

3. Aufhebung eines Mietvertrags<br />

4. Rückabwicklung einer Überzahlung durch<br />

das Jobcenter<br />

III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

IV. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />

V. Schriftform<br />

1. Mehrere Urkunden<br />

2. Mieterhöhungsverlangen nach Indexänderung<br />

VI. Mietsicherheit<br />

VII. Betriebskosten<br />

1. Einsichtsrecht in Verbrauchsdaten der<br />

übrigen Mieter<br />

2. Richtiger Flächenmaßstab<br />

3. Heizkostenabrechnung in der Gewerberaummiete<br />

nach umbautem Raum<br />

VIII. Gewährleistungsrechte<br />

IX. Mieterhöhung<br />

1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

2. Nach einer Modernisierungsmaßnahme<br />

X. Kündigung<br />

1. Ordentliche Kündigung<br />

2. Außerordentliche Kündigung<br />

3. Widerspruch gegen Mietvertragsfortsetzung<br />

XI. Schadensersatzansprüche<br />

1. Kündigungsfolgeschaden<br />

2. Schadensersatz ohne Fristsetzungserfordernis<br />

3. Schadensersatz wegen Schneeglätte<br />

auf Gehweg<br />

XII. Prozessrecht<br />

1. Zulässigkeit einer Saldoklage<br />

2. Beschleunigungsgebot für Räumungsverfahren<br />

3. Beschwer bei Räumungsklage<br />

4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

5. Mieterinsolvenz<br />

I. Einleitung<br />

Seit Mai sind vor allem die Rechtsfolgen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) Thema – auch<br />

für Mietverhältnisse (ausführlich dazu STORM DWW <strong>2018</strong>, 204; HORST <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1745 und S. 1751). So viel<br />

wie behauptet wird, hat sich gar nicht geändert. Manche Erklärung, die wir unterschreiben sollen, ist<br />

überflüssig, da sie Dinge betrifft, die nichts mit der Verordnung zu tun haben. Wenn die DSGVO etwas<br />

bewirkt hat, dann auf jeden Fall eine Sensibilisierung für das Thema. Aber immer dann, wenn Daten für<br />

die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen erforderlich sind, dürfen sie auch gespeichert werden.<br />

Seit einigen Monaten werden wir auch wieder regiert. Für das Mietrecht bedeutet dies, dass der Gesetzgeber<br />

die im Koalitionsvertrag vereinbarten Änderungen nun in Angriff genommen hat, wenn auch<br />

Selbstdarstellungsattitüden einem professionellen Gesetzgebungsverfahren im Wege zu stehen scheinen.<br />

So hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) am 4.6.<strong>2018</strong> den Entwurf eines<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 821


Fach 4 R, Seite 922<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

„Gesetzes zur Ergänzung der Regelungen über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn und zur Anpassung<br />

der Regelungen über die Modernisierung der Mietsache – Mietrechtsanpassungsgesetz (MietAnpG)“ zunächst<br />

den Medien vorgestellt und erst anschließend in die Ressortabstimmung gegeben. Diese Vorgehensweise<br />

war schon äußerst ungewöhnlich, da üblicherweise erst die Ressortabstimmung stattfindet<br />

und dann der Referentenentwurf veröffentlicht wird und in die Verbändeanhörung geht. Reflexartig kam<br />

natürlich der Widerspruch des großen Koalitionspartners, da der Entwurf über die Vereinbarungen im<br />

Koalitionsvertrag hinausging, weshalb schon in der letzten Legislaturperiode der damalige Bundesjustizminister<br />

MAAS mit seinem Entwurf früh gescheitert war. Am 11.7.2017 hat das BMJV den nach der erfolgten<br />

Ressortabstimmung erheblich „abgespeckten“ Referentenentwurf in das Anhörungsverfahren bei Ländern<br />

und Verbänden gegeben (beide Entwürfe stehen unter www.mietgerichtstag.de zum Download zur Verfügung).<br />

Neben Änderungen bei der Modernisierungsmieterhöhung (regionale Absenkung auf 8 %,<br />

Einführung einer eigenen Kappungsgrenze) und der Angabepflicht bzgl. der Vormiete bei der sog.<br />

Mietpreisbremse ist besonders der neue OWi-Tatbestand in § 6 WiStG des „Herausmodernisierens“<br />

bemerkenswert (dazu BÖRSTINGHAUS/KRUMM NZM <strong>2018</strong>, 633). Wer in der Absicht, den Mieter zu einer<br />

Kündigung zu veranlassen, eine Modernisierungsankündigung mit bestimmten Fehlern oder eine missbräuchliche<br />

Umsetzung der Modernisierung durchführt, kann mit einem Bußgeld von bis zu 100.000 €<br />

belegt werden. Der Rahmen darf zur Gewinnabschöpfung auch überschritten werden.<br />

Eine Änderung ist zum Ende des Berichtszeitraums aber schon in Kraft getreten: Der Beschwerdewert für<br />

eine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH in § 26 Nr. 8 EGZPO von mindestens 20.000 € ist erwartungsgemäß<br />

wieder um 18 Monate verlängert worden (BGBl I <strong>2018</strong>, S. 863). Für die Miete bedeutet dies,<br />

dass nur Räumungsurteile mit einer Kaltmiete von mehr als 476,20 € mit der Nichtzulassungsbeschwerde<br />

angegriffen werden können.<br />

II.<br />

Mietvertragsabschluss/-aufhebung<br />

1. Teilweise Personenidentität<br />

Der BGH (WuM 20<strong>16</strong>, 341 = GE 20<strong>16</strong>, 849 = MDR 20<strong>16</strong>, 818 = NZM 20<strong>16</strong>, 467 = NJW-RR 20<strong>16</strong>, 784 = ZMR<br />

20<strong>16</strong>, 771 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 69 m. Anm. EISENSCHMID) hatte vor einiger Zeit darauf hingewiesen,<br />

dass ein Mietverhältnis nicht wirksam entstehen kann, wenn auf Gebrauchsnutzerseite eine Person<br />

beteiligt ist, die zugleich Vermieterstellung einnimmt, und es erlischt durch Konfusion, wenn der Mieter<br />

nachträglich das mit dem Recht zur Gebrauchsnutzung verbundene Eigentum an der Mietsache erwirbt.<br />

Jetzt stellte sich eine ähnliche Frage über die rechtliche Qualifikation eines Vertrags über die Überlassung<br />

von Räumen durch eine Miteigentümergemeinschaft an eines ihrer Mitglieder. Für diesen Fall hat der<br />

BGH nun entschieden, dass regelmäßig ein (Wohnraum-)Mietverhältnis zustande kommt, wenn eine Miteigentümergemeinschaft<br />

gemeinschaftliche Räume einem ihrer Mitglieder vertraglich gegen Entgelt zur<br />

alleinigen Nutzung überlässt. Auf ein derartiges Mietverhältnis sind die zum Schutz des Mieters vorgesehenen<br />

gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 333/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 352 = GE<br />

<strong>2018</strong>, 701 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 75 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; LEHMANN-RICHTER MietRB <strong>2018</strong>, 194). Dem<br />

wirksamen Zustandekommen eines solchen Mietvertrags stehe nicht entgegen, dass der Miteigentümer<br />

hieran sowohl auf Mieterseite als auch – neben anderen Miteigentümern – auf Vermieterseite beteiligt ist.<br />

Der Erwerber eines Miteigentumsanteils tritt in ein zwischen der Miteigentümergemeinschaft und einem<br />

oder einzelnen ihrer Mitglieder bestehendes Wohnraummietverhältnis gem. § 566 Abs. 1 BGB ein. Dies gilt<br />

gem. § 1010 Abs. 1 BGB auch, wenn die mietvertragliche Regelung nicht als Belastung des Miteigentumsanteils<br />

im Grundbuch eingetragen ist.<br />

2. Zwischenvermietung durch Arbeitgeber<br />

Wenn jemand eine Wohnung anmietet, um nicht selbst darin zu wohnen, sondern um sie Dritten zur<br />

Verfügung zu stellen, geschieht dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Es liegt in diesen Fällen immer ein<br />

Dreipersonenverhältnis vor, das juristisch bekanntlich häufig zu Problemen führt. In der Wohnraummiete<br />

besteht zusätzlich das Risiko, dass der Mieterschutz aufgeweicht wird. Deshalb hat der Gesetzgeber auf<br />

Druck des BVerfG mit § 565 BGB eine besondere Mieterschutzvorschrift zumindest für den Bereich der<br />

gewerblichen Zwischenvermietung geschaffen. Zum wiederholten Male musste sich der VIII. Senat des BGH<br />

822 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 923<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

mit dem Schutzbereich dieser Vorschrift befassen. Vor Kurzem hatte er in einem Fall einer atypischen<br />

Gestaltung im Interesse der Mieter entschieden, dass eine gewerbliche Weitervermietung i.S.d. § 565 Abs. 1<br />

S. 1 BGB voraussetzt, dass der Zwischenmieter nach dem Zweck des mit dem Eigentümer abgeschlossenen<br />

Vertrags die Weitervermietung zu Wohnzwecken mit der Absicht der Gewinnerzielung oder im eigenen<br />

wirtschaftlichen Interesse ausüben soll (BGH NJW 20<strong>16</strong>, 1086 = MDR 20<strong>16</strong>, 387 = WuM 20<strong>16</strong>, 221 = NZM<br />

20<strong>16</strong>, 256 = ZMR 20<strong>16</strong>, 276 = MietPrax-AK § 565 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR<br />

6/20<strong>16</strong> Anm. 3; DERS. LMK 20<strong>16</strong>, 377696; KUREK MietRB 20<strong>16</strong>, 125; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>16</strong>, 258; KRAPF jurisPR-<br />

MietR 10/20<strong>16</strong> Anm. 3; DERLEDER NZM 20<strong>16</strong>, 670). Hieran fehlt es, wenn der Eigentümer mit einer Mieter-<br />

Selbsthilfegenossenschaft einen Mietvertrag abschließt, der die Weitervermietung des Wohnraums an<br />

deren Mitglieder zu einer besonders günstigen Miete vorsieht. Bei einem derartigen Handeln des<br />

Zwischenmieters im Interesse der Endmieter kommt eine analoge Anwendung der Vorschrift schon<br />

deshalb nicht in Betracht, weil es an einer der gewerblichen Weitervermietung vergleichbaren Interessenlage<br />

der Beteiligten fehlt.<br />

Nunmehr musste sich der BGH mit der Frage befassen, ob die Regelungen für die gewerbliche Zwischenvermietung<br />

auch dann Anwendung finden, wenn der Dritte keinen unmittelbaren Gewinn aus<br />

der Vermietung erzielen will. In dem zu entscheidenden Fall hatte ein Arbeitgeber, der zum Zwecke<br />

der Mitarbeiteranwerbung Wohnungen angemietet hatte, diese an die neuen Mitarbeiter ohne jeden<br />

Gewinnaufschlag weitervermietet. Nach Ansicht des BGH lag auch in diesem Fall die erforderliche Gewinnerzielungsabsicht<br />

vor, da der als Zwischenvermieter agierende Arbeitgeber die von ihm angemieteten<br />

Wohnungen an die Arbeitnehmer seines Gewerbebetriebs weitervermietete, um diese an sich zu binden<br />

und sich Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Unternehmen zu verschaffen, die ihren Arbeitnehmern<br />

keine Werkswohnungen anbieten können; eine Gewinnerzielungsabsicht aus der Vermietung selbst ist<br />

nicht erforderlich (BGH WuM <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>1 = GE <strong>2018</strong>, 323 = MDR <strong>2018</strong>, 398 = NZM <strong>2018</strong>, 281 = MietPrax-AK<br />

§ 565 BGB Nr. 4 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 4/<strong>2018</strong> Anm. 4; SOMMER MietRB <strong>2018</strong>,<br />

99; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 257; HARSCH MDR <strong>2018</strong>, 569).<br />

3. Aufhebung eines Mietvertrags<br />

Die Parteien eines Mietvertrags können grundsätzlich das Mietverhältnis auch dann jederzeit durch einen<br />

Aufhebungsvertrag gem. § 311 Abs. 1 BGB vorzeitig beenden, wenn der Mieter einen Untermietvertrag<br />

geschlossen oder einem Dritten auf einer anderen rechtlichen Grundlage die Mietsache zur Nutzung<br />

überlassen hat. In diesen Fällen ist der Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags i.d.R. nicht sittenwidrig,<br />

wenn dem Hauptmieter gegen den Dritten ein Kündigungsrecht zusteht, mit dem er dessen Gebrauchsmöglichkeit<br />

zeitnah beenden kann (BGH MDR <strong>2018</strong>, 856 = MietPrax-AK § 311 BGB Nr. 1 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; BURBULLA MietRB <strong>2018</strong>, 198).<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung betraf das Gelände der Frankfurter Galopprennbahn, auf dem der DFB seine Fußballakademie<br />

errichten will.<br />

4. Rückabwicklung einer Überzahlung durch das Jobcenter<br />

Hat das Jobcenter das dem Wohnungsmieter zustehende Arbeitslosengeld II als Bedarf für Unterkunft und<br />

Heizung versehentlich auch noch nach der Beendigung des Mietverhältnisses im Wege der Direktzahlung<br />

nach § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II an den bisherigen Vermieter gezahlt, kann es von diesem unter dem<br />

Gesichtspunkt einer fehlenden, weil widerrufenen, Anweisung unmittelbar die Herausgabe der ohne<br />

rechtlichen Grund erfolgten Zuvielzahlung im Wege der Nichtleistungskondiktion gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2<br />

BGB verlangen (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 395 = NJW <strong>2018</strong>, 1079 = DWW <strong>2018</strong>, 94 = WuM<br />

<strong>2018</strong>, 2<strong>16</strong> = GE <strong>2018</strong>, 452 = MietPrax-AK § 812 BGB Nr. 8 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 98;<br />

DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 258).<br />

III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />

Die Regelungen über die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete (sog. Mietpreisbremse) ist bei den<br />

Amts- und Landgerichten angekommen. Dabei fällt die Neuregelung in immer mehr Bundesländern durch.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 823


Fach 4 R, Seite 924<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Die gescholtene 67. Zivilkammer des LG Berlin (s. unten IX. 2.) hat inzwischen zwei Verfahren ausgesetzt und<br />

die Neuregelung gem. Art. 100 GG dem BVerfG vorgelegt (LG Berlin NZM <strong>2018</strong>, 118 m. Anm. SCHULDT NZM<br />

<strong>2018</strong>, 124; LG Berlin WuM <strong>2018</strong>, 414). Die Vorlagen dürften aber nach Ansicht der Kammer nicht dazu führen,<br />

dass jetzt alle Verfahren ausgesetzt werden dürfen. Die Aussetzung eines Rechtsstreits wegen eines beim<br />

BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens setzt gem. § 148 ZPO analog voraus, dass die Verfassungsgemäßheit<br />

des vom BVerfG zu prüfenden Gesetzes für die Entscheidung des Gerichts erheblich ist. Die<br />

Aussetzung ist nur dann ermessensfehlerfrei, wenn das Gericht entweder im bisherigen Verfahrensverlauf<br />

oder in der Aussetzungsentscheidung selbst die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungswidrigkeit des<br />

Gesetzes für die Parteien nachvollziehbar dargelegt hat (LG Berlin ZMR <strong>2018</strong>, 507).<br />

Auf Landgerichtsebene geht es zzt. um die Wirksamkeit der einzelnen Landesverordnungen:<br />

• In Hamburg hatte das AG Hamburg Altona (Urt. v. 23.5.2017 – 3<strong>16</strong> C 380/<strong>16</strong>, ZMR 2017, 649; v. 9.10.2017<br />

– 3<strong>16</strong> C 206/17) die dortige Verordnung wegen Begründungsmängeln gekippt. Diese Rechtsprechung ist<br />

vom LG Hamburg (Urt. v. 14.6.<strong>2018</strong> – 333 S 28/17 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 1)<br />

bestätigt worden. Für die Praxis bleibt die Frage offen, ob ein Begründungsmangel zumindest für die<br />

Zukunft geheilt werden kann. Das LG Hamburg hat die Frage, wie die Rechtslage für Mietverträge, die<br />

nach der Veröffentlichung im Transparenzportal am 22.10.2015 bzw. nach der Veröffentlichung der<br />

Begründung unter www.hamburg.de am 6.6.2017 oder der Veröffentlichung am 1.9.2017 im Amtlichen<br />

Anzeiger zu beurteilen ist, ausdrücklich offengelassen.<br />

• Die hessische Landesregierung versuchte bei der Information über den Zeitpunkt der erfolgten<br />

Begründung der Verordnung durchaus „kreativ“ zu sein, oder weniger politisch korrekt ausgedrückt „zu<br />

tricksen“. Man gab sich größte Mühe zu vertuschen, wann die Begründung im Internet auf der Seite des<br />

Ministeriums veröffentlicht wurde. Es ist immer noch nicht ganz klar, wann die Begründung tatsächlich<br />

veröffentlicht wurde. Einiges spricht dafür, dass dies erst im März <strong>2018</strong> geschehen ist. Im Rahmen einer<br />

Entscheidung des LG Frankfurt (WuM <strong>2018</strong>, 276 m. Anm. BÖRSTINGHAUS, jurisPR-MietR 13/2108 Anm. 2)<br />

war dies aber nicht streitentscheidend. Die Entscheidung betraf einen Mietvertrag, der am 3.5.20<strong>16</strong><br />

abgeschlossen worden war. Da gab es mit Sicherheit keine veröffentlichte Begründung in Hessen. Eine<br />

wann auch immer stattgefundene rückwirkende Veröffentlichung führt aber nie zu einer Heilung der<br />

unwirksamen Verordnung, wie sowohl das LG München (NJW <strong>2018</strong>, 407) als auch das AG Hamburg-<br />

Altona überzeugend festgestellt haben. Auch SCHULDT kommt in seinem Vortrag auf dem Deutschen<br />

Mietgerichtstag <strong>2018</strong> (NZM <strong>2018</strong>, 257) zum gleichen Ergebnis.<br />

IV. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />

Das BGB enthält keine Bestimmungen zur Tierhaltung in der Mietwohnung, wenn man von allgemeinen<br />

Vorschriften der Gefahrenabwehr, des Tierschutzes und des Nachbarrechts absieht. In der Praxis<br />

tauchen immer wieder Streitigkeiten wegen der Tierhaltung auf. Ausgangspunkt ist dabei immer die<br />

Überlegung, dass die Tierhaltung grundsätzlich zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache gehört.<br />

Die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, sind höchst unterschiedlich.<br />

Hinweis:<br />

Die Meinungen reichen von völliger Erlaubnisfreiheit (AG Bremen WuM 2007, 124; KG WuM 2004, 721) bis zur<br />

Ablehnung der Haltung zumindest größerer Tiere (dazu BLANK NJW 2007, 729, 731 Fn 34 ff.). Dazwischen gibt<br />

es zahlreiche vermittelnde Meinungen (s. BALSAM/DALLEMAND, Rechtsfragen der Haustierhaltung, 1997, S. 21).<br />

Aber auch wenn eine mietvertragliche Klausel einer Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB nicht standhält, bedarf<br />

es nach h.M. einer Genehmigung des Vermieters, auf die der Mieter unter bestimmten Voraussetzungen<br />

aber einen Anspruch hat. Wird eine solche Klage des Mieters gegen den Vermieter auf Zustimmung zur<br />

Tierhaltung in der gemieteten Wohnung abgewiesen, erfordert die Beurteilung, ob der Wert des<br />

Beschwerdegegenstands einer dagegen gerichteten Berufung die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO<br />

übersteigt, eine umfassende Betrachtung des auf die begehrte Tierhaltung in der Mietwohnung gerichteten<br />

Interesses des Mieters. Das schließt subjektive Gesichtspunkte ein, weil die Wohnung für jedermann<br />

Mittelpunkt seiner privaten Existenz ist und dem Einzelnen damit die Entfaltung und eigenverantwortliche<br />

824 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 925<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Gestaltung seines Lebens ermöglicht. Daher sind nicht nur objektive Kriterien, sondern namentlich die<br />

Beweggründe und Bedürfnisse des Mieters zu berücksichtigen. Diese Abwägung lässt sich nicht allgemein,<br />

sondern nur im Einzelfall vornehmen, weil die zu berücksichtigenden Umstände individuell und vielgestaltig<br />

sind, so dass sich jede schematische Lösung verbietet (BGH WuM <strong>2018</strong>, 174 = MDR <strong>2018</strong>, 462 = GE <strong>2018</strong>, 447<br />

= ZMR <strong>2018</strong>, 403 = NZM <strong>2018</strong>, 462 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 74 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS<br />

jurisPR-BGHZivilR 6/<strong>2018</strong> Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 9/<strong>2018</strong> Anm. 5).<br />

V. Schriftform<br />

1. Mehrere Urkunden<br />

Dem Schriftformerfordernis des § 550 S. 1 BGB kann gem. § 126 Abs. 2 S. 2 BGB auch in der Weise<br />

entsprochen werden, dass über den Vertrag mehrere gleichlautende Urkunden aufgenommen werden<br />

und jede Partei die für die andere Partei bestimmte Urkunden unterzeichnet. Dabei ist es ausreichend,<br />

dass die Vertragsparteien jeweils gleichlautende Vertragsurkunden unterzeichnen. Eines Zugangs dieser<br />

unterzeichneten Urkunden beim jeweiligen Vertragspartner bedarf es für die Einhaltung der<br />

Schriftform nicht (BGH NJW <strong>2018</strong>, 1540 = NZM <strong>2018</strong>, 394 = GE <strong>2018</strong>, 706 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 45<br />

m. Anm. EISENSCHMID; HOFFMANN MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>8; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 386; SCHNEIDENBACH jurisPR-<br />

MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 4; BURBULLA ZMR <strong>2018</strong>, 581). Im konkreten Fall hatten die Vertragsparteien jeweils<br />

ein Exemplar des Vertragstextes unterschrieben und der Gegenseite gefaxt.<br />

2. Mieterhöhungsverlangen nach Indexänderung<br />

Bei einer Indexklausel, nach der sich die Miete – wie in der Gewerberaummiete möglich – automatisch<br />

entsprechend der Veränderung des maßgeblichen Index verändert oder der Vermieter – wie in der<br />

Wohnraummiete gem. § 557b BGB vorgesehen – nur eine Gestaltungserklärung abgeben muss, ist die<br />

Schriftform gem. § 550 BGB eingehalten, wenn die Indexklausel dem Schriftformerfordernis genügt. Die<br />

Änderung der Miete, die auf einer Vertragsklausel beruht, wonach eine Vertragspartei bei Vorliegen einer<br />

bestimmten Indexänderung eine Neufestsetzung der Miete von der anderen Seite verlangen kann,<br />

unterfällt demgegenüber – anders als bei einer Anpassungsautomatik oder einem einseitigen Änderungsrecht<br />

– dem Schriftformerfordernis des § 550 S. 1 BGB (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/<strong>2018</strong> = DWW <strong>2018</strong>, 176 =<br />

NZM <strong>2018</strong>, 515 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 46 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 199; EISENSCHMID<br />

jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 3); denn die vertragliche Änderung der Miete stellt stets eine wesentliche und<br />

– jedenfalls soweit sie für mehr als ein Jahr erfolgt und nicht jederzeit vom Vermieter widerrufen werden<br />

kann – dem Formzwang des § 550 S. 1 BGB unterfallende Vertragsänderung dar.<br />

Wiederholt hat der Senat in dieser Entscheidung seine Rechtsprechung, wonach sog. Schriftformheilungsklauseln<br />

generell unwirksam sind, weil sie mit der nicht abdingbaren Vorschrift des § 550 BGB<br />

unvereinbar sind. Sie können deshalb für sich genommen eine Vertragspartei nicht daran hindern, einen<br />

Mietvertrag unter Berufung auf einen Schriftformmangel ordentlich zu kündigen (BGH MDR 2017, 1351<br />

= GE 2017, 1397 = NJW 2017, 3772 = ZfIR <strong>2018</strong>, 10 = NZM <strong>2018</strong>, 38 = ZMR <strong>2018</strong>, 30 = DWW <strong>2018</strong>, 14 =<br />

MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 44 m. Anm. EISENSCHMID; SOMMER MietRB 2017, 341/342; BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />

BGHZivilR 23/2017 Anm. 1; BIEBER GE 2017, 1377; JANSSEN BB 2017, 2766; MUMMENHOFF jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong><br />

Anm. 5; BURBULLA MDR <strong>2018</strong>, 68; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34; EINSELE LMK <strong>2018</strong>, 401890; LINDNER-FIGURA/<br />

REUTER NJW <strong>2018</strong>, 897; KRÜGER NZM <strong>2018</strong>, 42).<br />

Hinweis:<br />

Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn eine nicht den Erfordernissen des § 550 BGB<br />

entsprechende Vertragsänderung auf ausdrücklichen Wunsch und im Interesse einer Partei erfolgt ist. In<br />

diesem Fall kann es treuwidrig sein, wenn sich der betreffende Vertragspartner auf den Formmangel beruft.<br />

VI. Mietsicherheit<br />

Die Frage, welche Bedeutung eine Mietsicherheit nach Mietvertragsende noch hat, ist bekanntlich<br />

strittig. Der BGH hatte entschieden, dass die Mietsicherheit während des Bestands des Mietverhältnisses<br />

eine reine Sicherungsfunktion hat (BGH WuM 2014, 418 = GE 2014, 866 = MDR 2014, 704 = ZMR<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 825


Fach 4 R, Seite 926<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

2014, 619 = NJW 2014, 2496 = NZM 2014, 551 = MietPrax-AK § 551 BGB Nr. <strong>16</strong> m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />

DRASDO NJW-Spezial 2014, 449; SCHACH MietRB 2014, 226; RIECKE ZMR 2014, 620). Deshalb darf der<br />

Vermieter während des laufenden Mietverhältnisses eine Mietsicherheit wegen streitiger Forderungen<br />

gegen den Mieter nicht verwerten. Aus dem BGH war damals schon zu vernehmen, dass dies nach<br />

Beendigung des Mietverhältnisses ähnlich zu sehen ist (MILGER WImmoT 2014, 7, 15 unter Verweis auf<br />

EMMERICH, in: Staudinger, § 551 BGB Rn 31). Nach einer anderen Auffassung in der Literatur ändert sich die<br />

Funktion der Mietsicherheit nach Mietvertragsende in eine Befriedigungsfunktion. Bedeutung hat dies<br />

für die Frage, ob der Vermieter nach Mietvertragsende die Mietsicherheit auch für bestrittene<br />

Forderungen verwenden darf. Das hat das AG Dortmund (<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 248/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 204) jetzt<br />

mit nicht rechtkräftigem Urteil verneint. Anders sei die Insolvenzsicherheit der Mietsicherheit nicht zu<br />

gewährleisten. Daraus folgt unter Mieterschutzgesichtspunkten, dass dem Vermieter ein Zugriff auf die<br />

Kaution auch nach Ende des Mietvertrags insofern verboten ist. Der Mieter kann dies sogar im<br />

einstweiligen Rechtschutzverfahren verhindern (LG Berlin WuM 2017, 527).<br />

Praxishinweis:<br />

Das bedeutet für die anwaltliche Praxis, dass zunächst Klarheit über Gegenforderungen wie z.B. Betriebskostennachzahlungen,<br />

Schadensersatzansprüche oder Mietrückstände wegen Minderung erzielt werden<br />

muss. Wenn die Parteien sich nicht einigen, muss der Vermieter ggf. gegenüber einer – verfrüht – erhobenen<br />

Kautionsrückzahlungsklage Widerklage bzgl. der vermeintlichen Gegenansprüche entweder als<br />

Feststellungsklage, wenn sie niedriger als die Kautionsforderung sind, oder als – darüber hinausgehende –<br />

Zahlungsklage erheben. Dann muss über die Widerklage vorab durch Teilurteil entschieden werden und<br />

dann über die Kautionsrückzahlungsklage durch Schlussurteil. Anderenfalls ist die Kautionsrückzahlungsklage<br />

als zzt. nicht fällig abzuweisen. Gegebenenfalls kann auch der Mieter vorab negative Feststellungsklage<br />

hinsichtlich der Ansprüche, deren der Vermieter sich nach Mietvertragsende berühmt, erheben.<br />

Im Übrigen hatte schon der BGH darauf hingewiesen, dass der Kautionsrückzahlungsanspruch erst fällig<br />

wird, wenn dem Vermieter keine Forderungen aus dem Mietverhältnis mehr zustehen, wegen derer er<br />

sich aus der Sicherheit befriedigen darf (BGHZ 141, <strong>16</strong>0, <strong>16</strong>2, BGH NJW 2006, 1422; BGH NJW 20<strong>16</strong>, 3231 =<br />

MietPrax-AK § 551 BGB Nr. 18 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; dazu DERS. jurisPR-BGHZivilR 17/20<strong>16</strong> Anm. 4; LUDLEY<br />

NZM 20<strong>16</strong>, 764; BEYER jurisPR-MietR 22/20<strong>16</strong> Anm. 3; BURBULLA MietRB 20<strong>16</strong>, 311; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>16</strong>,<br />

675; STAAKE LMK 20<strong>16</strong>, 384205; so auch BLANK, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl., § 551 BGB Rn 95). Eine<br />

6-Monatsfrist, wie häufig behauptet, gibt es nicht (so auch AG Dortmund, Urt. v. 19.6.<strong>2018</strong> – 425 C 376/18).<br />

VII. Betriebskosten<br />

1. Einsichtsrecht in Verbrauchsdaten der übrigen Mieter<br />

Ein Mieter kann im Rahmen der bei einer Betriebskostenabrechnung geschuldeten Belegvorlage vom<br />

Vermieter auch die Einsichtnahme in die von diesem erhobenen Einzelverbrauchsdaten anderer Nutzer<br />

eines gemeinsam versorgten Mietobjekts beanspruchen, um sich etwa Klarheit zu verschaffen, ob bei einer<br />

verbrauchsabhängigen Abrechnung der Gesamtverbrauchswert mit der Summe der Verbrauchsdaten der<br />

anderen Wohnungen übereinstimmt, ob deren Werte zutreffend sind oder ob sonst Bedenken gegen die<br />

Richtigkeit der Kostenverteilung bestehen. Der Darlegung eines besonderen Interesses an dieser<br />

Belegeinsicht bedarf es nicht. Auch die Datenschutz-Grundverordnung steht dem nicht entgegen. Zwar<br />

betrifft die Entscheidung des BGH einen Fall, der vor deren Inkrafttreten spielt, jedoch darf der Vermieter<br />

auch seit Ende Mai solche Daten verwenden, die er zur Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht benötigt (BGH<br />

WuM <strong>2018</strong>, 288 = GE <strong>2018</strong>, 577 = NJW <strong>2018</strong>, 1599 = MDR <strong>2018</strong>, 659 = NZM <strong>2018</strong>, 458 = DWW <strong>2018</strong>, 214 =<br />

MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 128 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS, jurisPR-BGHZivilR 9/<strong>2018</strong> Anm. 2; GARBE<br />

GE <strong>2018</strong>, 546; ZEHELEIN NZM <strong>2018</strong>, 461; LAMMEL, jurisPR-MietR 12/<strong>2018</strong> Anm. 3; DRASDO, NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 385;<br />

BURBULLA MietRB <strong>2018</strong>, 194; HORST <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1745).<br />

Hinweis:<br />

Solange der Vermieter dem Mieter die verlangte Belegeinsicht nicht gewährt hat, ist der Mieter zur Leistung von<br />

Betriebskostennachzahlungen nicht verpflichtet. Eine entsprechende Klage ist als zzt. nicht fällig abzuweisen.<br />

826 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 927<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

2. Richtiger Flächenmaßstab<br />

Der Vermieter muss mit der Betriebskostenabrechnung umlagefähige Betriebskosten auf die unterschiedlichen<br />

Mieter verteilen. Die Parteien können dabei die unterschiedlichsten Verteilungsschlüssel<br />

vereinbaren. Dazu zählt auch die Verteilung nach dem Verhältnis der Wohnflächen. Dieser Maßstab gilt<br />

nach § 556a BGB auch, wenn die Parteien nichts vereinbart haben. So einfach das klingt, so schwierig ist<br />

dies häufig in der Praxis. Häufig werden in Mietverträgen Flächen angegeben, die aber in den seltensten<br />

Fällen auch richtig sind. Für das Gewährleistungsrecht hat der BGH bekanntlich seine 10 %-Rechtsprechung<br />

entwickelt, wonach erst bei einer Flächenabweichung von mehr als 10 % ein Mangel vorliegt. In<br />

der Folgezeit hatte der VIII. Senat diese Rechtsprechung auch auf das Mieterhöhungsverfahren und das<br />

Betriebskostenrecht übertragen (BGH WuM 2007, 700 = GE 2007, <strong>16</strong>86 = NJW 2008, 142 = NZM 2008, 35<br />

= ZMR 2008, 38 = DWW 2008, 17 = MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 26 m. Anm. EISENSCHMID; SCHMID ZMR 2008,<br />

42; DERS. WuM 2008, 9; DERS. GuT 2008, 19; DRASDO NJW-Spezial 2008, 33; JUNKER MietRB 2008, 33/34/35,<br />

RAVE GE 2008, 36; DIES. ZMR 2008, 517; HINZ WuM 2008, 633; BÖRSTINGHAUS, LMK II. HJ, 60; LUDLEY ZMR 2009,<br />

427; SCHMID ZMR 2009, 746; LANGENBERG NJW 2008, 1269, 1273; LÜTZENKIRCHEN ZMR 2009, 895). Auch dort<br />

sollten die – falschen – vereinbarten Flächen maßgeblich sein, wenn die Abweichung maximal 10 %<br />

betrug. Das war natürlich falsch, da es hier anders als bei der Gewährleistung nicht um eine Bewertung<br />

geht, wann eine Gebrauchsbeeinträchtigung vorliegt, sondern um eine Berechnung. Nach entsprechend<br />

harscher Kritik hat der BGH im November 2015 seine Rechtsprechung zur Mieterhöhung dann auch<br />

aufgegeben. Seither sind im Mieterhöhungsverfahren nur noch die tatsächlichen Flächen maßgeblich.<br />

Es war daher wohl nur eine Frage der Zeit, bis der BGH die Gelegenheit bekam, auch seine alte falsche<br />

Rechtsprechung zur Betriebskostenabrechnung zu berichtigen. Das hat der Senat nun auch getan (BGH<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 358/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 425 = MietPrax-AK § 556a BGB Nr. 14 m. Anm. EISENSCHMID;<br />

BÖRSTINGHAUS LMK <strong>2018</strong>, 406662; SOMMER MietRB <strong>2018</strong>, 193; WALL jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 2). Ohne<br />

größere dogmatische Argumentation stellt er kurz fest, dass auch im Betriebskostenrecht eine nach den<br />

subjektiven Vorstellungen geprägte Parteivereinbarung zur Wohnfläche unerheblich sei. Eher thesenartig<br />

heißt es dann, dass „eine in der gebotenen Gesamtschau angemessene und nach allen Seiten hin<br />

interessengerechte Verteilung von Betriebskosten [erfordert], dass [die Betriebskosten] nach einem objektiven<br />

Abrechnungsmaßstab umgelegt werden, der gleichermaßen für alle zur Wirtschaftseinheit zählenden Nutzer gilt“.<br />

Wahrscheinlich war das so selbstverständlich, dass man das gar nicht länger begründen wollte.<br />

Praxishinweis:<br />

Für die Praxis wirft die Entscheidung eine Fülle von Problemen auf. Der Entscheidung ist nicht zu entnehmen,<br />

wie die vom Senat verlangte vermeintlich „richtige tatsächliche Fläche“ zu ermitteln ist. Es gibt im preisfreien<br />

Wohnungsbau immer noch keine – und für das Betriebskostenrecht erst recht nicht – zwingenden Berechnungsvorschriften.<br />

Soweit im ersten nicht abgestimmten Entwurf eines Mietrechtsanpassungsgesetzes<br />

vom 4.6.<strong>2018</strong> noch der Vorschlag einer Regelung in § 554 BGB-E enthalten war, ist dieser Vorschlag im<br />

endgültigen Referentenentwurf vom 11.7.<strong>2018</strong> nach Widerspruch des größeren Koalitionspartners wieder<br />

entfallen. Der BGH (NZM 2009, 477 = NJW 2009, 2295 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 23 m. Anm. EISENSCHMID;<br />

dazu WASSERMANN jurisPR-BGHZivilR 12/2009 Anm. 3; EUPEN GE 2009, 744; LAMMEL jurisPR-MietR 14/2009<br />

Anm. 1; LEHMANN-RICHTER MietRB 2009, 221) hatte in der Vergangenheit ein Drei-Stufen-Konzept entwickelt:<br />

1. Maßgeblich sind zunächst ausdrückliche oder konkludente Vereinbarungen der Vertragsparteien über<br />

das anzuwendende Regelwerk.<br />

2. Wenn hierzu keine Feststellungen getroffen werden können, ist eine eventuelle Ortssitte maßgeblich.<br />

3. Erst wenn auch diese nicht ermittelt werden kann, ist auch im preisfreien Wohnungsbau die Fläche<br />

nach den zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Vorschriften für den preisgebundenen<br />

Wohnungsbau zu ermitteln.<br />

Grundsätzlich kann man damit die Fläche für eine Wohnung rechtssicher ermitteln. Nur ist das u.U. kein<br />

einheitlicher Maßstab für das ganze Haus. Die Anwendung des Konzepts kann zu unterschiedlichen<br />

Berechnungsregeln für einzelne Wohnungen führen. Mal wurde der Balkon mit 50 %, mal mit 25 %<br />

angerechnet, mal wurde ein Putzabzug von 2 % gemacht und mal auch nicht.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 827


Fach 4 R, Seite 928<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

3. Heizkostenabrechnung in der Gewerberaummiete nach umbautem Raum<br />

Eine Heizkostenabrechnung nach umbautem Raum ist fehlerhaft, wenn nicht alle direkt und indirekt<br />

beheizten Räume in die Abrechnung mit eingeflossen sind (BGH MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 129 m. Anm.<br />

EISENSCHMID). Stützt der Vermieter seine Abrechnung weiterer Heizkosten auf die insgesamt angefallenen<br />

Kosten, die er nach dem Rauminhalt der direkt oder indirekt beheizten Räume umlegt, dann muss er<br />

darlegen und ggf. beweisen, welche Räume des gesamten Objekts dafür in Ansatz zu bringen sind.<br />

Dabei verstößt es gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn das Gericht bei der Entscheidung<br />

Unterlagen/Pläne berücksichtigt, zu denen die Gegenseite zuvor nicht Stellung nehmen konnte.<br />

VIII. Gewährleistungsrechte<br />

§ 536 Abs. 1 BGB differenziert zwischen Graden von Mängeln. Es gibt solche, bei denen die Gebrauchstauglichkeit<br />

zu 100 % eingeschränkt, bei denen sich die Miete dann auch gem. § 536 Abs. 1 S. 1 BGB auf 0 €<br />

mindert, dann gibt es die Beeinträchtigungen von ca. 3–99 % und schließlich die unerheblichen Gebrauchsbeeinträchtigungen,<br />

die von den Gerichten bei Minderungen bis ca. 3–5 % angenommen werden.<br />

Nach Ansicht des BGH (NZM <strong>2018</strong>, 442 = WuM <strong>2018</strong>, 357 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 56 m. Anm.<br />

EISENSCHMID) liegt bei besonders gravierenden Mängeln, wie Unbewohnbarkeit des Erdgeschosses infolge<br />

massiver Durchfeuchtung der Außenwände und großflächigen Schimmelpilzbefalls (seit Jahren stark<br />

sanierungsbedürftiger Zustand des Dachs mit der Folge von an den Wänden des Obergeschosses bei<br />

starken Niederschlägen herablaufendem und von der Decke herabtropfendem Wasser sowie großflächigem<br />

Schimmelpilzbefall auch in den oberen Räumen) eine weitgehende, wenn nicht gar vollständige<br />

Gebrauchsuntauglichkeit einer Wohnung vor. Dabei genügt der Mieter seiner Darlegungslast schon mit der<br />

Darlegung eines konkreten Sachmangels, der die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen<br />

Gebrauch beeinträchtigt; das Maß der Gebrauchsbeeinträchtigung braucht er hingegen nicht vorzutragen.<br />

IX.<br />

Mieterhöhung<br />

1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

Das Mieterhöhungsverfahren nach §§ 558 ff. BGB ist als Zustimmungsverfahren ausgestaltet. Erforderlich<br />

ist also eine ganz oder teilweise Zustimmung des Mieters zum Erhöhungsverlangen des Vermieters.<br />

Hierfür gelten die allgemeinen Regeln, weshalb auch eine konkludent erklärte Zustimmung möglich ist.<br />

Strittig ist immer mal wieder die Frage, ob schon eine Zahlung eine Zustimmung darstellt oder erst<br />

mehrere Zahlungen. Nach Ansicht des BGH (WuM <strong>2018</strong>, 151 = GE <strong>2018</strong>, 325 = NZM <strong>2018</strong>, 279 = ZMR <strong>2018</strong>,<br />

564 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BEYER jurisPR-MietR 7/<strong>2018</strong> Anm. 2;<br />

BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 8/<strong>2018</strong> Anm. 1; DERS. MietRB <strong>2018</strong>, 195) kann jedenfalls eine mehrmalige<br />

vorbehaltlose Zahlung der erhöhten Miete als schlüssig erklärte Zustimmung des Mieters zum<br />

Mieterhöhungsverlangen gewertet werden. Im konkreten Fall hatte der Mieter dreimal die erhöhte<br />

Miete gezahlt. Offen gelassen hat der Senat die Frage, ob schon in der erstmaligen Zahlung der erhöhten<br />

Miete die konkludente Zustimmung des Mieters zu der geforderten Mieterhöhung gesehen werden kann.<br />

Man fragt sich aber, falls das nicht der Fall sein sollte, was eine solche Zahlung darstellt – eine Spende an<br />

den Vermieter?<br />

Der Senat hat dann nochmals darauf hingewiesen, dass die Zustimmung des Mieters nach der<br />

ausdrücklichen Regelung des § 558b BGB nicht der Schriftform bedarf. Die Norm schreibt eine<br />

bestimmte Form der Zustimmung nicht vor. Während das Erhöhungsverlangen des Vermieters gem.<br />

§ 558a Abs. 1 BGB zumindest in Textform erfolgen und zu begründen ist, hat der Gesetzgeber hinsichtlich<br />

der Erklärung der Zustimmung ein entsprechendes Formerfordernis nicht aufgestellt. Der Mieter kann<br />

sie daher sowohl ausdrücklich als auch konkludent erteilen.<br />

Hinweis:<br />

Eine Verpflichtung, die Zustimmung schriftlich zu erklären, kann auch mietvertraglich wirksam vereinbart<br />

werden. Eine entsprechende Schriftformklausel ändert an der Wirksamkeit der konkludenten Zustimmung<br />

zur Mieterhöhung nichts. Dem Schriftformerfordernis kommt lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Ob<br />

eine konstitutive Bedeutung der Einhaltung der Schriftform überhaupt wirksam vereinbart werden kann,<br />

828 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 929<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

hat der Senat offengelassen, aber durchaus Zweifel im Hinblick auf §§ 305b, 307 BGB angedeutet. Der<br />

Vermieter hat allenfalls einen Anspruch gem. § 126 BGB auf nachträgliche Unterzeichnung eines Abänderungsvertrags,<br />

wenn die Schriftform nicht abbedungen war.<br />

2. Nach einer Modernisierungsmaßnahme<br />

§ 559 BGB ist keine anderen Mieterhöhungsmöglichkeiten, insbesondere die des § 558 BGB, ausschließende<br />

Spezialvorschrift. Deshalb hat ein Vermieter, der Modernisierungsarbeiten vornimmt, das Wahlrecht<br />

zwischen vier verschiedenen Möglichkeiten, wie er die Kosten einer Modernisierungsmaßnahme bei der<br />

Bestimmung der zukünftigen Miete berücksichtigten kann. Es darf letztendlich jedoch zu keiner doppelten<br />

Berücksichtigung der Modernisierungskosten kommen. Zusätzlich zu den beiden Möglichkeiten nach<br />

§§ 558 ff. BGB oder §§ 559 ff. BGB kann der Vermieter diese auch noch kombinieren (dazu FLEINDL NZM 20<strong>16</strong>,<br />

65, 71). So kann der Vermieter neben der Mieterhöhung im vereinfachten Umlageverfahren nach § 559 BGB<br />

vom Mieter auch noch die Zustimmung zu einer Mietanhebung auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

verlangen. Wählt der Vermieter diesen Weg, so wurde bisher in Rechtsprechung und Literatur einhellig<br />

vertreten, dass der modernisierte Zustand nicht doppelt, nämlich sowohl bei § 558 BGB als auch bei § 559<br />

BGB berücksichtigt werden darf. Zweifel des VIII. Senats des BGH an dieser Rechtsansicht sind jetzt auf eher<br />

ungewöhnliche Weise bekannt geworden, nämlich in einer Stellungnahme des Senats (GE <strong>2018</strong>, 819) in<br />

einem Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfG NZM <strong>2018</strong>, 440). Die 67. Zivilkammer des LG Berlin (WuM<br />

2015, 551) hatte in einem solchen Fall die Zahlungsklage nach § 559 BGB nach einer Mieterhöhung gem.<br />

§ 558 BGB abgewiesen, weil es bei fehlendem Vorbehalt einen Verzicht des Vermieters auf weitere<br />

Erhöhungen angenommen hatte (a.A. LG Berlin – 65. Zivilkammer – GE 2017, 592).<br />

Dieses Urteil der 67. Zivilkammer des LG Berlin (a.a.O.) ist vom BVerfG aufgehoben worden, weil die<br />

Kammer die Revision nicht zugelassen hat. Das BVerfG hatte in dem Verfahren u.a. eine Stellungnahme des<br />

VIII. Senats des BGH eingeholt. Dieser hat in einer bisher wohl kaum dagewesenen Deutlichkeit dargelegt,<br />

dass die 67. Zivilkammer des LG Berlin häufig von der Rechtsprechung des Senats abweicht, ohne die<br />

Revision zuzulassen. Außerdem hat er durchaus Bedenken gegen die bisherige h.M. anklingen lassen.<br />

Zumindest dann, wenn die verlangten Mieterhöhungen zusammen eine nach § 559 BGB allein mögliche<br />

Mieterhöhung nicht übersteigen, soll eine kumulative Berücksichtigung möglich sein. Allein die Tatsache,<br />

dass der Vermieter zunächst eine Mieterhöhung gem. § 558 BGB vornimmt, rechtfertige auch noch nicht<br />

die Annahme, dass der Vermieter damit zugleich einen Verzicht auf die Mieterhöhung gem. § 559 BGB<br />

erklären wollte. An die Annahmen eines Verzichts seien äußerst strenge Anforderungen zu stellen.<br />

X. Kündigung<br />

1. Ordentliche Kündigung<br />

a) Zahlungsverzugskündigung bei 1-Euro-Mietvertrag<br />

Bei einem Mietrückstand von mindestens einer Monatsmiete über einen Zeitraum von einem Monat<br />

kann ein Wohnraummietverhältnis auch ordentlich gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB gekündigt werden.<br />

Jedoch obliegt auch in diesem Fall – wie in jedem Einzelfall – die Beurteilung, ob der Mieter seine<br />

vertraglichen Pflichten schuldhaft nicht nur unerheblich verletzt hat und der Vermieter zu einer<br />

ordentlichen Kündigung des Mietverhältnisses berechtigt ist, dem Tatrichter. Allgemein verbindliche<br />

Aussagen lassen sich dazu nicht treffen (BGH MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 70 m. Anm. BÖRSTINGHAUS). Im<br />

konkreten Fall des BGH hatten die Parteien eine Monatsmiete von 1 € vereinbart. Das Berufungsgericht<br />

hatte für die Kündigungsrelevanz aber nicht auf die vereinbarte Miete von 1 €, sondern auf den<br />

objektiven Mietwert abgestellt. Die fristlose Zahlungsverzugskündigung war durch Übernahme der<br />

Mietrückstände durch das Sozialamt unwirksam geworden.<br />

b) Individualvertraglicher Kündigungsverzicht<br />

Der BGH hat eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung zu den Kündigungsausschlussvereinbarungen<br />

entwickelt. Dabei ist zunächst das wichtigste Differenzierungskriterium die Frage, ob der Ausschluss<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 829


Fach 4 R, Seite 930<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

formularvertraglich oder individualvertraglich vereinbart worden ist. Zum Teil kennt die Phantasie der<br />

Vermieter, was die Verwendung von Formularverträgen oder zumindest ihre eigene Eigenschaft als deren<br />

Verwender angeht, keine Grenzen. Der BGH (NZM <strong>2018</strong>, 556 = WuM <strong>2018</strong>, 437 = MDR <strong>2018</strong>, 855 = GE <strong>2018</strong>,<br />

820 = MietPrax-AK § 573c BGB Nr. 30 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-MietR 12/<strong>2018</strong> Anm. 2) hat hier<br />

noch einmal die Grundsätze klargestellt und zwar in einem Verfahren, in dem der Vermieter den Mieter<br />

gebeten hatte, einen Haus- & Grund-Mietvertrag zu besorgen. Auch in diesem Fall ist der Vermieter<br />

Verwender des Formulars, der die entsprechende Klausel stellt. Als wesentliches Charakteristikum<br />

Allgemeiner Geschäftsbedingungen habe der Gesetzgeber die Einseitigkeit ihrer Auferlegung sowie den<br />

Umstand angesehen, dass der andere Vertragsteil, der mit einer solchen Regelung konfrontiert wird, auf<br />

ihre Ausgestaltung gewöhnlich keinen Einfluss nehmen kann. Mit Rücksicht darauf ist das Merkmal des<br />

„Stellens“ i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt, wenn die Formularbestimmungen auf Initiative einer Partei in<br />

die Verhandlungen eingebracht werden und ihre Verwendung zum Vertragsschluss verlangt wird. Der<br />

Umstand, dass der Mieter das Formular mitgebracht hat, ändert nichts daran, dass das Vertragsformular<br />

auf Initiative der Vermieterseite in den Vertrag Eingang gefunden hat.<br />

Fraglich war zudem, ob hier nicht deshalb eine Individualvereinbarung vorgelegen hatte, weil dem<br />

Mieter der Kündigungsausschluss so wichtig war, dass er zusätzliche Leistungen, zu denen er nicht<br />

verpflichtet gewesen wäre, übernommen hatte. Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen dann nicht<br />

vor, wenn die Vertragsbedingungen im Einzelnen ausgehandelt wurden; selbst vorformulierte Klauseln<br />

des Verwenders können deshalb im Einzelfall Gegenstand und Ergebnis von Individualabreden sein. Das<br />

muss das LG nach Zurückverweisung noch aufklären.<br />

Der Bankrechtssenat (NJW-RR <strong>2018</strong>, 814 = MDR <strong>2018</strong>, 755) hat in diesem Zusammenhang eine auch im<br />

Mietrecht vorkommende Fallgestaltung entschieden: Wenn eine Bank dem Kunden zwei Formularverträge<br />

alternativ anbietet, wobei einmal eine Bearbeitungsgebühr erhoben wird und einmal nicht,<br />

liegt keine Individualvereinbarung vor. Für ein Aushandeln nach § 305 Abs. 1 S. 3 BGB sei es erforderlich,<br />

dass der Verwender die betreffende Klausel inhaltlich ernsthaft zur Disposition stellt und sich deutlich<br />

und ernsthaft zur gewünschten Änderung der Klausel bereit erklärt. Die Eröffnung einer Wahlmöglichkeit<br />

zwischen mehreren vorformulierten Vertragsbedingungen bedeute noch keine Individualabrede.<br />

Vielmehr müsse auch hier der Vertragspartner des Klauselverwenders Gelegenheit erhalten, alternativ<br />

eigene Textvorschläge mit der effektiven Möglichkeit ihrer Durchsetzung einzubringen. Unerheblich ist<br />

es, ob der Klauselverwender für jede der Alternativen ein gesondertes Formular benutzt, alle<br />

Alternativen in einem Formular abdruckt und den Kunden die gewünschte Klausel kennzeichnen lässt<br />

oder die Wahl zwischen mehreren vorgegebenen Alternativen durch Eintragung in dafür vorgesehene<br />

Leerräume des Formulars erfolgt.<br />

Hinweis:<br />

Im Wohnraummietrecht gibt es inzwischen ähnliche Fallgestaltungen bei Schönheitsreparaturklauseln:<br />

Auch dort werden dem Mieter alternative Formularverträge oder nur -klauseln bei unterschiedlicher Miethöhe<br />

zur Unterzeichnung vorgelegt. Diese Vorgehensweise ändert nichts daran, dass es sich um vom Vermieter<br />

gestellte Formularklauseln handelt.<br />

Zum Schluss hat der VIII. Senat in seiner Entscheidung für das weitere Verfahren noch auf folgende<br />

beiden Punkte hingewiesen:<br />

1. Ein individualvertraglicher Kündigungsausschluss kann auf Dauer vereinbart werden. Eine Grenze wird<br />

bei einem individuell vereinbarten Kündigungsausschluss nur durch § 138 BGB gesetzt, etwa bei<br />

Ausnutzung einer Zwangslage einer Partei oder beim Vorliegen sonstiger Umstände, die der Vereinbarung<br />

das Gepräge eines sittenwidrigen Rechtsgeschäfts geben. Die individuelle Vereinbarung eines<br />

dauerhaften Ausschlusses der ordentlichen Kündigung ist daher grundsätzlich möglich. In Betracht<br />

käme allenfalls, nach Ablauf von 30 Jahren in entsprechender Anwendung des § 544 BGB eine<br />

außerordentliche Kündigung mit gesetzlicher Frist anzunehmen.<br />

830 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 931<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

2. Auch bei Annahme eines formularvertraglichen Kündigungsausschlusses dürfte dem Vermieter eine<br />

ordentliche Kündigung verwehrt sein; denn die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen soll<br />

nur den Vertragspartner des Verwenders vor einer unangemessenen Benachteiligung durch missbräuchliche<br />

Inanspruchnahme einseitiger Gestaltungsmacht schützen. Will der Vertragspartner des<br />

Verwenders die unwirksamen Geschäftsbedingungen uneingeschränkt gegen sich gelten lassen,<br />

kann es dem Verwender nach Treu und Glauben verwehrt sein, sich auf die Unwirksamkeit zu berufen.<br />

Im Ergebnis anders, aber vom Ansatz gleich, hatte der Senat dies schon bei seiner Entscheidung über<br />

die Anbietpflicht vor einer Mieterhöhung bei unwirksamer Schönheitsreparaturklausel im öffentlich<br />

geförderten Wohnungsbau entschieden (BGH WuM 2017, 663 = GE 2017, 1339 = NZM 2017, 759 = MDR<br />

2017, 1293 = NJW-RR 2017, 1356 = ZMR <strong>2018</strong>, 27 = MietPrax-AK § 28 II, BV Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />

DERS. jurisPR-BGHZivilR 21/2017 Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 4; KAPPUS NZM 2017, 762;<br />

BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 343; DRASDO NJW-Spezial 2017, 738).<br />

c) Sperrfrist für Kündigung durch Erwerber-GbR<br />

Um die Mieter vor alternativen Umwandlungsmodellen (z.B. Münchener-Modell) zu schützen, hat der<br />

Gesetzgeber ab Mai 2013 die Vorschrift des § 577a BGB durch Einfügung eines Absatzes 1a verschärft.<br />

Danach gilt die Kündigungssperrfrist nach Absatz 1 von 3–10 Jahren auch, wenn vermieteter Wohnraum<br />

nach der Überlassung an den Mieter an eine Personengesellschaft oder an mehrere Erwerber veräußert<br />

worden ist. Diese Kündigungsbeschränkung erfordert gerade nicht, dass an dem vermieteten Wohnraum<br />

Wohnungseigentum begründet worden ist oder der Erwerber zumindest die Absicht hat, eine solche<br />

Wohnungsumwandlung vorzunehmen (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 275/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 584 = WuM <strong>2018</strong>, 292 = GE<br />

<strong>2018</strong>, 579 = NZM <strong>2018</strong>, 388 = MietPrax-AK § 577a BGB Nr. 3 m. Anm. EISENSCHMID; HÄUBLEIN MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>3;<br />

BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 11/<strong>2018</strong> Anm. 1; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 385). Das ergibt sich bereits aus<br />

dem Wortlaut der Vorschrift. Außerdem sprächen die historische, die systematische und die teleologische<br />

Auslegung der Norm für dies Ergebnis. Damit wird die Rechtsprechung des VIII. Senats zur Eigenbedarfskündigung<br />

einer GbR ein wenig relativiert.<br />

d) Umdeutung einer Kündigungserklärung<br />

Die Umdeutung einer fristlosen in eine ordentliche Mietvertragskündigung ist zulässig und angebracht,<br />

wenn für den Kündigungsgegner erkennbar nach dem Willen des Kündigenden das Vertragsverhältnis<br />

in jedem Falle zum nächstmöglichen Termin beendet werden soll (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/<strong>2018</strong> = DWW<br />

<strong>2018</strong>, 176 = GE <strong>2018</strong>, 704 = NZM <strong>2018</strong>, 515 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 46 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER<br />

MietRB <strong>2018</strong>, 199; EISENSCHMID jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 3).<br />

2. Außerordentliche Kündigung<br />

Die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund nach Tod des Mieters in § 563 Abs. 4 BGB fristet<br />

eher ein Mauerblümchen-Dasein. Kürzlich musste sich der BGH (WuM <strong>2018</strong>, 153 = GE <strong>2018</strong>, 385 = MDR <strong>2018</strong>,<br />

397 = DWW <strong>2018</strong>, 99 = NZM <strong>2018</strong>, 325 = ZMR <strong>2018</strong>, 405 = MietPrax-AK § 563 BGB Nr. 2 m. Anm. EISENSCHMID;<br />

HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, 97; BEYER jurisPR-MietR 8/<strong>2018</strong> Anm. 3; KAPPUS NZM <strong>2018</strong>, 331) damit aber einmal<br />

befassen. Nach seiner Entscheidung kann grundsätzlich eine objektiv feststehende finanzielle Leistungsunfähigkeit<br />

eines nach dem Tod des Mieters in das Mietverhältnis Eintretenden einen solchen wichtigen<br />

Grund zur Kündigung des Mietverhältnisses darstellen. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass dem<br />

Vermieter ein Zuwarten, bis die Voraussetzungen einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs nach § 543<br />

Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB erfüllt sind, nicht zuzumuten ist. Erforderlich ist aber, dass die finanzielle Leistungsunfähigkeit<br />

auf konkreten Anhaltspunkten und objektiven Umständen beruht, die nicht bloß die<br />

Erwartung rechtfertigen, sondern vielmehr den zuverlässigen Schluss zulassen, dass fällige Mietzahlungen<br />

alsbald ausbleiben werden. Solche Anhaltspunkte fehlen dann, wenn Geldquellen vorhanden sind, die die<br />

Erbringung der Mietzahlungen sicherstellen, wie dies etwa bei staatlichen Hilfen, sonstigen Einkünften oder<br />

vorhandenem Vermögen der Fall ist.<br />

Darüber hinaus musste der Senat sich mit der Frage beschäftigen, ob der Wunsch, nach dem Tod eines bisherigen<br />

Wohngenossen nicht allein zu leben, ein nach Abschluss des Mietvertrags entstandenes berechtigtes<br />

Interesse an der Überlassung eines Teils des Wohnraums an einer Untervermietung begründen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 831


Fach 4 R, Seite 932<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

kann. Diesen Wunsch hat der Senat für die Berechtigung, eine Untermieterlaubnis zu erhalten, ebenso<br />

bejaht, wie die Absicht, Mietaufwendungen teilweise durch eine Untervermietung zu decken. Dabei kommt<br />

es für die Beurteilung der Frage, ob das berechtigte Interesse nach Abschluss des Mietvertrags entstanden<br />

ist, auch bei einem nach § 563 Abs. 1, 2 BGB erfolgten Eintritt eines Mieters auf den Zeitpunkt des<br />

Abschlusses des ursprünglichen Mietvertrags an.<br />

3. Widerspruch gegen Mietvertragsfortsetzung<br />

Der die stillschweigende Verlängerung eines Mietverhältnisses nach Ablauf der Mietzeit hindernde<br />

Widerspruch kann nicht nur in der Kündigung oder bereits im Mietvertrag erfolgen, möglich ist auch, diesen<br />

konkludent vor Beendigung des Mietverhältnisses zu erklären. Eine solche konkludente Widerspruchserklärung<br />

muss den Willen, die Fortsetzung des Vertrags abzulehnen, eindeutig zum Ausdruck bringen. In<br />

einem Räumungsverlangen kann eine solche konkludente Widerspruchserklärung liegen (BGH GE <strong>2018</strong>,<br />

450 = MDR <strong>2018</strong>, 5<strong>16</strong> = NZM <strong>2018</strong>, 333 = MietPrax-AK § 545 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-<br />

BGHZivilR 5/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; MONSCHAU MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>6/<strong>16</strong>7).<br />

XI.<br />

Schadensersatzansprüche<br />

1. Kündigungsfolgeschaden<br />

Nach einer außerordentlichen Vermieterkündigung eines befristeten Mietverhältnisses kann der<br />

Vermieter vom Mieter den Mietausfallschaden auch dann verlangen, wenn es gem. § 545 BGB zu<br />

einer stillschweigenden unbefristeten Vertragsverlängerung kommt und der Mieter in der Folge<br />

seinerseits ordentlich kündigt. Dabei muss der Vermieter insbesondere bei einem noch längere Zeit<br />

laufenden Mietvertrag schon versuchen, die Mietsache anderweitig zu vermieten, um den Schaden<br />

gering zu halten (BGH GE <strong>2018</strong>, 450 = MDR <strong>2018</strong>, 5<strong>16</strong> = NZM <strong>2018</strong>, 333 = MietPrax-AK § 545 BGB Nr. 3 m.<br />

Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR 5/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; MONSCHAU<br />

MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>6/<strong>16</strong>7). Der Mieter schuldet diesen Schadensersatzanspruch ohne Mehrwertsteuer.<br />

2. Schadensersatz ohne Fristsetzungserfordernis<br />

Seit der Schuldrechtsreform unterscheidet der allgemeine Teil des Schuldrechts zwischen Schadensersatzansprüchen<br />

„neben der Leistung“ und solchen „statt der Leistung“. Für die Praxis bedeutsam ist die<br />

Unterscheidung vor allem wegen des Fristsetzungserfordernisses. Während Schadensersatz neben der<br />

Leistung gem. § 280 BGB keine Fristsetzung voraussetzt, muss der Gläubiger, wenn er Schadensersatz<br />

statt der Leistung verlangt, dem Schuldner zunächst eine Frist zur Leistungserfüllung setzen. Im Mietrecht<br />

stellt sich die Frage der dogmatischen Einordnung vor allem bei den diversen Ansprüchen des<br />

Vermieters nach Rückgabe der Mietsache in nicht vertragsgemäßem Zustand. Die Abgrenzung war in<br />

der Instanzrechtsprechung etwas unterschiedlich. Nunmehr haben zunächst der VIII. Senat für Wohnraummiete<br />

(BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 247/<strong>2018</strong> = NJW <strong>2018</strong>, 1746 = WuM <strong>2018</strong>, 196 = NZM <strong>2018</strong>, 320 = MDR <strong>2018</strong>,<br />

658 = GE <strong>2018</strong>, 633 = ZMR <strong>2018</strong>, 492 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 6 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS<br />

jurisPR-BGHZivilR 7/<strong>2018</strong> Anm. 1; FERVERS NZM <strong>2018</strong>, 324; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 321; BEUERMANN GE <strong>2018</strong>,<br />

6<strong>16</strong>) und dann der XII. Senat für die Gewerberaummiete (BGH Urt. v. 27.6.<strong>2018</strong> – XII ZR 79/17, MietPrax-AK<br />

§ 280 BGB Nr. 8 m. Anm. EISENSCHMID) hier für etwas Klarheit gesorgt:<br />

Schäden an der Sachsubstanz der Mietsache, die durch eine Verletzung von Obhutspflichten des<br />

Mieters entstanden sind, hat dieser nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB als Schadensersatz neben der<br />

Leistung nach Wahl des Vermieters durch Wiederherstellung (§ 249 Abs. 1 BGB) oder durch Geldzahlung<br />

(§ 249 Abs. 2 BGB) zu ersetzen. Einer vorherigen Fristsetzung des Vermieters bedarf es dazu nicht. Das<br />

gilt unabhängig von der Frage, ob es um einen Schadensausgleich während eines laufenden<br />

Mietverhältnisses oder nach dessen Beendigung geht.<br />

Hinweis:<br />

Immer wenn der Anspruch auf eine Veränderung des Zustands gerichtet ist, handelt es sich aber um einen<br />

Anspruch statt der Leistung, für den eine vorherige Fristsetzung erforderlich ist (s. ausführlich FERVERS<br />

WuM 2017, 429).<br />

832 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 933<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

3. Schadensersatz wegen Schneeglätte auf Gehweg<br />

Ein Vermieter und Grundstückseigentümer, dem die Gemeinde nicht als Anlieger die allgemeine Räumund<br />

Streupflicht übertragen hat, ist regelmäßig nicht aus dem Mietvertrag gem. § 535 Abs. 1 BGB<br />

verpflichtet, auch über die Grundstücksgrenze hinaus Teile des öffentlichen Gehwegs zu räumen und<br />

zu streuen. Entsprechendes gilt für die allgemeine (deliktische) Verkehrssicherungspflicht des Grundstückseigentümers<br />

aus § 823 Abs. 1 BGB (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 334/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 669 = GE <strong>2018</strong>, 757 =<br />

NZM <strong>2018</strong>, 509 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 7 m. Anm. EISENSCHMID; ABRAMENKO MietRB <strong>2018</strong>, 209).<br />

XII. Prozessrecht<br />

1. Zulässigkeit einer Saldoklage<br />

Die Miete für jeden Monat stellt eine selbstständige Forderung und keine Kontokorrentforderung dar.<br />

Bei den einzelnen Zahlungen des Mieters stellt sich deshalb die Frage, wie diese Zahlungen jeweils auf<br />

die verschiedenen Forderungen zu verrechnen sind. Neben der Unterscheidung in Mietforderungen für<br />

die jeweiligen Monate muss bei jeder einzelnen Mietforderung noch unterschieden werden zwischen<br />

dem Anspruch auf Zahlung der Grundmiete und dem auf Zahlung der Betriebskostenvorauszahlungen.<br />

Außerdem kann der Mieter auch noch Einmalzahlungen schulden, wie Betriebskostennachzahlungen,<br />

Schadensersatz und Prozesskosten. Bei der Betrachtung des Problems muss zwischen zwei Fragen<br />

unterschieden werden: Die Klage ist nur zulässig, wenn sich aus der Klage ergibt, welcher Anspruch<br />

denn nun rechtshängig geworden ist.<br />

Hinweis:<br />

Das festzustellen fällt in der Praxis häufig schwer, weil im Massengeschäft der Großvermieter mit Mieterkontoblättern<br />

gearbeitet wird, mit denen die Vermieter und ihre anwaltlichen Vertreter Gesamtrückstände<br />

geltend machen, ohne groß auf die juristischen Unterscheidungen zu achten.<br />

Bei der Begründetheit der Klage ist dann zu überprüfen, ob unter Berücksichtigung der Zahlungen<br />

dieser durch Auslegung ermittelte Streitgegenstand ggf. durch Erfüllung untergegangen ist.<br />

Der BGH hat in zwei Urteilen (NZM <strong>2018</strong>, 444 = WuM <strong>2018</strong>, 373 = MDR <strong>2018</strong>, 785 = MietPrax-AK § 253<br />

ZPO Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. LMK <strong>2018</strong>, 405944; HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>1; SELK NZM <strong>2018</strong>, 453;<br />

BACHER MDR <strong>2018</strong>, 779 und BGH WuM <strong>2018</strong>, 278 = NZM <strong>2018</strong>, 454 = MietPrax-AK § 253 ZPO Nr. 3 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS; HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, 129; BÖRSTINGHAUS BGHZivilR 10/<strong>2018</strong> Anm. 2) zu dieser Problematik<br />

außergewöhnlich ausführlich Stellung genommen: Macht ein Vermieter Mietrückstände (und ggf.<br />

sonstige aus dem Mietverhältnis resultierende Forderungen) geltend und bezieht er sich dabei auf den<br />

Inhalt eines Mietkontos, in das Bruttomieten und damit auch Ansprüche auf Nebenkostenvorauszahlungen<br />

eingestellt sind, bringt er beim Fehlen weiterer Erklärungen zum Ausdruck, dass er diese<br />

Ansprüche und nicht Nachforderungen aus erteilten Nebenkostenabrechnungen zum Gegenstand<br />

seiner Klage macht. Berücksichtigt der Vermieter in dem der Klage zugrunde gelegten Mietkonto<br />

zugunsten des Mieters Zahlungen und Gutschriften, ohne diese konkret einer bestimmten Forderung<br />

oder einem bestimmten Forderungsteil zuzuordnen, stellt dies die Bestimmtheit des Klageantrags<br />

nicht ohne Weiteres in Frage. Vielmehr kommt hier im Rahmen der gebotenen Auslegung des Klagebegehrens<br />

auch ohne ausdrückliche Verrechnungs- oder Aufrechnungserklärung ein Rückgriff auf die<br />

gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB in Betracht. Handelt es sich nicht um Zahlungen<br />

des Mieters, sondern um Gutschriften des Vermieters, kommt eine entsprechende Anwendung<br />

von § 366 Abs. 2 BGB in Betracht. Sind in das dem Klagebegehren zugrunde liegende Mietkonto<br />

Bruttomieten aus mehreren Zeiträumen eingestellt, sind die Verrechnungsgrundsätze wie folgt<br />

anzuwenden und zu kombinieren:<br />

1. Für die Tilgung der jeweiligen Bruttomiete unzureichende Zahlungen/Gutschriften sind zunächst auf<br />

die darin enthaltene Forderung auf Erbringung von Nebenkostenvorauszahlungen anzurechnen.<br />

2. Werden Bruttomietrückstände aus mehreren Jahren oder mehreren Monaten geltend gemacht, ist<br />

stets eine Anrechnung auf die ältesten Rückstände vorzunehmen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 833


Fach 4 R, Seite 934<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

2. Beschleunigungsgebot für Räumungsverfahren<br />

Durch das Mietrechtsänderungsgesetz ist in § 272 Abs. 4 ZPO ein Beschleunigungsgebot für<br />

Räumungsverfahren ins Gesetz eingeführt worden. Danach sind alle Räumungssachen im Geschäftsgang<br />

der Gerichte vorrangig und beschleunigt zu bearbeiten. Die Vorschrift beruht auf der<br />

Überlegung, dass Mietrückstände während eines Räumungsverfahrens üblicherweise größer werden.<br />

Das soll so weit wie möglich vermieden werden. Die Neuregelung gilt aber auch für Räumungsverfahren<br />

aufgrund von Kündigungen, die nicht auf Zahlungsrückstand beruhen. § 272 Abs. 4 ZPO<br />

bezweckt den Schutz des Vermieters. Das Beschleunigungsgebot richtet sich an das Gericht (BGH <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 286/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 222 = NZM <strong>2018</strong>, 287 = NJW <strong>2018</strong>, 1400 = MietPrax-AK § 272 ZPO Nr. 1<br />

m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR 8/<strong>2018</strong> Anm. 4; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; JAHREIS<br />

jurisPR-MietR 11/<strong>2018</strong> Anm 4; BIEBER GE <strong>2018</strong>, 6). Die Prozessparteien und ihre Bevollmächtigten sind<br />

keine unmittelbaren Normadressaten. Sie werden jedoch von dem Vorrangs- und Beschleunigungsgebot<br />

mittelbar betroffen, da die Gerichte auf eine Beschleunigung hinwirken müssen. Räumungsprozesse<br />

sind nach dem Willen des Gesetzgebers schneller als andere Zivilprozesse durchzuführen. Sie<br />

sind vorrangig zu terminieren, und die Fristen zur Stellungnahme für die Parteien sind auf das<br />

unbedingt notwendige Maß zu reduzieren.<br />

Hinweis:<br />

Soweit teilweise vertreten wurde, dass in Räumungssachen insbesondere bei Anträgen auf Fristverlängerung<br />

ein besonders strenger Maßstab an die Erheblichkeit der Verlängerungsgründe i.S.d. §§ 224<br />

Abs. 2, 520 Abs. 2 S. 3 ZPO anzulegen sei, folgt der Senat dieser Auffassung ausdrücklich nicht. Eine<br />

„Überbeschleunigung“ werde vom Gericht nicht verlangt.<br />

3. Beschwer bei Räumungsklage<br />

Wenn die Parteien um das Bestehen eines Mietverhältnisses streiten, beträgt die Beschwer die<br />

dreieinhalbfache Jahresmiete (BGH WuM <strong>2018</strong>, 221 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 30 m. Anm.<br />

BÖRSTINGHAUS).<br />

4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />

Voraussetzung für die Einstellung der Zwangsvollstreckung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren<br />

sind unersetzliche Nachteile für den Schuldner. Hierzu zählen solche Nachteile nicht, die der<br />

Schuldner selbst vermeiden kann. Deshalb muss der Schuldner im Berufungsverfahren einen<br />

Vollstreckungsschutzantrag gestellt haben. Daran ändert sich auch nichts, wenn das Berufungsgericht<br />

es rechtsfehlerhaft unterlassen hat, eine Abwendungsbefugnis gem. § 711 ZPO anzuordnen<br />

(BGH WuM <strong>2018</strong>, 221 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 36 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; THEESFELD jurisPR-MietR<br />

10/<strong>2018</strong> Anm. 2).<br />

5. Mieterinsolvenz<br />

Eine Wohnungsgenossenschaft kann sich gegenüber dem Insolvenzverwalter, der die Mitgliedschaft des<br />

Schuldners in der Wohnungsgenossenschaft wirksam gekündigt hat, nicht auf eine Satzungsbestimmung<br />

berufen, nach der der Anspruch auf Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens<br />

erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung des Nutzungsverhältnisses oder der Rückgabe des Nutzungsobjektes<br />

besteht, wenn dadurch eine Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens tatsächlich<br />

ausgeschlossen wird, ohne dass dies durch schützenswerte Interessen der Genossenschaft oder des<br />

Schuldners gerechtfertigt ist. In diesen Fällen scheidet bei einer vor Inkrafttreten des § 67c GenG<br />

ausgesprochenen Kündigung eine geltungserhaltende Reduktion der Satzungsbestimmung auf einen<br />

noch zulässigen Umfang regelmäßig aus (BGH WuM <strong>2018</strong>, 439 = WM <strong>2018</strong>, 1140 = ZIP <strong>2018</strong>, 1256 =<br />

MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 9 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />

834 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1029<br />

Fahrverbot<br />

Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />

Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />

Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Allgemeines<br />

II. Systematische Grundlage<br />

1. Allgemeine Grundlagen<br />

2. Rechtsgrundlage für die Anordnung<br />

(§ 25 Abs. 1 StVG)<br />

III. Absehen von Fahrverbot/Ausnahme im<br />

Einzelfall<br />

1. Prüfungsmaßstab für die Absehensentscheidung<br />

2. Erforderlichkeit des Fahrverbots<br />

3. Angemessenheit des Fahrverbots<br />

4. Fahrverbotsentscheidung bei Verurteilung<br />

nach § 24a StVG<br />

5. Anforderungen an die Urteilsgründe<br />

IV. Verfahrensfragen<br />

1. Dauer des Fahrverbots<br />

2. Mehrere Fahrverbote<br />

3. Anwendung des § 25 Abs. 2a StVG<br />

4. Vollstreckung des Fahrverbots<br />

5. Fahrverbot in der Hauptverhandlung<br />

6. Beschränkung des Einspruchs gegen<br />

den Bußgeldbescheid<br />

I. Allgemeines<br />

Die Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV) sieht als Rechtfolgen bei verschiedenen (schwerwiegenderen)<br />

Verkehrsordnungsordnungswidrigkeiten neben der (Regel-)Geldbuße als Rechtsfolge die Verhängung<br />

eines Fahrverbots vor. Diese Rechtsfolge trifft den Mandanten meist schwerer als die Geldbuße, da er auf<br />

seine Fahrerlaubnis häufig sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich angewiesen ist. Deshalb<br />

richtet sich für den Mandanten das Verteidigungsziel in diesen Fällen i.d.R. darauf, die Verhängung eines<br />

Fahrverbots abzuwenden. Die mit dem Fahrverbot zusammenhängenden Fragen sind daher für den<br />

Verteidiger von erheblicher praktischer Relevanz, die in nachfolgendem Überblick dargestellt werden.<br />

Hinweis:<br />

Die Ausführungen gelten für alle Fälle, in denen nach der BKatV die Verhängung eines Fahrverbots in Betracht<br />

kommt, also nicht etwa nur für Geschwindigkeitsüberschreitungen, sondern z.B. auch für die Fälle der Trunkenheitsfahrt<br />

nach § 24a StVG (wobei aber bestimmte Besonderheiten zu beachten sind, vgl. unten III. 4.), für<br />

die Fälle der erheblichen Abstandsunterschreitung, für falsches Überholen mit Gefährdung oder Sachbeschädigung<br />

oder auch für Fehler beim Überqueren des Bahnübergangs (§ 19 StVO) oder für die Benutzung<br />

eines technischen Geräts, z.B. ein Mobiltelefon (§ 23 Abs. 1a StVO), mit Gefährdung oder Sachbeschädigung<br />

(Nr. 246.3 BKatV). Sie gelten grundsätzlich auch für die Verhängung eines Fahrverbots nach einem Rotlichtverstoß<br />

(Nr. 132.3 ff. BKatV). Nicht dargestellt werden hier aber die mit dem sog. qualifizierten Rotlichtverstoß<br />

zusammenhängenden Fahrverbotsfragen (vgl. dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 919, 928 ff.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 835


Fach 9, Seite 1030<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Der Verteidiger muss die mit einem drohenden Fahrverbot zusammenhängenden Fragen nicht erst in der<br />

Rechtsbeschwerdeinstanz prüfen. Denn in der Praxis sind die Erfolgsaussichten einer Rechtsbeschwerde<br />

gegen ein Fahrverbot inzwischen aufgrund der doch recht strengen Rechtsprechung der OLG verhältnismäßig<br />

gering. Eine Prüfung ist dann meist zu spät, da das OLG an die tatsächlichen Feststellungen des<br />

Tatrichters gebunden ist und es nützt nichts mehr, wenn nun z.B. noch Bescheinigungen über den<br />

drohenden Arbeitsplatzverlust vorgelegt werden. Diese müssen schon in der tatrichterlichen Hauptverhandlung<br />

beim AG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden.<br />

Hinweis:<br />

Die Verteidigung gegen ein Fahrverbot sollte daher spätestens beim AG beginnen. Noch besser ist es, es<br />

erst gar nicht zur Festsetzung eines Fahrverbots im Bußgeldbescheid kommen zu lassen. Deshalb empfiehlt<br />

es sich, das Gespräch mit der Bußgeldbehörde zu suchen und ggf. schon dort zu erreichen, dass<br />

gegen eine Erhöhung der Geldbuße von einem an sich verwirkten Fahrverbot abgesehen wird (zur Verteidigungsstrategie<br />

s. auch BURHOFF VA 2007, 224).<br />

II.<br />

Systematische Grundlage<br />

1. Allgemeine Grundlagen<br />

Nach § 25 Abs. 1 StVG kann gegen den Betroffenen bei Begehung einer Ordnungswidrigkeit nach § 24 bzw.<br />

nach § 24a StVG neben einer Geldbuße ein Fahrverbot angeordnet werden. Dabei kommt die Verhängung<br />

des Fahrverbots nach § 25 StVG dann in Betracht, wenn es sich um eine „grobe“ oder „beharrliche“<br />

Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers handelt. Diese Regelung wird ergänzt durch die BKatV<br />

vom 14.3.2013 (BGBl I, S. 498), die zuletzt durch Art. 3 der VO vom 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549) geändert<br />

worden ist (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung zuletzt BVerfG NJW 1996, 1809 = NZV 1996, 284 =<br />

DAR 1996, 196; BGHSt 38, 125, 135 ff. = NZV 1992, 117, 119 f.), deren Kernstück der Bußgeldkatalog ist.<br />

Hinweis:<br />

Derzeit wird diskutiert, ob die durch die 53. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften<br />

vom 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549, in Kraft seit 19.10.2017) geschaffenen neuen Fahrverbote wirksam<br />

sind. Dabei geht es u.a. um die Nr. 246.2 und 246.3 BKat, die ein einmonatiges Fahrverbot bei rechtswidriger<br />

Nutzung eines elektronischen Geräts beim Führen eines Kfz mit Gefährdung oder Sachbeschädigung normieren.<br />

Die Zweifel an der Wirksamkeit ergeben sich aus der Frage, ob die Fahrverbote wegen einer ins Leere<br />

laufenden Bezugnahme auf die zu ändernde Norm des § 4 Abs. 1 S. 1 BKatV überhaupt wirksam verkündet und<br />

in Kraft getreten sind. Am 3.1.<strong>2018</strong> ist inzwischen zwar eine „Berichtigung der Dreiundfünfzigsten Verordnung<br />

zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ vom 22.12.2017 verkündet worden (BGBl I, S. 53). Fraglich<br />

ist jedoch, ob dieser Weg der schlichten Berichtigung zulässig ist (abl. DEUTSCHER VRR 1/<strong>2018</strong>, 4, 6). Es bleibt<br />

abzuwarten, wie die OLG dies in den Fällen der Nr. 246.2 und 246.3 BKat beurteilen werden.<br />

Nach § 4 Abs. 1 BKatV kommt die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten<br />

eines Kraftfahrzeugführers i.d.R. dann in Betracht, wenn es sich um einen der dort unter den Nr. 1 bis 4<br />

genannten Fälle handelt. Das Regelfahrverbot im Fall des § 24a StVG – 0,5-Promille-Grenze bzw. mehr<br />

als 0,25 mg/l Alkohol in der Atemluft – folgt aus § 4 Abs. 3 BKatV in Zusammenhang mit den dort<br />

genannten Nummern des Bußgeldkatalogs.<br />

Für diese Fälle sieht der Bußgeldkatalog neben der Verhängung der Regelgeldbuße als mögliche<br />

Rechtsfolge die Anordnung eines Regelfahrverbots von einem Monat vor. Wird ausnahmsweise von<br />

einem solchen Fahrverbot abgesehen, soll nach § 4 Abs. 4 BKatV der für den jeweiligen Verstoß<br />

vorgesehene Regelsatz für die Geldbuße angemessen erhöht werden (vgl. dazu III.).<br />

Auf dieser Grundlage bewegt sich die Rechtsprechung der OLG zur BKatV, die wie folgt zusammenzufassen<br />

ist: § 4 BKatV ist keine unverbindliche Richtlinie, sondern eine auch die Gerichte bindende<br />

Rechtsnorm. Die Vorschrift ist als solche verbindlich, allerdings weder zwingend noch in ihrem Bereich<br />

836 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1031<br />

Fahrverbot<br />

ausschließlich. Das in der Vorschrift genannte Regelfahrverbot befreit die Verwaltungsbehörde und das<br />

Gericht auch nicht von einer Einzelfallprüfung, schränkt aber – und das ist für die gerichtliche Alltagspraxis<br />

von besonderer Bedeutung – die Anforderungen an den gerichtlichen Begründungsaufwand im Urteil<br />

ein. Die Erfüllung einer der Tatbestände des § 4 BKatV indiziert nämlich das Vorliegen einer „groben“ oder<br />

„beharrlichen“ Pflichtverletzung i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG und damit zugleich die Erforderlichkeit und<br />

Angemessenheit der Anordnung eines Fahrverbots (vgl. zu allem BGHSt 38, 125 [s.o.]; DEUTSCHER, in:<br />

Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. <strong>2018</strong>, Rn <strong>16</strong>27 ff., <strong>16</strong>44 ff. [im<br />

Folgenden kurz: BURHOFF/BEARBEITER, OWi]). Nach der Rechtsprechung der OLG bleibt daneben für die<br />

Annahme einer Ausnahme im Einzelfall genügend Raum. Liegen hierfür aber keine Anhaltspunkte vor,<br />

muss die Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vom Amtsrichter nicht mehr gesondert<br />

begründet werden. Das gilt grundsätzlich auch für die Frage, ob die beabsichtigte Einwirkung auf den<br />

Täter nicht auch mit einer erhöhten Geldbuße erreicht werden kann. Der Tatrichter muss sich aber der<br />

Möglichkeit, von der Verhängung eines Fahrverbots bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße absehen zu<br />

können, bewusst sein und dies, was häufig übersehen wird, in den Gründen seinen Urteils auch zu<br />

erkennen geben (BGHSt 38, 125 [s.o.]; st. Rspr. aller Obergerichte, s. wegen weiterer Nachw. BURHOFF/<br />

DEUTSCHER, OWi, Rn 1420, 1430 ff.).<br />

2. Rechtsgrundlage für die Anordnung (§ 25 Abs. 1 StVG)<br />

a) Grobe Pflichtwidrigkeit<br />

aa) Regel-Ausnahme-Verhältnis<br />

Nach allgemeiner Ansicht ist auch im Bereich des § 4 BKatV – also z.B. bei Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

oder Rotlichtverstoß – alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots §25<br />

Abs. 1 S. 1 StVG geblieben (vgl. aus der Rspr. nur BGHSt 38, 125 [s.o.]; 43, 241 = NJW 1997, 3252 = NZV 1997,<br />

525; OLG Dresden DAR 2001, 318; OLG Rostock zfs 2004, 480; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>127 ff., <strong>16</strong>29<br />

ff.). § 4 Abs. 1 BKatV stellt lediglich für die dort ausdrücklich genannten besonders schwerwiegenden<br />

Verkehrsverstöße eine Konkretisierung der eigentlichen Androhungsnorm des § 25 StVG dar. Daraus<br />

folgt, dass das Vorliegen einer der Fälle des § 4 BKatV nicht bereits als solches für die Anordnung des<br />

Fahrverbots genügt oder dies gar zwingend macht. Zusätzlich müssen vielmehr auch die Merkmale des<br />

§ 25 Abs. 1 StVG – also in objektiver und subjektiver Hinsicht eine grobe Pflichtwidrigkeit – erfüllt sein.<br />

Um eine grobe Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG handelt es sich, wenn eine Verhaltensweise<br />

vorliegt, die objektiv von besonderem Gewicht ist, da sie immer wieder die Ursache schwerer Unfälle<br />

darstellt, und subjektiv auf besonders grobem Leichtsinn, grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht,<br />

also eine besondere Verantwortungslosigkeit darstellt und besonders verwerflich ist. § 4 BKatV schafft nun<br />

bereits auf der Tatbestandsseite des § 25 StVG für die dort genannten Katalogfälle ein Regel-Ausnahme-<br />

Verhältnis. Bei diesen Katalogfällen handelt es sich um gesetzlich vertypte Vermutungen für grob<br />

pflichtwidrige Verkehrsverstöße, die grobe Pflichtwidrigkeit wird durch sie indiziert (BURHOFF/DEUTSCHER,<br />

OWi, Rn <strong>16</strong>35 ff.). Da aber nach der Rechtsprechung der OLG § 25 Abs. 1 S. 1 StVG die alleinige<br />

Rechtsgrundlage für die Anordnung des Fahrverbots geblieben ist, handelt es sich um eine widerlegliche<br />

Vermutung. Das bedeutet, dass trotz Vorliegens einer Katalogtat die besonderen Umstände des Einzelfalls<br />

die Vermutungs- und Indizwirkung für eine grobe Pflichtwidrigkeit entkräften können. Auch bei Begehung<br />

einer Katalogtat sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Fahrverbot also nicht erfüllt, wenn ausnahmsweise<br />

der Täter nicht besonders verantwortungslos gehandelt hat oder er nicht den erforderlichen<br />

Grad der Gefahr geschaffen hat. Allerdings wird z.B. nicht von einem Fahrverbot abgesehen bei nur<br />

geringfügiger Überschreitung des Gefahrengrenzwerts bei § 24a StVG (OLG Bamberg VRR 2013, 115; OLG<br />

Hamm VRR 2009, 430; m.w.N. bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi,Rn1297).<br />

bb) Subjektive Vorwerfbarkeit/Augenblicksversagen<br />

(1) Allgemeines<br />

An dieser Stelle hat die Rechtsprechung des BGH zum „Augenblicksversagen“ im Beschluss von 11.9.1997<br />

(BGHSt 43, 241 [s.o.]) Bedeutung für die anwaltliche Tätigkeit: Der BGH hat in der Entscheidung bei<br />

einer Geschwindigkeitsüberschreitung – die Rechtsprechung ist auch auf den Rotlichtverstoß<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 837


Fach 9, Seite 1032<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

ausgedehnt worden (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 96, 64 = NZV 1999, 176) – die Anordnung eines<br />

Fahrverbots dann abgelehnt, wenn das die Geschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen infolge<br />

leichter Fahrlässigkeit, d.h. infolge eines sog. Augenblicksversagens, übersehen wurde (BGH a.a.O., zu<br />

allem auch BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1441 ff.; BURHOFF VA 2001, <strong>16</strong>9; KRUMM VRR 2005, 126; FROMM VRR<br />

2010, 410). Es fehle dann an dem subjektiven Element der groben Pflichtwidrigkeit.<br />

Hinweis:<br />

Folge dieser Rechtsprechung ist, dass dann, wenn ein Augenblicksversagen zu bejahen ist und ein Fahrverbot<br />

nicht verhängt wird, nicht die Geldbuße – wegen des Absehens vom Fahrverbot – erhöht werden<br />

darf (OLG Bamberg StraFo 20<strong>16</strong>, 1<strong>16</strong> = VRR 4/20<strong>16</strong>, 13; OLG Hamm NZV 1998, 334 = DAR 1998, 323; OLG<br />

Naumburg zfs 20<strong>16</strong>, 594; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1444;), denn es handelt sich nicht um einen „typischen“<br />

Fall des Absehens vom Fahrverbot. Vielmehr darf das Fahrverbot, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen<br />

schon aus anderen Gründen nicht vorliegen, überhaupt nicht verhängt werden. Damit liegt die<br />

Grundvoraussetzung für ein Absehen vom Fahrverbot und damit für eine Erhöhung der Geldbuße nicht vor.<br />

Allerdings macht der BGH (BGHSt 43, 241 [s.o.]) von seinen Vorgaben zwei Einschränkungen:<br />

1. Die Bußgeldstellen und die Gerichte dürfen von dem Grundsatz ausgehen, dass Vorschriftszeichen<br />

von Verkehrsteilnehmern i.d.R. wahrgenommen werden. Die Folgen eines möglichen Übersehens<br />

müssten deshalb nur dann geprüft werden, wenn sich dafür Anhaltspunkte ergeben oder der<br />

Betroffene dies im Verfahren einwendet. Auch, wenn die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />

nur durch ein einmalig und einseitig aufgestelltes Vorschriftszeichen erfolgt, soll nichts<br />

anderes gelten (vgl. OLG Celle VRS 131, 319; a.A. OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.2.2017 – (1) 53 Ss-OWi<br />

56/17 (34/17), es sei denn, es treten weitere besondere Umstände hinzu (OLG Celle a.a.O.).<br />

2. Der BGH geht davon aus, dass selbst dann, wenn ein Übersehen des Verkehrszeichens nicht zu<br />

widerlegen ist, eine grobe Pflichtwidrigkeit auch in subjektiver Hinsicht nicht ausgeschlossen ist,<br />

wenn das Übersehen des Verkehrszeichens selbst auf grober Nachlässigkeit beruht (s. auch OLG<br />

Karlsruhe NZV 2004, 211; OLG Stuttgart DAR 2010, 402). Das nimmt der BGH (a.a.O.) z.B. an, wenn<br />

das Verkehrszeichen auf der Strecke vor der Messstelle mehrfach wiederholt wurde oder der<br />

Messstelle ein sog. Geschwindigkeitstrichter vorausging. Dasselbe gelte, wenn sich die Möglichkeit<br />

einer Geschwindigkeitsbeschränkung durch die äußere Situation, wie etwa in einem Baustellenbereich<br />

oder durch die Art der Bebauung oder die Ortslage, jedermann aufdränge (BGH a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Zu beiden Punkten ist der Verteidiger gefordert, denn:<br />

• Er muss im Gespräch mit dem Mandanten die mit dem „Übersehen“ des (geschwindigkeitsbeschränkenden)<br />

Verkehrszeichens zusammenhängenden Fragen erörtern und diese – möglichst früh, spätestens<br />

aber in der Hauptverhandlung und nicht erst in der Rechtsbeschwerde – vortragen.<br />

• In der Hauptverhandlung muss er darlegen und ggf. durch einen Beweisantrag dokumentieren, dass<br />

eben eine die grobe Pflichtverletzung indizierende Ausgestaltung nicht vorhanden ist bzw. war. Das AG<br />

muss diese Einlassung dann prüfen (OLG Zweibrücken DAR 2003, 134; ähnlich OLG Hamm VA 2003, 57;<br />

zum Aufdrängen der Indizwirkung OLG Jena NZV 2008, <strong>16</strong>5).<br />

• Ist Rechtsbeschwerde eingelegt, muss das angefochtene Urteil darauf überprüft werden, ob es zu<br />

diesen Fragen ausreichende tatsächliche Feststellungen enthält. Ist das nicht der Fall, muss in der<br />

Rechtsbeschwerdebegründung dazu vorgetragen werden.<br />

(2) Rechtsprechung<br />

Zur Frage des sog. Augenblicksversagens hat sich seit Veröffentlichung der Entscheidung des BGH (BGHSt<br />

43, 241 [s.o.]) eine umfangreiche Kasuistik der OLG entwickelt. Diese kann hier nur überblicksartig in<br />

Fallgruppen zusammengefasst werden (vgl. dazu auch BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1454 m.w.N.; s. auch<br />

noch die Rspr.-Zusammenstellung bei BURHOFF, in: LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF, Praxis des Straßenverkehrsrechts,<br />

5. Aufl. 2015, § 5 Rn <strong>16</strong>9):<br />

838 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1033<br />

Fahrverbot<br />

• Allein die Höhe der Geschwindigkeit kann für sich die grobe Pflichtwidrigkeit nicht begründen (BGH<br />

a.a.O.; so auch OLG Düsseldorf NZV 2010, 262 = VRR 2010, 351; OLG Zweibrücken DAR 1998, 362 für<br />

eine Überschreitung der Geschwindigkeit um 50 km/h außerorts). Es dürfte aber die Faustregel<br />

gelten, dass je höher die gefahrene Geschwindigkeit ist, desto größer sind bei entsprechenden<br />

örtlichen Gegebenheiten die Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer. Allerdings werden außerorts<br />

und insbesondere auf Autobahnen geringere Anforderungen an den Fahrer zu stellen sein (dazu<br />

eingehend BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 14, 55 ff. m.w.N.). Der Betroffene kann sich nicht darauf<br />

berufen, dass es zu der Geschwindigkeitsüberschreitung anlässlich eines Überholmanövers<br />

gekommen sei (OLG Bamberg StraFo <strong>2018</strong>, 173). Das Überholen begründet keinen Ausnahmeumstand<br />

im Sinne geringen Verschuldens (OLG Bamberg a.a.O.), und zwar auch dann nicht, wenn es<br />

sich bei dem Tatort um eine übersichtliche, breit ausgebaute und schnurgerade verlaufende<br />

Fahrbahn ohne Wohnbebauung oder Fußgängerverkehr handelt.<br />

• Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb geschlossener Ortschaften wird leichte Fahrlässigkeit<br />

des Betroffenen i.d.R. nur dann in Betracht kommen, wenn er als Fahrer das Ortseingangsschild<br />

übersehen hat und er auch die geschlossene Ortschaft als solche nicht erkennen<br />

konnte, wobei letzteres nur ausnahmsweise der Fall sein wird (OLG Celle NZV 1998, 254, 255; s. aber<br />

BayObLG VRS 95, 130 = zfs 1998, 234 [Übersehen zur Nachtzeit]). Nur leichte Fahrlässigkeit wird auch<br />

dann ausgeschlossen sein, wenn der Betroffene in der Nähe des Tatorts wohnt oder die Strecke, auf<br />

der die Geschwindigkeitsüberschreitung begangen wurde, regelmäßig befährt (OLG Köln NZV 1998,<br />

<strong>16</strong>4; vgl. i.Ü. BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1461 ff., dort in den Rn 1465 ff. zur Tempo-30-Zone).<br />

• Die Rechtsprechung zum Augenblicksversagen gilt auch bei Rotlichtverstößen (s.o.). Ein Fahrverbot<br />

kann daher nicht verhängt werden, wenn der Betroffene nur aus leichter Fahrlässigkeit das Rotlicht<br />

der Lichtzeichenanlage übersieht (vgl. dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 919, 928 ff.).<br />

b) Beharrlicher Verstoß<br />

Nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG und § 4 BKatV kommt die Verhängung eines Fahrverbots auch im Fall der<br />

„beharrlichen“ Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in Betracht (vgl. dazu eingehend<br />

BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1510; BURHOFF VA 2014, 158; DEUTSCHER VRR 2007, <strong>16</strong>9). Die Annahme einer<br />

beharrlichen Pflichtverletzung setzt nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 38, 231 = NJW 1992, 1397;<br />

s. auch BayObLG DAR 2000, 222; OLG Köln NZV 2001, 442; OLG Jena NZV 1999, 304; OLG Hamm NZV<br />

2000, 53; NZV 2001, 221) voraus, dass der Kfz-Führer wiederholt Pflichtverletzungen begeht, die nach<br />

ihrer Art oder den Begehungsumständen für sich allein betrachtet nicht zu den objektiv oder subjektiv<br />

groben Verstößen zählen. Durch die wiederholte Begehung dieser Pflichtverletzungen gibt der Fahrer<br />

jedoch zu erkennen, dass es ihm an der für die Teilnahme am Straßenverkehr erforderlichen rechtstreuen<br />

Gesinnung und der notwendigen Einsicht in zuvor begangenes Unrecht fehlt. Eine beharrliche<br />

Pflichtverletzung begeht also nur, wer die Vorschriften aus mangelnder Rechtstreue verletzt (zur<br />

Feststellung eines beharrlichen Fehlverhaltens s. BayObLG zfs 2004, 138).<br />

Für die Annahme von Beharrlichkeit ist Vorsatz nicht erforderlich, es kann auch die Häufung nur leicht<br />

fahrlässiger Verstöße mangelnde Rechtstreue und eine gemeinschädliche Grundhaltung des Fahrers<br />

offenbaren (OLG Hamm NZV 2001, 222). Vorsätzliche Begehung spricht jedoch für Beharrlichkeit (KG<br />

DAR 2004, 594 = VRS 107, 213). Allein eine gewisse Anzahl von Verkehrsverstößen reicht jedoch nicht<br />

aus. Es muss zudem die subjektive Voraussetzung der fehlenden rechtstreuen Gesinnung vorliegen<br />

(OLG Braunschweig DAR 1999, 273 = NZV 1999, 303; OLG Hamm a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Von Bedeutung ist auch hier die Rechtsprechung des BGH zum „Augenblicksversagen“ (BGHSt 43, 241 [s.o.]).<br />

Soll nämlich ein Fahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzt werden – also nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

von mindestens 26 km/h innerhalb eines Jahres eine weitere in dieser Höhe – dann muss, da<br />

auch dem Fahrverbot aufgrund „Beharrlichkeit“ der Vorwurf der besonderen Verantwortungslosigkeit zugrunde<br />

liegt, dieser zweite Vorwurf im Sinn der Rechtsprechung des BGH subjektiv grob pflichtwidrig sein<br />

(OLG Braunschweig a.a.O.; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 374 = NZV 2000, 92; OLG Köln NZV 2001, 442; a.A.<br />

OLG Koblenz VA 2003, 175).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 839


Fach 9, Seite 1034<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Es muss zwischen den Verkehrsordnungswidrigkeiten, die die Annahme von „Beharrlichkeit“ begründen<br />

sollen, ein innerer Zusammenhang bestehen (OLG Braunschweig NZV 1998, 420; OLG Karlsruhe DAR<br />

1999, 417). Nicht erforderlich ist aber, dass es sich um Verkehrsordnungswidrigkeiten desselben Typs<br />

handelt BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1525 ff. m.w.N.). Auch spielt der zeitliche Ablauf der Taten eine Rolle<br />

– es gibt zwar keinen Grenzwert für die „Rückfallgeschwindigkeit“, als Faustregel wird man aber<br />

feststellen können, dass ein Zeitabstand i.d.R. der Annahme von Beharrlichkeit entgegenstehen dürfte<br />

(BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1528 mit Rspr.-Zusammenstellung).<br />

Hinweis:<br />

Es müssen sich aus den tatsächlichen Feststellungen die Voraussetzungen für die Annahme von Beharrlichkeit<br />

ergeben (zur Feststellung eines beharrlichen Fehlverhaltens BayObLG zfs 2004, 138; OLG Bamberg<br />

VA 2006, 68). Diese müssen i.d.R. Angaben zu den Vorahndungen enthalten, die nicht der einseitig subjektiven<br />

Darstellung des Betroffenen entnommen werden können (OLG Bamberg a.a.O.). Das Tatgericht<br />

kann bei der Bewertung eines Pflichtenverstoßes als „beharrlich“' wegen der noch verwertbaren Vorahndungen<br />

des Betroffenen grundsätzlich von der Richtigkeit der Eintragungen im Fahreignungsregister ausgehen<br />

(OLG Bamberg VRR 2013, 310 = NZV 2014, 98).<br />

c) Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots<br />

Liegt nach allem eine Katalogtat mit „grober“ Pflichtwidrigkeit vor, so kommt nach § 4 Abs. 1 BKatV die<br />

Anordnung des Fahrverbots „in der Regel“ in Betracht. Durch diese Formulierung wird das in § 25 Abs. 1<br />

StVG dem Richter eingeräumte „Verhängungsermessen“ –es ist dort formuliert: „kann“ –eingeengt.<br />

Bevor auf die Regelwirkung eingegangen wird, soll kurz dargestellt werden, welche Erwägungen auf der<br />

Rechtsfolgenseite hinsichtlich der möglichen Verhängung eines Fahrverbots anzustellen sind. Dazu gilt:<br />

Ziel des Fahrverbots ist die erzieherische Einwirkung auf den Betroffenen in Form der – Ihnen allen aus<br />

obergerichtlichen Entscheidungen bekannten –„Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme“. Ein Fahrverbot<br />

darf daher grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn es kein milderes Mittel gibt, um den mit<br />

ihm erstrebten Zweck in gleich guter Weise zu erreichen. An der Erforderlichkeit des Fahrverbots fehlt<br />

es daher, wenn die Einwirkung auf den Täter stattdessen auch durch eine erhöhte Geldbuße erreicht<br />

werden kann.<br />

Das Fahrverbot muss zudem auch angemessen sein. Das bedeutet, dass ein an sich erforderliches<br />

Fahrverbot nicht angeordnet werden darf, wenn die daraus resultierenden Folgen den Betroffenen<br />

unzumutbar belasten würden. An Stelle des Fahrverbots kann dann die Geldbuße gem. § 4 Abs. 4 BKatV<br />

angemessen erhöht werden.<br />

Hinweis:<br />

In der neueren Rechtsprechung wird der Betroffene häufig darauf verwiesen, dass es ihm ggf. zumutbar<br />

sei, die durch ein Fahrverbot auftretenden finanziellen Belastungen notfalls durch eine Kreditaufnahme<br />

auszugleichen (vgl. BayObLG NZV 2002, 143; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 312; OLG Karlsruhe NZV 2004,<br />

653; OLG Hamm VRR 2012, 308 = DAR 2012, 477; OLG Düsseldorf VRR 2008, 234, enger OLG Hamm VRR<br />

2007, 275 = zfs 2007, 474 und dazu KRUMM NZV 2007, 561). Diese Auffassung erscheint sehr fraglich und ist<br />

abzulehnen (BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1320, 1358).<br />

d) Regelwirkung<br />

Im Bereich der Regelwirkung geht es um die Frage, welche Auswirkungen diese bei der Beurteilung von<br />

Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots hat. Insoweit ist zu unterscheiden (vgl. auch<br />

LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5 Rn 181 f.):<br />

• Bei einem Verstoß gegen § 24a StVG formuliert § 25 Abs. 1 S. 2 StVG, dass ein Fahrverbot „in der<br />

Regel anzuordnen ist“. Das ist nach allgemeiner Meinung eine strikte oder sehr strenge Regel-<br />

840 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1035<br />

Fahrverbot<br />

anordnung. In diesen Fällen ist daher ein Fahrverbot i.d.R. angemessen und auch erforderlich,<br />

weshalb ein Absehen vom Fahrverbot nach allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung nur bei<br />

außergewöhnlichen Tatumständen oder Härten in Betracht kommt (z.B. OLG Hamm, zuletzt VRR<br />

2012, 308 = DAR 2012, 477).<br />

• Handelt es sich – wie bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder einem Rotlichtverstoß – um die<br />

Anordnung nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, ist dort weicher formuliert. Danach „kann“ ein Fahrverbot<br />

angeordnet werden. Die unterschiedlichen Formulierungen wirken sich nach Auffassung des BGH<br />

(BGHSt 38, 125, 137 [s.o.]) aber erst beim Absehen vom an sich gebotenen Fahrverbot aus. Im Fall des<br />

§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG sind nämlich nicht „Härten ganz außergewöhnlicher Art“ erforderlich, sondern das<br />

Absehen ist schon dann möglich, wenn „erhebliche Härten“ vorliegen oder eine Vielzahl für sich<br />

genommen gewöhnlicher und/oder durchschnittlicher Umstände (z.B. BayObLG NZV 1996, 374; OLG<br />

Hamm DAR 2001, 229; NZV 2003, 398 f.; OLG Karlsruhe NZV 2006, 326). An dieser Stelle ist also auf<br />

jeden Fall Raum für eine Einzelfallprüfung täterbezogener Umstände, was dann zum Absehen vom<br />

Fahrverbot führen kann.<br />

e) Checkliste<br />

Daraus ergibt sich insgesamt folgende Prüfungsreihenfolge/Checkliste, die der Tatrichter einhalten<br />

muss und anhand derer der Verteidiger bei der Überprüfung eines tatrichterlichen Urteils vorgehen<br />

muss:<br />

1. Zunächst ist zu fragen: Sind hinsichtlich des Betroffenen die Voraussetzungen einer Katalogtat nach<br />

§ 4 Abs. 1 BKatV festgestellt worden?<br />

2. Dann: Handelt es sich ggf. dennoch nicht um eine objektiv und subjektiv grobe Pflichtwidrigkeit –<br />

Stichwort: Augenblicksversagen?<br />

3. Schließlich: Ist das Fahrverbot aber ggf. trotzdem ausgeschlossen, weil es nicht erforderlich ist oder<br />

hinsichtlich seiner Folgen beim Betroffenen unangemessen wäre? – Stichwort: Regelwirkung der<br />

Katalogtat, aber diese Vermutung kann widerlegt werden.<br />

III. Absehen von Fahrverbot/Ausnahme im Einzelfall<br />

Die Rechtsprechung zum Absehen vom Fahrverbot ist unüberschaubar. Es vergeht kein Monat, in dem<br />

nicht in jeder einschlägigen Fachzeitschrift mehrere das Fahrverbot und insbesondere das Absehen vom<br />

Fahrverbot betreffende Entscheidungen veröffentlicht werden. Diese können nachfolgend nicht alle<br />

dargestellt werden, so dass sich die Darstellung auf einen (groben) Überblick beschränken muss, wobei<br />

Fallgruppen gebildet werden und die täterbezogenen Umstände im Vordergrund stehen. Zur weiteren<br />

Vertiefung wird auf BURHOFF/DEUTSCHER (OWi, Rn 1290 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung) verwiesen.<br />

1. Prüfungsmaßstab für die Absehensentscheidung<br />

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass bei einer grob pflichtwidrigen Katalogtat die<br />

Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vermutet wird. Fehlt es hieran im Einzelfall, ist<br />

nach § 4 Abs. 4 BKatV vom Fahrverbot unter angemessener Erhöhung der Geldbuße abzusehen, wobei<br />

allerdings darauf zu achten ist, dass das Höchstmaß des gesetzlichen Bußgeldrahmens nicht überschritten<br />

werden darf (vgl. z.B. OLG Düsseldorf DAR 1996, 413 m.w.N.). Bei der Entscheidung über das<br />

Absehen haben eine Vielzahl von Einzelkriterien Bedeutung. Dabei spielen im Rahmen der Erforderlichkeit<br />

tatbezogene Umstände eine Rolle, während es bei der Angemessenheit allein auf die persönlichen<br />

Folgen beim Betroffenen ankommt.<br />

In der Regel ist es nach h.M. ausreichend, dass „erhebliche Härten“ oder eine Vielzahl für sich genommen<br />

gewöhnlicher oder durchschnittlicher Umstände vorliegen (BGHSt 38, 125 [s.o.]; OLG Rostock VRS 101,<br />

380; OLG Hamm NZV 2003, 398; Beschl. v. 19.1.2010, 2 (6) Ss OWi 987/09). Etwas anderes gilt bei einer<br />

Verurteilung nach § 24a StVG. Hier kommt wegen der anderen Formulierung im Gesetz ein Absehen vom<br />

Fahrverbot nur bei Vorliegen einer „Härte ganz außergewöhnlicher Art“ oder „außergewöhnlicher<br />

Umstände“ in Betracht (vgl. z.B. OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33; OLG Braunschweig DAR<br />

1996, 28; OLG Hamm VRS 101, 298 = DAR 2002, 324 m.w.N.; DAR 2008, 652 = VRR 2008, 434).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 841


Fach 9, Seite 1036<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Hinweise:<br />

Da i.d.R. die persönlichen Umstände des Betroffenen, die ggf. zum Absehen vom Fahrverbot führen<br />

können, nicht auf der Hand liegen und daher dem Gericht nicht bekannt sind, muss der Verteidiger dazu<br />

vortragen. Die entsprechende Aufklärungspflicht und die damit korrespondierende Begründungspflicht<br />

des Gerichts hängen von der entsprechenden Einlassung des Betroffenen ab. Ohne diese Einlassung hat<br />

das Gericht keinen Anlass und auch keine Beweismittel dafür, dass das Fahrverbot den Betroffenen<br />

unangemessen belasten würde. Deshalb muss sich der Betroffene einlassen und muss alles vortragen,<br />

was aus seiner persönlichen Sicht gegen die Anordnung eines Fahrverbots spricht (s. die Fallgestaltung<br />

bei OLG Bamberg VRR 2013, 310 = NZV 2014, 98).<br />

Der erforderliche Vortrag muss auch bereits beim AG erfolgen. In der Regel ist es zu spät, erst beim<br />

Rechtsbeschwerdegericht zur Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vorzutragen bzw.<br />

Stellung zu nehmen.<br />

2. Erforderlichkeit des Fahrverbots<br />

a) Erhöhung der Geldbuße<br />

Abgesehen werden kann von einem Fahrverbot u.a. dann, wenn feststeht, dass die mit dem Fahrverbot<br />

gewünschte Erziehungswirkung auch mit einer empfindlicheren Geldbuße erreicht werden kann.<br />

Soweit ersichtlich wird von den OLG – wohl angesichts der erheblich gewachsenen Verkehrsdichte und<br />

da es sich bei den Katalogtaten um besonders schwere Verstöße handelt – die Erforderlichkeit des<br />

Fahrverbots meist nicht verneint. Daran hat sich leider auch nichts durch die am 1.2.2009 in Kraft<br />

getretenen Änderungen des § 24 StVG i.V.m. der BKatV (vgl. BGBl I 2009, S. 9, dazu BURHOFF VA 2009, 33<br />

und VRR 2009, 47) und die nochmaligen Erhöhungen der Geldbußengrenzen bei einem vorsätzlichen<br />

Verstoß auf 2.000 € und bei einem fahrlässigen Verstoß auf 1.000 € Geldbuße geändert. Zumindest der<br />

normale Durchschnittsverdiener mit entsprechenden Unterhaltspflichten dürfte durch die Ausschöpfung<br />

der neuen Höchstsätze mehr als bisher auch ohne Fahrverbot von der erneuten Begehung<br />

vergleichbarer Verstöße abzuhalten sein (so auch schon DEUTSCHER NZV 1999, 113 und NZV 2008, 185;<br />

dazu OLG Hamm VRR 2005, 155; VRR 2007, 236; VRR 2008, 43; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1304 ff.; abl.<br />

KÖNIG, in: HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 Rn 24). Darauf sollte der<br />

Verteidiger beim AG hinweisen und sich dabei auf die entsprechende obergerichtliche Rechtsprechung<br />

beziehen (OLG Hamm NZV 2001, 436 = DAR 2001, 519; VRR 2006, 351 = NZV 2007, 100; s. auch KRUMM<br />

NJW 2007, 257, 259; zur Berücksichtigung der [schlechten] wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen<br />

bei Bemessung/Erhöhung der Geldbuße s. OLG Jena zfs 2007, 412).<br />

b) Allgemeine Gründe<br />

Nach weitgehend übereinstimmender obergerichtlicher Rechtsprechung zur Erforderlichkeit sind<br />

folgende Kriterien – sowohl jedes für sich allein als auch beim Zusammentreffen mehrerer – als nicht<br />

ausreichend für ein Absehen vom Fahrverbot angesehen worden (s. auch DEUTSCHER NZV 1997, 26; OLG<br />

Hamm NZV 2003, 103 = VRS 104, 233): Der Betroffene ist Ersttäter bzw. weist auch bei langer<br />

Fahrpraxis keine Eintragung im Fahreignungsregister (FAER) auf – das ergibt sich i.Ü. auch aus § 4<br />

Abs. 2 BKatV (u.a. zuletzt OLG Bamberg zfs 2015, 49) –, der Betroffene ist Vielfahrer mit einer hohen<br />

Fahrleistung (OLG Dresden DAR 2001, 318; OLG Hamm NZV 1999, 394). Unerheblich ist es, ob ein<br />

Grenzwert ggf. nur geringfügig überschritten ist, der Gefährdungsgrad aufgrund schwachen Verkehrsaufkommens<br />

zur Tatzeit gering war oder ob es sich um eine Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer<br />

Autobahn gehandelt hat. Ohne Belang ist es schließlich auch, ob der Verstoß allgemein häufig begangen<br />

wird (vgl. zu allem BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1296 ff. m.w.N. aus der Rspr.).<br />

c) Teilnahme an Verkehrsunterricht/Verkehrsberatung<br />

Übersehen sollte der Verteidiger nicht die Möglichkeit, ggf. das Absehen vom Fahrverbot durch die<br />

Teilnahme des Mandanten an einer verkehrspsychologischen Maßnahme, wie z.B. „avanti-Fahrverbot“<br />

zu erreichen. Das wird jetzt teilweise von AG anerkannt (vgl. aus neuerer Zeit AG Bad Hersfeld VRR 2013,<br />

842 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1037<br />

Fahrverbot<br />

154; AG Bad Segeberg VRR 2005, 277; AG Bernkastel-Kues zfs 2014, 172 = DAR 2014, 401; AG Mannheim<br />

zfs 2014, 173 = DAR 2014, 405; AG Miesbach DAR 2010, 715; AG Niebüll VRR 2013, 437 = zfs 2014, 173) und<br />

zwar selbst dann, wenn der Betroffene in der Vergangenheit bereits dreimal in Erscheinung getreten ist<br />

(s. auch SCHMITZ DAR 2007, 603 unter Hinw. auf AG Recklinghausen, Beschl. v. 6.9.2006 – 37a OWi 55 Js<br />

1562/05 und AG Duderstadt zfs 2001, 519). Nach Auffassung einiger OLG rechtfertigt aber allein die<br />

Teilnahme des Betroffenen an einem „Aufbauseminar“ für Kraftfahrer für sich allein grundsätzlich nicht<br />

das Absehen von einem Regelfahrverbot. Eine Ausnahme vom Regelfahrverbot könne im Einzelfall nur<br />

dann gerechtfertigt sein, wenn neben dem Seminarbesuch eine Vielzahl anderer zugunsten des<br />

Betroffenen sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen einer wertenden Gesamtschau durch den<br />

Tatrichter festgestellt werden kann (OLG Bamberg VRS 114, 379 = VRR 2008, 272; ähnlich OLG<br />

Bamberg DAR 2011, 93 = VRR 2011, 71 m. Anm. GIEG; OLG Bamberg VRR 4/<strong>2018</strong>, 19; OLG Saarbrücken,<br />

Beschl. v. 12.2.2013 – Ss (B) 14/2013 (9/13 OWi); OLG Zweibrücken zfs 2017, 471; vgl. im gleichen Sinne<br />

dezidiert [„Freikaufverfahren für begüterte Betr.“] HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 25 m.w.N.<br />

auf die abweichende untergerichtliche Rspr.; a.A. aber BayObLG zfs 1995, 603 [u.a. Absehen vom<br />

Fahrverbot wegen Absolvierung eines mehrstündigen Verkehrsunterrichts]; AG Traunstein VRR 2014,<br />

114 = VA 2014, 33 = DAR 2014, 102; zu dieser Problematik BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1299 ff. und<br />

DEUTSCHER NZV 2014, 145, 147; KRENBERGER zfs 2017, 471; HEINRICH NZV 2010, 237).<br />

d) Zeitablauf<br />

Eines besonderen Hinweises bedarf die Frage, welche Auswirkungen ein erheblicher Zeitablauf seit der<br />

Tat auf die Verhängung eines Fahrverbots haben kann bzw. haben muss. Dazu lässt sich allgemein<br />

festhalten, dass die obergerichtliche Rechtsprechung insoweit weitgehend übereinstimmend davon<br />

ausgeht, dass grundsätzlich erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen Tat und (rechtskräftiger)<br />

Verurteilung ein Absehen wegen dieses Umstands in Betracht kommt (vgl. dazu die<br />

Zusammenstellung bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1390 ff.; aus neuerer Zeit OLG Hamm VRR 2012, 231<br />

= DAR 2012, 340; DAR 2004, 106; OLG Naumburg VA 2017, 178; OLG Oldenburg VRR 2011, 434 = DAR<br />

2011, 649). Hieraus kann aber keinesfalls gefolgert werden, dass bei einem mehr als zweijährigen<br />

Zeitablauf stets von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen wäre (BayObLG NZV 2004, 210;<br />

OLG Bamberg zfs 2008, 591 = DAR 2008, 651; zuletzt u.a. OLG Koblenz NZV 2010, 212 = VRR 2010, 194<br />

= VA 2010, 13). Der Zeitablauf von zwei Jahren führt nämlich nicht automatisch zu einem Absehen von<br />

einem Fahrverbot; er ist lediglich ein Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das<br />

Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch erfüllen kann, naheliegt<br />

(OLG Bamberg a.a.O.; zur Berechnung der 2-Jahres-Frist einerseits OLG Zweibrücken DAR 2011, 649<br />

m. abl. Anm. KRUMM = StRR 2011, 480 m.w.N.; andererseits OLG Oldenburg a.a.O.; OLG Celle VA 2012,<br />

156). Auch der Umstand, dass eine Voreintragung i.S.d. § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV „fast zwei Jahre<br />

zurückliegt“, kann für sich allein betrachtet keinen Anlass geben, vom Fahrverbot abzusehen (KG,<br />

Beschl. v. 20.3.<strong>2018</strong> – 3 Ws (B) 90/18).<br />

Hinweis:<br />

Ob sich die Grenze von zwei Jahren in der Rechtsprechung der OLG halten lässt, ist fraglich. Teilweise<br />

wird in der Rechtsprechung schon von kürzeren Fristen ausgegangen (vgl. OLG Zweibrücken VRR 2011,<br />

394 = DAR 2011, 649; NZV 2014, 479 [1 Jahr und 8 Monate]; s. aber auch OLG Zweibrücken VA 2015, 11 (kein<br />

Absehen bei nur 1 Jahr und 7 Monaten).<br />

3. Angemessenheit des Fahrverbots<br />

a) Typische Folgen<br />

Bei der Frage nach der Angemessenheit des Fahrverbots ist allgemein auf Folgendes zu achten: In der<br />

heutigen Zeit stellt angesichts der hohen Abhängigkeit vom Auto auch ein nur einmonatiges Fahrverbot<br />

für den davon Betroffenen stets eine Härte dar. Darauf beruht ja gerade der mit dieser Maßnahme<br />

bezweckte „Denkzetteleffekt“. Das bedeutet, dass bei der Prüfung der konkreten Angemessenheit des<br />

Fahrverbots all die Folgen außer Betracht bleiben müssen, die normalerweise mit dem Fahrverbot<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 843


Fach 9, Seite 1038<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

verbunden sind (vgl. z.B. OLG Hamm DAR 1995, 374 = VRS 90, 146; VRS 90, 210; NZV 2001, 355; OLG<br />

Frankfurt NStZ-RR 2002, 88). Das sind zumutbare Härten, die alle Betroffenen, gegen die ein Fahrverbot<br />

verhängt wird, hinzunehmen haben. Typische und somit zumutbare Folgen des Fahrverbots sind die<br />

damit i.d.R. verbundenen Unannehmlichkeiten, wie etwa der Zeitverlust, der durch die Benutzung<br />

öffentlicher Verkehrsmittel entsteht (OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 22; 1996, 119 f.; AG Lüdinghausen<br />

NZV 2012, 603 = VRR 2012, 478), und zwar auch dann, wenn der Betroffene als Wochenendheimfahrer<br />

auf den Pkw angewiesen ist oder als Geschäftsreisender nicht jeden Abend nach Hause kommen kann<br />

(zum Bundeswehrsoldaten AG Dortmund, Urt. v. 25.8.2017 – 729 OWi-267 Js 1323/17-211/17). Ebenfalls ist<br />

der bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bzw. Taxen entstehende finanzielle Mehraufwand<br />

grundsätzlich zumutbar (OLG Hamm DAR 1995, 374, 375 = VRS 90, 146; ähnlich BayObLG NZV 2002,<br />

144). Etwas anderes kann nur gelten, wenn dieser Aufwand angesichts des geringen Einkommens des<br />

Betroffenen wirtschaftlich sinnlos (BayObLG NZV 1991, 401, 402) oder der Aufwand so hoch ist, dass er<br />

deshalb nicht zumutbar wäre (OLG Hamm VRS 95, 138).<br />

In diesem Zusammenhang hat dann § 25a StVG und die dort eingeführte 4-Monats-Frist Bedeutung.<br />

Diese am 1.3.1998 neu in das StVG aufgenommene Vorschrift ist vom Gesetzgeber gerade auch<br />

geschaffen worden, um wirtschaftliche Nachteile, die einem Betroffenen durch die Verhängung eines<br />

Fahrverbots entstehen können, abzumildern, indem nämlich der Betroffene den Zeitraum, in dem das<br />

Fahrverbot wirksam sein soll, in gewissen Grenzen frei wählen kann. Das führt nach Auffassung der<br />

Rechtsprechung (BayObLG DAR 1999, 559; OLG Hamm DAR 1999, 84 = VRS 96, 231 = NZV 1999, 214; NZV<br />

200, 355; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 214; NStZ-RR 2002, 88) dazu, dass bei der Frage, ob und<br />

inwieweit wirtschaftliche Nachteile bei der Prüfung der Angemessenheit und Vertretbarkeit eines<br />

Fahrverbots überhaupt (noch) von Belang sind, ein noch strengerer Maßstab als in der Vergangenheit<br />

anzulegen ist. Der Betroffene wird sich aber kaum darauf verweisen lassen müssen, dass er das<br />

Fahrverbot während eines Krankenhausaufenthalts hätte vollstrecken lassen können (s. aber wohl<br />

AG Landstuhl DAR 2015, 415 = VRR 7/2015, 15 m. Anm. DEUTSCHER).<br />

Hinweis:<br />

Spätestens ab Zustellung des Bußgeldbescheids muss sich der Betroffene auf die Vollstreckung eines<br />

angedrohten Fahrverbots einrichten (OLG Karlsruhe VRS 88, 476; OLG Köln VRS 88, 392; weitergehend<br />

OLG Hamm DAR 2008, 652).<br />

b) Beschränkung auf eine Kraftfahrzeugart<br />

In Betracht kommen kann eine nur auf bestimmte Kfz-Arten i.S.d. §§ 69, 69a StGB beschränkte<br />

Anordnung eines Fahrverbots (OLG Bamberg DAR 2006, 515 = VRR 2006, 230; VRR 2006, 432; NStZ-<br />

RR 2008, 119; VRR 2008, 75 beim Taxifahrer Beschränkung auf Fahrverbot hinsichtlich Krad; StraFo <strong>2018</strong>,<br />

84 = DAR <strong>2018</strong>, 91 [Krankenwagen]; OLG Düsseldorf NZV 2008, 104 = VRR 2008, 114 [Ausnahme von<br />

Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr und Krankenwagen]; OLG Hamm VRR 2007, 73; 2010, 352; OLG Jena<br />

zfs 2007, 412; OLG Karlsruhe NZV 2004, 653; AG Lüdinghausen VRR 2014, 196 m. teilw. abl. Anm.<br />

DEUTSCHER = DAR 2014, 217 [Ausnahme für Fahrerlaubnisklassen C und CE]; s. aber OLG Hamm DAR<br />

2006, 100 m. abl. Anm. KRUMM DAR 2006, 100; eingehend zu den damit zusammenhängenden Fragen<br />

DEUTSCHER VRR 2010, 8 und REBLER DAR 2011, 109; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1499 ff.). Allerdings muss es<br />

sich dann um eine Gruppe von Kfz mit einem bestimmten Verwendungszweck handeln (OLG Hamm<br />

VRR 2007, 73). Nicht möglich ist z.B. die Beschränkung auf eine bestimmte Nutzungszeit (zuletzt OLG<br />

Hamm VRR 2010, 352; zu allem BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1504 ff. m.w.N.). Unzulässig ist es, das<br />

Fahrverbot z.B. auf Kraftfahrzeuge mit mehr als 100 PS Motorkraft zu beschränken (unzutreffend a.A.<br />

AG Lüdinghausen VRR 2013, 156 m. abl. Anm. DEUTSCHER = DAR 2013, 403 [Ls.]: ähnlich unzutreffend AG<br />

Dortmund VRR 2/<strong>2018</strong>, 19).<br />

Es soll in diesen Fällen dann aber eine Erhöhung der Geldbuße in Betracht kommen (bejahend OLG Jena<br />

VRS 113, 71; verneinend OLG Düsseldorf NZV 2008, 104 = VRR 2008, 114 m. abl. Anm. DEUTSCHER; AG<br />

844 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1039<br />

Fahrverbot<br />

Lüdinghausen VRR 2014, 196 m. abl. Anm. DEUTSCHER = DAR 2014, 217; zum Ganzen – allerdings für den<br />

verkehrsstrafrechtlichen Bereich – AG Alsfeld zfs 2010, <strong>16</strong>8 und AG Gießen zfs 2010, <strong>16</strong>9 [jeweils<br />

Ausnahme von den Klassen T und L bei einem Auszubildenden zum Landwirt]).<br />

c) Berufliche Folgen<br />

Ein weites Feld im Bereich der Angemessenheit sind die beruflichen Folgen für den Betroffenen (vgl.<br />

dazu eingehend BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, 1313 ff. m.w.N.; LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5<br />

Rn 194 ff.). Grundsätzlich sind auch diese, was häufig übersehen wird, ohne Bedeutung, da auch sie alle<br />

Fahrzeugführer in gleicher Weise vorhersehbar treffen. Eine unzumutbare Härte, die zur Unangemessenheit<br />

des Fahrverbots führt, ist daher erst dann anzunehmen, wenn das Fahrverbot beim<br />

konkreten Betroffenen zu einer Existenzgefährdung führen würde. Dazu lassen sich folgende<br />

Grundsätze festhalten, die der Verteidiger bei seiner täglichen Arbeit beachten muss:<br />

aa) Abhängig Beschäftigte<br />

Bei abhängig Beschäftigten ist eine Existenzgefährdung anzunehmen, wenn als Folge des Fahrverbots<br />

der Verlust des Arbeitsplatzes droht (BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1332 ff.). In solchen Fällen ist,<br />

insbesondere bei Berufskraftfahrern oder solchen Beschäftigten, die zur Ausübung ihrer beruflichen<br />

Tätigkeit auf die Fahrerlaubnis angewiesen sind, wie z.B. bei einem Busfahrer (AG Gelnhausen NZV<br />

2006, 327), grundsätzlich vom Fahrverbot unter angemessener Erhöhung der Geldbuße abzusehen (OLG<br />

Hamm NZV 1996, 118, 119). Erforderlich ist allerdings die konkrete Gefahr der Kündigung des<br />

Arbeitsplatzes. Die bloße Vermutung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eines für die Zukunft<br />

zugesagten Arbeitsplatzes könne eintreten, reicht nicht (OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33;<br />

OLG Düsseldorf NZV 1992, 373 f.; OLG Hamm DAR 1996, 325; VRS 111, 219 = VRR 2006, 352; VRR 2007, 31).<br />

Hinweis:<br />

Zum Arbeitsplatzverlust muss konkret vorgetragen werden. Dabei ist bei größeren Firmen ggf. auch zur<br />

– zeitweisen – Vertretung durch andere Mitarbeiter Stellung zu nehmen. Der Amtsrichter muss die<br />

Wahrscheinlichkeit des behaupteten Arbeitsplatzverlustes als Folge eines Fahrverbots einer besonders<br />

gründlichen und kritischen Prüfung unterziehen. Das Vorbringen des Betroffenen, im Falle eines Fahrverbots<br />

mit der Kündigung rechnen zu müssen, reicht in aller Regel allein nicht aus. Aber auch eine<br />

schriftliche Erklärung des Arbeitgebers ist ebenso kritisch zu hinterfragen. In der Regel dürfte es sich<br />

empfehlen, die zeugenschaftliche Vernehmung des Arbeitgebers zu beantragen, damit sich der Amtsrichter<br />

einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit verschaffen und die Möglichkeit einer –<br />

im beiderseitigen Interesse – liegenden bloßen Gefälligkeitsbescheinigung ausschließen kann (vgl.<br />

OLG Hamm VA 2004, 54 [Ls.]).<br />

Ein Absehen vom Fahrverbot kommt nicht in Betracht, wenn der Betroffene den drohenden Arbeitsplatzverlust<br />

mit zumutbaren Mitteln abwenden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn er die Möglichkeit hat,<br />

während der Vollstreckung des Fahrverbots Urlaub zu nehmen (allg. Meinung, vgl. u.a. OLG Hamm NZV<br />

1996, 118, 119 und OLG Düsseldorf VRS 87, 450), wobei die bereits erwähnte Vorschrift des § 25a StVG von<br />

Bedeutung ist. Allerdings kann der Betroffene wohl nur dann auf die Möglichkeit des Urlaubs verwiesen<br />

werden, wenn feststeht, dass er tatsächlich noch über einen ausreichend langen Jahresurlaub verfügt,<br />

den er innerhalb der Frist des § 25a Abs. 2 StVG auch „an einem Stück“ abwickeln kann (OLG Hamm VRS<br />

97, 272 = NZV 2000, 96). Zu beachten ist hier auch, dass der Betroffene sich bei seiner Urlaubsplanung<br />

grundsätzlich auf die Möglichkeit der Verhängung des Fahrverbots wird einstellen müssen (vgl. z.B. OLG<br />

Köln VRS 88, 392 f.), und zwar spätestens ab Zustellung des Bußgeldbescheids, in dem ein Fahrverbot<br />

angeordnet wird. In dem Zusammenhang spielt dann auch die Frage eine Rolle, ob die Erschwernisse<br />

durch das Fahrverbot durch die Einstellung/Beschäftigung eines Fahrers und/oder die Fahrten mit<br />

einem Taxi ausgeglichen werden können. Meines Erachtens wird man das von der in der Rechtsprechung<br />

der OLG anzutreffenden Allgemeinheit kaum verlangen können (vgl. aber die teilweise andere<br />

OLG-Rspr. bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1358). Denn ein Fahrverbot muss ebenso wie die daraus<br />

resultierenden Folgen für den Betroffenen noch verhältnismäßig sein (vgl. dazu nur BVerfG NJW 1996,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 845


Fach 9, Seite 1040<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

2284). Das wird in vielen Fällen im Hinblick auf die Einstellung eines Fahrers gerade aber nicht der Fall<br />

sein. Viele, wenn nicht die meisten Arbeitnehmer werden nämlich nicht in der Lage sein, aus ihrem<br />

Nettoeinkommen einen Fahrer bezahlen zu können (vgl. dazu OLG Koblenz NJW 2004, 1400). Zu dem<br />

Umstand der Finanzierbarkeit, sollten Verteidiger in der Hauptverhandlung unter Darlegung der<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen daher in der Hauptverhandlung vortragen, um so dem AG<br />

den Verweis auf die Einstellung eines Fahrers zumindest zu erschweren.<br />

Hinweis:<br />

Das Absehen vom Fahrverbot kann aber nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Betroffene<br />

habe mit Blick auf den Antritt eines Arbeitsverhältnisses einen Härtefall aufgrund einer durch das Fahrverbot<br />

konkret drohenden Kündigung durch Hinnahme des Bußgeldbescheids und die hierdurch mögliche<br />

Verbüßung des Fahrverbots noch vor Antritt der Tätigkeit verhindern können. Das ist eine ermessensfehlerhafte<br />

Verwertung zulässigen Verteidigungsverhaltens zum Nachteil des Betroffenen (OLG Bamberg<br />

StraFo <strong>2018</strong>, 84 = DAR <strong>2018</strong>, 91; ähnlich OLG Hamm VA 2001, <strong>16</strong>8 = NStZ-RR 2002, 20 (Ls.) für die<br />

Formulierung: „wenn der Betroffene eine Anstellung als Fahrer suchte, hätte es nahe gelegen, den am (…) ergangenen<br />

Bußgeldbescheid zu akzeptieren und das Fahrverbot unverzüglich anzutreten.“<br />

Für Taxifahrer und sonstige Berufskraftfahrer gelten i.Ü. grundsätzlich keine Ausnahmen. Allein die<br />

Tätigkeit als Taxifahrer genügt nicht, um eine unzumutbare Härte anzunehmen (KG DAR 2001, 413; OLG<br />

Hamm NZV 1995, 366 f.; 1995, 498; 1996, 77, 78; OLG Rostock VRS 101, 380). Das würde nämlich sonst<br />

dazu führen, dass bei Taxifahrern nie ein Fahrverbot verhängt werden könnte. Das gilt vor allem, wenn<br />

der Taxifahrer noch Voreintragungen hat (OLG Hamm NZV 1995, 498 = VRS 90, 213).<br />

bb) Selbstständige/Freiberufler<br />

Bei Selbstständigen und Freiberuflern ist von einem Fahrverbot abzusehen, wenn hierdurch eine<br />

ernsthafte Gefahr für den Fortbestand des Unternehmens bzw. Betriebs begründet würde (BURHOFF/<br />

DEUTSCHER, OWi, Rn 1349 ff., m.w.N.; LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5 Rn 198 ff. m.w.N.).<br />

Das gilt aber nur, wenn diese Gefahr nicht mit zumutbaren Maßnahmen anderweitig abgewendet<br />

werden kann. Das ist insbesondere bei Kleinbetrieben der Fall, wenn der Betriebsinhaber selbst<br />

betriebsbedingt auf die Fahrzeugbenutzung angewiesen ist und er keinen Angestellten mit Fahrerlaubnis<br />

hat oder sich die Einstellung eines Fahrers auch für die nur relativ kurze Zeit des Fahrverbots<br />

finanziell nicht leisten kann (OLG Hamm DAR 1999, 178 = VRS 96, 291 = NZV 1999, 301). Eine<br />

Existenzgefährdung angenommen bzw. nicht ausgeschlossen worden ist z.B. bei einer Baufirma<br />

mit nur zwei Mitarbeitern und zwei Fahrzeugen, die der Betroffene selbst fahren muss (OLG Hamm<br />

DAR 1999, 178 = NZV 1999, 301; ähnlich AG Offenbach zfs 2001, 431; AG Bersenbrück NZV 2003, 152 =<br />

zfs 2003, 97).<br />

Bei Rechtsanwälten oder anderen Freiberuflern genügen die allgemeinen beruflichen Unannehmlichkeiten<br />

als Folge des Fahrverbots ebenfalls nicht für ein Absehen (OLG Hamm NZV 2001, 438;<br />

Beschl. v. 1.7.2003 – 4 Ss OWi 385/03 und v. 20.7.2006 – 3 Ss OWi 325/06; s. auch BURHOFF/DEUTSCHER,<br />

OWi, Rn 1364 f.). Die Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von auswärtigen Terminen sind<br />

regelmäßig durch andere Maßnahmen abzuwenden (OLG Hamm NZV 1996, 247, 248 = VRS 91, 205 =<br />

DAR 1996, 4<strong>16</strong>), so durch Bestellen des Mandanten in die Kanzlei, durch Vertretung durch einen<br />

anderen Sozius, durch Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, durch Urlaub oder durch Einstellung<br />

eines Fahrers (s. aber AG Potsdam NJW 2002, 3342; AG Duderstadt zfs 2001, 519).<br />

Hinweis:<br />

Die Existenzgefährdung sollte auf jeden Fall durch Vorlage entsprechender Urkunden usw. glaubhaft<br />

gemacht werden (AG Dortmund, Urt. v. 4.7.2017 – 729 OWi-265 Js 968/17-173/17; zur Aufklärungspflicht des<br />

AG s. KG SVR 2015, 353; OLG Bamberg zfs 20<strong>16</strong>, 290; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – 1 RBs 200/14;<br />

OLG Karlsruhe VA 20<strong>16</strong>, 49; OLG Zweibrücken zfs 20<strong>16</strong>, 294).<br />

846 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1041<br />

Fahrverbot<br />

cc) Sonstige persönliche Gründe<br />

Auch sonstige persönliche Gründe bieten schließlich noch ein weites Feld, um ggf. ein Absehen vom<br />

Fahrverbot zu erreichen. Insoweit gilt: Ist der Betroffene wegen einer körperlichen Behinderung in<br />

stärkerer Weise auf die Nutzung seines Pkw angewiesen als der durchschnittliche Autofahrer, kann das<br />

zum Absehen vom Fahrverbot führen. Entscheidend sind dabei allerdings die Schwere der Behinderung<br />

und deren Auswirkungen auf den Betroffenen. Eine – nur – schwere Gehbehinderung allein genügt für<br />

ein Absehen vom Fahrverbot nicht (OLG Hamm NZV 1999, 215 = zfs 1999, 311). Auch kann einem<br />

Betroffenen, der geltend macht, aus gesundheitlichen Gründen auf die Fahrerlaubnis angewiesen zu<br />

sein, zugemutet werden, für den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von einem Monat, in dem er wegen<br />

des angeordneten Fahrverbots sein Kfz entbehren muss, für seine Arztbesuche auf öffentliche Verkehrsmittel<br />

auszuweichen. Dies mutet ihm die Rechtsprechung ebenso zu wie sie dies von Arbeitnehmern<br />

für Fahrten zur Arbeitsstätte verlangt (OLG Hamm DAR 1999, 325 = VRS 97, 69). Auch<br />

allein eine Schwerbehinderung führt nicht zum Absehen vom Fahrverbot (OLG Hamm VA 2008, 194<br />

[Ls.]). Ebenfalls ist hohes Alter allein kein ausreichender Grund für das Absehen vom Fahrverbot (OLG<br />

Hamm DAR 2001, 229) – ebenso wenig wie eine krankheitsbedingt „schwache Blase“ und plötzlich<br />

auftretender Harndrang (OLG Hamm VA <strong>2018</strong>, 32 = VRR 3/<strong>2018</strong>, <strong>16</strong>).<br />

Ausreichen soll hingegen, wenn sich der Betroffene täglich um seine 89-jährige Großmutter kümmern<br />

muss (AG Mannheim zfs 2004, 236). Ob das zutreffend ist, ist fraglich. Jedenfalls muss aber, wenn vom<br />

Fahrverbot abgesehen werden soll, die verstärkte Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit feststehen und<br />

außerdem dürfen keine sonstigen unentgeltlichen Betreuungspersonen aus der Familie vorhanden und<br />

die Einstellung einer professionellen Hilfe nicht zumutbar sein (so wohl zutreffend OLG Hamm NZV<br />

2006, 664 = VRR 2006, 313 und VRR 2012, 308 = DAR 2012, 477).<br />

4. Fahrverbotsentscheidung bei Verurteilung nach § 24a StVG<br />

Es ist bereits ausgeführt worden, dass in den Fällen des § 24a StVG nach allgemeiner Meinung nur<br />

Härten ganz außergewöhnlicher Art oder sonstige das äußere und innere Tatbild beherrschende<br />

außergewöhnliche Umstände das Absehen von der Verhängung des Regelfahrverbots rechtfertigen<br />

(OLG Hamm VRS 101, 298 = DAR 2002, 324 m.w.N.; zum Fahrverbot bei der Trunkenheitsfahrt BURHOFF/<br />

DEUTSCHER, OWi, Rn 35<strong>16</strong> ff. und bei der Drogenfahrt BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 780 ff.). Darauf kann hier<br />

verwiesen werden (vgl. III. 1). Das gilt erst recht, wenn der Betroffene bereits einmal wegen eines<br />

Verstoßes gegen § 24a StVG in Erscheinung getreten ist. Auch der Umstand, dass der Betroffene als<br />

Berufskraftfahrer tätig ist, ändert daran nichts. Gegebenenfalls eintretende wirtschaftliche und<br />

berufliche Folgen muss der Betroffene als selbstverschuldet hinnehmen (OLG Hamm VRS 98, 381 =<br />

NZV 2001, 486; s. aber OLG Hamm NJW 2002, 2485 = NZV 2002, 414 = VRS 103, 204; VA 2002, 47).<br />

Schließlich reicht auch allein ein Zeitraum von 25 Monaten seit dem Verkehrsverstoß nicht, um vom<br />

Fahrverbot absehen zu können (OLG Saarbrücken VA 2002, <strong>16</strong>9). Das bedeutet, dass der Betroffene bei<br />

einer Verurteilung nach § 24a StVG nur schwer der Verhängung des Fahrverbots entkommen wird, und<br />

zwar auch dann, wenn er freiberuflich tätig ist. Das ist sowohl für den freien Mitarbeiter einer<br />

Unternehmensberatung entschieden worden (OLG Hamm DAR 1999, 84 = VRS 96, 231 = NZV 1999, 214)<br />

als auch für einen Rechtsanwalt (OLG Hamm VRS 101, 298 [s.o.]).<br />

5. Anforderungen an die Urteilsgründe<br />

Die Entscheidung über das Absehen vom Fahrverbot ist in erster Linie eine Entscheidung aufgrund<br />

tatrichterlicher Würdigung, was allerdings häufig übersehen wird. Das bedeutet (vgl. auch BURHOFF/<br />

DEUTSCHER, OWi, Rn 1420 ff.): Dem Tatrichter ist eine gewisse Entscheidungsfreiheit bei der Beurteilung<br />

eingeräumt, die im Rahmen der Rechtsbeschwerde nur eingeschränkt auf das Fehlen von Ermessensfehlern<br />

überprüft werden kann (allg. Ansicht, vgl. nur OLG Köln NZV 1994, <strong>16</strong>1; OLG Hamm NZV 1996, 118,<br />

119; DAR 1996, 68 = zfs 1996, 35; VRS 92, 40). Das Rechtsbeschwerdegericht hat die Entscheidung des<br />

Tatrichters „bis zur Grenze des Vertretbaren“ hinzunehmen (OLG Bamberg NJW 2008, 3155; OLG Hamm<br />

NZV 2008, 308; OLG Oldenburg zfs 2002, 359). Es ist unerheblich, ob eine andere Entscheidung<br />

– ebenfalls – vertretbar gewesen wäre (OLG Hamm VRS 92, 40).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 847


Fach 9, Seite 1042<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Für seine Entscheidung muss der Tatrichter aber – durch das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbare<br />

– tatsächliche Feststellungen treffen, wobei ihm die vereinfachte Möglichkeit der Beweisaufnahme<br />

nach § 77a OWiG zur Verfügung steht. Seine Begründung muss sich auf Tatsachen stützen,<br />

unsubstantiierte bloße Behauptungen des Betroffenen reichen nicht aus (vgl. u.a. BGHSt 38, 231;<br />

KG SVR 2015, 353; OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 –<br />

1 RBs 200/14; OLG Hamm DAR 2012, 477 = VRR 2012, 308, jeweils m.w.N.; OLG Karlsruhe VA 20<strong>16</strong>, 49;<br />

OLG Zweibrücken zfs 20<strong>16</strong>, 294). Und das gilt sowohl zugunsten wie zu Lasten des Betroffenen.<br />

Erforderlich ist auf jeden Fall eine auf Tatsachen gestützte eingehende Begründung (OLG Hamm<br />

VRS 92, 367 und VRS 102, 385). Beruft sich der Betroffene auf einen drohenden Existenz- oder<br />

Arbeitsplatzverlust, muss der Tatrichter im Urteil seine Erwägungen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit<br />

der Angaben des Betroffenen darlegen (OLG Rostock VRS 101, 380; OLG Celle VRS 102, 310;<br />

OLG Hamm DAR 1996, 325). Er darf sie nicht einfach ungeprüft übernehmen (OLG Rostock NZV 2002,<br />

381). Auch eine schriftliche Erklärung des Arbeitgebers muss kritisch hinterfragt werden. Deshalb<br />

wird es sich empfehlen, von vornherein den Arbeitgeber als Zeuge zu benennen (OLG Köln VRS 113,<br />

441 = VRR 2008, 156; s. auch noch OLG Bamberg DAR 2011, 403 [Verdacht der Gefälligkeitsbescheinigung]).<br />

Hinweis:<br />

Der Tatrichter muss in den Urteilsgründen zu erkennen geben, dass er sich der Möglichkeit des Absehens<br />

von der Anordnung des Fahrverbots bewusst war und hierfür keine Anhaltspunkte ersichtlich waren. An<br />

dieser Anforderung an die Urteilsgründe wird von der h.M. in der Rechtsprechung festgehalten (vgl. dazu<br />

nur OLG Hamm NJW 2004, 172; DAR 2002, 276; NZV 2000, 264, jeweils m.w.N.; OLG Düsseldorf DAR<br />

2000, 4<strong>16</strong>). Wird ein längeres als ein einmonatiges (Regel-)Fahrverbot verhängt, muss den Urteilsgründen<br />

zu entnehmen sein, dass sich der Tatrichter der Möglichkeit bewusst war, auch ein kürzeres Fahrverbot<br />

verhängen zu können (OLG Zweibrücken DAR 2003, 531).<br />

IV.<br />

Verfahrensfragen<br />

1. Dauer des Fahrverbots<br />

Nach § 25 Abs. 1 StVG dauert das Fahrverbot einen bis zu drei Monate. Innerhalb dieses Rahmens muss<br />

der Tatrichter das angemessene Fahrverbot finden und verhängen. Bei den Verstößen, für die die BKatV<br />

ein Regelfahrverbot vorsieht, sowie bei den Verstößen gegen § 24a StVG müssen die Regelsätze der<br />

BKatV beachtet werden. Das bedeutet, dass bei der erstmaligen Verhängung eines nach der BKatV<br />

indizierten Fahrverbots der Tatrichter sich hinsichtlich der Dauer des Fahrverbots an die Regelsätze der<br />

BKatV halten muss (OLG Hamm NZV 2001, 178; OLG Düsseldorf NZV 1998, 384). Wenn er ein längeres<br />

Fahrverbot festsetzen will, muss das ausdrücklich begründet werden (OLG Hamm a.a.O.). In diesen<br />

Fällen muss sich der Tatrichter im Urteil damit auseinandersetzen, dass das Überschreiten der<br />

Regeldauer zur Erreichung des Erziehungs- und Warneffekts des Fahrverbots erforderlich ist (KG VRS<br />

103, 223 m.w.N.; OLG Hamm NZV 2001, 178). In der Regel werden auch in diesen Fällen zunächst eine<br />

Erhöhung der Geldbuße und die Verhängung des Regelfahrverbots in Betracht kommen (BayObLG zfs<br />

1995, 152).<br />

Hinweis:<br />

Die Verhängung eines unter der Mindestdauer von einem Monat liegenden Fahrverbots ist unzulässig<br />

(OLG Düsseldorf VRR 2011, 73 m. Anm. DEUTSCHER = VA 2011, 48).<br />

Diese Regeln gelten auch für die Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes<br />

(s. oben II. 2. b). Auch auf dieser Grundlage beträgt die Dauer des Fahrverbots bei erstmaliger<br />

Verhängung nach § 4 Abs. 2 S. 1 BKatV einen Monat. Das gilt i.Ü. auch, wenn ein früheres Fahrverbot<br />

schon länger zurückliegt (OLG Düsseldorf NZV 1998, 38; BayObLG DAR 1999, 221).<br />

848 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1043<br />

Fahrverbot<br />

2. Mehrere Fahrverbote<br />

Nach allgemeiner Meinung ist auch bei Tatmehrheit (§ 20 OWiG) immer nur ein einheitliches<br />

Fahrverbot festzusetzen (OLG Hamm NZV 2010, 159 m. Anm. SANDHERR = VRR 2010, 155 m. Anm.<br />

DEUTSCHER; HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 27 m.w.N. aus der Rspr.).<br />

Hinweis:<br />

Wenn gegen den Betroffenen mehrere Fahrverbote festgesetzt sind, war früher streitig, ob diese nacheinander<br />

oder ggf. nebeneinander zu vollstrecken sind (vgl. dazu eingehend BURHOFF VRR 2008, 409; KRUMM<br />

DAR 2008, 54; FROMM VRR 2010, 368 und zfs 2013, 368). Diese Streitfrage hat sich durch das „Gesetz zur<br />

effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) erledigt.<br />

Denn nach dem neuen § 25 Abs. 2b StVG sind, wenn gegen den Betroffenen mehrere Fahrverbote rechtskräftig<br />

verhängt sind, die Verbotsfristen nacheinander zu berechnen (Satz 1). Nach Satz 2 läuft die Verbotsfrist<br />

aufgrund des früher wirksam gewordenen Fahrverbots zuerst. Werden Fahrverbote gleichzeitig<br />

wirksam, so läuft nach Satz 3 die Verbotsfrist aufgrund des früher angeordneten Fahrverbots zuerst, bei<br />

gleichzeitiger Anordnung ist die frühere Tat maßgebend.<br />

3. Anwendung des § 25 Abs. 2a StVG<br />

Mit Einführung des § 25 Abs. 2a StVG 1998 in das StVG, kann der Betroffene innerhalb von vier<br />

Monaten nach Rechtskraft des Bußgeldbescheids den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Fahrverbots<br />

durch die Abgabe seines Führerscheins selbst bestimmen (vgl. dazu ALBRECHT NZV 1998, 131;<br />

HENTSCHEL DAR 1998, 138; eingehend zu § 25 Abs. 2a StVG BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>93 ff.). Das<br />

ist eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung in § 25 Abs. 2 StVG, wonach das Fahrverbot<br />

grundsätzlich mit der Rechtskraft der Bußgeldentscheidung eintritt. Die Vergünstigung des § 25<br />

Abs. 2a StVG ist aber davon abhängig, dass gegen den Betroffenen in den zwei Jahren vor Begehung<br />

der Ordnungswidrigkeit und auch bis zur jeweiligen Entscheidung kein Fahrverbot angeordnet<br />

worden ist. Diese Privilegierung wird nur durch die Verhängung eines Fahrverbots ausgeschlossen,<br />

nicht auch durch die Entziehung der Fahrerlaubnis (OLG Dresden DAR 1999, 222; OLG Hamm NZV<br />

2001, 440; s. dazu HENTSCHEL DAR 1998, 137; DEUTSCHER NZV 2000, 110). Entscheidend für die Berechnung<br />

der 2-Jahres-Frist ist nicht der Zeitpunkt, in dem die frühere Entscheidung ergangen ist, sondern der<br />

der Rechtskraft (BayObLG VRS 96, 68; BGH NJW 2000, 2685; HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG<br />

Rn 30 m.w.N.). Auch dürfen im Zeitpunkt der neuen Entscheidung tilgungsreife Vorbelastungen im<br />

Rahmen des § 25 Abs. 2a StVG nicht berücksichtigt werden (KG VA 2004, 156; OLG Jena NZV 2008, <strong>16</strong>5<br />

= VRR 2008, 352).<br />

Hinweis:<br />

Die Privilegierung des § 25 Abs. 2a StVG ist zwingend. Sie steht nicht etwa im Ermessen des Tatrichters<br />

(OLG Düsseldorf DAR 2001, 39 = NZV 2001, 89 m.w.N.).<br />

4. Vollstreckung des Fahrverbots<br />

Das Fahrverbot wird nach § 25 Abs. 2 S. 2 StVG dadurch vollstreckt, dass der Führerschein amtlich<br />

verwahrt wird. Dazu muss der Betroffene seinen Führerschein bei der zuständigen Verwaltungsbehörde<br />

abgeben. Der Beginn der Vollstreckung des Fahrverbots erfordert aber nicht zwingend,<br />

dass der Führerschein bei der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde einzureichen ist (AG<br />

Parchim VA 2013, 49 = StraFo 2013, 80). Hat der Betroffene seinen Führerschein nach Rechtskraft der<br />

Fahrverbotsentscheidung verloren, ist für den Beginn der Verbotsfrist der Tag des Verlustes maßgebend<br />

(AG Neunkirchen zfs 2005, 208). Eine eidesstattliche Versicherung des Betroffenen über den Verlust ist<br />

nicht erforderlich (AG Neunkirchen a.a.O. m.w.N. auch zur a.A.). Tritt der Verlust vor Rechtskraft ein,<br />

beginnt die Verbotsfrist mit der Rechtskraft der Entscheidung (AG Neunkirchen a.a.O.).<br />

Gibt der Betroffene seinen Führerschein nicht freiwillig ab, kann der Führerschein nach § 25 Abs. 2 S. 4<br />

StVG beschlagnahmt werden. Fraglich ist, ob in der ggf. erfolgten Beschlagnahmeanordnung zugleich<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 849


Fach 9, Seite 1044<br />

Fahrverbot<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

auch die Anordnung der Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen liegt. Insoweit wird in<br />

Rechtsprechung und Literatur unterschieden: Ist das Fahrverbot gerichtlich verhängt, geht die wohl<br />

überwiegende Literaturmeinung davon aus, dass die Beschlagnahmeanordnung der Vollstreckungsbehörde<br />

zugleich auch die Anordnung der Wohnungsdurchsuchung beim Betroffenen enthält (vgl.<br />

MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 60. Aufl., § 463b Rn 1 m.w.N.). Ist das Fahrverbot hingegen nur im<br />

Bußgeldbescheid angeordnet, wird von der Literatur für die Wohnungsdurchsuchung ein besonderer<br />

gerichtlicher Beschluss verlangt (vgl. Nachw. bei HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 32; s. auch<br />

DEUTSCHER NZV 2000, 111; BURHOFF/GÜBNER, OWi, Rn 1705 ff. und eingehend zu der Problematik LG<br />

Lüneburg DAR 2011, 275 = NZV 2011, 153 m.w.N. aus Rspr. und Lit., zugleich auch zur Frage der<br />

Ermächtigungsgrundlage). Anderer Ansicht ist insoweit die überwiegende Rechtsprechung der LG bzw.<br />

AG (vgl. LG Limburg VA 2004, 65; LG Lüneburg, a.a.O.; AG Karlsruhe VRS 97, 377; AG Leipzig DAR 1999,<br />

134; AG Berlin-Tiergarten NZV 1996, 506).<br />

5. Fahrverbot in der Hauptverhandlung<br />

Wurde im Bußgeldbescheid kein Fahrverbot verhängt, dann ist in der Hauptverhandlung i.d.R. ein<br />

rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO erforderlich, wenn der Amtsrichter ein Fahrverbot verhängen will<br />

(st. Rspr. seit BGHSt 29, 274 = NJW 1980, 2479; vgl. u.a. BayObLG NZV 2000, 380; OLG Hamm StraFo<br />

2005, 298 = zfs 2005, 519; OLG Jena zfs 2010, 294 = StraFo 2010, 207; OLG Koblenz VA 2008, 102; OLG<br />

Köln NZV 2013, 613; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>83).<br />

Hinweis:<br />

Ist der Hinweis unterblieben, muss der Verteidiger den Verfahrensfehler mit der Verfahrensrüge, die den<br />

Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO) unterliegt, geltend machen.<br />

Ist bereits ein Fahrverbot verhängt, muss auf eine ggf. in Aussicht genommene Verlängerung nicht<br />

hingewiesen werden (BayObLG NJW 2000, 3511 = VRS 98, 33; OLG Köln NZV 2013, 613). Auch dann,<br />

wenn das Fahrverbot wegfallen und dafür die Geldbuße erhöht werden soll, ist ein Hinweis nach<br />

allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung ebenfalls nicht erforderlich, da die Geldbuße eine mildere<br />

Maßnahme als das Fahrverbot ist (vgl. wegen Rspr.-Nachw. HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG<br />

Rn 29; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, a.a.O.).<br />

6. Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid<br />

Eine Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid (§ 67 OWiG) auf die Frage der<br />

Fahrverbotsanordnung, der Fahrverbotsdauer oder der Fahrverbotsbeschränkung auf Kraftfahrzeuge<br />

einer bestimmten Art (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG) scheidet nach ständiger Rechtsprechung und ganz h.M.<br />

im Schrifttum aufgrund der engen Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße, wie sie<br />

in § 4 Abs. 4 BKatV ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, grundsätzlich aus (OLG Bamberg<br />

zfs <strong>2018</strong>, 114 = VA <strong>2018</strong>, 52; OLG Düsseldorf DAR 2017, 92; OLG Hamm NZV 2002, 142; OLG Rostock<br />

NZV 2002, 137; ferner GÖHLER/SEITZ/BAUER, OWiG, § 67 Rn 34g und § 79 Rn 9; BURHOFF/GIEG, OWiG,<br />

Rn 955 m.w.N.; NIEHAUS NZV 2003, 411). In der Rechtsprechung wird aber häufig eine gleichwohl – auch<br />

schlüssig – erklärte Beschränkung allein auf das Fahrverbot oder seine Dauer bei Vorliegen der<br />

sonstigen Voraussetzungen, insbesondere eines den Anforderungen des § 66 Abs. 1 OWiG genügenden<br />

Bußgeldbescheids, als Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruchs in seiner Gesamtheit<br />

ausgelegt (KG NZV 2002, 466; OLG Rostock a.a.O.; NIEHAUS a.a.O.).<br />

850 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 927<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Strafverfahren<br />

Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung – Beiordnungsvoraussetzungen,<br />

Verteidigerauswahl und Rücknahme der Bestellung<br />

Von RiLG THOMAS HILLENBRAND, Stuttgart<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. StPO-Reform 2017<br />

III. Beiordnung gem. § 140 Abs. 1 StPO<br />

IV. Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO<br />

1. Schwere der Tat<br />

2. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage<br />

3. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung<br />

V. Umfang der Beiordnung<br />

VI. Mehrere Pflichtverteidiger<br />

VII. Auswahl des Pflichtverteidigers<br />

VIII. Entscheidungszeitpunkt<br />

IX. Rücknahme der Bestellung<br />

1. Entpflichtung<br />

2. Herausdrängen des Pflichtverteidigers<br />

3. Einvernehmliche Umbeiordnung<br />

X. Strafvollstreckung<br />

XI. Checkliste für den Pflichtverteidiger<br />

1. Vor der Beiordnung<br />

2. Nach der Beiordnung/bei Entpflichtungsanträgen<br />

I. Einleitung<br />

Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an den Beitrag „Notwendige Verteidigung – Beiordnungsvoraussetzungen,<br />

Verteidigerauswahl und Rücknahme der Bestellung“ (<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 841 ff.) an und stellen als<br />

„Update“ die seither erfolgten Neuregelungen durch das am 24.8.2017 in Kraft getretene „Gesetz zur<br />

effektiveren und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens“ sowie die von Juli 2015 bis Mitte Juli<br />

<strong>2018</strong> ergangene Rechtsprechung zu Fragen der notwendigen Verteidigung dar. Ziel des Beitrags ist es, dem<br />

Verteidiger einen Überblick über die in diesem Zeitraum ergangenen Entscheidungen zu verschaffen und in<br />

Fällen, in denen um die Beiordnung oder deren Fortbestand gekämpft werden muss, die eine oder andere<br />

Argumentationshilfe zu geben.<br />

II. StPO-Reform 2017<br />

Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens (hierzu ausführlich<br />

BURHOFF,Effektiveres und praxistauglicheres Strafverfahren – Teil 1: Ermittlungsverfahren, <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 889<br />

ff. und Teil 2: Hauptverhandlung, <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 907 ff.) hat hinsichtlich der Bestellung eines Pflichtverteidigers<br />

im Ermittlungsverfahren eine wesentliche Neuerung gebracht:<br />

So hängt die Pflichtverteidigerbestellung jetzt nicht mehr von einem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

gem. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ab, sondern kann in Verfahren, in denen eine richterliche Vernehmung<br />

durchzuführen ist, bereits dann vorgenommen werden, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers<br />

aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten<br />

erscheint. Zuständig für die Beiordnung ist das Gericht, bei dem die Vernehmung durchzuführen ist.<br />

Erfasst werden nach zutreffender Ansicht hierdurch nicht nur richterliche Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen,<br />

sondern auch alle Beschuldigtenvernehmungen. Dies betrifft auch die Fälle, in denen ein<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 851


Fach 22, Seite 928<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Beschuldigter nach vorläufiger Festnahme oder nach seinem Ergreifen aufgrund eines Haftbefehls im<br />

Rahmen einer Vorführung vor dem Haftrichter zu vernehmen ist (AG Stuttgart StraFo <strong>2018</strong>, 114; LG Halle/<br />

Saale, Beschl. v. 26.3.<strong>2018</strong>, 10a Qs 33/18; BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 895 f.; SCHLOTHAUER StV 2017, 557, der hier den<br />

Hauptanwendungsbereich der Neuregelung sieht).<br />

Hinweis:<br />

Die Bestellung nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO gilt nur für den Zeitraum der Vernehmung und erlischt mit<br />

ihrem Ende (BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 896). Wird also im Rahmen der Vorführung ein Haftbefehl erlassen oder<br />

ein bestehender Haftbefehl in Vollzug gesetzt, bedarf es einer unverzüglichen weiteren Verteidigerbestellung<br />

im Hinblick auf die nunmehr einsetzende Vollstreckung der Untersuchungshaft. Dies ergibt<br />

sich aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO (zuvor Nr. 5, inhaltlich ist die Vorschrift unverändert geblieben), der<br />

überflüssig wäre, würde sich die Beiordnung automatisch auch auf das weitere Verfahren erstrecken.<br />

Hierbei kann, muss aber nicht, derselbe Verteidiger bestellt werden, der während der vorangegangenen<br />

Vernehmung des Beschuldigten die Verteidigung geführt hat. Insbesondere in Konstellationen, in denen der<br />

Wunschverteidiger bei der Haftrichtervorführung nicht anwesend sein kann, etwa wegen eines Termins in<br />

anderer Sache oder am Wochenende, kommt die Bestellung unterschiedlicher Verteidiger in Betracht.<br />

Außerhalb von Beschuldigtenvernehmungen wird eine Verteidigerbestellung zur Wahrung der Rechte<br />

des Beschuldigten insbesondere in Betracht zu ziehen sein, wenn ein Zeuge vernommen wird, bei dem<br />

die Möglichkeit besteht, dass er in der Hauptverhandlung nicht mehr zur Verfügung steht (SINGELSTEIN/<br />

DERIN NJW 2017, 2646). Zu denken ist hierbei vor allem an die Vernehmung von Angehörigen, die im<br />

weiteren Verlauf des Verfahrens von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch<br />

machen könnten.<br />

III. Beiordnung gem. § 140 Abs. 1 StPO<br />

Über die Neuregelung des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO hinaus sind die gesetzlichen Grundlagen der<br />

notwendigen Verteidigung unverändert geblieben.<br />

Im Bereich des § 140 Abs. 1 StPO gab es in den letzten Jahren kaum Bewegung in der Rechtsprechung.<br />

Die dortigen Regelungen sind klar und eindeutig, so dass für Auslegungsstreitigkeiten in aller Regel kein<br />

Raum bleibt. Eine Ausnahme hiervon stellen Beschlüsse des LG Osnabrück (Beschl. v. 6.6.20<strong>16</strong> – 18 Qs<br />

526 Js 9422/<strong>16</strong> (17/<strong>16</strong>), StRR 7/20<strong>16</strong>, 2) und des LG Dresden (v. 23.5.<strong>2018</strong> – 14 Qs <strong>16</strong>/18) dar, in denen der<br />

alte Streit, ob § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bei inhaftierten Beschuldigten auch in anderen Verfahren gilt, in<br />

denen kein Haftbefehl erlassen wurde, reanimiert wurde.<br />

Das LG Osnabrück und das LG Dresden haben sich in dieser Frage gegen die h.M. (Nachweise hierzu bei<br />

BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. Rn 2857, 8. Aufl. Rn 2874 [im<br />

Folgenden kurz: BURHOFF, EV]) gestellt und die Norm dahingehend ausgelegt, dass sie nur in dem<br />

Verfahren, in dem tatsächlich Untersuchungshaft vollstreckt wird, anzuwenden sei. Überzeugend ist<br />

dies freilich nicht: Die mit der Inhaftierung verbundene Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten<br />

besteht auch in anderen Verfahren. Es ist für einen inhaftierten Angeklagten nahezu unmöglich, sich<br />

selbst vernünftig zu verteidigen, so dass zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens mit der<br />

zutreffenden h.M. weiterhin von der Notwendigkeit der Verteidigung in allen gegen den inhaftierten<br />

Angeklagten geführten Verfahren auszugehen ist, unabhängig davon, in welcher Sache der Haftbefehl<br />

ergangen ist.<br />

IV. Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO<br />

Für erheblich mehr Diskussionsstoff als der eindeutig formulierte § 140 Abs. 1 StPO sorgt in der Praxis<br />

nach wie vor die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO. Hier wird, was die relativ große Zahl von Fällen, in<br />

denen Beschwerdegerichte eingreifen müssen, zeigt, immer wieder versucht, die Zahl der Beiordnungen<br />

durch eine unangemessen restriktive Auslegung der Vorschrift gering zu halten.<br />

852 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 929<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

1. Schwere der Tat<br />

Nach ganz h.M. ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers geboten, wenn dem Angeklagten im Fall der<br />

Verurteilung eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht (statt aller BURHOFF, EV, Rn 2876,<br />

8. Aufl. Rn 2893). Entgegen einer noch immer hin und wieder vertretenen Ansicht ist diese<br />

„Jahresgrenze“ nicht erst dann erreicht, wenn gerade in dem Verfahren, in dem die Beiordnung<br />

erfolgen soll, eine Strafe in dieser Größenordnung im Raum steht, sondern auch dann, wenn die<br />

Straferwartung aufgrund weiterer Verfahren durch eine Gesamtstrafenbildung (KG StraFo 2017, 153)<br />

oder durch einen möglichen Bewährungswiderruf in anderer Sache insgesamt ein Jahr erreicht (LG<br />

Dessau-Roßlau StraFo 2015, 515; OLG Naumburg StV <strong>2018</strong>, 143). Entscheidend ist also das drohende<br />

Gesamtstrafübel.<br />

2. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage<br />

Häufig wird ein Fall der notwendigen Verteidigung – oftmals mittels eines in der Justiz weit verbreiteten<br />

Textbausteins – mit der Begründung verneint, es handele sich „um einen einfach gelagerten Sachverhalt“,<br />

der „weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten“ aufweise.<br />

Diese Argumentation mag in offensichtlich unproblematischen Fällen tragfähig sein, nicht aber, wenn<br />

acht Zeugen zu hören sowie zahlreiche Urkunden zu verlesen sind und daher umfassende Akteneinsicht,<br />

die dem Verteidiger vorbehalten ist, erforderlich erscheint (LG Saarbrücken StraFo 20<strong>16</strong>, 513).<br />

Gleiches gilt, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den<br />

Angeklagten ist (LG Braunschweig Blutalkohol 54 [2017], 2<strong>16</strong>).<br />

Dagegen soll sich die Notwendigkeit der Verteidigung nach Auffassung einiger Gerichte nicht zwingend<br />

bereits daraus ableiten lassen, dass der Verletzte auf eigene Kosten einen anwaltlichen Beistand<br />

hinzuzieht (OLG München, Beschl. v. 2.5.2017 – 2 Ws 504/17, StRR 6/2017, 2; OLG Hamburg StV 2017,<br />

149). Der Gesetzgeber habe die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO bewusst<br />

ausdrücklich nur für Fälle vorgeschrieben, in denen dem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet ist.<br />

Hinsichtlich der Konstellation, dass sich der Verletzte auf eigene Kosten anwaltlichen Beistands bedient,<br />

liege daher keine planwidrige Regelungslücke vor.<br />

Überzeugend ist diese Sichtweise indes nicht: Im Falle einer anwaltlichen Vertretung nur des Verletzten<br />

wird das Prinzip der Waffengleichheit unabhängig von der – für den Angeklagten nebensächlichen<br />

– Frage, ob der Beistand des Verletzten aufgrund gerichtlicher Beiordnung oder aufgrund<br />

Anwaltsvertrags tätig wird, nahezu immer beeinträchtigt sein, da sich der Angeklagte in beiden Fällen<br />

einem Verletzten gegenübersieht, der sich des fachkundigen Rats eines Rechtsanwalts bedient. Eine<br />

Differenzierung danach, auf welcher Grundlage der Verletztenbeistand tätig wird, erscheint daher<br />

nicht sachgerecht. Es ist vielmehr mit Blick auf den rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens<br />

und der Waffengleichheit geboten, auch dann einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der<br />

anwaltliche Vertreter des Verletzten nicht aufgrund gerichtlicher Bestellung tätig wird, sondern vom<br />

Verletzten selbst gewählt wurde (BEULKE, in: SATZGER/SCHLUCKEBIER/WIDMAIER, StPO, 3. Aufl. <strong>2018</strong>, § 140<br />

Rn 33 m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Die Problematik der beeinträchtigten Waffengleichheit wird im Grundsatz auch von Vertretern der Gegenposition<br />

anerkannt, wenn diese darauf hinweisen, dass eine Verteidigerbestellung nicht allein deshalb abgelehnt<br />

werden dürfe, weil ein Fall der §§ 397a, 406h StPO nicht vorliege. Erforderlich sei vielmehr eine<br />

einzelfallbezogene Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung trotz einer bestehenden<br />

anwaltlichen Vertretung des Verletzten, wobei neben der Komplexität des Anklagevorwurfs und der Beweislage<br />

auch der Umstand in die Erwägungen einzubeziehen sei, dass ein anwaltlich vertretener Verletzter<br />

regelmäßig von seinen verfahrensgestaltenden Rechten Gebrauch macht (OLG Hamburg StV 2017, 149). Im<br />

Ergebnis dürften daher beide Ansichten oftmals zum selben Ergebnis kommen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 853


Fach 22, Seite 930<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

3. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung<br />

a) Gesundheitliche und geistige Einschränkungen<br />

Bei der Prüfung des § 140 Abs. 2 StPO sind auch die in der Person des Angeklagten liegenden Umstände<br />

zu berücksichtigen. Wer mit geistigen Beeinträchtigungen leben muss, ist sehr viel schneller mit der<br />

Wahrnehmung seiner Rechte überfordert und daher u.U. in weitaus höherem Maße auf den Beistand<br />

eines Verteidigers angewiesen als Gesunde. Dennoch kommt es bei der Prüfung der Selbstverteidigungsfähigkeit<br />

immer wieder zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, bei deren Lektüre man<br />

oftmals nur staunen kann, welche Beeinträchtigungen der Selbstverteidigungsfähigkeit unbeachtlich<br />

sein sollen und was manch Angeklagtem zugemutet wird.<br />

So sollte es nicht des Eingreifens einer Beschwerdekammer bedürfen, um zu der Erkenntnis zu gelangen,<br />

dass ein unter motorischen Sprachstörungen leidender, unter Betreuung stehender Angeklagter,<br />

dessen Betreuer u.a. zur „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist, nicht in der Lage ist, sich in<br />

einem Strafverfahren selbst zu verteidigen (so aber in dem der Entscheidung LG Berlin StV 20<strong>16</strong>, 487<br />

zugrunde liegenden Fall). Wer selbst bei Alltagsvorgängen im Umgang mit Behörden überfordert ist und<br />

der Unterstützung durch einen Betreuer bedarf, ist in einem Strafverfahren, das ungleich belastender ist<br />

und in dem erhebliche Grundrechtseingriffe drohen, erst recht nicht in der Lage, sich selbst zu<br />

vertreten.<br />

Hinweis:<br />

Ein unter Betreuung stehender Angeklagter muss sich auch nicht darauf verweisen lassen, dass der Betreuer<br />

in der Hauptverhandlung anwesend sein kann. Die Aufgaben des Betreuers unterscheiden sich von<br />

jenen eines Strafverteidigers grundlegend (LG Oldenburg NdsRpfl 20<strong>16</strong>, 315). Dies gilt auch dann, wenn der<br />

Betreuer des Angeklagten selbst Rechtsanwalt ist (OLG Naumburg BtPrax 2017, 83).<br />

Auch eine langjährige, schwer behandelbare psychiatrische Erkrankung (dissozial-narzisstische<br />

Persönlichkeitsstörung) kann die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (OLG Hamburg StV <strong>2018</strong>,<br />

143). Gleiches gilt für einen reifeverzögerten Heranwachsenden mit stark beeinträchtigten geistigen<br />

Fähigkeiten (OLG Hamburg StV 2017, 724).<br />

Hinweis:<br />

Drogenabhängigkeit führt dagegen für sich allein noch nicht zur Verteidigungsunfähigkeit (KG, Beschl. v.<br />

23.2.20<strong>16</strong> – 3 Ws 87/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 422/20<strong>16</strong>). Hier bedarf es darüber hinaus weiterer Umstände, die die<br />

Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich machen. Anhaltspunkte hierfür können eine Betreuerbestellung<br />

sein oder Ausführungen in einem Sachverständigengutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit,<br />

wenn sich dort Erkenntnisse etwa über eine drogenbedingte Persönlichkeitsstörung und dergleichen<br />

finden.<br />

b) Sprachprobleme<br />

Immer wieder für Streit sorgt in der Praxis auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen einem<br />

Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ein Pflichtverteidiger zu bestellen<br />

ist. Auf Sprachschwierigkeiten gestützte Anträge stoßen immer wieder auf Widerstand, der i.d.R. damit<br />

begründet wird, dass doch die Anklageschrift übersetzt worden sei und in der Hauptverhandlung ein<br />

Dolmetscher zugegen wäre. Unzureichende Sprachkenntnisse des Angeklagten können aber durch die<br />

Bestellung eines Dolmetschers jedenfalls dann nicht vollständig ausgeglichen werden, wenn im<br />

Einzelfall komplexe Rechtsfragen zu prüfen sind (so zu Recht LG Detmold InfAuslR 2017, 131 für ein<br />

Verfahren, in dem außer nebenstrafrechtlichen Bestimmungen auch verwaltungsrechtliche Vorschriften<br />

zu erörtern waren). Zudem kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers – auch in rechtlich und tatsächlich<br />

einfach gelagerten Fällen – dann geboten sein, wenn es bei der Übersetzung eines Strafbefehls/<br />

einer Anklage zu Fehlern gekommen ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte<br />

854 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 931<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

aufgrund sprachbedingter Verständigungsschwierigkeiten nicht in der Lage war, alle Möglichkeiten<br />

einer angemessenen Verteidigung auszuschöpfen (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.6.<strong>2018</strong> – 5/17 Qs 26/17).<br />

Auch bei einer erforderlichen ausführlichen Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Angaben von<br />

Zeugen und/oder Mitangeklagten ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers unzureichend (LG Kiel StV<br />

20<strong>16</strong>, 485).<br />

Hinweis:<br />

Neben etwaigen Verständigungsschwierigkeiten sollen bei ausländischen Angeklagten im Rahmen der Prüfung<br />

des § 140 Abs. 2 StPO auch mögliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen in die Erwägungen einzubeziehen<br />

sein (LG Hof, Beschl. v. 25.11.2015 – 4 Qs 153/15). Dem wird man insbesondere in Fällen, in denen im<br />

Fall der Verurteilung eine Ausweisung droht, zustimmen können (zu aufenthaltsrechtlichen Folgen eines<br />

Strafverfahrens, BAHR, in: BURHOFF/KOTZ, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil H Rn 97).<br />

V. Umfang der Beiordnung<br />

Hinsichtlich der Reichweite der Beiordnung sind zwei Konstellationen weiterhin umstritten. Zum einen<br />

besteht Uneinigkeit darüber, ob sich die Verteidigerbestellung auch auf das Adhäsionsverfahren<br />

erstreckt (dafür: LG München StV <strong>2018</strong>, 153, dagegen: OLG Celle JurBüro 2017, 197).<br />

Praxishinweis:<br />

Da sich die Ansichten hierzu von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk unterscheiden können, empfiehlt es<br />

sich, den Beiordnungsantrag von vornherein ausdrücklich auch auf das Adhäsionsverfahren zu erstrecken.<br />

Zum anderen wird in der Rechtsprechung nach wie vor nicht einheitlich beurteilt, ob eine im Strafbefehlsverfahren<br />

gem. § 408b StPO erfolgte Beiordnung nur bis zur Einspruchseinlegung oder darüber<br />

hinaus auch für die auf den Einspruch folgende Hauptverhandlung gilt. Das OLG Oldenburg hat sich<br />

nunmehr insoweit der zuvor bereits von den OLG Köln (StV 2010, 68) und Celle (StV 2011, 661)<br />

vertretenen Auffassung angeschlossen und eine Wirkung der Verteidigerbestellung auch für die auf den<br />

Einspruch folgende Hauptverhandlung bejaht (StV <strong>2018</strong>, 152).<br />

VI. Mehrere Pflichtverteidiger<br />

In den allermeisten Verfahren, insbesondere in jenen vor den Amtsgerichten, wird die Bestellung eines<br />

Pflichtverteidigers genügen, um eine ordnungsgemäße Vertretung des Angeklagten zu sichern. Die<br />

Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt nach der Rechtsprechung daher nur in eng<br />

begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (KG StV 2017, 155).<br />

Hinweis:<br />

Ein solcher Ausnahmefall ist erst gegeben, wenn für die Mitwirkung eines zweiten Verteidigers ein unabweisbares<br />

Bedürfnis besteht (KG a.a.O.).<br />

Dies kommt insbesondere in Umfangsverfahren in Betracht, in denen sich die Hauptverhandlung über<br />

einen längeren Zeitraum erstreckt und sichergestellt werden muss, dass auch bei einem vorübergehenden<br />

Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder wenn der Verfahrensstoff so<br />

außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger<br />

beherrscht werden kann (LG Dessau-Roßlau StV 20<strong>16</strong>, 488; KG a.a.O.).<br />

In derartigen Fällen soll es allerdings grundsätzlich zulässig sein, nach Abschluss des Tatsachenrechtszugs<br />

die Bestellung des zweiten Pflichtverteidigers zurückzunehmen, da es dann nicht mehr notwendig<br />

sei, den Fortgang der Hauptverhandlung zu sichern. Ein Bedürfnis für die weitere Mitwirkung des<br />

zweiten Verteidigers soll dann nur ausnahmsweise vorhanden sein (KG, Beschl. v. 10.7.2015 – 1 Ws 44/15).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 855


Fach 22, Seite 932<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

VII. Auswahl des Pflichtverteidigers<br />

Benennt der Beschuldigte/Angeklagte einen Rechtsanwalt, von dem er vertreten werden will, so ist<br />

dieser zum Pflichtverteidiger zu bestellen, sofern kein wichtiger Grund entgegensteht, § 142 Abs. 1 S. 2<br />

StPO. Ein solch wichtiger Grund ist nur ausnahmsweise anzunehmen; der Grundsatz des fairen<br />

Verfahrens gebietet es, die Wünsche des Mandanten soweit wie möglich zu berücksichtigen (BURHOFF,<br />

EV, Rn 2772, 8. Aufl. Rn 2789, m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Einen ausdrücklichen Rechtsanspruch auf die Beiordnung des gewünschten Verteidigers hat der Angeklagte<br />

aber nach wie vor nicht (BVerfG NStZ 2006, 460).<br />

Ein der Beiordnung entgegenstehender wichtiger Grund kann dann gegeben sein, wenn ein Interessenkonflikt<br />

vorliegt (BGH NStZ 20<strong>16</strong>, 115). Tritt ein solcher Konflikt erst nach der Beiordnung zutage, ist<br />

– nach Anhörung des Angeklagten – deren Rücknahme zu prüfen (BGH a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Nach einer neueren Entscheidung des OLG Bremen (Beschl. v. 2.3.<strong>2018</strong> – 1 Ws 12/18, NStZ-RR <strong>2018</strong>, 188) kann<br />

eine Verteidigerbestellung schon abgelehnt werden, wenn ein Interessenkonflikt absehbar ist. Die Ablehnung<br />

könne bereits vertretbar sein, wenn die Gefahr einer Interessenkollision aktuell noch nicht übermäßig<br />

groß erscheine, indes aber unbedingt vermieden werden soll, dass sie später doch virulent wird. Die sei bei der<br />

Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch Rechtsanwälte derselben Sozietät grundsätzlich schon dann<br />

der Fall, wenn eine Anklage wegen einer gemeinsamen Tat vorliege, sofern sich nicht im Einzelfall aus dem<br />

Einlassungsverhalten der Beschuldigten etwas anderes ergebe. Konkreter Hinweise auf das Bestehen dieses<br />

Konflikts bedürfe es dann nicht. Die Abberufung eines bereits bestellten Verteidigers hingegen soll nur bei<br />

Vorliegen konkreterer Hinweise auf einen tatsächlichen Interessenkonflikt erfolgen (OLG Bremen a.a.O.).<br />

Dem Wunsch des Angeklagten nach Beiordnung seines Wunschverteidigers kann im Einzelfall auch das<br />

Beschleunigungsgebot entgegenstehen. Ist der Verteidiger aufgrund anderweitiger Verpflichtungen<br />

daran gehindert, in angemessener Zeit Hauptverhandlungstermine wahrzunehmen, kann dem Beschleunigungsgebot<br />

der Vorrang gebühren, zumal dieses nicht zur Disposition des Angeklagten steht<br />

(OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436). Der Hinweis des Angeklagten, er sei notfalls mit einem späteren Beginn<br />

der Hauptverhandlung einverstanden, vermag ihm daher den gewünschten Anwalt nicht zu<br />

verschaffen.<br />

Fehlt es dagegen an einer besonderen Eilbedürftigkeit, kann einer Terminierung auf einen späteren<br />

Zeitpunkt gegenüber einer Entpflichtung der Vorrang gebühren (LG Lüneburg StV 20<strong>16</strong>, 490; zum<br />

Spannungsfeld zwischen dem Beschleunigungsgebot einerseits und der Verfügbarkeit des Wunschverteidigers<br />

andererseits s. auch HILLENBRAND <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 921, 925).<br />

Dagegen kann die Beiordnung nicht allein deshalb verweigert werden, weil der benannte Rechtsanwalt<br />

nicht im Gerichtsbezirk ansässig ist. Die frühere Beschränkung, wonach „möglichst“ auf im<br />

Bezirk ansässige Rechtsanwälte zurückzugreifen war, hat der Gesetzgeber bereits vor Jahren<br />

gestrichen. Auf eine (erhebliche) Ortsferne des Verteidigers kann daher allenfalls noch abgestellt<br />

werden, wenn hierdurch eine sachgerechte Verteidigung gefährdet erscheint (OLG Zweibrücken,<br />

Beschl. v. 18.8.20<strong>16</strong> – 1 Ws 198/<strong>16</strong>).<br />

VIII. Entscheidungszeitpunkt<br />

Liegen die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese möglichst<br />

frühzeitig vorzunehmen (BURHOFF, EV, Rn 3042, 8. Aufl. Rn 3059). Hierauf muss der Verteidiger achten<br />

und erforderlichenfalls darauf hinwirken, dass das Gericht dieser Verpflichtung auch tatsächlich<br />

nachkommt.<br />

856 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 933<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Dies ist nämlich nicht immer der Fall. Insbesondere in Verfahren, in denen im Hinblick auf anderweitige<br />

Tatvorwürfe eine Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO in Betracht kommt, werden Anträge immer wieder<br />

gern liegen gelassen, um eine Beiordnung dann mit oder gar nach der Einstellung des Verfahrens<br />

abzulehnen, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht (mehr) vorliege. Dahinter steckt regelmäßig<br />

der Gedanke, dass die Verteidigerbestellung überflüssig sei, da dem Angeklagten im Falle einer<br />

Einstellung ja kein Unheil drohe. Dies ist freilich schon deshalb falsch, weil eine solche Vorgehensweise<br />

dem Grundsatz, wonach die Verteidigerbestellung so früh wie möglich vorzunehmen ist, evident<br />

widerspricht. Es ist – auch bei einem nicht inhaftierten Beschuldigten – nicht zulässig, dem Verfahren<br />

erst Fortgang zu geben und dann am Ende über den Beiordnungsantrag zu entscheiden (LG<br />

Mühlhausen, Beschl. v. 1.12.2017 – 3 Qs 205/17, StRR 3/<strong>2018</strong>, 21). Überdies kann sich die Erforderlichkeit<br />

der Mitwirkung eines Verteidigers auch daraus ergeben, dass es die überwiegende Rechtsprechung<br />

nach wie vor für grundsätzlich zulässig hält, auch Taten, derentwegen das Verfahren gem. § 154 Abs. 2<br />

StPO eingestellt wurde, bei der Aburteilung der anderen Delikte im Rahmen der Strafzumessung<br />

strafschärfend zu berücksichtigen.<br />

Praxishinweis:<br />

Bleibt das Gericht untätig, kann es sich empfehlen, hiergegen mit dem Rechtsmittel der Beschwerde<br />

vorzugehen, auch wenn die StPO eine reine Untätigkeitsbeschwerde nicht kennt. Wird nämlich eine<br />

von Amts wegen gebotene oder auf Antrag zu treffende Entscheidung, die ihrerseits selbst anfechtbar<br />

wäre, unterlassen und kommt dies nicht lediglich einer Verfahrensverzögerung, sondern einer endgültigen<br />

Ablehnung gleich, ist dies anfechtbar (LG Dresden StV 2017, 174 für eine unterlassene Beiordnungsentscheidung,<br />

wenn ein nur <strong>16</strong> Tage später stattfindender Hauptverhandlungstermin anberaumt<br />

wird).<br />

Wird die Nicht-Verbescheidung des Antrags dagegen hingenommen, drohen später nicht unerhebliche<br />

Schwierigkeiten, nachdem die überwiegende Rechtsprechung weiterhin davon ausgeht, dass<br />

eine rückwirkende Verteidigerbestellung unzulässig sei. Der Zweck der Pflichtverteidigung, dem<br />

Angeklagten einen rechtskundigen Beistand und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu<br />

sichern, könne dann nicht mehr erreicht werden (OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, <strong>ZAP</strong><br />

EN-Nr. 325/2015; LG Halle/Saale, Beschl. v. 31.7.2015 – 3 Qs 151/15, StRR 2015, 389; weitere Nachweise<br />

bei BURHOFF, EV, Rn 3044, 8. Aufl. Rn 3061). Die Gegenauffassung (u.a. LG Trier StRR 2015, 389; LG<br />

Mühlhausen, Beschl. v. 1.12.2017 – 3 Qs 205/17, StRR 3/<strong>2018</strong>, 21) hat sich bislang jedenfalls nicht auf<br />

breiter Linie durchzusetzen vermocht.<br />

Hinweis:<br />

Lässt das Gericht die Mitwirkung des Verteidigers ohne Hinweis auf ein eigenes Kostenrisiko zu, ist jedoch<br />

eine schlüssige Beiordnung zum Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen (BGH NStZ-RR 2009, 348;<br />

OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, <strong>ZAP</strong> En-Nr. 325/2015). Eine solche konkludente Beiordnung<br />

kann auch nachträglich festgestellt werden, so dass das Fehlen einer ausdrücklichen Beiordnung die<br />

Abrechnung der entstandenen Pflichtverteidigergebühren nicht hindert (BGH a.a.O.). Von einer konkludenten<br />

Bestellung wird man ausgehen können, wenn das Gericht mit dem Verteidiger Schriftwechsel führt,<br />

Stellungnahmen von ihm einholt oder ihm Terminsladungen zustellt.<br />

IX. Rücknahme der Bestellung<br />

Ist die begehrte Beiordnung erfolgt, gilt diese bis zur Rechtskraft des Urteils (BURHOFF, EV, Rn 3009,<br />

8. Aufl. Rn 3026). Sie kann grundsätzlich nicht zurückgenommen werden, weil sich im Nachhinein die<br />

Einschätzung des Gerichts zu der Frage, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ändert (LG<br />

Bonn StraFo 20<strong>16</strong>, 295). Dies gilt auch für das Berufungsgericht (KG StV 2017, 154).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 857


Fach 22, Seite 934<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Hinweis:<br />

Zudem kann ein – für das Gericht bindender – Beiordnungsantrag der Staatsanwaltschaft gem. § 141 Abs. 3<br />

StPO nicht zurückgenommen werden (LG Münster StV 20<strong>16</strong>, 157; LG Verden StraFo 2017, 279).<br />

Allerdings riskiert der Rechtsanwalt den Fortbestand der Bestellung, wenn er die Verteidigung nicht<br />

ordnungsgemäß führt, was leider hin und wieder vorkommt und belegt, dass der schlechte Ruf der<br />

Pflichtverteidigung (hierzu BURHOFF, EV, Rn 2763, 8. Aufl. Rn 2780) nicht nur der Justiz, sondern auch<br />

einem kleinen Teil der Anwaltschaft geschuldet ist.<br />

Es können jedoch bei Weitem nicht nur pflichtvergessene Anwälte, sondern auch völlig ordnungsgemäß<br />

agierende Verteidiger plötzlich mit der Frage einer Entpflichtung konfrontiert werden, sei es durch<br />

Versuche der Gerichte, einen missliebigen Pflichtverteidiger „loszuwerden“, sei es durch konkurrierende<br />

Rechtsanwälte, die in das Mandat hineindrängen. Im Einzelnen:<br />

1. Entpflichtung<br />

a) Fehlverhalten/Untätigkeit des Verteidigers<br />

Die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an eine Entpflichtung des bestellten Verteidigers<br />

sind hoch. Besitzt der Pflichtverteidiger das Vertrauen des Angeklagten, berührt eine Rücknahme der<br />

Beiordnung dessen Verteidigungsbelange auf das Stärkste und kommt deshalb nur in Betracht, wenn<br />

Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung ernsthaft gefährden (BGH NJW 20<strong>16</strong>, 884).<br />

Demgegenüber sinken die Voraussetzungen für die Rücknahme der Bestellung bei einem Fehlverhalten<br />

des Verteidigers. Hier kann es nicht nur zulässig, sondern sogar geboten sein, dass das Gericht<br />

einschreitet und eine sachgerechte Verteidigung sicherstellt. So verlangt Art. 6 Abs. 3c MRK nach<br />

Auffassung des EGMR und des BGH bei nicht ordnungsgemäßer Verteidigung (auch ohne anwaltliches<br />

Verschulden, etwa bei Erkrankung) positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden, um<br />

diesem Zustand abzuhelfen (BGH, Beschl v. 5.6.<strong>2018</strong> – 4 StR 138/18 m.w.N.).<br />

Der bestellte Pflichtverteidiger hat die Verteidigung ordnungsgemäß und mit dem gebotenen Engagement<br />

zu führen. Diese Verpflichtung trifft ihn nicht erst in der Hauptverhandlung, sondern unmittelbar ab dem<br />

Moment der Beiordnung. Verstößt der Verteidiger hiergegen, indem er den inhaftierten Beschuldigten über<br />

Monate hinweg nicht in der JVA besucht, um die Verteidigungsstrategie zu erörtern, rechtfertigt dies den<br />

Widerruf der Beiordnung (AG Köln StV 20<strong>16</strong>, 491; LG Ingolstadt StRR 9/2017, 2).<br />

Hinweis:<br />

Weigert sich der Vorsitzende trotz eines offensichtlichen Fehlverhaltens, die gebotene Entpflichtung vorzunehmen,<br />

begründet dies die Besorgnis der Befangenheit (AG Köln StV 20<strong>16</strong>, 491).<br />

Darüber hinaus hat der Pflichtverteidiger aufgrund ihrer überragenden Bedeutung für den Ausgang des<br />

Verfahrens regelmäßig an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Tut er dies in einem Umfangsverfahren<br />

nicht, ist eine ordnungsgemäße Verteidigung konkret in einer derart schwerwiegenden Weise<br />

gefährdet, dass die Rücknahme der Bestellung gerechtfertigt ist (OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436).<br />

Hinweis:<br />

Im Falle einer Verhinderung an einzelnen Verhandlungstagen ist jedoch eine Vertretung des anderweitig<br />

terminlich gebundenen Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger grundsätzlich zulässig,<br />

sofern eine ordnungsgemäße Verteidigung durch den Vertreter gewährleistet ist. Dies erfordert entweder eine<br />

umfassende Aktenkenntnis (die insbesondere bei größeren Verfahren kaum einmal vorhanden sein dürfte)<br />

oder einen überschaubaren Verhandlungsstoff an jenem Verhandlungstag (LG Dessau-Roßlau StV 20<strong>16</strong>, 488).<br />

858 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 935<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

b) Fehler im Beiordnungsverfahren<br />

Im Einzelfall können aber auch Fehler des Gerichts im Rahmen des Beiordnungsverfahrens zur Entpflichtung<br />

führen. Wird der Beschuldigte vor der Bestellung entgegen § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, der regelmäßig<br />

eine Pflicht zur Anhörung begründet, nicht ordnungsgemäß angehört, ist der dennoch<br />

beigeordnete Verteidiger auf Antrag auch dann zu entpflichten und ein vom Beschuldigten benannter<br />

Anwalt beizuordnen, wenn Anhaltspunkte für eine Störung des Vertrauensverhältnisses nicht dargelegt<br />

werden (OLG Koblenz StV 20<strong>16</strong>, 512). Dies gilt nicht nur, wenn eine Anhörung komplett unterbleibt,<br />

sondern auch dann, wenn die dem Beschuldigten gesetzte Frist zur Benennung eines Verteidigers zu<br />

kurz bemessen wird (LG Siegen StRR 2015, 465).<br />

Bei der Bemessung der Frist ist darauf zu achten, dass dem Beschuldigten genügend Zeit bleibt, um sich auf<br />

dem immer größer und unüberschaubarer werdenden Anwaltsmarkt zu orientieren und einen Besprechungstermin<br />

zu vereinbaren. Erst nach einem persönlichen Kontakt kann der Beschuldigte absehen,<br />

ob das für eine ordnungsgemäße Strafverteidigung unabdingbare Vertrauen zu dem ausgewählten<br />

Rechtsanwalt vorhanden ist oder ob er nach einer Alternative Ausschau halten muss.<br />

Wird gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft vollzogen, erschweren die damit zwangsläufig<br />

verbundenen Einschränkungen die Anwaltssuche abermals. Auch dies ist bei der Fristbemessung zu<br />

berücksichtigen (bedenklich daher LG Heilbronn, Beschl. v. 26.9.20<strong>16</strong> – 8 Qs 39/<strong>16</strong>, wonach bei einem<br />

sprachunkundigen inhaftierten Beschuldigten eine Frist von nur einer Woche ausreichend sein soll).<br />

Praxishinweis:<br />

Der in Korrektur des fehlerhaften Anhörungsverfahrens neu beigeordnete Verteidiger muss sich bei der<br />

Abrechnung des Mandats nicht entgegenhalten lassen, dass für die Tätigkeit des früheren Verteidigers<br />

bereits Gebühren angefallen seien. Einschränkungen dahingehend, dass die durch den – allein aufgrund<br />

des vom Gericht zu verantwortenden Verfahrensfehlers – erforderlich gewordenen Verteidigerwechsel<br />

entstehenden Mehrkosten nicht zu erstatten sind, sind unzulässig (LG Bielefeld RVGreport 20<strong>16</strong>, 478).<br />

2. Herausdrängen des Pflichtverteidigers<br />

Gefahr für den Bestand der Beiordnung geht jedoch nicht nur von den Gerichten aus, sondern in<br />

zunehmendem Maße auch von anderen Rechtsanwälten. Insbesondere in Verfahren, die wegen ihrer<br />

Bedeutung und/oder ihres Umfangs attraktiv erscheinen, müssen Pflichtverteidiger vermehrt mit<br />

Versuchen rechnen, aus dem Mandant herausgedrängt zu werden.<br />

a) Entpflichtung gem. § 143 StPO<br />

Dabei wird häufig dergestalt vorgegangen, dass sich zunächst ein neuer Rechtsanwalt als Wahlverteidiger<br />

legitimiert und zugleich die Entpflichtung des bisherigen Verteidigers gem. § 143 StPO beantragt. Nachdem<br />

diese erfolgt ist, wird das Wahlmandat niedergelegt und die eigene Beiordnung beantragt.<br />

Derartige Versuche lassen sich jedoch unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung recht gut<br />

abwehren. So betonen die Obergerichte, dass die Beiordnung des Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger<br />

in aller Regel dann nicht in Betracht kommt, wenn er zuvor durch die Übernahme des Wahlmandats die<br />

Entpflichtung des Pflichtverteidigers gem. § 143 StPO bewirkt und diesen so aus seiner Verteidigerstellung<br />

verdrängt hat. Stattdessen ist regelmäßig wieder der frühere Pflichtverteidiger zu bestellen<br />

(OLG Stuttgart StV 20<strong>16</strong>, 142; KG NStZ 2017, 64).<br />

Darüber hinaus hat die Rechtsprechung auch auf den hin und wieder zu beobachtenden Versuch, die<br />

Verdrängungsabsicht etwas weniger offensichtlich zutage treten zu lassen bzw. diese zu verschleiern,<br />

indem der „eigene“ Beiordnungsantrag erst eine gewisse Zeit nach der Entpflichtung des bisherigen<br />

Verteidigers gestellt wird, reagiert und klargestellt, dass es grundsätzlich nicht darauf ankomme, ob der<br />

Wahlverteidiger seinen eigenen Beiordnungsantrag in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit<br />

der Entpflichtung oder mit Verzögerung stellt (KG a.a.O.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 859


Fach 22, Seite 936<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Hinweis:<br />

In Ausnahmefällen, etwa wenn der Angeklagte im Laufe eines längeren Verfahrens unvorhergesehen<br />

mittellos wird und der ehemalige Pflichtverteidiger aufgrund des fortgeschrittenen Verfahrensstadiums die<br />

Verteidigung nicht erneut übernehmen kann, wird allerdings eine Bestellung des bisherigen Wahlverteidigers<br />

in Betracht zu ziehen sein. Der Vorwurf des Verdrängens geht bei zuvor nicht absehbaren, nachträglich<br />

eingetretenen Umständen fehl. Das KG hat diese Frage in der vorgenannten Entscheidung allerdings<br />

mangels Entscheidungsrelevanz jedoch offen gelassen.<br />

b) Vermeintlicher Vertrauensverlust<br />

Dieser Kurs der Gerichte erschwert eine Verdrängung des bisherigen Pflichtverteidigers über § 143 StPO<br />

zunehmend. Wohl als Reaktion hierauf wurde eine weitere Verdrängungsmethode entwickelt: Anstatt<br />

über § 143 StPO auf eine Entpflichtung des bisherigen Verteidigers hinzuwirken, wird unmittelbar die<br />

Umbeiordnung beantragt und zur Begründung vorgetragen, der Angeklagte habe zu seinem bisherigen<br />

Verteidiger kein Vertrauen mehr.<br />

Die Gründe hierfür erweisen sich oftmals als vorgeschoben, und entsprechend dünn sind dann die<br />

Ausführungen hierzu. Dies kann der zu Unrecht angegangene Pflichtverteidiger zur Abwehr solcher<br />

Angriffe nutzen: Die Rechtsprechung stellt hohe Darlegungsanforderungen, wenn eine Zerrüttung des<br />

Vertrauensverhältnisses geltend gemacht werden soll. Die entsprechende Behauptung muss mit<br />

konkreten Tatsachen belegt werden; allgemeine, floskelhafte Unzufriedenheitsbekundungen genügen<br />

für eine Entpflichtung ebenso wenig wie unterschiedliche Auffassungen über die Verteidigungsstrategie.<br />

Bei unsubstantiierten Entpflichtungsanträgen, mit denen lediglich pauschale Vorwürfe erhoben werden,<br />

kann der Angeklagte auch keinen (zweiten) Pflichtverteidiger für das „Entpflichtungsverfahren“, etwa<br />

für eine Beschwerde gegen die Ablehnung des Entpflichtungsantrags, verlangen (OLG Hamburg, Beschl.<br />

v. 29.2.20<strong>16</strong> – 2 Ws 28/<strong>16</strong>).<br />

Hinweis:<br />

Bei der Beurteilung, ob das Vertrauensverhältnis endgültig und nachhaltig erschüttert ist, kommt es nicht<br />

auf das subjektive Empfinden des jeweiligen Mandanten an. Maßgeblich ist vielmehr der Standpunkt eines<br />

vernünftigen und verständigen Angeklagten (KG StRR 2/<strong>2018</strong>, 9).<br />

Zu beachten ist auch, dass der Verteidiger rechtskundiger Beistand des Angeklagten ist und nicht<br />

dessen Vertreter. Er hat sich allseitig unabhängig zu halten und, wo er durch Anträge oder in sonstiger<br />

Weise in das Verfahren eingreift, dies in eigener Verantwortung und frei von Weisungen des<br />

Angeklagten zu tun. Auch liegt eine Pflichtverletzung nicht bereits dadurch vor, dass der Pflichtverteidiger<br />

für den Beschuldigten nicht durchgängig erreichbar ist (KG a.a.O. m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Sind die Gründe für den Vertrauensverlust aber schlüssig dargetan (einen vollen Beweis muss der<br />

Angeklagte nicht führen), kann auch der Wahlverteidiger beigeordnet werden (OLG Stuttgart StV<br />

20<strong>16</strong>, 142).<br />

3. Einvernehmliche Umbeiordnung<br />

Bei allseitigem Einverständnis ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers dagegen möglich (OLG<br />

Naumburg StraFo 20<strong>16</strong>, 515; OLG Karlsruhe NStZ 2017, 304). In diesem Fall gebietet es grundsätzlich<br />

die gerichtliche Fürsorgepflicht, dem Angeklagten den Anwalt seines Vertrauens beizuordnen. Eines<br />

zerrütteten Vertrauensverhältnisses oder eines Fehlverhaltens des bisherigen Verteidigers bedarf es<br />

dann nicht (OLG Celle StRR 10/2017, 2), so dass auch entsprechender Vortrag unterbleiben kann.<br />

860 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 937<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

Praxishinweis:<br />

Der Verteidigerwechsel darf allerdings nicht zu einer Verfahrensverzögerung führen (KG NStZ 2017, 305).<br />

Sind bereits Hauptverhandlungstermine bestimmt, empfiehlt es sich daher für den neuen Verteidiger,<br />

zugleich mit dem Beiordnungsantrag mitzuteilen, dass die Termine wahrgenommen werden können.<br />

Andernfalls geht er das Risiko ein, dass das Gericht die Umbeiordnung unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot<br />

ablehnt. Hiergegen wäre selbst dann schwer anzukommen, wenn der Angeklagte sich mit<br />

einer längeren Verfahrensdauer einverstanden erklärt. Das Beschleunigungsgebot steht nicht zu seiner<br />

Disposition (OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436).<br />

Darüber hinaus darf die Umbeiordnung auch keine Mehrkosten für die Staatskasse zur Folge haben.<br />

Um solche Mehrkosten zu vermeiden, kann der neue (oder der alte) Pflichtverteidiger auf Gebühren<br />

verzichten (OLG Saarbrücken StraFo 20<strong>16</strong>, 514; OLG Karlsruhe NStZ 2017, 304; OLG Stuttgart, Beschl. v.<br />

25.10.2017 – 2 Ws 277/17).<br />

Hinweis:<br />

Der Umstand, dass der neue Verteidiger seinen Kanzleisitz andernorts unterhält und daher im Vergleich<br />

zur Tätigkeit des bisherigen, ortsansässigen Anwalts höhere Reisekosten anfallen, rechtfertigt die<br />

Ablehnung der Umbeiordnung aber nicht. Diese Kosten wären auch dann angefallen, wenn der Angeklagte<br />

den neuen Verteidiger von Vornherein benannt hätte und dieser beigeordnet worden wäre<br />

(LG Osnabrück RVGreport 2017, 319).<br />

X. Strafvollstreckung<br />

Im Bereich der Strafvollstreckung ist, was die Bestellung von Pflichtverteidigern betrifft, in den letzten<br />

Jahren alles beim Alten geblieben (zur Beiordnung im Vollstreckungsverfahren BURHOFF, EV, Rn 2812,<br />

8. Aufl. Rn 2829). Der Gesetzgeber hält eine speziell auf das Vollstreckungsverfahren zugeschnittene<br />

gesetzliche Regelung nach wie vor für entbehrlich, so dass weiterhin § 140 Abs. 2 StPO analog<br />

angewendet werden muss. Ebenso unverändert ist der restriktive Kurs der Rechtsprechung, wonach<br />

eine Beiordnung regelmäßig nur in Ausnahmekonstellationen von besonderem Gewicht oder<br />

besonderer Komplexität in Betracht kommt, etwa bei Fragen der Überprüfung der Unterbringung in<br />

der Sicherungsverwahrung, bei komplexen Strafzeitberechnungen, Vollstreckungshilfeverfahren oder<br />

rechtlich oder tatsächlich schwierigen oder folgenreichen Konstellationen (OLG Stuttgart StV <strong>2018</strong>, 379).<br />

Hinweis:<br />

Im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung (hierzu HILLENBRAND, in: BURHOFF/<br />

KOTZ, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil A Rn 371) liegt eine solche Ausnahmekonstellation<br />

nicht schon dann vor, wenn der Verurteilte im Falle des Widerrufs eine Freiheitsstrafe von einem Jahr<br />

oder mehr zu verbüßen hätte (ganz h.M.). Die vereinzelt vertretene Gegenansicht (LG Paderborn,<br />

Beschl. v. 28.10.20<strong>16</strong> – 1 Qs 125/<strong>16</strong>) verkennt, dass im Widerrufsverfahren – im Gegensatz zum Erkenntnisverfahren<br />

– die Höhe der Strafe bereits rechtskräftig feststeht und die Gefahr, dass der Verurteilte<br />

durch einen schwerwiegenden Rechtsfolgenausspruch überrascht wird, nicht mehr besteht<br />

(OLG Stuttgart a.a.O.).<br />

Dagegen kann ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen, wenn<br />

• der Verurteilte nur über eingeschränkte Sprachkenntnisse verfügt und sich deshalb nicht eingehend<br />

mit einem vom Gericht im Vollstreckungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten<br />

auseinandersetzen kann (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.8.20<strong>16</strong> – 1 Ws 198/<strong>16</strong>);<br />

• das Verfahren bislang derart (verfahrens-)fehlerhaft bearbeitet wurde, dass das zuständige<br />

Beschwerdegericht bereits zwei erstinstanzliche Entscheidungen aufheben musste (OLG Köln StV<br />

2017, 157);<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 861


Fach 22, Seite 938<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />

• die Strafvollstreckungskammer im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB<br />

aufgrund des Ergebnisses eines Sachverständigengutachtens erwägt, abweichend von der Stellungnahme<br />

der JVA zu entscheiden (OLG Stuttgart StraFo 20<strong>16</strong>, 2<strong>16</strong>);<br />

• im Reststrafenaussetzungsverfahren eine bislang nicht aktenkundige, langjährige dissozial-narzisstische<br />

Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde (OLG Hamburg StV <strong>2018</strong>, 143) oder<br />

• der Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft auf eine erhobene Anklage und zwei laufende<br />

Ermittlungsverfahren abstellt, ohne dass die Taten bereits abgeurteilt oder zumindest glaubhaft<br />

gestanden sind (LG Paderborn StRR 3/2017, 15).<br />

Sind derartige einzelfallbezogene Besonderheiten dagegen nicht ersichtlich, scheidet eine Beiordnung<br />

im Vollstreckungsverfahren in aller Regel aus.<br />

Praxishinweis:<br />

Nach wie vor unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob eine einmal erfolgte Beiordnung für das<br />

gesamte Vollstreckungsverfahren gilt oder lediglich für den jeweiligen Verfahrensabschnitt. Einige Gerichte<br />

verlangen weiterhin eine erneute Beiordnung für jeden Abschnitt (so zuletzt OLG Koblenz StV 20<strong>16</strong>,<br />

512), so dass eine solche vorsorglich jeweils beantragt werden sollte, zumindest sofern es im betroffenen<br />

Gerichtsbezirk insoweit keine gefestigte einheitliche Rechtsprechung gibt.<br />

XI. Checkliste für den Pflichtverteidiger<br />

Die nachfolgende Checkliste gibt stichwortartig die wichtigsten Prüfungsschritte wieder, die der<br />

Verteidiger im Zusammenhang mit Fragen der Pflichtverteidigung beachten sollte.<br />

1. Vor der Beiordnung<br />

□ Liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor?<br />

□ Sind die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO gegeben?<br />

□ Wenn nein: greift stattdessen § 140 Abs. 2 StPO?<br />

□ Schwere der Tat (v.a. bei (Gesamt-)Straferwartung von mindestens einem Jahr)?<br />

□ Schwierige Sach- und/oder Rechtslage?<br />

□ Keine Fähigkeit zur Selbstverteidigung (insb. geistige Einschränkungen oder Sprachprobleme).<br />

□ Ist der Antrag weit genug gefasst (ggf. ausdrückliche Erstreckung auf das Adhäsionsverfahren oder<br />

auf die Hauptverhandlung in Fällen des § 408b StPO)?<br />

□ Wird der Beiordnungsantrag zeitnah verbeschieden?<br />

□ Wenn nein: ggf. Beschwerde zulässig.<br />

2. Nach der Beiordnung/bei Entpflichtungsanträgen<br />

□ Wird das Mandat ordnungsgemäß bearbeitet (insbesondere keine Untätigkeit)?<br />

□ Liegt ein unzulässiges Verdrängen des bisherigen Pflichtverteidigers vor?<br />

□ Wenn ja: keine Beiordnung des neuen Verteidigers.<br />

□ Aber: Umbeiordnung mit dem Einverständnis aller Beteiligter möglich, sofern keine zusätzlichen<br />

Gebühren anfallen.<br />

862 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>

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