ZAP-2018-16
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
<strong>16</strong> <strong>2018</strong><br />
22. August<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Prozesskostenhilfe: Anwälte haben es beim (Mehr‐)Vergleich schwer (S. 807)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Ausgebremste Mietpreisbremser (S. 812) • Freie Berufe verbuchen solides Wachstum (S. 813) •<br />
Empfehlungen zur Ausbildungsvergütung (S. 814)<br />
Aufsätze<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungsübersicht zum Wohnraummietrecht (S. 821)<br />
Burhoff, Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten (S. 835)<br />
Hillenbrand, Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung (S. 851)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Beschränkung des Ausgleichsanspruchs bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft (S. 817)<br />
EuGH: Urheberrechte bei Verwendung von Fotografien aus dem Internet (S. 818)<br />
BVerfG: Zur Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen (S. 819)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 807–808<br />
Anwaltsmagazin – – 808–814<br />
Eilnachrichten 1 125–130 815–820<br />
Börstinghaus, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />
zum Wohnraummietrecht – 1. Halbjahr <strong>2018</strong> 4 R 921–934 821–834<br />
Burhoff, Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten 9 1029–1044 835–850<br />
Hillenbrand, Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung –<br />
Beiordnungsvoraussetzungen, Verteidigerauswahl und<br />
Rücknahme der Bestellung 22 927–938 851–862<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F <strong>16</strong>) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />
Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />
Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />
Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />
PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
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Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />
Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Prozesskostenhilfe: Anwälte haben es beim (Mehr-)Vergleich schwer<br />
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese<br />
Kolumne mit folgender Frage eröffnen: Führen<br />
Sie viele Mandate als beigeordnete Prozessbevollmächtigte?<br />
Nein? Dann haben Sie mit Ihren zahlungskräftigen<br />
Mandanten Glück. Wenn Sie aber vermehrt Beratungs-<br />
und Prozesskostenhilfemandate betreuen,<br />
stellt ein arbeitsaufwändiges Prozesskostenhilfemandat<br />
eigentlich eine betriebswirtschaftliche Katastrophe<br />
dar. Denn ab Gegenstandswerten von<br />
über 4.000 € stagniert der Gebührenanspruch des<br />
beigeordneten Anwalts nahezu. Wegen der Bestimmung<br />
des § 49 RVG dürften daher bei dem<br />
einen oder anderen Kollegen, der ein vermeintlich<br />
lukratives Mandat in den Händen wähnte, was sich<br />
später aber als PKH-Verfahren herausstellte, innerlich<br />
schon etliche bittere Tränen geflossen sein.<br />
Zudem sind Prozesskostenhilfemandate i.d.R. über<br />
Gebühr zeitaufwändig. Ich kann aus eigener Erfahrung<br />
sagen, dass kaum ein PKH-Berechtigter in<br />
der Lage ist, den für die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />
notwendigen komplexen Fragebogen<br />
über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
eigenständig und ohne Hilfe auszufüllen. Oft<br />
sitze ich gemeinsam mit der meist nicht studierten<br />
und oft nur unzureichend Deutsch sprechenden<br />
Mandantschaft samt Ausfüllhinweisen über dem<br />
Fragebogen, um alles richtig zu machen. Ist der<br />
PKH-Antrag dann mit den Anlagen vollständig und<br />
endlich bei Gericht eingereicht, geht es in das<br />
Verfahren. Wenn man Glück hat, wird Prozesskostenhilfe<br />
auch tatsächlich bewilligt.<br />
Vorsicht ist allerdings dann angebracht, wenn<br />
man als Prozessbevollmächtigter einen Vergleich<br />
schließt. Hier ist insbesondere darauf zu achten,<br />
dass nicht vergessen wird, den Zusatzantrag<br />
rechtzeitig zu stellen und die Beiordnung auf<br />
mitverglichene nicht rechtshängige Ansprüche zu<br />
erstrecken. Sonst gibt es für diesen Mehrvergleich<br />
nicht einmal eine Einigungsgebühr!<br />
Wussten Sie übrigens, dass in München die Lebensverhältnisse<br />
für Anwälte mit PKH-Mandaten<br />
schlechter sind als anderswo? In München sind<br />
nicht nur die Mieten wesentlich teurer als woanders,<br />
es gibt auch deutlich weniger vom Staat.<br />
Früher wurde von den Gerichten mehrheitlich<br />
geurteilt, dass schon der Antrag, die Bewilligung<br />
von Prozesskostenhilfe auf den Abschluss eines<br />
Mehrvergleichs zu erstrecken, eine erhöhte Einigungsgebühr<br />
(nach Nr. 1000 VV RVG) ausschließe.<br />
Es käme grundsätzlich immer nur die 1,0 Einigungsgebühr<br />
nach Nr. 1000, 1003 VV RVG zur Anwendung.<br />
Begründung: Die Gerichte müssten ja grundsätzlich<br />
immer prüfen, ob die Voraussetzungen für<br />
PKH auch für den Abschluss des Mehrvergleichs<br />
vorliegen und würden damit „in Anspruch genommen“.<br />
Was früher dabei aber übersehen wurde:<br />
Eine fehlende Mitwirkung des Gerichts am Zustandekommen<br />
des Mehrvergleichs ist keine Tatbestandsvoraussetzung<br />
des Nr. 1000 VV RVG (so der<br />
BGH, Beschl. v. 17.9.2008 – IV ZB 14/08).<br />
Die Rechtsprechung der Gerichte hat sich in den<br />
vergangenen zehn Jahren gewandelt: Für den<br />
Mehrvergleich erhält auch der PKH-Anwalt jetzt<br />
grundsätzlich eine 1,5 Einigungsgebühr gem.<br />
Nr. 1000 VV RVG (s. DORNDÖRFER, Kostenhilferecht<br />
für Anfänger, 6. Aufl. 2014, S. 34, Rn 39). Das<br />
wird auch in der überwiegenden Rechtsprechung<br />
so vertreten (vgl. LAG Düsseldorf, Beschl. v.<br />
25.9.2014 – 5 Sa 273/14; LAG Düsseldorf, Beschl.<br />
v. 13.10.2014 – 13 Ta 342/14; LAG Baden-Württemberg,<br />
Beschl. v. 27.4.20<strong>16</strong> – 5 Ta 118/15 (anders<br />
noch: LAG Baden-Württemberg, Beschl. v.<br />
7.9.2010 – 5 Ta 132/10); LAG Hamm, Beschl. v.<br />
<strong>16</strong>.9.2015 – 6 Ta 419/15 (anders noch: LAG Hamm,<br />
Beschl. v. 31.8.2007 – 6 Ta 402/07).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 807
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Aber entscheiden die Gerichte in ganz Deutschland<br />
einheitlich über die Höhe der gesetzlichen<br />
Prozesskostenhilfe? Erhalten alle Anwälte bundeseinheitlich<br />
die gleiche gesetzliche Vergütung<br />
aus der Staatskasse?<br />
Nein! Um es in die Worte eines allseits bekannten<br />
Comics zu fassen: Es gibt immer noch das eine<br />
oder andere von unbeugsamen LAG-Richtern<br />
(ohne Herz für PKH-Anwälte) bevölkerte Dorf,<br />
das nicht aufhört, dem Eindringen der 1,5 Einigungsgebühr<br />
Widerstand zu leisten. Als Münchener<br />
Anwalt beispielsweise bekommt man von den<br />
Bezirksrevisoren und den darauf aufbauenden<br />
– sich selbst zitierenden – Kostenbeschlüssen der<br />
Münchener Arbeitsgerichtsbarkeit regelmäßig zu<br />
lesen: „Das Landesarbeitsgericht München sieht trotz<br />
gegenteiliger Auffassung anderer Landesarbeitsgerichte<br />
keine Veranlassung seine bisherige Rechtsprechung<br />
(LAG München, Beschl. v. 19.6.2017 – 6 Ta 123/17 u. 6<br />
Ta <strong>16</strong>7/17; Beschl. v. 22.12.20<strong>16</strong> – 6 Ta 314/<strong>16</strong>; Beschl.<br />
v. 2.11.20<strong>16</strong> – 6 Ta 287/<strong>16</strong>; Beschl. v. 17.3.2009 – 10 Ta<br />
394/07; Beschl. v. 15.4.2008 – 10 Ta 237/06; Beschl.<br />
v. 7.6.2005 – 10 Ta 244/05) zu ändern.“<br />
Jegliche Beschwerde: sinn- und fruchtlos! Jüngst<br />
habe ich im Rahmen einer vor der 42. Kammer des<br />
Arbeitsgerichts München geführten Kündigungsschutzklage<br />
abseits des Gütetermins die vergleichsweise<br />
Beilegung des Rechtsstreits – unter<br />
Einschluss bisher nicht rechtshängiger Gegenstände<br />
– mit der Prozessvertreterin der Gegenseite<br />
vereinbart und es wurde Vergleichsfeststellung<br />
beantragt. In dieser Konstellation befürwortet<br />
hinsichtlich der im Vergleich miterledigten Streitgegenstände<br />
auch ein bayerisches (wenngleich<br />
auch „nur“ fränkisches) Landesarbeitsgericht den<br />
Anfall der 1,5 Einigungsgebühr nach Nr. 1000 VV<br />
RVG (LAG Nürnberg, Beschl. v. 22.6.2009 – 4Ta<br />
26/09). Und die Münchener? Die 42. Kammer<br />
verweist in ihrem Beschluss vom 26.5.<strong>2018</strong> (Az. 42<br />
Ca 4784/17) darauf, dass auch in der Kommentierung<br />
von HARTMANN (Kostengesetze, VV 1003 Rn 12)<br />
die Ansicht des LAG München geteilt würde. In der<br />
48. Auflage des „HARTMANN“ findet sich zur Begründung<br />
der 1,0 Einigungsgebühr – neben Entscheidungen<br />
zum alten Recht (BRAGO) – als<br />
einzige Fundstelle aus diesem Jahrhundert zum<br />
RVG eine Entscheidung des LAG München. Anders<br />
ausgedrückt heißt das: „Mia in Oberbayern,<br />
mia san mia“. Da hilft es auch wenig, wenn<br />
die Münchener Arbeitsgerichtsbarkeit dabei nicht<br />
ganz mutterseelenallein ist (s. LAG Rheinland-<br />
Pfalz, Beschl. v. 12.3.2015 – 5 Ta 51/15).<br />
Kein leichtes Leben für Arbeitsrechtsanwälte, die<br />
als Beigeordnete ihre Arbeit für ihre Geringverdiener<br />
verrichten.<br />
Rechtsanwalt BERND PONETSMÜLLER, München<br />
Anwaltsmagazin<br />
BRAK lehnt Verschiebung des<br />
beA-Neustarts ab<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hält an<br />
dem Termin 3.9.<strong>2018</strong> für die Wiederinbetriebnahme<br />
der besonderen elektronischen Anwaltspostfächer<br />
(beA) fest, obwohl bis dahin nicht alle<br />
festgestellten Mängel beseitigt werden können.<br />
Das haben die Präsidentinnen und Präsidenten der<br />
Rechtsanwaltskammern am 8.8.<strong>2018</strong> in Abänderung<br />
ihres früheren Beschlusses v. 27.6.<strong>2018</strong> (vgl.<br />
dazu <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 13/<strong>2018</strong>, S. 648 f.)<br />
beschlossen. Fehler sollen anschließend im laufenden<br />
Betrieb des beA behoben werden.<br />
808 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Ende Juli war bekannt geworden, dass eine<br />
Schwachstelle, die den Zugriff auf sämtliche über<br />
das beA versandte Nachrichten möglich machen<br />
soll, nicht bis zum 3. September behoben werden<br />
kann. Hintergrund ist, das ein neu zu implementierendes<br />
Verfahren, mit dem die zur Verschlüsselung<br />
erforderliche Mindestlänge von Nachrichten<br />
oder die erforderliche Länge von Datenblöcken<br />
erreicht wird (OAEP-Verfahren), nicht so rechtzeitig<br />
eingeführt werden kann, dass die justizinterne<br />
Frist von sechs bis acht Wochen zum<br />
Testen der neuen EGVP-Version vor der verpflichtenden<br />
Inbetriebnahme einzuhalten ist.<br />
Die Kammerpräsidentinnen und -präsidenten übergingen<br />
mit ihrem Beschluss, am Starttermin festzuhalten,<br />
auch eine Forderung des Deutschen<br />
Anwaltvereins (DAV). Dieser hatte zuvor in einer<br />
Initiativstellungnahme, die u.a. auch an den Deutschen<br />
Bundestag und die Bundesministerien des<br />
Inneren und der Justiz adressiert war, die Einhaltung<br />
des Grundsatzes „Sicherheit vor Schnelligkeit“<br />
angemahnt.<br />
Nach Einschätzung der Gutachter, so teilt der DAV<br />
in seiner Stellungnahme mit, sei die Ausnutzbarkeit<br />
des Fehlers zwar niedrig, allerdings sei – weil<br />
potenziell alle im beA gespeicherte Nachrichten<br />
betroffen sind – die Bedrohung der Vertraulichkeit<br />
als hoch zu bewerten. Der Verein fordert daher, die<br />
Implementierung des endgültigen OAEP-Verfahrens<br />
sowohl beim beA als auch mit Blick auf den<br />
Abschluss der justizseitigen Tests abzuwarten.<br />
Eine weitere kurze Verschiebung des Neustarts der<br />
Anwaltspostfächer brächte weder die Justiz noch<br />
die BRAK in Erklärungsnot. Demgegenüber berge<br />
eine Umstellung des OAEP-Verfahrens im laufenden<br />
Betrieb nach Abschluss der Testphase das<br />
Risiko, dass es zu Fehlern und vorübergehenden<br />
Ausfällen beim Postfachsystem komme. Dies könne<br />
zu einem weiteren Vertrauensverlust in die Systeme<br />
des elektronischen Rechtsverkehrs führen.<br />
Unterdessen hat die BRAK entgegen anderslautender<br />
Presseberichten klargestellt, dass sie<br />
sich gegenüber dem Bundesministerium der<br />
Justiz und für Verbraucherschutz weiterhin für<br />
eine vierwöchige Testphase nach der geplanten<br />
Wiederinbetriebnahme des beA einsetzt. Bislang,<br />
so die BRAK, habe das Ministerium aber noch<br />
nicht auf diese Bitte reagiert.<br />
[Quellen: DAV/BRAK]<br />
Besserer Schutz von Geschäftsgeheimnissen<br />
und Whistleblowern<br />
geplant<br />
Die Bundesregierung hat Mitte Juli den vom<br />
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes zur<br />
Umsetzung der Richtlinie (EU) 20<strong>16</strong>/943 zum<br />
Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem<br />
Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und<br />
Offenlegung beschlossen. Mit dieser Richtlinie soll<br />
ein europaweit einheitlicher Mindestschutz für<br />
Geschäftsgeheimnisse erreicht werden. Zugleich<br />
werden erstmals ausdrückliche Regelungen für<br />
den Schutz von Whistleblowern geschaffen.<br />
Kernstück des Gesetzentwurfs ist das neue Gesetz<br />
zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Danach<br />
können Unternehmen bei einer unerlaubten Erlangung,<br />
Nutzung oder Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen<br />
zivilrechtliche Ansprüche wie<br />
Unterlassung und Schadensersatz geltend machen.<br />
Der bereits bestehende Schutz im deutschen Recht<br />
soll damit verbessert und die Rechtssicherheit für<br />
Unternehmen erhöht werden.<br />
Auch der Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor<br />
einer Offenlegung im Rahmen eines gerichtlichen<br />
Verfahrens wird erweitert. So können streitgegenständliche<br />
Informationen bei Einreichung<br />
einer Klage künftig als geheimhaltungsbedürftig<br />
eingestuft werden und dadurch der Personenkreis<br />
begrenzt werden, der Zugang zu Dokumenten<br />
und Verhandlungen hat, in denen Geschäftsgeheimnisse<br />
eröffnet werden.<br />
Das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen<br />
will zugleich dem Schutz von Whistleblowern und<br />
Journalisten Rechnung tragen. Zu diesem Zweck<br />
enthält es Regelungen für Sachverhalte, in denen der<br />
Erwerb, die Nutzung oder die Offenlegung von<br />
Geschäftsgeheimnissen nicht rechtswidrig ist. Das<br />
gilt z.B. für Fälle, in denen die Handlung der Ausübung<br />
der Meinungs- und Informationsfreiheit oder<br />
der Aufdeckung von Fehlverhalten und rechtswidrigen<br />
Handlungen dient.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Familiennachzug für subsidiär<br />
Schutzberechtigte<br />
Seit dem 1. August sind die neuen Regelungen<br />
zum Familiennachzug für Flüchtlinge mit einge-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 809
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
schränktem Schutzstatus in Kraft. Sie können<br />
jetzt wieder engste Angehörige nach Deutschland<br />
nachziehen lassen.<br />
Die Neuregelung sieht vor, dass bundesweit pro<br />
Monat nicht mehr als 1.000 Personen nachziehen<br />
dürfen. Erwachsene sollen ihre Ehepartner und<br />
minderjährige Kinder zu sich holen dürfen, unbegleitete<br />
Minderjährige ihre Eltern. Ein Rechtsanspruch<br />
wird damit aber nicht begründet, der<br />
Nachzug soll vielmehr nur aus humanitären<br />
Gründen erfolgen. Hierzu sind u.a. die Dauer der<br />
Trennung, das Kindeswohl und die Frage, ob den<br />
Angehörigen Gefahr droht, zu berücksichtigen.<br />
Zudem ist darauf abzustellen, ob jemand krank<br />
bzw. pflegebedürftig ist oder ob er zur Sicherung<br />
des Familienunterhalts beiträgt.<br />
Der Nachzug wird im Rahmen des Visumverfahrens<br />
gewährt. Hier sind insgesamt drei Behörden<br />
involviert: Die Ausländerbehörde, die Auslandsvertretungen<br />
sowie das Bundesverwaltungsamt,<br />
das die endgültige Auswahlentscheidung trifft.<br />
Ausnahmen für den Familiennachzug sind für<br />
sog. Gefährder vorgesehen, ebenso für Menschen,<br />
die zu Hass gegen Teile der Bevölkerung<br />
aufrufen, einen verbotenen Verein leiten oder<br />
sich zur Verfolgung politischer und religiöser<br />
Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen. [Red.]<br />
Neue Verschärfungen im Asylrecht<br />
beschlossen<br />
Die Bundesregierung hat Anfang August erneut<br />
Änderungen im Asylrecht beschlossen. Künftig<br />
sollen Schutzberechtigte zur Mitwirkung verpflichtet<br />
werden, wenn es zu einem Widerrufsund<br />
Rücknahmeverfahren kommt. Zudem müssen<br />
nach drei Jahren die im Asylverfahren getroffenen<br />
Entscheidungen überprüft werden.<br />
Bislang besteht eine ausdrückliche Regelung zur<br />
Mitwirkungspflicht der Betroffenen lediglich im<br />
Asylantragsverfahren, nicht aber in Widerrufs- und<br />
Rücknahmeverfahren. Künftig werden die Schutzberechtigten<br />
auch in letzteren zur Mitwirkung<br />
verpflichtet. Diese Neuregelung setzt eine Vereinbarung<br />
aus dem Koalitionsvertrag um. Die Mitwirkungspflicht<br />
der Betroffenen hat bei der Überprüfung<br />
der Asylbescheide des Bundesamts für<br />
Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheidende<br />
Bedeutung: Dem BAMF würden hierdurch, so die<br />
Begründung, künftig mehr Informationen vorliegen.<br />
Damit könne die Prüfung umfassender und<br />
effektiver durchgeführt werden.<br />
Bei einem Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht<br />
ohne hinreichende Gründe oder ohne unverzügliches<br />
Nachholen wird das BAMF ermächtigt, den<br />
Schutzberechtigten mit den Mitteln des Verwaltungszwangs<br />
– insbesondere des Zwangsgelds<br />
und unter weiteren Voraussetzungen auch der<br />
Zwangshaft – zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten<br />
anzuhalten.<br />
Zudem muss künftig spätestens nach drei Jahren<br />
bei einer Asyl-Entscheidung geprüft werden, ob<br />
die Voraussetzungen für einen Widerruf oder für<br />
eine Rücknahme vorliegen. Wenn die Prüfung<br />
ergibt, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung<br />
als Asylberechtigter oder die Zuerkennung<br />
der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht<br />
mehr vorliegen, muss diese unverzüglich widerrufen<br />
bzw. zurückgenommen werden.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Bekämpfung des Steuerbetrugs<br />
im Online-Handel<br />
Beschlossen hat das Bundeskabinett auch einen<br />
vom Bundesfinanzministerium erarbeiteten Gesetzentwurf<br />
zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs<br />
beim Handel mit Waren im Internet.<br />
Durch Steuerbetrug im Internet entsteht dem<br />
Fiskus nach Angaben der Regierung jedes Jahr ein<br />
immenser Schaden. Vor allem ausländische Händler,<br />
die ihrer Steuerpflicht nicht nachkommen, sind<br />
für die Behörden schwer greifbar. Deshalb sollen<br />
künftig die Betreiber elektronischer Marktplätze<br />
stärker in die Verantwortung genommen werden.<br />
Sie haften dann selbst für nicht abgeführte Umsatzsteuern<br />
ihrer Händler. Das soll neben den<br />
Steuermehreinnahmen auch die steuerehrlichen<br />
Unternehmen vor Wettbewerbsnachteilen bewahren.<br />
Die geplante Regelung wird Teil des Jahressteuergesetzes<br />
<strong>2018</strong>.<br />
Bereits ab Januar 2019 sollen alle Betreiber elektronischer<br />
Marktplätze dazu verpflichtet werden,<br />
bestimmte Daten der Verkäufer zu erfassen, um<br />
eine Prüfung der Steuerbehörden zu ermöglichen.<br />
810 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Darüber hinaus können Betreiber für nicht entrichtete<br />
Umsatzsteuern aus dem Handel über ihre<br />
Plattform in Haftung genommen werden. Vor<br />
allem in Drittländern ansässige Unternehmen, die<br />
in Deutschland steuerlich nicht registriert sind,<br />
verletzen auf elektronischen Marktplätzen häufig<br />
ihre hier bestehenden steuerlichen Pflichten. Insbesondere<br />
führen sie für ihre Umsätze, die sie in<br />
Deutschland aus den Verkäufen erzielen, keine<br />
Umsatzsteuer ab.<br />
Da die Bundesländer für die Kontrolle und<br />
Erhebung der Umsatzsteuer zuständig sind, wird<br />
eine enge Zusammenarbeit der Behörden angestrebt.<br />
Bund und Länder haben bereits in einer<br />
gemeinsamen Arbeitsgruppe eine nationale Regelung<br />
im Einklang mit EU-Recht erarbeitet.<br />
Diese umfasst zwei Kernelemente:<br />
• Alle Betreiber elektronischer Marktplätze sollen<br />
dazu verpflichtet werden, bestimmte Daten<br />
von Verkäufern zu erfassen, u.a. Name,<br />
vollständige Anschrift, Steuernummer, Versand-<br />
und Lieferadresse, Zeitpunkt und Höhe<br />
des Umsatzes.<br />
• Die Betreiber sollen für nicht entrichtete<br />
Steuern aus Lieferungen haften, die über ihren<br />
elektronischen Marktplatz rechtlich begründet<br />
wurden. Hiervon können sie sich befreien,<br />
wenn sie gewisse Aufzeichnungspflichten erfüllen<br />
oder steuerunehrliche Händler von<br />
ihrem Marktplatz ausschließen.<br />
Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende des<br />
Jahres abgeschlossen sein, so dass die neue<br />
Regelung am 1.1.2019 in Kraft treten kann.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Immer mehr Kontenabfragen<br />
durch Behörden<br />
In den vergangenen Jahren ist das Bankgeheimnis<br />
zunehmend ausgehöhlt worden. Die neuen<br />
Möglichkeiten nutzen offenbar immer mehr<br />
Steuerbehörden, Sozialämter und Gerichtsvollzieher<br />
aus. Wie die Wirtschaftspresse kürzlich<br />
berichtete, haben die Behörden im ersten Halbjahr<br />
<strong>2018</strong> bei der Verfolgung von Steuerbetrug,<br />
Sozialmissbrauch und säumigen Privatschuldnern<br />
so häufig Daten von Bankkunden beim<br />
Bundeszentralamt für Steuern abgefragt wie<br />
nie zuvor.<br />
Die Zahl sei regelrecht explodiert, wie es in den<br />
Berichten heißt. Sie stieg von 57.000 im Jahr 2010<br />
auf 692.000 im Jahr 2017. Und in diesem Jahr<br />
dürfte dieser Rekord nochmals deutlich übertroffen<br />
werden: Allein im ersten Halbjahr <strong>2018</strong> gingen<br />
391.442 Kontenabrufe beim Bundeszentralamt<br />
ein. Damit gab es in den ersten sechs Monaten<br />
38 % mehr Anfragen als im Vorjahreszeitraum mit<br />
283.000 Abfragen.<br />
Ursprünglich wurde die Kontenabfrage allein<br />
zur Terrorismusbekämpfung eingeführt. Doch<br />
mit der Zeit bekamen immer mehr Stellen Zugriff<br />
auf die Bankkonten. So dürfen seit 2005 Finanzämter<br />
und Sozialbehörden die Konten von<br />
Bürgern ermitteln, um, so hieß es, „Steuerbetrügern<br />
und Sozialschmarotzern auf die Schliche<br />
zu kommen“. Seit 2013 haben zusätzlich<br />
Gerichtsvollzieher das Recht, Kontodaten abzufragen.<br />
Diese Entwicklung wird unterschiedlich beurteilt.<br />
Während etwa die Steuer-Gewerkschaft die gewachsene<br />
Transparenz für richtig hält, um sowohl<br />
den Staat vor Sozialmissbrauch und Steuerhinterziehung<br />
als auch private Gläubiger vor zahlungsunwilligen<br />
Schuldnern zu schützen, warnen<br />
Datenschützer vor dem „gläsernen Bürger“. Die<br />
Bundesdatenschutzbeauftragte ANDREA VOßHOFF<br />
hat kürzlich darauf hingewiesen, dass mit der<br />
steigenden Zahl der Abrufe auch das Risiko für<br />
fehlerhafte Datenübermittlungen oder Personenverwechslungen<br />
steigt. Für die Betroffenen hat das<br />
jeweils äußerst unangenehme Folgen wie z.B.<br />
Kontensperrungen. Der Gesetzgeber solle daher<br />
prüfen, so VOßHOFF, ob weit gestreute Abrufbefugnisse<br />
wie beim Kontenabrufverfahren wirklich<br />
zwingend erforderlich seien.<br />
[Red.]<br />
Quote der SGB-II-Leistungsempfänger<br />
an der Bevölkerung<br />
Der Anteil der Leistungsberechtigten in der<br />
Grundsicherung für Arbeitsuchende an der Bevölkerung<br />
unter der Regelaltersgrenze (SGB-II-<br />
Quote) belief sich im Jahr 2017 im Jahresdurchschnitt<br />
auf 9,3 %. Dies teilte die Bundesregierung<br />
kürzlich mit (BT-Drucks 19/31<strong>16</strong>). Der Anteil der<br />
erwerbsfähigen Leistungsberechtigten an der Bevölkerung<br />
im erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren<br />
bis zur Regelaltersgrenze betrug im Jahr 2017<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 811
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
jahresdurchschnittlich 8 %, für deutsche Staatsangehörige<br />
6,1 % und für ausländische Staatsangehörige<br />
20,1 %.<br />
Bei den Langzeitarbeitslosen ergab sich für 2017<br />
folgendes Bild: Der Anteil der erwerbsfähigen<br />
Leistungsberechtigten, die ein Jahr und länger<br />
arbeitslos waren, an der Bevölkerung im erwerbsfähigen<br />
Alter von 15 Jahren bis zur Regelaltersgrenze<br />
belief sich im Jahresdurchschnitt auf 1,4 %.<br />
Für deutsche Staatsangehörige betrug der Anteil<br />
1,3 %, für ausländische Staatsangehörige belief<br />
sich der Anteil auf 2,4 %. Der Anteil der erwerbsfähigen<br />
Leistungsberechtigten, die fünf Jahre und<br />
länger arbeitslos waren, an der Bevölkerung im<br />
erwerbsfähigen Alter von 15 Jahren bis zur Regelaltersgrenze<br />
betrug im Jahr 2017 im Jahresdurchschnitt<br />
0,3 %. Für deutsche Staatsangehörige<br />
belief sich der Anteil auf 0,2 % und für ausländische<br />
Staatsangehörige auf 0,4 %.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Zentrales Implantateregister<br />
geplant<br />
Die Bundesregierung hält an ihren bereits in der<br />
letzten Legislaturperiode begonnenen Planungen<br />
für ein zentrales Implantateregister fest. Der<br />
Referentenentwurf für ein solches Gesetz solle<br />
im zweiten Halbjahr <strong>2018</strong> vorgelegt werden, teilte<br />
die Regierung im Juli mit (BT-Drucks 19/3193). Das<br />
Register soll direkt nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens<br />
den Betrieb aufnehmen.<br />
Mit dem Register soll die Sicherheit und Qualität<br />
von Implantaten sowie der medizinischen Versorgung<br />
bei Implantationen verbessert werden.<br />
Dazu würden insbesondere durch Erfassung von<br />
Implantationen und Revisionsoperationen die<br />
sog. Standzeiten der Implantate ermittelt und<br />
bewertet.<br />
Die Regierung verweist auf bereits geleistete<br />
umfangreiche Vorarbeiten, um die Einbeziehung<br />
schon bestehender Register zu gewährleisten.<br />
Unter anderem sei die Weiterentwicklung des<br />
Endoprothesenregisters Deutschland (EPRD) mit<br />
Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit<br />
(BMG) gefördert und fachlich begleitet worden.<br />
Auch sei eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter<br />
Beteiligung des Bundesinstituts für Arzneimittel<br />
und Medizinprodukte (BfArM) und des Deutschen<br />
Instituts für Medizinische Dokumentation und<br />
Information (DIMDI) gebildet worden, welche<br />
die Zielsetzung des Registers konkretisiert und<br />
grundsätzliche Überlegungen zu Struktur und<br />
Organisation des Registers diskutiert habe.<br />
Um zu neutralen Auswertungen zu kommen und<br />
die datenschutzrechtlichen Vorgaben zu gewährleisten,<br />
sollen die Daten beim DIMDI zentral<br />
gesammelt werden. Geliefert werden die Daten<br />
von Krankenhäusern, Krankenversicherungen<br />
und Herstellern. Zunächst soll das Register mit<br />
wenigen Produkten starten und dann ausgebaut<br />
werden. Gesammelt werden sollen sowohl die<br />
Daten von gesetzlich als auch von privat Versicherten.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Ausgebremste Mietpreisbremser<br />
Dass die Mieten trotz der gesetzlichen Mietpreisbremse<br />
vielerorts weiter ungebremst steigen,<br />
hat sich inzwischen herumgesprochen. Aus<br />
diesem Grund will jetzt u.a. der Gesetzgeber<br />
wieder tätig werden (vgl. auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin<br />
15/<strong>2018</strong>, S. 763). Einer der Gründe,<br />
warum die Bremse nicht richtig funktioniert, ist,<br />
dass sich die Vermieter vielfach einfach nicht<br />
daran halten. Die Konsequenzen eines Verstoßes<br />
halten sie offenbar für überschaubar.<br />
Dabei ließe sich seitens der Mieter – haben sie<br />
erst einmal alle Eckdaten beisammen – relativ<br />
einfach ausrechnen, ob sich ihr Hauseigentümer<br />
an die gesetzlichen Vorgaben hält. Dies hat findige<br />
Existenzgründer auf den Plan gerufen, die<br />
entsprechende Berechnungsprogramme ins Internet<br />
gestellt haben. Portale wie etwa „Mietwaechter.de“,<br />
„Wirsparendeinemiete.de“, „wenigermiete.de“<br />
oder „Mietbuddy.de“ haben den<br />
Versuch unternommen, niederschwellige Angebote<br />
für solche Mieter zu entwickeln, die den<br />
Gang zum Anwalt nicht wagen, um es sich nicht<br />
mit ihrem Vermieter zu verderben. Das Geschäftsmodell<br />
sieht i.d.R. so aus, dass der Mieter<br />
auf der Webseite alle relevanten Daten zur Miete<br />
in ein Online-Formular einträgt und anschließend<br />
vom Programm ausrechnen lässt, ob er zu viel<br />
zahlt. Gelingt es, die Miete zu mindern, muss er<br />
eine Provision in Höhe einiger Monatsersparnisse<br />
an das Internetunternehmen zahlen.<br />
812 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Allerdings sind viele dieser neuen Startup-Unternehmen<br />
auch schon wieder vom Markt verschwunden.<br />
Grund ist, dass sie alsbald Ärger mit<br />
den örtlichen Rechtsanwaltskammern (RAK) bekommen<br />
haben, die hier einen Verstoß gegen das<br />
Rechtsberatungsgesetz witterten und entsprechende<br />
Unterlassungs- und Verpflichtungserklärungen<br />
eingetrieben haben. Nach Auffassung<br />
der Anwaltskammern dürfen die Portale zwar<br />
Forderungen einziehen, aber keine rechtliche<br />
Beratung anbieten. „Die Problematik der Legal-<br />
Tech-Firmen besteht darin, dass sie i.d.R. über eine<br />
Inkassoerlaubnis verfügen, darüber hinaus aber<br />
Rechtsdienstleistungen erbringen, zu denen sie nicht<br />
befugt sind“, wurde kürzlich der Geschäftsführer<br />
der RAK Berlin zitiert.<br />
Das Berliner Mietrechtsportal „wenigermiete.de“<br />
will die ihm zugegangene Abmahnung allerdings<br />
nicht hinnehmen und wagt den Gang vor die Gerichte.<br />
Die Gründer verweisen darauf, dass hinter<br />
ihrem Internetangebot eine zugelassene Rechtsdienstleistungs-GmbH<br />
steht, die alle nötigen Lizenzen<br />
besitzen soll. Auch hätten sie vor dem<br />
LG Berlin bereits ein Urteil gegen eine zahlungsunwillige<br />
Kundin erstritten; das Landgericht habe<br />
sich dabei eingehend auch mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz<br />
auseinandergesetzt. Der<br />
Berliner Anwaltskammer werfen sie vor, unter<br />
dem Vorwand des Verbraucherschutzes allein<br />
ihre Mitglieder vor unliebsamer Konkurrenz<br />
schützen zu wollen.<br />
Am Ende werden wieder einmal die Gerichte<br />
entscheiden. Das Urteil in dem Fall des Mietpreisbremse-Startups<br />
könnte sogar Signalwirkung<br />
weit über das Mietrecht hinaus entfalten.<br />
Experten verweisen darauf, dass es zahlreiche<br />
Felder gibt, auf denen automatisierte Programme<br />
den Gang zum Anwalt ersparen könnten.<br />
Nicht umsonst taucht das Stichwort „Legal-<br />
Tech“ immer häufiger in der rechtspolitischen<br />
Diskussion und auf Tagungen auf. [Red.]<br />
Freie Berufe verbuchen solides<br />
Wachstum<br />
Während bei den Anwaltszulassungen mittlerweile<br />
Stagnation zu verzeichnen ist (vgl. <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 8/<strong>2018</strong>, S. 361), vermerkt eine<br />
Studie des Bundesverbands der Freien Berufe<br />
(BFB) nun einen Anstieg der selbstständigen<br />
Freiberufler: Insgesamt stieg ihre Anzahl um<br />
1,8 % auf 1,407 Mio. Personen an. Bei den rechts-,<br />
wirtschafts- und steuerberatenden Freiberuflern<br />
konnte mit 2,9 % der zweithöchste Zuwachs<br />
verzeichnet werden. Mit 3,8 % legte nur<br />
der Anteil der technisch-naturwissenschaftlichen<br />
Freiberufler noch mehr zu. Die Statistik<br />
mit Stand 1.1.<strong>2018</strong> weist folgende Zahlen aus:<br />
Am stärksten gewachsen ist im vergangenen<br />
Jahr die Gruppe der technisch-naturwissenschaftlichen<br />
Freiberufler; sie stieg von 261.000<br />
auf 271.000 Personen an. Es folgen die rechts-,<br />
wirtschafts- und steuerberatenden Freiberufler,<br />
zu denen nach 379.000 nunmehr 390.000<br />
Personen zählen. Die freien Heilberufe wachsen<br />
um 0,7 % von 414.000 auf 417.000 Berufsträger.<br />
Bei den freien Kulturberufen steigt<br />
die Zahl um 0,3 % von 328.000 auf 329.000<br />
Personen.<br />
3,46 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte<br />
arbeiten mittlerweile bei einem Freiberufler,<br />
ein Jahr zuvor waren es 3,3 Mio. Personen.<br />
Dies ist ein Anstieg um 4,9 %. Eine leichte<br />
Zunahme von 0,7 % gab es bei den Auszubildenden.<br />
Deren Zahl kletterte von 123.100 auf<br />
124.000. Die Zahl der mitarbeitenden, nicht<br />
sozialversicherungspflichtigen Familienangehörigen<br />
stieg von 301.000 auf 307.000 Personen<br />
und somit um 2 %.<br />
In Summe sind 5.298.000 Personen in den Freien<br />
Berufen tätig – ein Plus von knapp 3,8 % gegenüber<br />
5.105.100 Personen im Vorjahr.<br />
BFB-Präsident Prof. Dr. WOLFGANG EWER kommentierte<br />
die Entwicklung u.a. wie folgt: „Ein ums<br />
andere Jahr verbuchen die Freien Berufe ein solides<br />
Wachstum für sich. Das ist umso außerordentlicher,<br />
da angesichts der guten Lage am Arbeitsmarkt das<br />
Interesse an einer Selbstständigkeit eher gedämpft<br />
ist und der Trend zum Angestellten-Dasein geht.<br />
Die Nachfrage nach Dienstleistungen der Freien<br />
Berufe steigt durch den ungebrochenen Trend zur<br />
Tertiarisierung weiter. Das weist den Freien Berufen<br />
eine Schlüsselrolle in der Dienstleistungsgesellschaft<br />
zu. Auch als Arbeitgeber und Ausbilder sind die Freien<br />
Berufe wertvoll. Bemerkenswert ist dabei, dass jeder<br />
zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte<br />
Mitglied in einem Freiberufler-Team ist. Ein erfreuliches<br />
Verhältnis, das so bald nicht umschlagen wird.<br />
Schließlich hat die jüngste, Mitte Juni veröffentlichte<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 813
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
BFB-Konjunkturumfrage ergeben, dass 15 % der<br />
Befragten in zwei Jahren noch mehr Mitarbeiter<br />
beschäftigen wollen“.<br />
[Quelle: BFB]<br />
EU-Kommission mahnt Einhaltung<br />
des Unionsrechts an<br />
Nach Auffassung der EU-Kommission besteht bei<br />
der Einhaltung des EU-Rechts in den einzelnen<br />
Mitgliedstaaten noch Verbesserungsbedarf. Sie<br />
verweist auf den Mitte Juli vorgelegten Jahresbericht<br />
für 2017 über die Kontrolle der Anwendung<br />
des Unionsrechts.<br />
Danach ging 2017 die Zahl neuer Vertragsverletzungsverfahren<br />
wegen verspäteter Umsetzung<br />
um 34 % zurück (von 847 im Jahr 20<strong>16</strong><br />
auf 558 im Jahr 2017) und nähert sich nun wieder<br />
dem Niveau von 2015 (543) an. Neue Vertragsverletzungsverfahren<br />
gegen die Mehrzahl<br />
der Mitgliedstaaten hat die Kommission wegen<br />
Nichtumsetzung der Richtlinien über den Verbrauch<br />
von Plastiktüten, über Abfälle und über<br />
die Verkehrssicherheit von Fahrzeugen eingeleitet.<br />
Klage beim Gerichtshof der EU wurde<br />
gegen fünf Mitgliedstaaten eingereicht; in ihnen<br />
forderte die Kommission die Verhängung finanzieller<br />
Sanktionen.<br />
In dem zeitgleich mit dem Jahresbericht vorgelegten<br />
„Binnenmarktanzeiger“ zeigt die EU-<br />
Kommission auf, dass die Mitgliedstaaten beim<br />
Ausbau des Binnenmarkts – etwa bei der<br />
Anerkennung von Berufsqualifikationen, der Umsetzung<br />
von Binnenmarktvorschriften und der<br />
Entwicklung von Tools zur Unterstützung des<br />
reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts<br />
– in der Praxis besser geworden sind. Zugleich<br />
werden aber auch mehr „rote Karten“ in den<br />
Bereichen Offenheit für den grenzüberschreitenden<br />
Waren- und Dienstleistungsverkehr, Fairness<br />
der öffentlichen Auftragsvergabe und Zahl der<br />
Vertragsverletzungsverfahren vergeben.<br />
Die wirksame Anwendung des Unionsrechts sei<br />
– so die Kommission – die Voraussetzung dafür,<br />
dass Bürger und Unternehmen in den Genuss<br />
der damit verbundenen Vorteile kommen. Eine<br />
Vorschrift, und sei sie noch so sorgfältig vorbereitet<br />
und ausgearbeitet worden, sei nur so<br />
wirksam wie ihre Anwendung. Deshalb gehe es<br />
für die Kommission bei der Verfolgung ihrer<br />
vorrangigen politischen Ziele nicht nur darum,<br />
neue Rechtsvorschriften vorzuschlagen, sondern<br />
auch darum, deren ordnungsgemäße Anwendung<br />
sicherzustellen. So habe sie im vergangenen<br />
Jahr konsequent die Durchsetzung der<br />
Vorschriften auf den Gebieten des Datenschutzes,<br />
der Migration, des Verbraucherschutzes, der<br />
Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung<br />
oder der Verbesserung der<br />
Luftqualität betrieben.<br />
[Quelle: EU-Kommission]<br />
Empfehlungen zur Ausbildungsvergütung<br />
Vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres hat die<br />
Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) eine aktualisierte<br />
Übersicht über die von den regionalen<br />
Rechtsanwaltskammern empfohlene Ausbildungsvergütung<br />
für angehende Rechtsanwaltsbzw.<br />
Rechtsanwalts- und Notar-Fachangestellte<br />
erstellt. In der Tabelle mit Stand Juli <strong>2018</strong> finden<br />
sich Empfehlungen für die Ausbildungsvergütung<br />
im ersten, zweiten und dritten Lehrjahr.<br />
Im Vergleich zur letzten Auswertung im Jahr 2017<br />
sind die Durchschnittswerte für das erste Ausbildungsjahr<br />
um ca. 4,9 %, für das zweite Ausbildungsjahr<br />
um 4,7 % und für das dritte Ausbildungsjahr<br />
um 4 % gestiegen. Die Empfehlungen<br />
sind aber weiterhin regional stark unterschiedlich.<br />
Sie reichen je nach Kammerbezirk jetzt von<br />
310–850 € (Bundesdurchschnitt: 559,50 €) im<br />
ersten Ausbildungsjahr und von 550–1.050 €<br />
(Bundesdurchschnitt: 751 €) im dritten Ausbildungsjahr.<br />
Die Vergütungsempfehlungen sind z.T. auf<br />
den Internetseiten der regionalen Rechtsanwaltskammern,<br />
meist in der Rubrik „Ausbildung“,<br />
einsehbar, bei der BRAK unter der Adresse<br />
https://www.brak.de/w/files/newsletter_archiv/berlin/<br />
<strong>2018</strong>/<strong>2018</strong>_stand_juli_ausbildungsverguetungrefa_reno.<br />
pdf.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
814 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 125<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Aufwendungsersatzanspruch: Verjährung<br />
(BGH, Urt. v. 5.7.<strong>2018</strong> – III ZR 273/<strong>16</strong>) • Die Ansprüche auf Ersatz von Aufwendungen, die im Rahmen<br />
einer mehraktigen Geschäftsbesorgung in aufeinander folgenden Jahren getätigt worden sind,<br />
entstehen sukzessive und verjähren dementsprechend nacheinander. Der Anspruch entsteht nicht<br />
bereits mit der ersten Aufwendung einheitlich auch für alle nachfolgenden Aufwendungen und kann<br />
nicht schon dann mit der Feststellungsklage gerichtlich geltend gemacht werden. Ein feststellungsfähiges<br />
Rechtsverhältnis besteht nur wegen der in der Vergangenheit liegenden Aufwendungen, die der<br />
Geschäftsführer bereits getätigt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 452/<strong>2018</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Sachmangel: Fehlerhafte Herkunftszuordnung eines Kunstwerks im Auktionskatalog<br />
(OLG Frankfurt, Urt. v. 3.5.<strong>2018</strong> – 19 U 188/15) • Die Echtheit eines Kunstwerks im Sinne seiner Herkunft<br />
aus der Hand eines konkreten Künstlers bestimmt maßgeblich die Eignung eines Kunstwerks<br />
als Sammlerstück und Wertanlage und bildet daher regelmäßig dessen zentrale Eigenschaft für seine<br />
– im Rahmen eines Kaufvertrags sowohl vorausgesetzte wie gewöhnliche – Verwendung. Eine<br />
Zeichnung, die entgegen der vom Verkäufer erstellten Katalogbeschreibung nicht der Hand des<br />
konkret benannten Künstlers zuzuordnen ist, ist mangelhaft. Arglist ist schon dann anzunehmen,<br />
wenn der Verkäufer ohne tatsächliche Grundlage unrichtige Angaben über die Mängelfreiheit oder<br />
über wesentliche Eigenschaften der Kaufsache macht, die geeignet sind, den Kaufentschluss des<br />
Käufers mitzubeeinflussen. Der die Arglist begründende Vorwurf gegenüber dem Verkäufer liegt in<br />
einem solchen Fall in dem Umstand, dass der Erklärende, obschon ihm bewusst ist, dass ihm die zur<br />
sachgemäßen Beantwortung erforderliche Kenntnis fehlt, diesen Umstand gleichwohl gegenüber dem<br />
anderen Teil verschweigt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 453/<strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Maklervertrag: Provisionsanspruch bei Vermittlung von Wohnräumen<br />
(BGH, Urt. v. 22.2.<strong>2018</strong> – I ZR 38/17) • Nach der Zielsetzung des Wohnungsvermittlungsgesetzes<br />
(WoVermittG) verliert der Wohnungsvermittler seinen Provisionsanspruch nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 815
Fach 1, Seite 126 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
WoVermittG i.d.R. auch dann, wenn er selbst oder – wenn es sich bei ihm um eine juristische Person<br />
handelt – sein Organ zum Zeitpunkt der Vermittlung oder des Nachweises der Gelegenheit zum<br />
Abschluss des Mietvertrags oder beim Abschluss des Mietvertrags Gehilfe des Verwalters der<br />
vermittelten Wohnung ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 454/<strong>2018</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Transportrecht: Verlust des Transportguts<br />
(BGH, Urt. v. 26.4.<strong>2018</strong> – I ZR 269/<strong>16</strong>) • Bei einem Streit über die Ursachen des Verlusts von Transportgut<br />
und des Verschuldens des Transportunternehmens hat das Berufungsgericht nach § 538 Abs. 1 ZPO die<br />
notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Nur ausnahmsweise darf es<br />
die Sache nach § 538 Abs. 2 ZPO, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des<br />
Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweisen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 455/<strong>2018</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
WEG: Unwirksame Zustellung an einen ehemaligen Verwalter<br />
(BGH, Urt. v. 20.4.<strong>2018</strong> – V ZR 202/<strong>16</strong>) • Führt der ehemalige Verwalter über das Ende seiner Bestellungszeit<br />
die Verwaltung fort, ist er nicht mehr nach § 45 Abs. 1 WEG Zustellungsvertreter der Wohnungseigentümer.<br />
Die Zustellung an den Verwalter ist unwirksam, wenn sie vor Beginn oder nach dem Ende seiner Bestellung<br />
erfolgt. Die Regelung des § 45 Abs. 1 WEG ist auch nicht entsprechend anwendbar, wenn der ehemalige<br />
Verwalter nach Ablauf seiner Bestellungszeit noch als Verwalter tätig ist. Für eine entsprechende<br />
Anwendung fehlt es bereits an einer Regelungslücke. Ist die Bestellung des Verwalters abgelaufen oder ein<br />
bestellter Verwalter aus anderen Gründen nicht vorhanden, kann die Zustellung entweder direkt an die<br />
beklagten Wohnungseigentümer oder in entsprechender Anwendung von § 45 Abs. 2 WEG an den von den<br />
Wohnungseigentümern bestellten Ersatzzustellungsvertreter oder nach § 45 Abs. 3 WEG an einen durch<br />
das Gericht bestellten Ersatzzustellungsvertreter erfolgen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 456/<strong>2018</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Darlehen: Verjährung von Rückzahlungsansprüchen<br />
(BGH, Urt. v. 21.6.<strong>2018</strong> – IX ZR 129/17) • Darlehensrückzahlungsansprüche verjähren nach § 195 BGB in drei<br />
Jahren. Gemäß § 199 Abs. 1 BGB beginnt die Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der<br />
Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den, den Anspruch begründenden Umständen und der<br />
Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste. Der Anspruch<br />
auf Darlehensrückzahlung ist in diesem Sinne entstanden, sobald er im Wege der Klage geltend gemacht<br />
werden kann. Voraussetzung hierfür ist grds. die Fälligkeit des Rückzahlungsanspruchs. Diese hängt, wenn<br />
eine Zeit für die Rückzahlung des Darlehens nicht bestimmt war, von einer Kündigung ab, i.Ü. vom Ablauf<br />
der vereinbarten Zeit. Zwar liegt in der vorbehaltlosen Teilzahlung ebenso wie in der vorbehaltlosen<br />
Zinszahlung ein Anerkenntnis i.S.d. § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Wenn das in der Raten- oder Zinszahlung liegende<br />
Anerkenntnis jedoch vor Beginn der Verjährung erfolgte, war es nicht geeignet, den Neubeginn der<br />
Verjährung zu erreichen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 457/<strong>2018</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Dashcam-Aufnahmen: Verwertung im Zivilprozess<br />
(BGH, Beschl. v. 15.5.<strong>2018</strong> – VI ZR 233/17) • Die permanente und anlasslose Aufzeichnung des<br />
Verkehrsgeschehens ist mit den datenschutzrechtlichen Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes<br />
8<strong>16</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 127<br />
grds. nicht vereinbar. Die Verwertung von sog. Dashcam-Aufzeichnungen, die ein Unfallbeteiligter vom<br />
Unfallgeschehen gefertigt hat, als Beweismittel im Unfallhaftpflichtprozess ist dennoch zulässig.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 458/<strong>2018</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Deckungsprozess: Prüfungsumfang bei Vorwegnahme<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 2.5.<strong>2018</strong> – 4 U 1782/17) • Eine Prüfung der Ansprüche des geschädigten Dritten<br />
erfolgt auch im vorweggenommenen Deckungsprozess des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtversicherer<br />
grds. nicht. Geringfügige Abweichungen zum Schadenshergang in unterschiedlichen<br />
Einlassungen des Versicherungsnehmers, deren Einfluss auf das Regulierungsverhalten des Versicherers<br />
nicht auf der Hand liegen, rechtfertigen den Schluss auf eine arglistige Täuschung nicht.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 459/<strong>2018</strong><br />
Familienrecht<br />
Nichteheliche Lebensgemeinschaft: Beschränkung des Ausgleichsanspruchs<br />
(BGH, Urt. v. 11.7.<strong>2018</strong> – XII ZR 108/17) • Nutzt ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit<br />
Duldung des anderen das im hälftigen Miteigentum beider stehende Haus nach der Trennung weiterhin<br />
und trägt wie bisher die Lasten, ohne zu erkennen zu geben, einen hälftigen Ausgleich geltend machen<br />
zu wollen, und ohne dass der andere Partner ihm ein Nutzungsentgelt abverlangt, so ist sein<br />
Ausgleichsanspruch in Höhe des hälftigen Nutzungswerts des Anwesens beschränkt. Zur Bestimmung<br />
des Nutzungswerts kann mit sachverständiger Hilfe die für das Hausanwesen erzielbare monatliche<br />
Marktmiete ermittelt und hiervon die Hälfte angesetzt werden. Hinweis: Fortführung der Senats-Rspr.<br />
(vgl. Urt. v. 13.1.1993 – XII ZR 212/90; Beschl. v. 20.5.2015 – XII ZB 314/14). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 460/<strong>2018</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Digitaler Nachlass: Vererbbarkeit von Benutzerkonten sog. sozialer Netzwerke<br />
(BGH, Urt. v. 12.7.<strong>2018</strong> – III ZR 183/17) • Beim Tod des Kontoinhabers eines sozialen Netzwerks geht der<br />
Nutzungsvertrag grds. nach § 1922 BGB auf dessen Erben über. Dem Zugang zu dem Benutzerkonto und<br />
den darin vorgehaltenen Kommunikationsinhalten stehen weder das postmortale Persönlichkeitsrecht<br />
des Erblassers noch das Fernmeldegeheimnis oder das Datenschutzrecht entgegen. Hinweis: Der BGH<br />
weist u.a. auch darauf hin, dass höchstpersönliche analoge Dokumente, z.B. Tagebücher und Briefe,<br />
vererbt werden können. Digitale Inhalte sind aus Sicht des BGH nicht anders zu behandeln (zur<br />
Entscheidung des BGH s. auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 15/<strong>2018</strong>, S. 465 f.). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 461/<strong>2018</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Fristberechnung: Silvester kein gesetzlicher Feiertag<br />
(BFH, Beschl. v. 20.3.<strong>2018</strong> – III B 135/17) • Der 31. Dezember ist bei der Fristberechnung nicht einem<br />
gesetzlichen Feiertag gleichzustellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 462/<strong>2018</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Insolvenzverwalter: Verwertungsrecht bei Finanzierungsleasing<br />
(BGH, Urt. v. 11.1.<strong>2018</strong> – IX ZR 295/<strong>16</strong>) • Beim Finanzierungsleasing scheidet ein Verwertungsrecht des<br />
Insolvenzverwalters aus, wenn der Schuldner die Sache dem Leasingnehmer für eine feste, nicht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 817
Fach 1, Seite 128 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
ordentlich kündbare Grundlaufzeit überlassen hat und bei deren Ablauf eine Vollamortisation erlangt,<br />
weil der Leasingnehmer aufgrund der vertraglichen Regelungen – sei es auch erst in Verbindung mit<br />
besonderen Vertragsbestimmungen wie einer Abschlusszahlung, einer Restwertgarantie, einer Kaufoption<br />
oder einem Andienungsrecht – insgesamt einen Betrag zu zahlen hat, der das vom Schuldner für<br />
die Anschaffung der Sache eingesetzte Kapital zzgl. Verzinsung und Gewinn erreicht oder übersteigt.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 463/<strong>2018</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Gesellschafterstreit: Eingriff in das Unternehmerpersönlichkeitsrecht<br />
(BGH, Urt. v. <strong>16</strong>.1.<strong>2018</strong> – VI ZR 498/<strong>16</strong>) • Bei Äußerungen, in denen sich wertende und tatsächliche<br />
Elemente in der Weise vermengen, dass die Äußerung insgesamt als Werturteil anzusehen ist, fällt bei<br />
der Abwägung maßgeblich der Wahrheitsgehalt der tatsächlichen Bestandteile ins Gewicht. Enthält die<br />
Meinungsäußerung einen erwiesenen falschen oder bewusst unwahren Tatsachenkern, so tritt das<br />
Grundrecht der Meinungsfreiheit regelmäßig hinter die Schutzinteressen des von der Äußerung<br />
Betroffenen zurück. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen dagegen i.d.R. hingenommen werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 464/<strong>2018</strong><br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Urheberrecht: Verwendung von Fotografien aus dem Internet<br />
(EuGH, Urt. v. 7.8.<strong>2018</strong> – C-<strong>16</strong>1/17) • Wird eine Fotografie, die mit Zustimmung des Urhebers auf einer<br />
Website frei zugänglich ist, auf eine andere Website eingestellt, bedarf dies einer neuen Zustimmung des<br />
Urhebers, denn die Fotografie wird durch ein solches Einstellen einem neuen Publikum zugänglich<br />
gemacht. Dabei spielt es keine Rolle, wenn der Urheberrechtsinhaber die Möglichkeiten der Internetnutzer<br />
zur Nutzung der Fotografie nicht eingeschränkt hat. Hinweis: Die Entscheidung erging auf Vorlage des<br />
BGH. Zugrunde lag der Fall eine Schülerin aus NRW, die die streitbefangene Fotografie aus einem<br />
Internet-Reiseportal heruntergeladen und in ihr Schülerreferat eingebaut hatte, welches anschließend auf<br />
der Website der Schule veröffentlicht wurde. Anders als noch in den Fällen des Verlinkens und des sog.<br />
Framings entschied der EuGH hier klar und ohne auf die Frage einer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht<br />
einzugehen, dass die Zustimmung des Urheberrechtsinhabers erforderlich ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 465/<strong>2018</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Arbeitszeitbetrug: Außerordentliche Kündigung<br />
(LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.5.<strong>2018</strong> – 19 Sa 61/17) • Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers<br />
gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit<br />
korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung<br />
i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Ein Arbeitnehmer, der über Jahre hinweg monatlich zu den geleisteten<br />
Überstunden weitere sieben Stunden sich abzeichnen und vergüten lässt, begeht eine schwerwiegende<br />
Pflichtverletzung. Er kann sich regelmäßig nicht darauf berufen, er habe auch sonstige Überstunden<br />
geleistet, die nicht geltend gemacht wurden. In einem solchen Fall ist der Ausspruch einer Abmahnung vor<br />
dem Ausspruch der Kündigung entbehrlich. Im Rahmen der Interessenabwägung ist u.a. das Verschulden<br />
des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 466/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
Arbeitslosenversicherung: Transferzahlungen der Bundesagentur an den Bundeshaushalt<br />
(BVerfG, Beschl. v. 22.5.<strong>2018</strong> – 1 BvR 1728/12, 1 BvR 1756/12) • Die Transferzahlungen der Bundesagentur für<br />
Arbeit (BA) an den Bundeshaushalt aus Beiträgen von versicherungspflichtigen Arbeitnehmern und<br />
818 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 129<br />
Arbeitgebern verstoßen – trotz vorliegender Ungleichbehandlung – für die Jahre 2005 und 2008 nicht<br />
gegen das Gebot der Belastungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleichbehandlung ist wegen der<br />
grundlegenden und umfassenden Neuregelung des Sozialsystems für das Jahr 2005 gerechtfertigt: Die<br />
durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe freiwerdenden Beitragsmittel waren im Übergangsjahr 2005<br />
ausnahmsweise nicht strikt zweckgebunden, sondern durften zur Finanzierung des Bundeshaushalts<br />
verwendet werden, um so die Mittel für die Eingliederung in Arbeit der Bezieher der neu eingeführten<br />
Grundsicherung für Arbeitsuchende aufzubringen. Für 2008 gilt diese aus dem Systemwechsel folgende<br />
Rechtfertigung zwar nicht. Die Transferzahlungen der BA sind jedoch mit einem u.a. in diesem Jahr zur<br />
Verfügung stehenden zweckungebundenen Bundeszuschuss zu saldieren, so dass diese wechselseitigen<br />
Zahlungen im Ergebnis ohne nachteilige Auswirkungen für den Beitragszahler blieben. Hinweis: Mit dieser<br />
Begründung hat der Erste Senat des BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden von Beitragszahlern zurückgewiesen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 467/<strong>2018</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Religionsgemeinschaft: Verarbeitung personenbezogener Daten<br />
(EuGH, Urt. v. 10.7.<strong>2018</strong> – C-25/17) • Eine Religionsgemeinschaft wie die der Zeugen Jehovas ist<br />
gemeinsam mit ihren als Verkündigern tätigen Mitgliedern für die Verarbeitung der personenbezogenen<br />
Daten verantwortlich, die im Rahmen einer von Tür zu Tür durchgeführten Verkündigungstätigkeit<br />
erhoben werden. Die im Rahmen einer solchen Tätigkeit erfolgenden Verarbeitungen personenbezogener<br />
Daten müssen mit den unionsrechtlichen Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten<br />
im Einklang stehen. Hinweis: Der EuGH zählt auch handschriftliche, nicht zentral verwaltete,<br />
Notizen der einzelnen missionierenden Mitglieder zu den datenschutzrelevanten „Dateien“. Maßgeblich<br />
sei, dass diese Daten nach bestimmten Kriterien so strukturiert sind, dass sie zur späteren Verwendung<br />
leicht wiederauffindbar seien. Nicht erforderlich sei, dass sie aus spezifischen Kartotheken oder Verzeichnissen<br />
oder anderen der Recherche dienenden Ordnungssystemen bestehen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 468/<strong>2018</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Volksverhetzung: Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords<br />
(BVerfG, Beschl. v. 22.6.<strong>2018</strong> – 1 BvR 673/18, 1 BvR 2083/15) • Die Billigung und die Leugnung des<br />
nationalsozialistischen Völkermordes überschreiten die Grenzen der Friedlichkeit der öffentlichen<br />
Auseinandersetzung und indizieren eine Störung des öffentlichen Friedens. Bei der Tatbestandsalternative<br />
des Verharmlosens ist die Gefährdung des öffentlichen Friedens dagegen eigens festzustellen. Die<br />
mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz<br />
gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet<br />
sind, gehört zum freiheitlichen Staat. Eine Verharmlosung des Nationalsozialismus als Ideologie<br />
oder eine anstößige Geschichtsinterpretation dieser Zeit allein begründen eine Strafbarkeit nicht.<br />
Hinweis: Aufgrund dieser Unterscheidung zwischen den Tatbestandsvarianten des § 130 Abs. 3 StGB hat<br />
das BVerfG die strafrechtliche Verurteilung einer Leugnerin der massenhafte Tötung von Menschen<br />
jüdischen Glaubens während der NS-Herrschaft bestätigt, dagegen die Verurteilung eines Beschwerdeführers<br />
aufgehoben, der die Taten der Wehrmacht und der SS verharmlost hatte; hier vermissten die<br />
Verfassungsrichter Feststellung dazu, dass die „Schwelle einer Gefährdung der Friedlichkeit“ überschritten<br />
war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 469/<strong>2018</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Beschwerdeverfahren: Beiordnung eines Vertreters<br />
(OLG Bremen, Beschl. v. 19.6.<strong>2018</strong> – 1 Ws 146/17) • Steht eine mögliche Einziehung und ein Eingriff in<br />
dingliche Rechte des Beteiligungsinteressenten nicht (mehr) in Rede, ist für seine Beteiligung am<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 819
Fach 1, Seite 130 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Strafverfahren gem. §§ 424 Abs. 1, 438 Abs. 1 StPO kein Raum. Die Beiordnung eines Vertreters nach<br />
§ 428 Abs. 2 StPO lediglich für das Beschwerdeverfahren zur Frage der Klärung der Rechtsstellung als<br />
Einziehungs- oder Nebenbeteiligte kommt nicht in Betracht. § 428 Abs. 2 StPO setzt dem Wortlaut nach<br />
die formale Stellung als Einziehungs- oder Nebenbeteiligte voraus. Eine entsprechende Anwendung des<br />
§ 428 Abs. 2 StPO allein bei Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage in einem Beschwerdeverfahren, in<br />
dem die Rechtsstellung als Einziehungs- oder Nebenbeteiligte erst geklärt werden soll, scheidet aus.<br />
Hinweis: Zu Fragen der notwendigen Verteidigung s. HILLENBRAND F. 22, S. 927 ff. – in diesem Heft.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 470/<strong>2018</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
beA: Unterlassung der Einführung des elektronischen Postfachs<br />
(BGH, Beschl. v. 28.6.<strong>2018</strong> – AnwZ (Brfg) 5/18) • Die Vorschrift des § 31a BRAO, wonach die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) für jedes im Gesamtverzeichnis eingetragene Mitglied einer Rechtsanwaltskammer<br />
ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) empfangsbereit einzurichten hat,<br />
beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, dass eine sichere Übermittlung der Daten möglich sei. Nach<br />
§ 31 Abs. 3 S. 1 BRAO n.F. hat die Beklagte sicherzustellen, dass der Zugang zu dem beA nur durch ein<br />
sicheres Verfahren mit zwei voneinander unabhängigen Sicherungsmitteln möglich ist. Es sei nicht<br />
Aufgabe des AGH und auch nicht des BGH, diese gesetzgeberische Einschätzung durch eine eigene<br />
Bewertung der heute möglichen und zu erwartenden Datensicherheit zu ersetzen. Hinweis: Die von der<br />
BRAK in Aussicht genommene konkrete technische Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben des § 31a<br />
BRAO ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits; der Kläger will die Einführung des besonderen elektronischen<br />
Anwaltspostfachs insgesamt verhindern. Er wendet sich nicht gegen eine konkrete technische<br />
Lösung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 471/<strong>2018</strong><br />
beA: Umlage zur Finanzierung des elektronischen Rechtsverkehrs<br />
(BGH, Beschl. v. 25.6.<strong>2018</strong> – AnwZ (Brfg) 23/18) • Die Umlage zur Finanzierung des elektronischen<br />
Rechtsverkehrs (ERV) setze nicht voraus, dass das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA)<br />
empfangsbereit sei. Diese Kosten fielen bereits während der Entwicklung des Postfachs und nicht erst<br />
mit dessen abgeschlossener Einrichtung an, daher entstehe der durch Beiträge der Kammern zu<br />
deckende Bedarf der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ebenfalls bereits vorher. Die Zulässigkeit der<br />
Umlage hänge auch nicht davon ab, ob das beA tatsächlich genutzt werde. Die Kosten entstünden der<br />
BRAK aufgrund der Einrichtung des beA als ihrer gem. § 31a Abs. 1 S. 1 BRAO übertragenen Aufgabe, und<br />
nicht aufgrund der Nutzung des Postfachs durch einzelne Rechtsanwälte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 472/<strong>2018</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Längenzuschlag: Hauptverhandlungsdauer<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 10.7.<strong>2018</strong> – 1 Ws 142/18) • Auch längere Sitzungspausen sind grds. nicht von der<br />
Verhandlungsdauer in Abzug zu bringen. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob und inwieweit der Verteidiger<br />
die Sitzungspause anderweitig für seine berufliche Tätigkeit sinnvoll hätte nutzen können,<br />
wobei schon aus Gründen der Praktikabilität kein an individuellen Möglichkeiten ausgerichteter Maßstab<br />
anzulegen ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 473/<strong>2018</strong><br />
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820 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 921<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Wohnraummietrecht<br />
– 1. Halbjahr <strong>2018</strong><br />
Von weiterem aufsichtführenden RiAG Prof. Dr. ULF BÖRSTINGHAUS, Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Mietvertragsabschluss/-aufhebung<br />
1. Teilweise Personenidentität<br />
2. Zwischenvermietung durch Arbeitgeber<br />
3. Aufhebung eines Mietvertrags<br />
4. Rückabwicklung einer Überzahlung durch<br />
das Jobcenter<br />
III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
IV. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />
V. Schriftform<br />
1. Mehrere Urkunden<br />
2. Mieterhöhungsverlangen nach Indexänderung<br />
VI. Mietsicherheit<br />
VII. Betriebskosten<br />
1. Einsichtsrecht in Verbrauchsdaten der<br />
übrigen Mieter<br />
2. Richtiger Flächenmaßstab<br />
3. Heizkostenabrechnung in der Gewerberaummiete<br />
nach umbautem Raum<br />
VIII. Gewährleistungsrechte<br />
IX. Mieterhöhung<br />
1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
2. Nach einer Modernisierungsmaßnahme<br />
X. Kündigung<br />
1. Ordentliche Kündigung<br />
2. Außerordentliche Kündigung<br />
3. Widerspruch gegen Mietvertragsfortsetzung<br />
XI. Schadensersatzansprüche<br />
1. Kündigungsfolgeschaden<br />
2. Schadensersatz ohne Fristsetzungserfordernis<br />
3. Schadensersatz wegen Schneeglätte<br />
auf Gehweg<br />
XII. Prozessrecht<br />
1. Zulässigkeit einer Saldoklage<br />
2. Beschleunigungsgebot für Räumungsverfahren<br />
3. Beschwer bei Räumungsklage<br />
4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
5. Mieterinsolvenz<br />
I. Einleitung<br />
Seit Mai sind vor allem die Rechtsfolgen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) Thema – auch<br />
für Mietverhältnisse (ausführlich dazu STORM DWW <strong>2018</strong>, 204; HORST <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1745 und S. 1751). So viel<br />
wie behauptet wird, hat sich gar nicht geändert. Manche Erklärung, die wir unterschreiben sollen, ist<br />
überflüssig, da sie Dinge betrifft, die nichts mit der Verordnung zu tun haben. Wenn die DSGVO etwas<br />
bewirkt hat, dann auf jeden Fall eine Sensibilisierung für das Thema. Aber immer dann, wenn Daten für<br />
die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen erforderlich sind, dürfen sie auch gespeichert werden.<br />
Seit einigen Monaten werden wir auch wieder regiert. Für das Mietrecht bedeutet dies, dass der Gesetzgeber<br />
die im Koalitionsvertrag vereinbarten Änderungen nun in Angriff genommen hat, wenn auch<br />
Selbstdarstellungsattitüden einem professionellen Gesetzgebungsverfahren im Wege zu stehen scheinen.<br />
So hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) am 4.6.<strong>2018</strong> den Entwurf eines<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 821
Fach 4 R, Seite 922<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
„Gesetzes zur Ergänzung der Regelungen über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn und zur Anpassung<br />
der Regelungen über die Modernisierung der Mietsache – Mietrechtsanpassungsgesetz (MietAnpG)“ zunächst<br />
den Medien vorgestellt und erst anschließend in die Ressortabstimmung gegeben. Diese Vorgehensweise<br />
war schon äußerst ungewöhnlich, da üblicherweise erst die Ressortabstimmung stattfindet<br />
und dann der Referentenentwurf veröffentlicht wird und in die Verbändeanhörung geht. Reflexartig kam<br />
natürlich der Widerspruch des großen Koalitionspartners, da der Entwurf über die Vereinbarungen im<br />
Koalitionsvertrag hinausging, weshalb schon in der letzten Legislaturperiode der damalige Bundesjustizminister<br />
MAAS mit seinem Entwurf früh gescheitert war. Am 11.7.2017 hat das BMJV den nach der erfolgten<br />
Ressortabstimmung erheblich „abgespeckten“ Referentenentwurf in das Anhörungsverfahren bei Ländern<br />
und Verbänden gegeben (beide Entwürfe stehen unter www.mietgerichtstag.de zum Download zur Verfügung).<br />
Neben Änderungen bei der Modernisierungsmieterhöhung (regionale Absenkung auf 8 %,<br />
Einführung einer eigenen Kappungsgrenze) und der Angabepflicht bzgl. der Vormiete bei der sog.<br />
Mietpreisbremse ist besonders der neue OWi-Tatbestand in § 6 WiStG des „Herausmodernisierens“<br />
bemerkenswert (dazu BÖRSTINGHAUS/KRUMM NZM <strong>2018</strong>, 633). Wer in der Absicht, den Mieter zu einer<br />
Kündigung zu veranlassen, eine Modernisierungsankündigung mit bestimmten Fehlern oder eine missbräuchliche<br />
Umsetzung der Modernisierung durchführt, kann mit einem Bußgeld von bis zu 100.000 €<br />
belegt werden. Der Rahmen darf zur Gewinnabschöpfung auch überschritten werden.<br />
Eine Änderung ist zum Ende des Berichtszeitraums aber schon in Kraft getreten: Der Beschwerdewert für<br />
eine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH in § 26 Nr. 8 EGZPO von mindestens 20.000 € ist erwartungsgemäß<br />
wieder um 18 Monate verlängert worden (BGBl I <strong>2018</strong>, S. 863). Für die Miete bedeutet dies,<br />
dass nur Räumungsurteile mit einer Kaltmiete von mehr als 476,20 € mit der Nichtzulassungsbeschwerde<br />
angegriffen werden können.<br />
II.<br />
Mietvertragsabschluss/-aufhebung<br />
1. Teilweise Personenidentität<br />
Der BGH (WuM 20<strong>16</strong>, 341 = GE 20<strong>16</strong>, 849 = MDR 20<strong>16</strong>, 818 = NZM 20<strong>16</strong>, 467 = NJW-RR 20<strong>16</strong>, 784 = ZMR<br />
20<strong>16</strong>, 771 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 69 m. Anm. EISENSCHMID) hatte vor einiger Zeit darauf hingewiesen,<br />
dass ein Mietverhältnis nicht wirksam entstehen kann, wenn auf Gebrauchsnutzerseite eine Person<br />
beteiligt ist, die zugleich Vermieterstellung einnimmt, und es erlischt durch Konfusion, wenn der Mieter<br />
nachträglich das mit dem Recht zur Gebrauchsnutzung verbundene Eigentum an der Mietsache erwirbt.<br />
Jetzt stellte sich eine ähnliche Frage über die rechtliche Qualifikation eines Vertrags über die Überlassung<br />
von Räumen durch eine Miteigentümergemeinschaft an eines ihrer Mitglieder. Für diesen Fall hat der<br />
BGH nun entschieden, dass regelmäßig ein (Wohnraum-)Mietverhältnis zustande kommt, wenn eine Miteigentümergemeinschaft<br />
gemeinschaftliche Räume einem ihrer Mitglieder vertraglich gegen Entgelt zur<br />
alleinigen Nutzung überlässt. Auf ein derartiges Mietverhältnis sind die zum Schutz des Mieters vorgesehenen<br />
gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 333/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 352 = GE<br />
<strong>2018</strong>, 701 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 75 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; LEHMANN-RICHTER MietRB <strong>2018</strong>, 194). Dem<br />
wirksamen Zustandekommen eines solchen Mietvertrags stehe nicht entgegen, dass der Miteigentümer<br />
hieran sowohl auf Mieterseite als auch – neben anderen Miteigentümern – auf Vermieterseite beteiligt ist.<br />
Der Erwerber eines Miteigentumsanteils tritt in ein zwischen der Miteigentümergemeinschaft und einem<br />
oder einzelnen ihrer Mitglieder bestehendes Wohnraummietverhältnis gem. § 566 Abs. 1 BGB ein. Dies gilt<br />
gem. § 1010 Abs. 1 BGB auch, wenn die mietvertragliche Regelung nicht als Belastung des Miteigentumsanteils<br />
im Grundbuch eingetragen ist.<br />
2. Zwischenvermietung durch Arbeitgeber<br />
Wenn jemand eine Wohnung anmietet, um nicht selbst darin zu wohnen, sondern um sie Dritten zur<br />
Verfügung zu stellen, geschieht dies aus den unterschiedlichsten Gründen. Es liegt in diesen Fällen immer ein<br />
Dreipersonenverhältnis vor, das juristisch bekanntlich häufig zu Problemen führt. In der Wohnraummiete<br />
besteht zusätzlich das Risiko, dass der Mieterschutz aufgeweicht wird. Deshalb hat der Gesetzgeber auf<br />
Druck des BVerfG mit § 565 BGB eine besondere Mieterschutzvorschrift zumindest für den Bereich der<br />
gewerblichen Zwischenvermietung geschaffen. Zum wiederholten Male musste sich der VIII. Senat des BGH<br />
822 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 923<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
mit dem Schutzbereich dieser Vorschrift befassen. Vor Kurzem hatte er in einem Fall einer atypischen<br />
Gestaltung im Interesse der Mieter entschieden, dass eine gewerbliche Weitervermietung i.S.d. § 565 Abs. 1<br />
S. 1 BGB voraussetzt, dass der Zwischenmieter nach dem Zweck des mit dem Eigentümer abgeschlossenen<br />
Vertrags die Weitervermietung zu Wohnzwecken mit der Absicht der Gewinnerzielung oder im eigenen<br />
wirtschaftlichen Interesse ausüben soll (BGH NJW 20<strong>16</strong>, 1086 = MDR 20<strong>16</strong>, 387 = WuM 20<strong>16</strong>, 221 = NZM<br />
20<strong>16</strong>, 256 = ZMR 20<strong>16</strong>, 276 = MietPrax-AK § 565 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR<br />
6/20<strong>16</strong> Anm. 3; DERS. LMK 20<strong>16</strong>, 377696; KUREK MietRB 20<strong>16</strong>, 125; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>16</strong>, 258; KRAPF jurisPR-<br />
MietR 10/20<strong>16</strong> Anm. 3; DERLEDER NZM 20<strong>16</strong>, 670). Hieran fehlt es, wenn der Eigentümer mit einer Mieter-<br />
Selbsthilfegenossenschaft einen Mietvertrag abschließt, der die Weitervermietung des Wohnraums an<br />
deren Mitglieder zu einer besonders günstigen Miete vorsieht. Bei einem derartigen Handeln des<br />
Zwischenmieters im Interesse der Endmieter kommt eine analoge Anwendung der Vorschrift schon<br />
deshalb nicht in Betracht, weil es an einer der gewerblichen Weitervermietung vergleichbaren Interessenlage<br />
der Beteiligten fehlt.<br />
Nunmehr musste sich der BGH mit der Frage befassen, ob die Regelungen für die gewerbliche Zwischenvermietung<br />
auch dann Anwendung finden, wenn der Dritte keinen unmittelbaren Gewinn aus<br />
der Vermietung erzielen will. In dem zu entscheidenden Fall hatte ein Arbeitgeber, der zum Zwecke<br />
der Mitarbeiteranwerbung Wohnungen angemietet hatte, diese an die neuen Mitarbeiter ohne jeden<br />
Gewinnaufschlag weitervermietet. Nach Ansicht des BGH lag auch in diesem Fall die erforderliche Gewinnerzielungsabsicht<br />
vor, da der als Zwischenvermieter agierende Arbeitgeber die von ihm angemieteten<br />
Wohnungen an die Arbeitnehmer seines Gewerbebetriebs weitervermietete, um diese an sich zu binden<br />
und sich Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Unternehmen zu verschaffen, die ihren Arbeitnehmern<br />
keine Werkswohnungen anbieten können; eine Gewinnerzielungsabsicht aus der Vermietung selbst ist<br />
nicht erforderlich (BGH WuM <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>1 = GE <strong>2018</strong>, 323 = MDR <strong>2018</strong>, 398 = NZM <strong>2018</strong>, 281 = MietPrax-AK<br />
§ 565 BGB Nr. 4 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 4/<strong>2018</strong> Anm. 4; SOMMER MietRB <strong>2018</strong>,<br />
99; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 257; HARSCH MDR <strong>2018</strong>, 569).<br />
3. Aufhebung eines Mietvertrags<br />
Die Parteien eines Mietvertrags können grundsätzlich das Mietverhältnis auch dann jederzeit durch einen<br />
Aufhebungsvertrag gem. § 311 Abs. 1 BGB vorzeitig beenden, wenn der Mieter einen Untermietvertrag<br />
geschlossen oder einem Dritten auf einer anderen rechtlichen Grundlage die Mietsache zur Nutzung<br />
überlassen hat. In diesen Fällen ist der Abschluss eines Mietaufhebungsvertrags i.d.R. nicht sittenwidrig,<br />
wenn dem Hauptmieter gegen den Dritten ein Kündigungsrecht zusteht, mit dem er dessen Gebrauchsmöglichkeit<br />
zeitnah beenden kann (BGH MDR <strong>2018</strong>, 856 = MietPrax-AK § 311 BGB Nr. 1 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; BURBULLA MietRB <strong>2018</strong>, 198).<br />
Hinweis:<br />
Die Entscheidung betraf das Gelände der Frankfurter Galopprennbahn, auf dem der DFB seine Fußballakademie<br />
errichten will.<br />
4. Rückabwicklung einer Überzahlung durch das Jobcenter<br />
Hat das Jobcenter das dem Wohnungsmieter zustehende Arbeitslosengeld II als Bedarf für Unterkunft und<br />
Heizung versehentlich auch noch nach der Beendigung des Mietverhältnisses im Wege der Direktzahlung<br />
nach § 22 Abs. 7 S. 1 SGB II an den bisherigen Vermieter gezahlt, kann es von diesem unter dem<br />
Gesichtspunkt einer fehlenden, weil widerrufenen, Anweisung unmittelbar die Herausgabe der ohne<br />
rechtlichen Grund erfolgten Zuvielzahlung im Wege der Nichtleistungskondiktion gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2<br />
BGB verlangen (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 235/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 395 = NJW <strong>2018</strong>, 1079 = DWW <strong>2018</strong>, 94 = WuM<br />
<strong>2018</strong>, 2<strong>16</strong> = GE <strong>2018</strong>, 452 = MietPrax-AK § 812 BGB Nr. 8 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 98;<br />
DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 258).<br />
III. Begrenzung der Wiedervermietungsmiete<br />
Die Regelungen über die Begrenzung der Wiedervermietungsmiete (sog. Mietpreisbremse) ist bei den<br />
Amts- und Landgerichten angekommen. Dabei fällt die Neuregelung in immer mehr Bundesländern durch.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 823
Fach 4 R, Seite 924<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Die gescholtene 67. Zivilkammer des LG Berlin (s. unten IX. 2.) hat inzwischen zwei Verfahren ausgesetzt und<br />
die Neuregelung gem. Art. 100 GG dem BVerfG vorgelegt (LG Berlin NZM <strong>2018</strong>, 118 m. Anm. SCHULDT NZM<br />
<strong>2018</strong>, 124; LG Berlin WuM <strong>2018</strong>, 414). Die Vorlagen dürften aber nach Ansicht der Kammer nicht dazu führen,<br />
dass jetzt alle Verfahren ausgesetzt werden dürfen. Die Aussetzung eines Rechtsstreits wegen eines beim<br />
BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens setzt gem. § 148 ZPO analog voraus, dass die Verfassungsgemäßheit<br />
des vom BVerfG zu prüfenden Gesetzes für die Entscheidung des Gerichts erheblich ist. Die<br />
Aussetzung ist nur dann ermessensfehlerfrei, wenn das Gericht entweder im bisherigen Verfahrensverlauf<br />
oder in der Aussetzungsentscheidung selbst die Entscheidungserheblichkeit der Verfassungswidrigkeit des<br />
Gesetzes für die Parteien nachvollziehbar dargelegt hat (LG Berlin ZMR <strong>2018</strong>, 507).<br />
Auf Landgerichtsebene geht es zzt. um die Wirksamkeit der einzelnen Landesverordnungen:<br />
• In Hamburg hatte das AG Hamburg Altona (Urt. v. 23.5.2017 – 3<strong>16</strong> C 380/<strong>16</strong>, ZMR 2017, 649; v. 9.10.2017<br />
– 3<strong>16</strong> C 206/17) die dortige Verordnung wegen Begründungsmängeln gekippt. Diese Rechtsprechung ist<br />
vom LG Hamburg (Urt. v. 14.6.<strong>2018</strong> – 333 S 28/17 m. Anm. BÖRSTINGHAUS jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 1)<br />
bestätigt worden. Für die Praxis bleibt die Frage offen, ob ein Begründungsmangel zumindest für die<br />
Zukunft geheilt werden kann. Das LG Hamburg hat die Frage, wie die Rechtslage für Mietverträge, die<br />
nach der Veröffentlichung im Transparenzportal am 22.10.2015 bzw. nach der Veröffentlichung der<br />
Begründung unter www.hamburg.de am 6.6.2017 oder der Veröffentlichung am 1.9.2017 im Amtlichen<br />
Anzeiger zu beurteilen ist, ausdrücklich offengelassen.<br />
• Die hessische Landesregierung versuchte bei der Information über den Zeitpunkt der erfolgten<br />
Begründung der Verordnung durchaus „kreativ“ zu sein, oder weniger politisch korrekt ausgedrückt „zu<br />
tricksen“. Man gab sich größte Mühe zu vertuschen, wann die Begründung im Internet auf der Seite des<br />
Ministeriums veröffentlicht wurde. Es ist immer noch nicht ganz klar, wann die Begründung tatsächlich<br />
veröffentlicht wurde. Einiges spricht dafür, dass dies erst im März <strong>2018</strong> geschehen ist. Im Rahmen einer<br />
Entscheidung des LG Frankfurt (WuM <strong>2018</strong>, 276 m. Anm. BÖRSTINGHAUS, jurisPR-MietR 13/2108 Anm. 2)<br />
war dies aber nicht streitentscheidend. Die Entscheidung betraf einen Mietvertrag, der am 3.5.20<strong>16</strong><br />
abgeschlossen worden war. Da gab es mit Sicherheit keine veröffentlichte Begründung in Hessen. Eine<br />
wann auch immer stattgefundene rückwirkende Veröffentlichung führt aber nie zu einer Heilung der<br />
unwirksamen Verordnung, wie sowohl das LG München (NJW <strong>2018</strong>, 407) als auch das AG Hamburg-<br />
Altona überzeugend festgestellt haben. Auch SCHULDT kommt in seinem Vortrag auf dem Deutschen<br />
Mietgerichtstag <strong>2018</strong> (NZM <strong>2018</strong>, 257) zum gleichen Ergebnis.<br />
IV. Vertragsgemäßer Gebrauch<br />
Das BGB enthält keine Bestimmungen zur Tierhaltung in der Mietwohnung, wenn man von allgemeinen<br />
Vorschriften der Gefahrenabwehr, des Tierschutzes und des Nachbarrechts absieht. In der Praxis<br />
tauchen immer wieder Streitigkeiten wegen der Tierhaltung auf. Ausgangspunkt ist dabei immer die<br />
Überlegung, dass die Tierhaltung grundsätzlich zum vertragsgemäßen Gebrauch der Mietsache gehört.<br />
Die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, sind höchst unterschiedlich.<br />
Hinweis:<br />
Die Meinungen reichen von völliger Erlaubnisfreiheit (AG Bremen WuM 2007, 124; KG WuM 2004, 721) bis zur<br />
Ablehnung der Haltung zumindest größerer Tiere (dazu BLANK NJW 2007, 729, 731 Fn 34 ff.). Dazwischen gibt<br />
es zahlreiche vermittelnde Meinungen (s. BALSAM/DALLEMAND, Rechtsfragen der Haustierhaltung, 1997, S. 21).<br />
Aber auch wenn eine mietvertragliche Klausel einer Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB nicht standhält, bedarf<br />
es nach h.M. einer Genehmigung des Vermieters, auf die der Mieter unter bestimmten Voraussetzungen<br />
aber einen Anspruch hat. Wird eine solche Klage des Mieters gegen den Vermieter auf Zustimmung zur<br />
Tierhaltung in der gemieteten Wohnung abgewiesen, erfordert die Beurteilung, ob der Wert des<br />
Beschwerdegegenstands einer dagegen gerichteten Berufung die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO<br />
übersteigt, eine umfassende Betrachtung des auf die begehrte Tierhaltung in der Mietwohnung gerichteten<br />
Interesses des Mieters. Das schließt subjektive Gesichtspunkte ein, weil die Wohnung für jedermann<br />
Mittelpunkt seiner privaten Existenz ist und dem Einzelnen damit die Entfaltung und eigenverantwortliche<br />
824 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 925<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Gestaltung seines Lebens ermöglicht. Daher sind nicht nur objektive Kriterien, sondern namentlich die<br />
Beweggründe und Bedürfnisse des Mieters zu berücksichtigen. Diese Abwägung lässt sich nicht allgemein,<br />
sondern nur im Einzelfall vornehmen, weil die zu berücksichtigenden Umstände individuell und vielgestaltig<br />
sind, so dass sich jede schematische Lösung verbietet (BGH WuM <strong>2018</strong>, 174 = MDR <strong>2018</strong>, 462 = GE <strong>2018</strong>, 447<br />
= ZMR <strong>2018</strong>, 403 = NZM <strong>2018</strong>, 462 = MietPrax-AK § 535 BGB Nr. 74 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS<br />
jurisPR-BGHZivilR 6/<strong>2018</strong> Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 9/<strong>2018</strong> Anm. 5).<br />
V. Schriftform<br />
1. Mehrere Urkunden<br />
Dem Schriftformerfordernis des § 550 S. 1 BGB kann gem. § 126 Abs. 2 S. 2 BGB auch in der Weise<br />
entsprochen werden, dass über den Vertrag mehrere gleichlautende Urkunden aufgenommen werden<br />
und jede Partei die für die andere Partei bestimmte Urkunden unterzeichnet. Dabei ist es ausreichend,<br />
dass die Vertragsparteien jeweils gleichlautende Vertragsurkunden unterzeichnen. Eines Zugangs dieser<br />
unterzeichneten Urkunden beim jeweiligen Vertragspartner bedarf es für die Einhaltung der<br />
Schriftform nicht (BGH NJW <strong>2018</strong>, 1540 = NZM <strong>2018</strong>, 394 = GE <strong>2018</strong>, 706 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 45<br />
m. Anm. EISENSCHMID; HOFFMANN MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>8; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 386; SCHNEIDENBACH jurisPR-<br />
MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 4; BURBULLA ZMR <strong>2018</strong>, 581). Im konkreten Fall hatten die Vertragsparteien jeweils<br />
ein Exemplar des Vertragstextes unterschrieben und der Gegenseite gefaxt.<br />
2. Mieterhöhungsverlangen nach Indexänderung<br />
Bei einer Indexklausel, nach der sich die Miete – wie in der Gewerberaummiete möglich – automatisch<br />
entsprechend der Veränderung des maßgeblichen Index verändert oder der Vermieter – wie in der<br />
Wohnraummiete gem. § 557b BGB vorgesehen – nur eine Gestaltungserklärung abgeben muss, ist die<br />
Schriftform gem. § 550 BGB eingehalten, wenn die Indexklausel dem Schriftformerfordernis genügt. Die<br />
Änderung der Miete, die auf einer Vertragsklausel beruht, wonach eine Vertragspartei bei Vorliegen einer<br />
bestimmten Indexänderung eine Neufestsetzung der Miete von der anderen Seite verlangen kann,<br />
unterfällt demgegenüber – anders als bei einer Anpassungsautomatik oder einem einseitigen Änderungsrecht<br />
– dem Schriftformerfordernis des § 550 S. 1 BGB (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/<strong>2018</strong> = DWW <strong>2018</strong>, 176 =<br />
NZM <strong>2018</strong>, 515 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 46 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER MietRB <strong>2018</strong>, 199; EISENSCHMID<br />
jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 3); denn die vertragliche Änderung der Miete stellt stets eine wesentliche und<br />
– jedenfalls soweit sie für mehr als ein Jahr erfolgt und nicht jederzeit vom Vermieter widerrufen werden<br />
kann – dem Formzwang des § 550 S. 1 BGB unterfallende Vertragsänderung dar.<br />
Wiederholt hat der Senat in dieser Entscheidung seine Rechtsprechung, wonach sog. Schriftformheilungsklauseln<br />
generell unwirksam sind, weil sie mit der nicht abdingbaren Vorschrift des § 550 BGB<br />
unvereinbar sind. Sie können deshalb für sich genommen eine Vertragspartei nicht daran hindern, einen<br />
Mietvertrag unter Berufung auf einen Schriftformmangel ordentlich zu kündigen (BGH MDR 2017, 1351<br />
= GE 2017, 1397 = NJW 2017, 3772 = ZfIR <strong>2018</strong>, 10 = NZM <strong>2018</strong>, 38 = ZMR <strong>2018</strong>, 30 = DWW <strong>2018</strong>, 14 =<br />
MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 44 m. Anm. EISENSCHMID; SOMMER MietRB 2017, 341/342; BÖRSTINGHAUS jurisPR-<br />
BGHZivilR 23/2017 Anm. 1; BIEBER GE 2017, 1377; JANSSEN BB 2017, 2766; MUMMENHOFF jurisPR-MietR 2/<strong>2018</strong><br />
Anm. 5; BURBULLA MDR <strong>2018</strong>, 68; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 34; EINSELE LMK <strong>2018</strong>, 401890; LINDNER-FIGURA/<br />
REUTER NJW <strong>2018</strong>, 897; KRÜGER NZM <strong>2018</strong>, 42).<br />
Hinweis:<br />
Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn eine nicht den Erfordernissen des § 550 BGB<br />
entsprechende Vertragsänderung auf ausdrücklichen Wunsch und im Interesse einer Partei erfolgt ist. In<br />
diesem Fall kann es treuwidrig sein, wenn sich der betreffende Vertragspartner auf den Formmangel beruft.<br />
VI. Mietsicherheit<br />
Die Frage, welche Bedeutung eine Mietsicherheit nach Mietvertragsende noch hat, ist bekanntlich<br />
strittig. Der BGH hatte entschieden, dass die Mietsicherheit während des Bestands des Mietverhältnisses<br />
eine reine Sicherungsfunktion hat (BGH WuM 2014, 418 = GE 2014, 866 = MDR 2014, 704 = ZMR<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 825
Fach 4 R, Seite 926<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
2014, 619 = NJW 2014, 2496 = NZM 2014, 551 = MietPrax-AK § 551 BGB Nr. <strong>16</strong> m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />
DRASDO NJW-Spezial 2014, 449; SCHACH MietRB 2014, 226; RIECKE ZMR 2014, 620). Deshalb darf der<br />
Vermieter während des laufenden Mietverhältnisses eine Mietsicherheit wegen streitiger Forderungen<br />
gegen den Mieter nicht verwerten. Aus dem BGH war damals schon zu vernehmen, dass dies nach<br />
Beendigung des Mietverhältnisses ähnlich zu sehen ist (MILGER WImmoT 2014, 7, 15 unter Verweis auf<br />
EMMERICH, in: Staudinger, § 551 BGB Rn 31). Nach einer anderen Auffassung in der Literatur ändert sich die<br />
Funktion der Mietsicherheit nach Mietvertragsende in eine Befriedigungsfunktion. Bedeutung hat dies<br />
für die Frage, ob der Vermieter nach Mietvertragsende die Mietsicherheit auch für bestrittene<br />
Forderungen verwenden darf. Das hat das AG Dortmund (<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 248/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 204) jetzt<br />
mit nicht rechtkräftigem Urteil verneint. Anders sei die Insolvenzsicherheit der Mietsicherheit nicht zu<br />
gewährleisten. Daraus folgt unter Mieterschutzgesichtspunkten, dass dem Vermieter ein Zugriff auf die<br />
Kaution auch nach Ende des Mietvertrags insofern verboten ist. Der Mieter kann dies sogar im<br />
einstweiligen Rechtschutzverfahren verhindern (LG Berlin WuM 2017, 527).<br />
Praxishinweis:<br />
Das bedeutet für die anwaltliche Praxis, dass zunächst Klarheit über Gegenforderungen wie z.B. Betriebskostennachzahlungen,<br />
Schadensersatzansprüche oder Mietrückstände wegen Minderung erzielt werden<br />
muss. Wenn die Parteien sich nicht einigen, muss der Vermieter ggf. gegenüber einer – verfrüht – erhobenen<br />
Kautionsrückzahlungsklage Widerklage bzgl. der vermeintlichen Gegenansprüche entweder als<br />
Feststellungsklage, wenn sie niedriger als die Kautionsforderung sind, oder als – darüber hinausgehende –<br />
Zahlungsklage erheben. Dann muss über die Widerklage vorab durch Teilurteil entschieden werden und<br />
dann über die Kautionsrückzahlungsklage durch Schlussurteil. Anderenfalls ist die Kautionsrückzahlungsklage<br />
als zzt. nicht fällig abzuweisen. Gegebenenfalls kann auch der Mieter vorab negative Feststellungsklage<br />
hinsichtlich der Ansprüche, deren der Vermieter sich nach Mietvertragsende berühmt, erheben.<br />
Im Übrigen hatte schon der BGH darauf hingewiesen, dass der Kautionsrückzahlungsanspruch erst fällig<br />
wird, wenn dem Vermieter keine Forderungen aus dem Mietverhältnis mehr zustehen, wegen derer er<br />
sich aus der Sicherheit befriedigen darf (BGHZ 141, <strong>16</strong>0, <strong>16</strong>2, BGH NJW 2006, 1422; BGH NJW 20<strong>16</strong>, 3231 =<br />
MietPrax-AK § 551 BGB Nr. 18 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; dazu DERS. jurisPR-BGHZivilR 17/20<strong>16</strong> Anm. 4; LUDLEY<br />
NZM 20<strong>16</strong>, 764; BEYER jurisPR-MietR 22/20<strong>16</strong> Anm. 3; BURBULLA MietRB 20<strong>16</strong>, 311; DRASDO NJW-Spezial 20<strong>16</strong>,<br />
675; STAAKE LMK 20<strong>16</strong>, 384205; so auch BLANK, in: SCHMIDT-FUTTERER, Mietrecht, 13. Aufl., § 551 BGB Rn 95). Eine<br />
6-Monatsfrist, wie häufig behauptet, gibt es nicht (so auch AG Dortmund, Urt. v. 19.6.<strong>2018</strong> – 425 C 376/18).<br />
VII. Betriebskosten<br />
1. Einsichtsrecht in Verbrauchsdaten der übrigen Mieter<br />
Ein Mieter kann im Rahmen der bei einer Betriebskostenabrechnung geschuldeten Belegvorlage vom<br />
Vermieter auch die Einsichtnahme in die von diesem erhobenen Einzelverbrauchsdaten anderer Nutzer<br />
eines gemeinsam versorgten Mietobjekts beanspruchen, um sich etwa Klarheit zu verschaffen, ob bei einer<br />
verbrauchsabhängigen Abrechnung der Gesamtverbrauchswert mit der Summe der Verbrauchsdaten der<br />
anderen Wohnungen übereinstimmt, ob deren Werte zutreffend sind oder ob sonst Bedenken gegen die<br />
Richtigkeit der Kostenverteilung bestehen. Der Darlegung eines besonderen Interesses an dieser<br />
Belegeinsicht bedarf es nicht. Auch die Datenschutz-Grundverordnung steht dem nicht entgegen. Zwar<br />
betrifft die Entscheidung des BGH einen Fall, der vor deren Inkrafttreten spielt, jedoch darf der Vermieter<br />
auch seit Ende Mai solche Daten verwenden, die er zur Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht benötigt (BGH<br />
WuM <strong>2018</strong>, 288 = GE <strong>2018</strong>, 577 = NJW <strong>2018</strong>, 1599 = MDR <strong>2018</strong>, 659 = NZM <strong>2018</strong>, 458 = DWW <strong>2018</strong>, 214 =<br />
MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 128 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS, jurisPR-BGHZivilR 9/<strong>2018</strong> Anm. 2; GARBE<br />
GE <strong>2018</strong>, 546; ZEHELEIN NZM <strong>2018</strong>, 461; LAMMEL, jurisPR-MietR 12/<strong>2018</strong> Anm. 3; DRASDO, NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 385;<br />
BURBULLA MietRB <strong>2018</strong>, 194; HORST <strong>ZAP</strong> F. 4, S. 1745).<br />
Hinweis:<br />
Solange der Vermieter dem Mieter die verlangte Belegeinsicht nicht gewährt hat, ist der Mieter zur Leistung von<br />
Betriebskostennachzahlungen nicht verpflichtet. Eine entsprechende Klage ist als zzt. nicht fällig abzuweisen.<br />
826 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 927<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
2. Richtiger Flächenmaßstab<br />
Der Vermieter muss mit der Betriebskostenabrechnung umlagefähige Betriebskosten auf die unterschiedlichen<br />
Mieter verteilen. Die Parteien können dabei die unterschiedlichsten Verteilungsschlüssel<br />
vereinbaren. Dazu zählt auch die Verteilung nach dem Verhältnis der Wohnflächen. Dieser Maßstab gilt<br />
nach § 556a BGB auch, wenn die Parteien nichts vereinbart haben. So einfach das klingt, so schwierig ist<br />
dies häufig in der Praxis. Häufig werden in Mietverträgen Flächen angegeben, die aber in den seltensten<br />
Fällen auch richtig sind. Für das Gewährleistungsrecht hat der BGH bekanntlich seine 10 %-Rechtsprechung<br />
entwickelt, wonach erst bei einer Flächenabweichung von mehr als 10 % ein Mangel vorliegt. In<br />
der Folgezeit hatte der VIII. Senat diese Rechtsprechung auch auf das Mieterhöhungsverfahren und das<br />
Betriebskostenrecht übertragen (BGH WuM 2007, 700 = GE 2007, <strong>16</strong>86 = NJW 2008, 142 = NZM 2008, 35<br />
= ZMR 2008, 38 = DWW 2008, 17 = MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 26 m. Anm. EISENSCHMID; SCHMID ZMR 2008,<br />
42; DERS. WuM 2008, 9; DERS. GuT 2008, 19; DRASDO NJW-Spezial 2008, 33; JUNKER MietRB 2008, 33/34/35,<br />
RAVE GE 2008, 36; DIES. ZMR 2008, 517; HINZ WuM 2008, 633; BÖRSTINGHAUS, LMK II. HJ, 60; LUDLEY ZMR 2009,<br />
427; SCHMID ZMR 2009, 746; LANGENBERG NJW 2008, 1269, 1273; LÜTZENKIRCHEN ZMR 2009, 895). Auch dort<br />
sollten die – falschen – vereinbarten Flächen maßgeblich sein, wenn die Abweichung maximal 10 %<br />
betrug. Das war natürlich falsch, da es hier anders als bei der Gewährleistung nicht um eine Bewertung<br />
geht, wann eine Gebrauchsbeeinträchtigung vorliegt, sondern um eine Berechnung. Nach entsprechend<br />
harscher Kritik hat der BGH im November 2015 seine Rechtsprechung zur Mieterhöhung dann auch<br />
aufgegeben. Seither sind im Mieterhöhungsverfahren nur noch die tatsächlichen Flächen maßgeblich.<br />
Es war daher wohl nur eine Frage der Zeit, bis der BGH die Gelegenheit bekam, auch seine alte falsche<br />
Rechtsprechung zur Betriebskostenabrechnung zu berichtigen. Das hat der Senat nun auch getan (BGH<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 358/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 425 = MietPrax-AK § 556a BGB Nr. 14 m. Anm. EISENSCHMID;<br />
BÖRSTINGHAUS LMK <strong>2018</strong>, 406662; SOMMER MietRB <strong>2018</strong>, 193; WALL jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 2). Ohne<br />
größere dogmatische Argumentation stellt er kurz fest, dass auch im Betriebskostenrecht eine nach den<br />
subjektiven Vorstellungen geprägte Parteivereinbarung zur Wohnfläche unerheblich sei. Eher thesenartig<br />
heißt es dann, dass „eine in der gebotenen Gesamtschau angemessene und nach allen Seiten hin<br />
interessengerechte Verteilung von Betriebskosten [erfordert], dass [die Betriebskosten] nach einem objektiven<br />
Abrechnungsmaßstab umgelegt werden, der gleichermaßen für alle zur Wirtschaftseinheit zählenden Nutzer gilt“.<br />
Wahrscheinlich war das so selbstverständlich, dass man das gar nicht länger begründen wollte.<br />
Praxishinweis:<br />
Für die Praxis wirft die Entscheidung eine Fülle von Problemen auf. Der Entscheidung ist nicht zu entnehmen,<br />
wie die vom Senat verlangte vermeintlich „richtige tatsächliche Fläche“ zu ermitteln ist. Es gibt im preisfreien<br />
Wohnungsbau immer noch keine – und für das Betriebskostenrecht erst recht nicht – zwingenden Berechnungsvorschriften.<br />
Soweit im ersten nicht abgestimmten Entwurf eines Mietrechtsanpassungsgesetzes<br />
vom 4.6.<strong>2018</strong> noch der Vorschlag einer Regelung in § 554 BGB-E enthalten war, ist dieser Vorschlag im<br />
endgültigen Referentenentwurf vom 11.7.<strong>2018</strong> nach Widerspruch des größeren Koalitionspartners wieder<br />
entfallen. Der BGH (NZM 2009, 477 = NJW 2009, 2295 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 23 m. Anm. EISENSCHMID;<br />
dazu WASSERMANN jurisPR-BGHZivilR 12/2009 Anm. 3; EUPEN GE 2009, 744; LAMMEL jurisPR-MietR 14/2009<br />
Anm. 1; LEHMANN-RICHTER MietRB 2009, 221) hatte in der Vergangenheit ein Drei-Stufen-Konzept entwickelt:<br />
1. Maßgeblich sind zunächst ausdrückliche oder konkludente Vereinbarungen der Vertragsparteien über<br />
das anzuwendende Regelwerk.<br />
2. Wenn hierzu keine Feststellungen getroffen werden können, ist eine eventuelle Ortssitte maßgeblich.<br />
3. Erst wenn auch diese nicht ermittelt werden kann, ist auch im preisfreien Wohnungsbau die Fläche<br />
nach den zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Vorschriften für den preisgebundenen<br />
Wohnungsbau zu ermitteln.<br />
Grundsätzlich kann man damit die Fläche für eine Wohnung rechtssicher ermitteln. Nur ist das u.U. kein<br />
einheitlicher Maßstab für das ganze Haus. Die Anwendung des Konzepts kann zu unterschiedlichen<br />
Berechnungsregeln für einzelne Wohnungen führen. Mal wurde der Balkon mit 50 %, mal mit 25 %<br />
angerechnet, mal wurde ein Putzabzug von 2 % gemacht und mal auch nicht.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 827
Fach 4 R, Seite 928<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
3. Heizkostenabrechnung in der Gewerberaummiete nach umbautem Raum<br />
Eine Heizkostenabrechnung nach umbautem Raum ist fehlerhaft, wenn nicht alle direkt und indirekt<br />
beheizten Räume in die Abrechnung mit eingeflossen sind (BGH MietPrax-AK § 556 BGB Nr. 129 m. Anm.<br />
EISENSCHMID). Stützt der Vermieter seine Abrechnung weiterer Heizkosten auf die insgesamt angefallenen<br />
Kosten, die er nach dem Rauminhalt der direkt oder indirekt beheizten Räume umlegt, dann muss er<br />
darlegen und ggf. beweisen, welche Räume des gesamten Objekts dafür in Ansatz zu bringen sind.<br />
Dabei verstößt es gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn das Gericht bei der Entscheidung<br />
Unterlagen/Pläne berücksichtigt, zu denen die Gegenseite zuvor nicht Stellung nehmen konnte.<br />
VIII. Gewährleistungsrechte<br />
§ 536 Abs. 1 BGB differenziert zwischen Graden von Mängeln. Es gibt solche, bei denen die Gebrauchstauglichkeit<br />
zu 100 % eingeschränkt, bei denen sich die Miete dann auch gem. § 536 Abs. 1 S. 1 BGB auf 0 €<br />
mindert, dann gibt es die Beeinträchtigungen von ca. 3–99 % und schließlich die unerheblichen Gebrauchsbeeinträchtigungen,<br />
die von den Gerichten bei Minderungen bis ca. 3–5 % angenommen werden.<br />
Nach Ansicht des BGH (NZM <strong>2018</strong>, 442 = WuM <strong>2018</strong>, 357 = MietPrax-AK § 536 BGB Nr. 56 m. Anm.<br />
EISENSCHMID) liegt bei besonders gravierenden Mängeln, wie Unbewohnbarkeit des Erdgeschosses infolge<br />
massiver Durchfeuchtung der Außenwände und großflächigen Schimmelpilzbefalls (seit Jahren stark<br />
sanierungsbedürftiger Zustand des Dachs mit der Folge von an den Wänden des Obergeschosses bei<br />
starken Niederschlägen herablaufendem und von der Decke herabtropfendem Wasser sowie großflächigem<br />
Schimmelpilzbefall auch in den oberen Räumen) eine weitgehende, wenn nicht gar vollständige<br />
Gebrauchsuntauglichkeit einer Wohnung vor. Dabei genügt der Mieter seiner Darlegungslast schon mit der<br />
Darlegung eines konkreten Sachmangels, der die Tauglichkeit der Mietsache zum vertragsgemäßen<br />
Gebrauch beeinträchtigt; das Maß der Gebrauchsbeeinträchtigung braucht er hingegen nicht vorzutragen.<br />
IX.<br />
Mieterhöhung<br />
1. Auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
Das Mieterhöhungsverfahren nach §§ 558 ff. BGB ist als Zustimmungsverfahren ausgestaltet. Erforderlich<br />
ist also eine ganz oder teilweise Zustimmung des Mieters zum Erhöhungsverlangen des Vermieters.<br />
Hierfür gelten die allgemeinen Regeln, weshalb auch eine konkludent erklärte Zustimmung möglich ist.<br />
Strittig ist immer mal wieder die Frage, ob schon eine Zahlung eine Zustimmung darstellt oder erst<br />
mehrere Zahlungen. Nach Ansicht des BGH (WuM <strong>2018</strong>, 151 = GE <strong>2018</strong>, 325 = NZM <strong>2018</strong>, 279 = ZMR <strong>2018</strong>,<br />
564 = MietPrax-AK § 558b BGB Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; BEYER jurisPR-MietR 7/<strong>2018</strong> Anm. 2;<br />
BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 8/<strong>2018</strong> Anm. 1; DERS. MietRB <strong>2018</strong>, 195) kann jedenfalls eine mehrmalige<br />
vorbehaltlose Zahlung der erhöhten Miete als schlüssig erklärte Zustimmung des Mieters zum<br />
Mieterhöhungsverlangen gewertet werden. Im konkreten Fall hatte der Mieter dreimal die erhöhte<br />
Miete gezahlt. Offen gelassen hat der Senat die Frage, ob schon in der erstmaligen Zahlung der erhöhten<br />
Miete die konkludente Zustimmung des Mieters zu der geforderten Mieterhöhung gesehen werden kann.<br />
Man fragt sich aber, falls das nicht der Fall sein sollte, was eine solche Zahlung darstellt – eine Spende an<br />
den Vermieter?<br />
Der Senat hat dann nochmals darauf hingewiesen, dass die Zustimmung des Mieters nach der<br />
ausdrücklichen Regelung des § 558b BGB nicht der Schriftform bedarf. Die Norm schreibt eine<br />
bestimmte Form der Zustimmung nicht vor. Während das Erhöhungsverlangen des Vermieters gem.<br />
§ 558a Abs. 1 BGB zumindest in Textform erfolgen und zu begründen ist, hat der Gesetzgeber hinsichtlich<br />
der Erklärung der Zustimmung ein entsprechendes Formerfordernis nicht aufgestellt. Der Mieter kann<br />
sie daher sowohl ausdrücklich als auch konkludent erteilen.<br />
Hinweis:<br />
Eine Verpflichtung, die Zustimmung schriftlich zu erklären, kann auch mietvertraglich wirksam vereinbart<br />
werden. Eine entsprechende Schriftformklausel ändert an der Wirksamkeit der konkludenten Zustimmung<br />
zur Mieterhöhung nichts. Dem Schriftformerfordernis kommt lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Ob<br />
eine konstitutive Bedeutung der Einhaltung der Schriftform überhaupt wirksam vereinbart werden kann,<br />
828 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 929<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
hat der Senat offengelassen, aber durchaus Zweifel im Hinblick auf §§ 305b, 307 BGB angedeutet. Der<br />
Vermieter hat allenfalls einen Anspruch gem. § 126 BGB auf nachträgliche Unterzeichnung eines Abänderungsvertrags,<br />
wenn die Schriftform nicht abbedungen war.<br />
2. Nach einer Modernisierungsmaßnahme<br />
§ 559 BGB ist keine anderen Mieterhöhungsmöglichkeiten, insbesondere die des § 558 BGB, ausschließende<br />
Spezialvorschrift. Deshalb hat ein Vermieter, der Modernisierungsarbeiten vornimmt, das Wahlrecht<br />
zwischen vier verschiedenen Möglichkeiten, wie er die Kosten einer Modernisierungsmaßnahme bei der<br />
Bestimmung der zukünftigen Miete berücksichtigten kann. Es darf letztendlich jedoch zu keiner doppelten<br />
Berücksichtigung der Modernisierungskosten kommen. Zusätzlich zu den beiden Möglichkeiten nach<br />
§§ 558 ff. BGB oder §§ 559 ff. BGB kann der Vermieter diese auch noch kombinieren (dazu FLEINDL NZM 20<strong>16</strong>,<br />
65, 71). So kann der Vermieter neben der Mieterhöhung im vereinfachten Umlageverfahren nach § 559 BGB<br />
vom Mieter auch noch die Zustimmung zu einer Mietanhebung auf die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
verlangen. Wählt der Vermieter diesen Weg, so wurde bisher in Rechtsprechung und Literatur einhellig<br />
vertreten, dass der modernisierte Zustand nicht doppelt, nämlich sowohl bei § 558 BGB als auch bei § 559<br />
BGB berücksichtigt werden darf. Zweifel des VIII. Senats des BGH an dieser Rechtsansicht sind jetzt auf eher<br />
ungewöhnliche Weise bekannt geworden, nämlich in einer Stellungnahme des Senats (GE <strong>2018</strong>, 819) in<br />
einem Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfG NZM <strong>2018</strong>, 440). Die 67. Zivilkammer des LG Berlin (WuM<br />
2015, 551) hatte in einem solchen Fall die Zahlungsklage nach § 559 BGB nach einer Mieterhöhung gem.<br />
§ 558 BGB abgewiesen, weil es bei fehlendem Vorbehalt einen Verzicht des Vermieters auf weitere<br />
Erhöhungen angenommen hatte (a.A. LG Berlin – 65. Zivilkammer – GE 2017, 592).<br />
Dieses Urteil der 67. Zivilkammer des LG Berlin (a.a.O.) ist vom BVerfG aufgehoben worden, weil die<br />
Kammer die Revision nicht zugelassen hat. Das BVerfG hatte in dem Verfahren u.a. eine Stellungnahme des<br />
VIII. Senats des BGH eingeholt. Dieser hat in einer bisher wohl kaum dagewesenen Deutlichkeit dargelegt,<br />
dass die 67. Zivilkammer des LG Berlin häufig von der Rechtsprechung des Senats abweicht, ohne die<br />
Revision zuzulassen. Außerdem hat er durchaus Bedenken gegen die bisherige h.M. anklingen lassen.<br />
Zumindest dann, wenn die verlangten Mieterhöhungen zusammen eine nach § 559 BGB allein mögliche<br />
Mieterhöhung nicht übersteigen, soll eine kumulative Berücksichtigung möglich sein. Allein die Tatsache,<br />
dass der Vermieter zunächst eine Mieterhöhung gem. § 558 BGB vornimmt, rechtfertige auch noch nicht<br />
die Annahme, dass der Vermieter damit zugleich einen Verzicht auf die Mieterhöhung gem. § 559 BGB<br />
erklären wollte. An die Annahmen eines Verzichts seien äußerst strenge Anforderungen zu stellen.<br />
X. Kündigung<br />
1. Ordentliche Kündigung<br />
a) Zahlungsverzugskündigung bei 1-Euro-Mietvertrag<br />
Bei einem Mietrückstand von mindestens einer Monatsmiete über einen Zeitraum von einem Monat<br />
kann ein Wohnraummietverhältnis auch ordentlich gem. § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB gekündigt werden.<br />
Jedoch obliegt auch in diesem Fall – wie in jedem Einzelfall – die Beurteilung, ob der Mieter seine<br />
vertraglichen Pflichten schuldhaft nicht nur unerheblich verletzt hat und der Vermieter zu einer<br />
ordentlichen Kündigung des Mietverhältnisses berechtigt ist, dem Tatrichter. Allgemein verbindliche<br />
Aussagen lassen sich dazu nicht treffen (BGH MietPrax-AK § 573 BGB Nr. 70 m. Anm. BÖRSTINGHAUS). Im<br />
konkreten Fall des BGH hatten die Parteien eine Monatsmiete von 1 € vereinbart. Das Berufungsgericht<br />
hatte für die Kündigungsrelevanz aber nicht auf die vereinbarte Miete von 1 €, sondern auf den<br />
objektiven Mietwert abgestellt. Die fristlose Zahlungsverzugskündigung war durch Übernahme der<br />
Mietrückstände durch das Sozialamt unwirksam geworden.<br />
b) Individualvertraglicher Kündigungsverzicht<br />
Der BGH hat eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung zu den Kündigungsausschlussvereinbarungen<br />
entwickelt. Dabei ist zunächst das wichtigste Differenzierungskriterium die Frage, ob der Ausschluss<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 829
Fach 4 R, Seite 930<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
formularvertraglich oder individualvertraglich vereinbart worden ist. Zum Teil kennt die Phantasie der<br />
Vermieter, was die Verwendung von Formularverträgen oder zumindest ihre eigene Eigenschaft als deren<br />
Verwender angeht, keine Grenzen. Der BGH (NZM <strong>2018</strong>, 556 = WuM <strong>2018</strong>, 437 = MDR <strong>2018</strong>, 855 = GE <strong>2018</strong>,<br />
820 = MietPrax-AK § 573c BGB Nr. 30 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-MietR 12/<strong>2018</strong> Anm. 2) hat hier<br />
noch einmal die Grundsätze klargestellt und zwar in einem Verfahren, in dem der Vermieter den Mieter<br />
gebeten hatte, einen Haus- & Grund-Mietvertrag zu besorgen. Auch in diesem Fall ist der Vermieter<br />
Verwender des Formulars, der die entsprechende Klausel stellt. Als wesentliches Charakteristikum<br />
Allgemeiner Geschäftsbedingungen habe der Gesetzgeber die Einseitigkeit ihrer Auferlegung sowie den<br />
Umstand angesehen, dass der andere Vertragsteil, der mit einer solchen Regelung konfrontiert wird, auf<br />
ihre Ausgestaltung gewöhnlich keinen Einfluss nehmen kann. Mit Rücksicht darauf ist das Merkmal des<br />
„Stellens“ i.S.d. § 305 Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt, wenn die Formularbestimmungen auf Initiative einer Partei in<br />
die Verhandlungen eingebracht werden und ihre Verwendung zum Vertragsschluss verlangt wird. Der<br />
Umstand, dass der Mieter das Formular mitgebracht hat, ändert nichts daran, dass das Vertragsformular<br />
auf Initiative der Vermieterseite in den Vertrag Eingang gefunden hat.<br />
Fraglich war zudem, ob hier nicht deshalb eine Individualvereinbarung vorgelegen hatte, weil dem<br />
Mieter der Kündigungsausschluss so wichtig war, dass er zusätzliche Leistungen, zu denen er nicht<br />
verpflichtet gewesen wäre, übernommen hatte. Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen dann nicht<br />
vor, wenn die Vertragsbedingungen im Einzelnen ausgehandelt wurden; selbst vorformulierte Klauseln<br />
des Verwenders können deshalb im Einzelfall Gegenstand und Ergebnis von Individualabreden sein. Das<br />
muss das LG nach Zurückverweisung noch aufklären.<br />
Der Bankrechtssenat (NJW-RR <strong>2018</strong>, 814 = MDR <strong>2018</strong>, 755) hat in diesem Zusammenhang eine auch im<br />
Mietrecht vorkommende Fallgestaltung entschieden: Wenn eine Bank dem Kunden zwei Formularverträge<br />
alternativ anbietet, wobei einmal eine Bearbeitungsgebühr erhoben wird und einmal nicht,<br />
liegt keine Individualvereinbarung vor. Für ein Aushandeln nach § 305 Abs. 1 S. 3 BGB sei es erforderlich,<br />
dass der Verwender die betreffende Klausel inhaltlich ernsthaft zur Disposition stellt und sich deutlich<br />
und ernsthaft zur gewünschten Änderung der Klausel bereit erklärt. Die Eröffnung einer Wahlmöglichkeit<br />
zwischen mehreren vorformulierten Vertragsbedingungen bedeute noch keine Individualabrede.<br />
Vielmehr müsse auch hier der Vertragspartner des Klauselverwenders Gelegenheit erhalten, alternativ<br />
eigene Textvorschläge mit der effektiven Möglichkeit ihrer Durchsetzung einzubringen. Unerheblich ist<br />
es, ob der Klauselverwender für jede der Alternativen ein gesondertes Formular benutzt, alle<br />
Alternativen in einem Formular abdruckt und den Kunden die gewünschte Klausel kennzeichnen lässt<br />
oder die Wahl zwischen mehreren vorgegebenen Alternativen durch Eintragung in dafür vorgesehene<br />
Leerräume des Formulars erfolgt.<br />
Hinweis:<br />
Im Wohnraummietrecht gibt es inzwischen ähnliche Fallgestaltungen bei Schönheitsreparaturklauseln:<br />
Auch dort werden dem Mieter alternative Formularverträge oder nur -klauseln bei unterschiedlicher Miethöhe<br />
zur Unterzeichnung vorgelegt. Diese Vorgehensweise ändert nichts daran, dass es sich um vom Vermieter<br />
gestellte Formularklauseln handelt.<br />
Zum Schluss hat der VIII. Senat in seiner Entscheidung für das weitere Verfahren noch auf folgende<br />
beiden Punkte hingewiesen:<br />
1. Ein individualvertraglicher Kündigungsausschluss kann auf Dauer vereinbart werden. Eine Grenze wird<br />
bei einem individuell vereinbarten Kündigungsausschluss nur durch § 138 BGB gesetzt, etwa bei<br />
Ausnutzung einer Zwangslage einer Partei oder beim Vorliegen sonstiger Umstände, die der Vereinbarung<br />
das Gepräge eines sittenwidrigen Rechtsgeschäfts geben. Die individuelle Vereinbarung eines<br />
dauerhaften Ausschlusses der ordentlichen Kündigung ist daher grundsätzlich möglich. In Betracht<br />
käme allenfalls, nach Ablauf von 30 Jahren in entsprechender Anwendung des § 544 BGB eine<br />
außerordentliche Kündigung mit gesetzlicher Frist anzunehmen.<br />
830 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 931<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
2. Auch bei Annahme eines formularvertraglichen Kündigungsausschlusses dürfte dem Vermieter eine<br />
ordentliche Kündigung verwehrt sein; denn die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen soll<br />
nur den Vertragspartner des Verwenders vor einer unangemessenen Benachteiligung durch missbräuchliche<br />
Inanspruchnahme einseitiger Gestaltungsmacht schützen. Will der Vertragspartner des<br />
Verwenders die unwirksamen Geschäftsbedingungen uneingeschränkt gegen sich gelten lassen,<br />
kann es dem Verwender nach Treu und Glauben verwehrt sein, sich auf die Unwirksamkeit zu berufen.<br />
Im Ergebnis anders, aber vom Ansatz gleich, hatte der Senat dies schon bei seiner Entscheidung über<br />
die Anbietpflicht vor einer Mieterhöhung bei unwirksamer Schönheitsreparaturklausel im öffentlich<br />
geförderten Wohnungsbau entschieden (BGH WuM 2017, 663 = GE 2017, 1339 = NZM 2017, 759 = MDR<br />
2017, 1293 = NJW-RR 2017, 1356 = ZMR <strong>2018</strong>, 27 = MietPrax-AK § 28 II, BV Nr. 6 m. Anm. BÖRSTINGHAUS;<br />
DERS. jurisPR-BGHZivilR 21/2017 Anm. 2; SCHACH jurisPR-MietR 23/2017 Anm. 4; KAPPUS NZM 2017, 762;<br />
BÖRSTINGHAUS MietRB 2017, 343; DRASDO NJW-Spezial 2017, 738).<br />
c) Sperrfrist für Kündigung durch Erwerber-GbR<br />
Um die Mieter vor alternativen Umwandlungsmodellen (z.B. Münchener-Modell) zu schützen, hat der<br />
Gesetzgeber ab Mai 2013 die Vorschrift des § 577a BGB durch Einfügung eines Absatzes 1a verschärft.<br />
Danach gilt die Kündigungssperrfrist nach Absatz 1 von 3–10 Jahren auch, wenn vermieteter Wohnraum<br />
nach der Überlassung an den Mieter an eine Personengesellschaft oder an mehrere Erwerber veräußert<br />
worden ist. Diese Kündigungsbeschränkung erfordert gerade nicht, dass an dem vermieteten Wohnraum<br />
Wohnungseigentum begründet worden ist oder der Erwerber zumindest die Absicht hat, eine solche<br />
Wohnungsumwandlung vorzunehmen (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 275/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 584 = WuM <strong>2018</strong>, 292 = GE<br />
<strong>2018</strong>, 579 = NZM <strong>2018</strong>, 388 = MietPrax-AK § 577a BGB Nr. 3 m. Anm. EISENSCHMID; HÄUBLEIN MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>3;<br />
BÖRSTINGHAUS jurisPR-BGHZivilR 11/<strong>2018</strong> Anm. 1; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 385). Das ergibt sich bereits aus<br />
dem Wortlaut der Vorschrift. Außerdem sprächen die historische, die systematische und die teleologische<br />
Auslegung der Norm für dies Ergebnis. Damit wird die Rechtsprechung des VIII. Senats zur Eigenbedarfskündigung<br />
einer GbR ein wenig relativiert.<br />
d) Umdeutung einer Kündigungserklärung<br />
Die Umdeutung einer fristlosen in eine ordentliche Mietvertragskündigung ist zulässig und angebracht,<br />
wenn für den Kündigungsgegner erkennbar nach dem Willen des Kündigenden das Vertragsverhältnis<br />
in jedem Falle zum nächstmöglichen Termin beendet werden soll (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 306/<strong>2018</strong> = DWW<br />
<strong>2018</strong>, 176 = GE <strong>2018</strong>, 704 = NZM <strong>2018</strong>, 515 = MietPrax-AK § 550 BGB Nr. 46 m. Anm. EISENSCHMID; METTLER<br />
MietRB <strong>2018</strong>, 199; EISENSCHMID jurisPR-MietR 14/<strong>2018</strong> Anm. 3).<br />
2. Außerordentliche Kündigung<br />
Die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund nach Tod des Mieters in § 563 Abs. 4 BGB fristet<br />
eher ein Mauerblümchen-Dasein. Kürzlich musste sich der BGH (WuM <strong>2018</strong>, 153 = GE <strong>2018</strong>, 385 = MDR <strong>2018</strong>,<br />
397 = DWW <strong>2018</strong>, 99 = NZM <strong>2018</strong>, 325 = ZMR <strong>2018</strong>, 405 = MietPrax-AK § 563 BGB Nr. 2 m. Anm. EISENSCHMID;<br />
HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, 97; BEYER jurisPR-MietR 8/<strong>2018</strong> Anm. 3; KAPPUS NZM <strong>2018</strong>, 331) damit aber einmal<br />
befassen. Nach seiner Entscheidung kann grundsätzlich eine objektiv feststehende finanzielle Leistungsunfähigkeit<br />
eines nach dem Tod des Mieters in das Mietverhältnis Eintretenden einen solchen wichtigen<br />
Grund zur Kündigung des Mietverhältnisses darstellen. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass dem<br />
Vermieter ein Zuwarten, bis die Voraussetzungen einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs nach § 543<br />
Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB erfüllt sind, nicht zuzumuten ist. Erforderlich ist aber, dass die finanzielle Leistungsunfähigkeit<br />
auf konkreten Anhaltspunkten und objektiven Umständen beruht, die nicht bloß die<br />
Erwartung rechtfertigen, sondern vielmehr den zuverlässigen Schluss zulassen, dass fällige Mietzahlungen<br />
alsbald ausbleiben werden. Solche Anhaltspunkte fehlen dann, wenn Geldquellen vorhanden sind, die die<br />
Erbringung der Mietzahlungen sicherstellen, wie dies etwa bei staatlichen Hilfen, sonstigen Einkünften oder<br />
vorhandenem Vermögen der Fall ist.<br />
Darüber hinaus musste der Senat sich mit der Frage beschäftigen, ob der Wunsch, nach dem Tod eines bisherigen<br />
Wohngenossen nicht allein zu leben, ein nach Abschluss des Mietvertrags entstandenes berechtigtes<br />
Interesse an der Überlassung eines Teils des Wohnraums an einer Untervermietung begründen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 831
Fach 4 R, Seite 932<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
kann. Diesen Wunsch hat der Senat für die Berechtigung, eine Untermieterlaubnis zu erhalten, ebenso<br />
bejaht, wie die Absicht, Mietaufwendungen teilweise durch eine Untervermietung zu decken. Dabei kommt<br />
es für die Beurteilung der Frage, ob das berechtigte Interesse nach Abschluss des Mietvertrags entstanden<br />
ist, auch bei einem nach § 563 Abs. 1, 2 BGB erfolgten Eintritt eines Mieters auf den Zeitpunkt des<br />
Abschlusses des ursprünglichen Mietvertrags an.<br />
3. Widerspruch gegen Mietvertragsfortsetzung<br />
Der die stillschweigende Verlängerung eines Mietverhältnisses nach Ablauf der Mietzeit hindernde<br />
Widerspruch kann nicht nur in der Kündigung oder bereits im Mietvertrag erfolgen, möglich ist auch, diesen<br />
konkludent vor Beendigung des Mietverhältnisses zu erklären. Eine solche konkludente Widerspruchserklärung<br />
muss den Willen, die Fortsetzung des Vertrags abzulehnen, eindeutig zum Ausdruck bringen. In<br />
einem Räumungsverlangen kann eine solche konkludente Widerspruchserklärung liegen (BGH GE <strong>2018</strong>,<br />
450 = MDR <strong>2018</strong>, 5<strong>16</strong> = NZM <strong>2018</strong>, 333 = MietPrax-AK § 545 BGB Nr. 3 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-<br />
BGHZivilR 5/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; MONSCHAU MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>6/<strong>16</strong>7).<br />
XI.<br />
Schadensersatzansprüche<br />
1. Kündigungsfolgeschaden<br />
Nach einer außerordentlichen Vermieterkündigung eines befristeten Mietverhältnisses kann der<br />
Vermieter vom Mieter den Mietausfallschaden auch dann verlangen, wenn es gem. § 545 BGB zu<br />
einer stillschweigenden unbefristeten Vertragsverlängerung kommt und der Mieter in der Folge<br />
seinerseits ordentlich kündigt. Dabei muss der Vermieter insbesondere bei einem noch längere Zeit<br />
laufenden Mietvertrag schon versuchen, die Mietsache anderweitig zu vermieten, um den Schaden<br />
gering zu halten (BGH GE <strong>2018</strong>, 450 = MDR <strong>2018</strong>, 5<strong>16</strong> = NZM <strong>2018</strong>, 333 = MietPrax-AK § 545 BGB Nr. 3 m.<br />
Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR 5/<strong>2018</strong> Anm. 2; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; MONSCHAU<br />
MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>6/<strong>16</strong>7). Der Mieter schuldet diesen Schadensersatzanspruch ohne Mehrwertsteuer.<br />
2. Schadensersatz ohne Fristsetzungserfordernis<br />
Seit der Schuldrechtsreform unterscheidet der allgemeine Teil des Schuldrechts zwischen Schadensersatzansprüchen<br />
„neben der Leistung“ und solchen „statt der Leistung“. Für die Praxis bedeutsam ist die<br />
Unterscheidung vor allem wegen des Fristsetzungserfordernisses. Während Schadensersatz neben der<br />
Leistung gem. § 280 BGB keine Fristsetzung voraussetzt, muss der Gläubiger, wenn er Schadensersatz<br />
statt der Leistung verlangt, dem Schuldner zunächst eine Frist zur Leistungserfüllung setzen. Im Mietrecht<br />
stellt sich die Frage der dogmatischen Einordnung vor allem bei den diversen Ansprüchen des<br />
Vermieters nach Rückgabe der Mietsache in nicht vertragsgemäßem Zustand. Die Abgrenzung war in<br />
der Instanzrechtsprechung etwas unterschiedlich. Nunmehr haben zunächst der VIII. Senat für Wohnraummiete<br />
(BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 247/<strong>2018</strong> = NJW <strong>2018</strong>, 1746 = WuM <strong>2018</strong>, 196 = NZM <strong>2018</strong>, 320 = MDR <strong>2018</strong>,<br />
658 = GE <strong>2018</strong>, 633 = ZMR <strong>2018</strong>, 492 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 6 m. Anm. EISENSCHMID; BÖRSTINGHAUS<br />
jurisPR-BGHZivilR 7/<strong>2018</strong> Anm. 1; FERVERS NZM <strong>2018</strong>, 324; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 321; BEUERMANN GE <strong>2018</strong>,<br />
6<strong>16</strong>) und dann der XII. Senat für die Gewerberaummiete (BGH Urt. v. 27.6.<strong>2018</strong> – XII ZR 79/17, MietPrax-AK<br />
§ 280 BGB Nr. 8 m. Anm. EISENSCHMID) hier für etwas Klarheit gesorgt:<br />
Schäden an der Sachsubstanz der Mietsache, die durch eine Verletzung von Obhutspflichten des<br />
Mieters entstanden sind, hat dieser nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB als Schadensersatz neben der<br />
Leistung nach Wahl des Vermieters durch Wiederherstellung (§ 249 Abs. 1 BGB) oder durch Geldzahlung<br />
(§ 249 Abs. 2 BGB) zu ersetzen. Einer vorherigen Fristsetzung des Vermieters bedarf es dazu nicht. Das<br />
gilt unabhängig von der Frage, ob es um einen Schadensausgleich während eines laufenden<br />
Mietverhältnisses oder nach dessen Beendigung geht.<br />
Hinweis:<br />
Immer wenn der Anspruch auf eine Veränderung des Zustands gerichtet ist, handelt es sich aber um einen<br />
Anspruch statt der Leistung, für den eine vorherige Fristsetzung erforderlich ist (s. ausführlich FERVERS<br />
WuM 2017, 429).<br />
832 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Miete/Nutzungen Fach 4 R, Seite 933<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
3. Schadensersatz wegen Schneeglätte auf Gehweg<br />
Ein Vermieter und Grundstückseigentümer, dem die Gemeinde nicht als Anlieger die allgemeine Räumund<br />
Streupflicht übertragen hat, ist regelmäßig nicht aus dem Mietvertrag gem. § 535 Abs. 1 BGB<br />
verpflichtet, auch über die Grundstücksgrenze hinaus Teile des öffentlichen Gehwegs zu räumen und<br />
zu streuen. Entsprechendes gilt für die allgemeine (deliktische) Verkehrssicherungspflicht des Grundstückseigentümers<br />
aus § 823 Abs. 1 BGB (BGH <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 334/<strong>2018</strong> = MDR <strong>2018</strong>, 669 = GE <strong>2018</strong>, 757 =<br />
NZM <strong>2018</strong>, 509 = MietPrax-AK § 280 BGB Nr. 7 m. Anm. EISENSCHMID; ABRAMENKO MietRB <strong>2018</strong>, 209).<br />
XII. Prozessrecht<br />
1. Zulässigkeit einer Saldoklage<br />
Die Miete für jeden Monat stellt eine selbstständige Forderung und keine Kontokorrentforderung dar.<br />
Bei den einzelnen Zahlungen des Mieters stellt sich deshalb die Frage, wie diese Zahlungen jeweils auf<br />
die verschiedenen Forderungen zu verrechnen sind. Neben der Unterscheidung in Mietforderungen für<br />
die jeweiligen Monate muss bei jeder einzelnen Mietforderung noch unterschieden werden zwischen<br />
dem Anspruch auf Zahlung der Grundmiete und dem auf Zahlung der Betriebskostenvorauszahlungen.<br />
Außerdem kann der Mieter auch noch Einmalzahlungen schulden, wie Betriebskostennachzahlungen,<br />
Schadensersatz und Prozesskosten. Bei der Betrachtung des Problems muss zwischen zwei Fragen<br />
unterschieden werden: Die Klage ist nur zulässig, wenn sich aus der Klage ergibt, welcher Anspruch<br />
denn nun rechtshängig geworden ist.<br />
Hinweis:<br />
Das festzustellen fällt in der Praxis häufig schwer, weil im Massengeschäft der Großvermieter mit Mieterkontoblättern<br />
gearbeitet wird, mit denen die Vermieter und ihre anwaltlichen Vertreter Gesamtrückstände<br />
geltend machen, ohne groß auf die juristischen Unterscheidungen zu achten.<br />
Bei der Begründetheit der Klage ist dann zu überprüfen, ob unter Berücksichtigung der Zahlungen<br />
dieser durch Auslegung ermittelte Streitgegenstand ggf. durch Erfüllung untergegangen ist.<br />
Der BGH hat in zwei Urteilen (NZM <strong>2018</strong>, 444 = WuM <strong>2018</strong>, 373 = MDR <strong>2018</strong>, 785 = MietPrax-AK § 253<br />
ZPO Nr. 4 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. LMK <strong>2018</strong>, 405944; HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, <strong>16</strong>1; SELK NZM <strong>2018</strong>, 453;<br />
BACHER MDR <strong>2018</strong>, 779 und BGH WuM <strong>2018</strong>, 278 = NZM <strong>2018</strong>, 454 = MietPrax-AK § 253 ZPO Nr. 3 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS; HARSCH MietRB <strong>2018</strong>, 129; BÖRSTINGHAUS BGHZivilR 10/<strong>2018</strong> Anm. 2) zu dieser Problematik<br />
außergewöhnlich ausführlich Stellung genommen: Macht ein Vermieter Mietrückstände (und ggf.<br />
sonstige aus dem Mietverhältnis resultierende Forderungen) geltend und bezieht er sich dabei auf den<br />
Inhalt eines Mietkontos, in das Bruttomieten und damit auch Ansprüche auf Nebenkostenvorauszahlungen<br />
eingestellt sind, bringt er beim Fehlen weiterer Erklärungen zum Ausdruck, dass er diese<br />
Ansprüche und nicht Nachforderungen aus erteilten Nebenkostenabrechnungen zum Gegenstand<br />
seiner Klage macht. Berücksichtigt der Vermieter in dem der Klage zugrunde gelegten Mietkonto<br />
zugunsten des Mieters Zahlungen und Gutschriften, ohne diese konkret einer bestimmten Forderung<br />
oder einem bestimmten Forderungsteil zuzuordnen, stellt dies die Bestimmtheit des Klageantrags<br />
nicht ohne Weiteres in Frage. Vielmehr kommt hier im Rahmen der gebotenen Auslegung des Klagebegehrens<br />
auch ohne ausdrückliche Verrechnungs- oder Aufrechnungserklärung ein Rückgriff auf die<br />
gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366 Abs. 2 BGB in Betracht. Handelt es sich nicht um Zahlungen<br />
des Mieters, sondern um Gutschriften des Vermieters, kommt eine entsprechende Anwendung<br />
von § 366 Abs. 2 BGB in Betracht. Sind in das dem Klagebegehren zugrunde liegende Mietkonto<br />
Bruttomieten aus mehreren Zeiträumen eingestellt, sind die Verrechnungsgrundsätze wie folgt<br />
anzuwenden und zu kombinieren:<br />
1. Für die Tilgung der jeweiligen Bruttomiete unzureichende Zahlungen/Gutschriften sind zunächst auf<br />
die darin enthaltene Forderung auf Erbringung von Nebenkostenvorauszahlungen anzurechnen.<br />
2. Werden Bruttomietrückstände aus mehreren Jahren oder mehreren Monaten geltend gemacht, ist<br />
stets eine Anrechnung auf die ältesten Rückstände vorzunehmen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 833
Fach 4 R, Seite 934<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
2. Beschleunigungsgebot für Räumungsverfahren<br />
Durch das Mietrechtsänderungsgesetz ist in § 272 Abs. 4 ZPO ein Beschleunigungsgebot für<br />
Räumungsverfahren ins Gesetz eingeführt worden. Danach sind alle Räumungssachen im Geschäftsgang<br />
der Gerichte vorrangig und beschleunigt zu bearbeiten. Die Vorschrift beruht auf der<br />
Überlegung, dass Mietrückstände während eines Räumungsverfahrens üblicherweise größer werden.<br />
Das soll so weit wie möglich vermieden werden. Die Neuregelung gilt aber auch für Räumungsverfahren<br />
aufgrund von Kündigungen, die nicht auf Zahlungsrückstand beruhen. § 272 Abs. 4 ZPO<br />
bezweckt den Schutz des Vermieters. Das Beschleunigungsgebot richtet sich an das Gericht (BGH <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 286/<strong>2018</strong> = WuM <strong>2018</strong>, 222 = NZM <strong>2018</strong>, 287 = NJW <strong>2018</strong>, 1400 = MietPrax-AK § 272 ZPO Nr. 1<br />
m. Anm. BÖRSTINGHAUS; DERS. jurisPR-BGHZivilR 8/<strong>2018</strong> Anm. 4; DRASDO NJW-Spezial <strong>2018</strong>, 290; JAHREIS<br />
jurisPR-MietR 11/<strong>2018</strong> Anm 4; BIEBER GE <strong>2018</strong>, 6). Die Prozessparteien und ihre Bevollmächtigten sind<br />
keine unmittelbaren Normadressaten. Sie werden jedoch von dem Vorrangs- und Beschleunigungsgebot<br />
mittelbar betroffen, da die Gerichte auf eine Beschleunigung hinwirken müssen. Räumungsprozesse<br />
sind nach dem Willen des Gesetzgebers schneller als andere Zivilprozesse durchzuführen. Sie<br />
sind vorrangig zu terminieren, und die Fristen zur Stellungnahme für die Parteien sind auf das<br />
unbedingt notwendige Maß zu reduzieren.<br />
Hinweis:<br />
Soweit teilweise vertreten wurde, dass in Räumungssachen insbesondere bei Anträgen auf Fristverlängerung<br />
ein besonders strenger Maßstab an die Erheblichkeit der Verlängerungsgründe i.S.d. §§ 224<br />
Abs. 2, 520 Abs. 2 S. 3 ZPO anzulegen sei, folgt der Senat dieser Auffassung ausdrücklich nicht. Eine<br />
„Überbeschleunigung“ werde vom Gericht nicht verlangt.<br />
3. Beschwer bei Räumungsklage<br />
Wenn die Parteien um das Bestehen eines Mietverhältnisses streiten, beträgt die Beschwer die<br />
dreieinhalbfache Jahresmiete (BGH WuM <strong>2018</strong>, 221 = MietPrax-AK § 26 Nr. 8 EGZPO Nr. 30 m. Anm.<br />
BÖRSTINGHAUS).<br />
4. Einstellung der Zwangsvollstreckung<br />
Voraussetzung für die Einstellung der Zwangsvollstreckung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren<br />
sind unersetzliche Nachteile für den Schuldner. Hierzu zählen solche Nachteile nicht, die der<br />
Schuldner selbst vermeiden kann. Deshalb muss der Schuldner im Berufungsverfahren einen<br />
Vollstreckungsschutzantrag gestellt haben. Daran ändert sich auch nichts, wenn das Berufungsgericht<br />
es rechtsfehlerhaft unterlassen hat, eine Abwendungsbefugnis gem. § 711 ZPO anzuordnen<br />
(BGH WuM <strong>2018</strong>, 221 = MietPrax-AK § 719 ZPO Nr. 36 m. Anm. BÖRSTINGHAUS; THEESFELD jurisPR-MietR<br />
10/<strong>2018</strong> Anm. 2).<br />
5. Mieterinsolvenz<br />
Eine Wohnungsgenossenschaft kann sich gegenüber dem Insolvenzverwalter, der die Mitgliedschaft des<br />
Schuldners in der Wohnungsgenossenschaft wirksam gekündigt hat, nicht auf eine Satzungsbestimmung<br />
berufen, nach der der Anspruch auf Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens<br />
erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung des Nutzungsverhältnisses oder der Rückgabe des Nutzungsobjektes<br />
besteht, wenn dadurch eine Auszahlung des Auseinandersetzungsguthabens tatsächlich<br />
ausgeschlossen wird, ohne dass dies durch schützenswerte Interessen der Genossenschaft oder des<br />
Schuldners gerechtfertigt ist. In diesen Fällen scheidet bei einer vor Inkrafttreten des § 67c GenG<br />
ausgesprochenen Kündigung eine geltungserhaltende Reduktion der Satzungsbestimmung auf einen<br />
noch zulässigen Umfang regelmäßig aus (BGH WuM <strong>2018</strong>, 439 = WM <strong>2018</strong>, 1140 = ZIP <strong>2018</strong>, 1256 =<br />
MietPrax-AK § 109 InsO Nr. 9 m. Anm. BÖRSTINGHAUS).<br />
834 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1029<br />
Fahrverbot<br />
Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />
Fahrverbot bei Verkehrsordnungswidrigkeiten<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Allgemeines<br />
II. Systematische Grundlage<br />
1. Allgemeine Grundlagen<br />
2. Rechtsgrundlage für die Anordnung<br />
(§ 25 Abs. 1 StVG)<br />
III. Absehen von Fahrverbot/Ausnahme im<br />
Einzelfall<br />
1. Prüfungsmaßstab für die Absehensentscheidung<br />
2. Erforderlichkeit des Fahrverbots<br />
3. Angemessenheit des Fahrverbots<br />
4. Fahrverbotsentscheidung bei Verurteilung<br />
nach § 24a StVG<br />
5. Anforderungen an die Urteilsgründe<br />
IV. Verfahrensfragen<br />
1. Dauer des Fahrverbots<br />
2. Mehrere Fahrverbote<br />
3. Anwendung des § 25 Abs. 2a StVG<br />
4. Vollstreckung des Fahrverbots<br />
5. Fahrverbot in der Hauptverhandlung<br />
6. Beschränkung des Einspruchs gegen<br />
den Bußgeldbescheid<br />
I. Allgemeines<br />
Die Bußgeldkatalog-Verordnung (BKatV) sieht als Rechtfolgen bei verschiedenen (schwerwiegenderen)<br />
Verkehrsordnungsordnungswidrigkeiten neben der (Regel-)Geldbuße als Rechtsfolge die Verhängung<br />
eines Fahrverbots vor. Diese Rechtsfolge trifft den Mandanten meist schwerer als die Geldbuße, da er auf<br />
seine Fahrerlaubnis häufig sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich angewiesen ist. Deshalb<br />
richtet sich für den Mandanten das Verteidigungsziel in diesen Fällen i.d.R. darauf, die Verhängung eines<br />
Fahrverbots abzuwenden. Die mit dem Fahrverbot zusammenhängenden Fragen sind daher für den<br />
Verteidiger von erheblicher praktischer Relevanz, die in nachfolgendem Überblick dargestellt werden.<br />
Hinweis:<br />
Die Ausführungen gelten für alle Fälle, in denen nach der BKatV die Verhängung eines Fahrverbots in Betracht<br />
kommt, also nicht etwa nur für Geschwindigkeitsüberschreitungen, sondern z.B. auch für die Fälle der Trunkenheitsfahrt<br />
nach § 24a StVG (wobei aber bestimmte Besonderheiten zu beachten sind, vgl. unten III. 4.), für<br />
die Fälle der erheblichen Abstandsunterschreitung, für falsches Überholen mit Gefährdung oder Sachbeschädigung<br />
oder auch für Fehler beim Überqueren des Bahnübergangs (§ 19 StVO) oder für die Benutzung<br />
eines technischen Geräts, z.B. ein Mobiltelefon (§ 23 Abs. 1a StVO), mit Gefährdung oder Sachbeschädigung<br />
(Nr. 246.3 BKatV). Sie gelten grundsätzlich auch für die Verhängung eines Fahrverbots nach einem Rotlichtverstoß<br />
(Nr. 132.3 ff. BKatV). Nicht dargestellt werden hier aber die mit dem sog. qualifizierten Rotlichtverstoß<br />
zusammenhängenden Fahrverbotsfragen (vgl. dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 919, 928 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 835
Fach 9, Seite 1030<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Der Verteidiger muss die mit einem drohenden Fahrverbot zusammenhängenden Fragen nicht erst in der<br />
Rechtsbeschwerdeinstanz prüfen. Denn in der Praxis sind die Erfolgsaussichten einer Rechtsbeschwerde<br />
gegen ein Fahrverbot inzwischen aufgrund der doch recht strengen Rechtsprechung der OLG verhältnismäßig<br />
gering. Eine Prüfung ist dann meist zu spät, da das OLG an die tatsächlichen Feststellungen des<br />
Tatrichters gebunden ist und es nützt nichts mehr, wenn nun z.B. noch Bescheinigungen über den<br />
drohenden Arbeitsplatzverlust vorgelegt werden. Diese müssen schon in der tatrichterlichen Hauptverhandlung<br />
beim AG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden.<br />
Hinweis:<br />
Die Verteidigung gegen ein Fahrverbot sollte daher spätestens beim AG beginnen. Noch besser ist es, es<br />
erst gar nicht zur Festsetzung eines Fahrverbots im Bußgeldbescheid kommen zu lassen. Deshalb empfiehlt<br />
es sich, das Gespräch mit der Bußgeldbehörde zu suchen und ggf. schon dort zu erreichen, dass<br />
gegen eine Erhöhung der Geldbuße von einem an sich verwirkten Fahrverbot abgesehen wird (zur Verteidigungsstrategie<br />
s. auch BURHOFF VA 2007, 224).<br />
II.<br />
Systematische Grundlage<br />
1. Allgemeine Grundlagen<br />
Nach § 25 Abs. 1 StVG kann gegen den Betroffenen bei Begehung einer Ordnungswidrigkeit nach § 24 bzw.<br />
nach § 24a StVG neben einer Geldbuße ein Fahrverbot angeordnet werden. Dabei kommt die Verhängung<br />
des Fahrverbots nach § 25 StVG dann in Betracht, wenn es sich um eine „grobe“ oder „beharrliche“<br />
Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers handelt. Diese Regelung wird ergänzt durch die BKatV<br />
vom 14.3.2013 (BGBl I, S. 498), die zuletzt durch Art. 3 der VO vom 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549) geändert<br />
worden ist (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung zuletzt BVerfG NJW 1996, 1809 = NZV 1996, 284 =<br />
DAR 1996, 196; BGHSt 38, 125, 135 ff. = NZV 1992, 117, 119 f.), deren Kernstück der Bußgeldkatalog ist.<br />
Hinweis:<br />
Derzeit wird diskutiert, ob die durch die 53. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften<br />
vom 6.10.2017 (BGBl I, S. 3549, in Kraft seit 19.10.2017) geschaffenen neuen Fahrverbote wirksam<br />
sind. Dabei geht es u.a. um die Nr. 246.2 und 246.3 BKat, die ein einmonatiges Fahrverbot bei rechtswidriger<br />
Nutzung eines elektronischen Geräts beim Führen eines Kfz mit Gefährdung oder Sachbeschädigung normieren.<br />
Die Zweifel an der Wirksamkeit ergeben sich aus der Frage, ob die Fahrverbote wegen einer ins Leere<br />
laufenden Bezugnahme auf die zu ändernde Norm des § 4 Abs. 1 S. 1 BKatV überhaupt wirksam verkündet und<br />
in Kraft getreten sind. Am 3.1.<strong>2018</strong> ist inzwischen zwar eine „Berichtigung der Dreiundfünfzigsten Verordnung<br />
zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften“ vom 22.12.2017 verkündet worden (BGBl I, S. 53). Fraglich<br />
ist jedoch, ob dieser Weg der schlichten Berichtigung zulässig ist (abl. DEUTSCHER VRR 1/<strong>2018</strong>, 4, 6). Es bleibt<br />
abzuwarten, wie die OLG dies in den Fällen der Nr. 246.2 und 246.3 BKat beurteilen werden.<br />
Nach § 4 Abs. 1 BKatV kommt die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten<br />
eines Kraftfahrzeugführers i.d.R. dann in Betracht, wenn es sich um einen der dort unter den Nr. 1 bis 4<br />
genannten Fälle handelt. Das Regelfahrverbot im Fall des § 24a StVG – 0,5-Promille-Grenze bzw. mehr<br />
als 0,25 mg/l Alkohol in der Atemluft – folgt aus § 4 Abs. 3 BKatV in Zusammenhang mit den dort<br />
genannten Nummern des Bußgeldkatalogs.<br />
Für diese Fälle sieht der Bußgeldkatalog neben der Verhängung der Regelgeldbuße als mögliche<br />
Rechtsfolge die Anordnung eines Regelfahrverbots von einem Monat vor. Wird ausnahmsweise von<br />
einem solchen Fahrverbot abgesehen, soll nach § 4 Abs. 4 BKatV der für den jeweiligen Verstoß<br />
vorgesehene Regelsatz für die Geldbuße angemessen erhöht werden (vgl. dazu III.).<br />
Auf dieser Grundlage bewegt sich die Rechtsprechung der OLG zur BKatV, die wie folgt zusammenzufassen<br />
ist: § 4 BKatV ist keine unverbindliche Richtlinie, sondern eine auch die Gerichte bindende<br />
Rechtsnorm. Die Vorschrift ist als solche verbindlich, allerdings weder zwingend noch in ihrem Bereich<br />
836 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1031<br />
Fahrverbot<br />
ausschließlich. Das in der Vorschrift genannte Regelfahrverbot befreit die Verwaltungsbehörde und das<br />
Gericht auch nicht von einer Einzelfallprüfung, schränkt aber – und das ist für die gerichtliche Alltagspraxis<br />
von besonderer Bedeutung – die Anforderungen an den gerichtlichen Begründungsaufwand im Urteil<br />
ein. Die Erfüllung einer der Tatbestände des § 4 BKatV indiziert nämlich das Vorliegen einer „groben“ oder<br />
„beharrlichen“ Pflichtverletzung i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG und damit zugleich die Erforderlichkeit und<br />
Angemessenheit der Anordnung eines Fahrverbots (vgl. zu allem BGHSt 38, 125 [s.o.]; DEUTSCHER, in:<br />
Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. <strong>2018</strong>, Rn <strong>16</strong>27 ff., <strong>16</strong>44 ff. [im<br />
Folgenden kurz: BURHOFF/BEARBEITER, OWi]). Nach der Rechtsprechung der OLG bleibt daneben für die<br />
Annahme einer Ausnahme im Einzelfall genügend Raum. Liegen hierfür aber keine Anhaltspunkte vor,<br />
muss die Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vom Amtsrichter nicht mehr gesondert<br />
begründet werden. Das gilt grundsätzlich auch für die Frage, ob die beabsichtigte Einwirkung auf den<br />
Täter nicht auch mit einer erhöhten Geldbuße erreicht werden kann. Der Tatrichter muss sich aber der<br />
Möglichkeit, von der Verhängung eines Fahrverbots bei gleichzeitiger Erhöhung der Geldbuße absehen zu<br />
können, bewusst sein und dies, was häufig übersehen wird, in den Gründen seinen Urteils auch zu<br />
erkennen geben (BGHSt 38, 125 [s.o.]; st. Rspr. aller Obergerichte, s. wegen weiterer Nachw. BURHOFF/<br />
DEUTSCHER, OWi, Rn 1420, 1430 ff.).<br />
2. Rechtsgrundlage für die Anordnung (§ 25 Abs. 1 StVG)<br />
a) Grobe Pflichtwidrigkeit<br />
aa) Regel-Ausnahme-Verhältnis<br />
Nach allgemeiner Ansicht ist auch im Bereich des § 4 BKatV – also z.B. bei Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
oder Rotlichtverstoß – alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots §25<br />
Abs. 1 S. 1 StVG geblieben (vgl. aus der Rspr. nur BGHSt 38, 125 [s.o.]; 43, 241 = NJW 1997, 3252 = NZV 1997,<br />
525; OLG Dresden DAR 2001, 318; OLG Rostock zfs 2004, 480; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>127 ff., <strong>16</strong>29<br />
ff.). § 4 Abs. 1 BKatV stellt lediglich für die dort ausdrücklich genannten besonders schwerwiegenden<br />
Verkehrsverstöße eine Konkretisierung der eigentlichen Androhungsnorm des § 25 StVG dar. Daraus<br />
folgt, dass das Vorliegen einer der Fälle des § 4 BKatV nicht bereits als solches für die Anordnung des<br />
Fahrverbots genügt oder dies gar zwingend macht. Zusätzlich müssen vielmehr auch die Merkmale des<br />
§ 25 Abs. 1 StVG – also in objektiver und subjektiver Hinsicht eine grobe Pflichtwidrigkeit – erfüllt sein.<br />
Um eine grobe Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG handelt es sich, wenn eine Verhaltensweise<br />
vorliegt, die objektiv von besonderem Gewicht ist, da sie immer wieder die Ursache schwerer Unfälle<br />
darstellt, und subjektiv auf besonders grobem Leichtsinn, grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht,<br />
also eine besondere Verantwortungslosigkeit darstellt und besonders verwerflich ist. § 4 BKatV schafft nun<br />
bereits auf der Tatbestandsseite des § 25 StVG für die dort genannten Katalogfälle ein Regel-Ausnahme-<br />
Verhältnis. Bei diesen Katalogfällen handelt es sich um gesetzlich vertypte Vermutungen für grob<br />
pflichtwidrige Verkehrsverstöße, die grobe Pflichtwidrigkeit wird durch sie indiziert (BURHOFF/DEUTSCHER,<br />
OWi, Rn <strong>16</strong>35 ff.). Da aber nach der Rechtsprechung der OLG § 25 Abs. 1 S. 1 StVG die alleinige<br />
Rechtsgrundlage für die Anordnung des Fahrverbots geblieben ist, handelt es sich um eine widerlegliche<br />
Vermutung. Das bedeutet, dass trotz Vorliegens einer Katalogtat die besonderen Umstände des Einzelfalls<br />
die Vermutungs- und Indizwirkung für eine grobe Pflichtwidrigkeit entkräften können. Auch bei Begehung<br />
einer Katalogtat sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Fahrverbot also nicht erfüllt, wenn ausnahmsweise<br />
der Täter nicht besonders verantwortungslos gehandelt hat oder er nicht den erforderlichen<br />
Grad der Gefahr geschaffen hat. Allerdings wird z.B. nicht von einem Fahrverbot abgesehen bei nur<br />
geringfügiger Überschreitung des Gefahrengrenzwerts bei § 24a StVG (OLG Bamberg VRR 2013, 115; OLG<br />
Hamm VRR 2009, 430; m.w.N. bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi,Rn1297).<br />
bb) Subjektive Vorwerfbarkeit/Augenblicksversagen<br />
(1) Allgemeines<br />
An dieser Stelle hat die Rechtsprechung des BGH zum „Augenblicksversagen“ im Beschluss von 11.9.1997<br />
(BGHSt 43, 241 [s.o.]) Bedeutung für die anwaltliche Tätigkeit: Der BGH hat in der Entscheidung bei<br />
einer Geschwindigkeitsüberschreitung – die Rechtsprechung ist auch auf den Rotlichtverstoß<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 837
Fach 9, Seite 1032<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
ausgedehnt worden (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 96, 64 = NZV 1999, 176) – die Anordnung eines<br />
Fahrverbots dann abgelehnt, wenn das die Geschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen infolge<br />
leichter Fahrlässigkeit, d.h. infolge eines sog. Augenblicksversagens, übersehen wurde (BGH a.a.O., zu<br />
allem auch BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1441 ff.; BURHOFF VA 2001, <strong>16</strong>9; KRUMM VRR 2005, 126; FROMM VRR<br />
2010, 410). Es fehle dann an dem subjektiven Element der groben Pflichtwidrigkeit.<br />
Hinweis:<br />
Folge dieser Rechtsprechung ist, dass dann, wenn ein Augenblicksversagen zu bejahen ist und ein Fahrverbot<br />
nicht verhängt wird, nicht die Geldbuße – wegen des Absehens vom Fahrverbot – erhöht werden<br />
darf (OLG Bamberg StraFo 20<strong>16</strong>, 1<strong>16</strong> = VRR 4/20<strong>16</strong>, 13; OLG Hamm NZV 1998, 334 = DAR 1998, 323; OLG<br />
Naumburg zfs 20<strong>16</strong>, 594; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1444;), denn es handelt sich nicht um einen „typischen“<br />
Fall des Absehens vom Fahrverbot. Vielmehr darf das Fahrverbot, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen<br />
schon aus anderen Gründen nicht vorliegen, überhaupt nicht verhängt werden. Damit liegt die<br />
Grundvoraussetzung für ein Absehen vom Fahrverbot und damit für eine Erhöhung der Geldbuße nicht vor.<br />
Allerdings macht der BGH (BGHSt 43, 241 [s.o.]) von seinen Vorgaben zwei Einschränkungen:<br />
1. Die Bußgeldstellen und die Gerichte dürfen von dem Grundsatz ausgehen, dass Vorschriftszeichen<br />
von Verkehrsteilnehmern i.d.R. wahrgenommen werden. Die Folgen eines möglichen Übersehens<br />
müssten deshalb nur dann geprüft werden, wenn sich dafür Anhaltspunkte ergeben oder der<br />
Betroffene dies im Verfahren einwendet. Auch, wenn die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />
nur durch ein einmalig und einseitig aufgestelltes Vorschriftszeichen erfolgt, soll nichts<br />
anderes gelten (vgl. OLG Celle VRS 131, 319; a.A. OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.2.2017 – (1) 53 Ss-OWi<br />
56/17 (34/17), es sei denn, es treten weitere besondere Umstände hinzu (OLG Celle a.a.O.).<br />
2. Der BGH geht davon aus, dass selbst dann, wenn ein Übersehen des Verkehrszeichens nicht zu<br />
widerlegen ist, eine grobe Pflichtwidrigkeit auch in subjektiver Hinsicht nicht ausgeschlossen ist,<br />
wenn das Übersehen des Verkehrszeichens selbst auf grober Nachlässigkeit beruht (s. auch OLG<br />
Karlsruhe NZV 2004, 211; OLG Stuttgart DAR 2010, 402). Das nimmt der BGH (a.a.O.) z.B. an, wenn<br />
das Verkehrszeichen auf der Strecke vor der Messstelle mehrfach wiederholt wurde oder der<br />
Messstelle ein sog. Geschwindigkeitstrichter vorausging. Dasselbe gelte, wenn sich die Möglichkeit<br />
einer Geschwindigkeitsbeschränkung durch die äußere Situation, wie etwa in einem Baustellenbereich<br />
oder durch die Art der Bebauung oder die Ortslage, jedermann aufdränge (BGH a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Zu beiden Punkten ist der Verteidiger gefordert, denn:<br />
• Er muss im Gespräch mit dem Mandanten die mit dem „Übersehen“ des (geschwindigkeitsbeschränkenden)<br />
Verkehrszeichens zusammenhängenden Fragen erörtern und diese – möglichst früh, spätestens<br />
aber in der Hauptverhandlung und nicht erst in der Rechtsbeschwerde – vortragen.<br />
• In der Hauptverhandlung muss er darlegen und ggf. durch einen Beweisantrag dokumentieren, dass<br />
eben eine die grobe Pflichtverletzung indizierende Ausgestaltung nicht vorhanden ist bzw. war. Das AG<br />
muss diese Einlassung dann prüfen (OLG Zweibrücken DAR 2003, 134; ähnlich OLG Hamm VA 2003, 57;<br />
zum Aufdrängen der Indizwirkung OLG Jena NZV 2008, <strong>16</strong>5).<br />
• Ist Rechtsbeschwerde eingelegt, muss das angefochtene Urteil darauf überprüft werden, ob es zu<br />
diesen Fragen ausreichende tatsächliche Feststellungen enthält. Ist das nicht der Fall, muss in der<br />
Rechtsbeschwerdebegründung dazu vorgetragen werden.<br />
(2) Rechtsprechung<br />
Zur Frage des sog. Augenblicksversagens hat sich seit Veröffentlichung der Entscheidung des BGH (BGHSt<br />
43, 241 [s.o.]) eine umfangreiche Kasuistik der OLG entwickelt. Diese kann hier nur überblicksartig in<br />
Fallgruppen zusammengefasst werden (vgl. dazu auch BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1454 m.w.N.; s. auch<br />
noch die Rspr.-Zusammenstellung bei BURHOFF, in: LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF, Praxis des Straßenverkehrsrechts,<br />
5. Aufl. 2015, § 5 Rn <strong>16</strong>9):<br />
838 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1033<br />
Fahrverbot<br />
• Allein die Höhe der Geschwindigkeit kann für sich die grobe Pflichtwidrigkeit nicht begründen (BGH<br />
a.a.O.; so auch OLG Düsseldorf NZV 2010, 262 = VRR 2010, 351; OLG Zweibrücken DAR 1998, 362 für<br />
eine Überschreitung der Geschwindigkeit um 50 km/h außerorts). Es dürfte aber die Faustregel<br />
gelten, dass je höher die gefahrene Geschwindigkeit ist, desto größer sind bei entsprechenden<br />
örtlichen Gegebenheiten die Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer. Allerdings werden außerorts<br />
und insbesondere auf Autobahnen geringere Anforderungen an den Fahrer zu stellen sein (dazu<br />
eingehend BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 14, 55 ff. m.w.N.). Der Betroffene kann sich nicht darauf<br />
berufen, dass es zu der Geschwindigkeitsüberschreitung anlässlich eines Überholmanövers<br />
gekommen sei (OLG Bamberg StraFo <strong>2018</strong>, 173). Das Überholen begründet keinen Ausnahmeumstand<br />
im Sinne geringen Verschuldens (OLG Bamberg a.a.O.), und zwar auch dann nicht, wenn es<br />
sich bei dem Tatort um eine übersichtliche, breit ausgebaute und schnurgerade verlaufende<br />
Fahrbahn ohne Wohnbebauung oder Fußgängerverkehr handelt.<br />
• Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb geschlossener Ortschaften wird leichte Fahrlässigkeit<br />
des Betroffenen i.d.R. nur dann in Betracht kommen, wenn er als Fahrer das Ortseingangsschild<br />
übersehen hat und er auch die geschlossene Ortschaft als solche nicht erkennen<br />
konnte, wobei letzteres nur ausnahmsweise der Fall sein wird (OLG Celle NZV 1998, 254, 255; s. aber<br />
BayObLG VRS 95, 130 = zfs 1998, 234 [Übersehen zur Nachtzeit]). Nur leichte Fahrlässigkeit wird auch<br />
dann ausgeschlossen sein, wenn der Betroffene in der Nähe des Tatorts wohnt oder die Strecke, auf<br />
der die Geschwindigkeitsüberschreitung begangen wurde, regelmäßig befährt (OLG Köln NZV 1998,<br />
<strong>16</strong>4; vgl. i.Ü. BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1461 ff., dort in den Rn 1465 ff. zur Tempo-30-Zone).<br />
• Die Rechtsprechung zum Augenblicksversagen gilt auch bei Rotlichtverstößen (s.o.). Ein Fahrverbot<br />
kann daher nicht verhängt werden, wenn der Betroffene nur aus leichter Fahrlässigkeit das Rotlicht<br />
der Lichtzeichenanlage übersieht (vgl. dazu BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 9, S. 919, 928 ff.).<br />
b) Beharrlicher Verstoß<br />
Nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG und § 4 BKatV kommt die Verhängung eines Fahrverbots auch im Fall der<br />
„beharrlichen“ Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in Betracht (vgl. dazu eingehend<br />
BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1510; BURHOFF VA 2014, 158; DEUTSCHER VRR 2007, <strong>16</strong>9). Die Annahme einer<br />
beharrlichen Pflichtverletzung setzt nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 38, 231 = NJW 1992, 1397;<br />
s. auch BayObLG DAR 2000, 222; OLG Köln NZV 2001, 442; OLG Jena NZV 1999, 304; OLG Hamm NZV<br />
2000, 53; NZV 2001, 221) voraus, dass der Kfz-Führer wiederholt Pflichtverletzungen begeht, die nach<br />
ihrer Art oder den Begehungsumständen für sich allein betrachtet nicht zu den objektiv oder subjektiv<br />
groben Verstößen zählen. Durch die wiederholte Begehung dieser Pflichtverletzungen gibt der Fahrer<br />
jedoch zu erkennen, dass es ihm an der für die Teilnahme am Straßenverkehr erforderlichen rechtstreuen<br />
Gesinnung und der notwendigen Einsicht in zuvor begangenes Unrecht fehlt. Eine beharrliche<br />
Pflichtverletzung begeht also nur, wer die Vorschriften aus mangelnder Rechtstreue verletzt (zur<br />
Feststellung eines beharrlichen Fehlverhaltens s. BayObLG zfs 2004, 138).<br />
Für die Annahme von Beharrlichkeit ist Vorsatz nicht erforderlich, es kann auch die Häufung nur leicht<br />
fahrlässiger Verstöße mangelnde Rechtstreue und eine gemeinschädliche Grundhaltung des Fahrers<br />
offenbaren (OLG Hamm NZV 2001, 222). Vorsätzliche Begehung spricht jedoch für Beharrlichkeit (KG<br />
DAR 2004, 594 = VRS 107, 213). Allein eine gewisse Anzahl von Verkehrsverstößen reicht jedoch nicht<br />
aus. Es muss zudem die subjektive Voraussetzung der fehlenden rechtstreuen Gesinnung vorliegen<br />
(OLG Braunschweig DAR 1999, 273 = NZV 1999, 303; OLG Hamm a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Von Bedeutung ist auch hier die Rechtsprechung des BGH zum „Augenblicksversagen“ (BGHSt 43, 241 [s.o.]).<br />
Soll nämlich ein Fahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzt werden – also nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
von mindestens 26 km/h innerhalb eines Jahres eine weitere in dieser Höhe – dann muss, da<br />
auch dem Fahrverbot aufgrund „Beharrlichkeit“ der Vorwurf der besonderen Verantwortungslosigkeit zugrunde<br />
liegt, dieser zweite Vorwurf im Sinn der Rechtsprechung des BGH subjektiv grob pflichtwidrig sein<br />
(OLG Braunschweig a.a.O.; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 374 = NZV 2000, 92; OLG Köln NZV 2001, 442; a.A.<br />
OLG Koblenz VA 2003, 175).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 839
Fach 9, Seite 1034<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Es muss zwischen den Verkehrsordnungswidrigkeiten, die die Annahme von „Beharrlichkeit“ begründen<br />
sollen, ein innerer Zusammenhang bestehen (OLG Braunschweig NZV 1998, 420; OLG Karlsruhe DAR<br />
1999, 417). Nicht erforderlich ist aber, dass es sich um Verkehrsordnungswidrigkeiten desselben Typs<br />
handelt BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1525 ff. m.w.N.). Auch spielt der zeitliche Ablauf der Taten eine Rolle<br />
– es gibt zwar keinen Grenzwert für die „Rückfallgeschwindigkeit“, als Faustregel wird man aber<br />
feststellen können, dass ein Zeitabstand i.d.R. der Annahme von Beharrlichkeit entgegenstehen dürfte<br />
(BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1528 mit Rspr.-Zusammenstellung).<br />
Hinweis:<br />
Es müssen sich aus den tatsächlichen Feststellungen die Voraussetzungen für die Annahme von Beharrlichkeit<br />
ergeben (zur Feststellung eines beharrlichen Fehlverhaltens BayObLG zfs 2004, 138; OLG Bamberg<br />
VA 2006, 68). Diese müssen i.d.R. Angaben zu den Vorahndungen enthalten, die nicht der einseitig subjektiven<br />
Darstellung des Betroffenen entnommen werden können (OLG Bamberg a.a.O.). Das Tatgericht<br />
kann bei der Bewertung eines Pflichtenverstoßes als „beharrlich“' wegen der noch verwertbaren Vorahndungen<br />
des Betroffenen grundsätzlich von der Richtigkeit der Eintragungen im Fahreignungsregister ausgehen<br />
(OLG Bamberg VRR 2013, 310 = NZV 2014, 98).<br />
c) Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots<br />
Liegt nach allem eine Katalogtat mit „grober“ Pflichtwidrigkeit vor, so kommt nach § 4 Abs. 1 BKatV die<br />
Anordnung des Fahrverbots „in der Regel“ in Betracht. Durch diese Formulierung wird das in § 25 Abs. 1<br />
StVG dem Richter eingeräumte „Verhängungsermessen“ –es ist dort formuliert: „kann“ –eingeengt.<br />
Bevor auf die Regelwirkung eingegangen wird, soll kurz dargestellt werden, welche Erwägungen auf der<br />
Rechtsfolgenseite hinsichtlich der möglichen Verhängung eines Fahrverbots anzustellen sind. Dazu gilt:<br />
Ziel des Fahrverbots ist die erzieherische Einwirkung auf den Betroffenen in Form der – Ihnen allen aus<br />
obergerichtlichen Entscheidungen bekannten –„Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme“. Ein Fahrverbot<br />
darf daher grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn es kein milderes Mittel gibt, um den mit<br />
ihm erstrebten Zweck in gleich guter Weise zu erreichen. An der Erforderlichkeit des Fahrverbots fehlt<br />
es daher, wenn die Einwirkung auf den Täter stattdessen auch durch eine erhöhte Geldbuße erreicht<br />
werden kann.<br />
Das Fahrverbot muss zudem auch angemessen sein. Das bedeutet, dass ein an sich erforderliches<br />
Fahrverbot nicht angeordnet werden darf, wenn die daraus resultierenden Folgen den Betroffenen<br />
unzumutbar belasten würden. An Stelle des Fahrverbots kann dann die Geldbuße gem. § 4 Abs. 4 BKatV<br />
angemessen erhöht werden.<br />
Hinweis:<br />
In der neueren Rechtsprechung wird der Betroffene häufig darauf verwiesen, dass es ihm ggf. zumutbar<br />
sei, die durch ein Fahrverbot auftretenden finanziellen Belastungen notfalls durch eine Kreditaufnahme<br />
auszugleichen (vgl. BayObLG NZV 2002, 143; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 312; OLG Karlsruhe NZV 2004,<br />
653; OLG Hamm VRR 2012, 308 = DAR 2012, 477; OLG Düsseldorf VRR 2008, 234, enger OLG Hamm VRR<br />
2007, 275 = zfs 2007, 474 und dazu KRUMM NZV 2007, 561). Diese Auffassung erscheint sehr fraglich und ist<br />
abzulehnen (BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1320, 1358).<br />
d) Regelwirkung<br />
Im Bereich der Regelwirkung geht es um die Frage, welche Auswirkungen diese bei der Beurteilung von<br />
Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots hat. Insoweit ist zu unterscheiden (vgl. auch<br />
LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5 Rn 181 f.):<br />
• Bei einem Verstoß gegen § 24a StVG formuliert § 25 Abs. 1 S. 2 StVG, dass ein Fahrverbot „in der<br />
Regel anzuordnen ist“. Das ist nach allgemeiner Meinung eine strikte oder sehr strenge Regel-<br />
840 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1035<br />
Fahrverbot<br />
anordnung. In diesen Fällen ist daher ein Fahrverbot i.d.R. angemessen und auch erforderlich,<br />
weshalb ein Absehen vom Fahrverbot nach allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung nur bei<br />
außergewöhnlichen Tatumständen oder Härten in Betracht kommt (z.B. OLG Hamm, zuletzt VRR<br />
2012, 308 = DAR 2012, 477).<br />
• Handelt es sich – wie bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder einem Rotlichtverstoß – um die<br />
Anordnung nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, ist dort weicher formuliert. Danach „kann“ ein Fahrverbot<br />
angeordnet werden. Die unterschiedlichen Formulierungen wirken sich nach Auffassung des BGH<br />
(BGHSt 38, 125, 137 [s.o.]) aber erst beim Absehen vom an sich gebotenen Fahrverbot aus. Im Fall des<br />
§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG sind nämlich nicht „Härten ganz außergewöhnlicher Art“ erforderlich, sondern das<br />
Absehen ist schon dann möglich, wenn „erhebliche Härten“ vorliegen oder eine Vielzahl für sich<br />
genommen gewöhnlicher und/oder durchschnittlicher Umstände (z.B. BayObLG NZV 1996, 374; OLG<br />
Hamm DAR 2001, 229; NZV 2003, 398 f.; OLG Karlsruhe NZV 2006, 326). An dieser Stelle ist also auf<br />
jeden Fall Raum für eine Einzelfallprüfung täterbezogener Umstände, was dann zum Absehen vom<br />
Fahrverbot führen kann.<br />
e) Checkliste<br />
Daraus ergibt sich insgesamt folgende Prüfungsreihenfolge/Checkliste, die der Tatrichter einhalten<br />
muss und anhand derer der Verteidiger bei der Überprüfung eines tatrichterlichen Urteils vorgehen<br />
muss:<br />
1. Zunächst ist zu fragen: Sind hinsichtlich des Betroffenen die Voraussetzungen einer Katalogtat nach<br />
§ 4 Abs. 1 BKatV festgestellt worden?<br />
2. Dann: Handelt es sich ggf. dennoch nicht um eine objektiv und subjektiv grobe Pflichtwidrigkeit –<br />
Stichwort: Augenblicksversagen?<br />
3. Schließlich: Ist das Fahrverbot aber ggf. trotzdem ausgeschlossen, weil es nicht erforderlich ist oder<br />
hinsichtlich seiner Folgen beim Betroffenen unangemessen wäre? – Stichwort: Regelwirkung der<br />
Katalogtat, aber diese Vermutung kann widerlegt werden.<br />
III. Absehen von Fahrverbot/Ausnahme im Einzelfall<br />
Die Rechtsprechung zum Absehen vom Fahrverbot ist unüberschaubar. Es vergeht kein Monat, in dem<br />
nicht in jeder einschlägigen Fachzeitschrift mehrere das Fahrverbot und insbesondere das Absehen vom<br />
Fahrverbot betreffende Entscheidungen veröffentlicht werden. Diese können nachfolgend nicht alle<br />
dargestellt werden, so dass sich die Darstellung auf einen (groben) Überblick beschränken muss, wobei<br />
Fallgruppen gebildet werden und die täterbezogenen Umstände im Vordergrund stehen. Zur weiteren<br />
Vertiefung wird auf BURHOFF/DEUTSCHER (OWi, Rn 1290 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung) verwiesen.<br />
1. Prüfungsmaßstab für die Absehensentscheidung<br />
Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass bei einer grob pflichtwidrigen Katalogtat die<br />
Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vermutet wird. Fehlt es hieran im Einzelfall, ist<br />
nach § 4 Abs. 4 BKatV vom Fahrverbot unter angemessener Erhöhung der Geldbuße abzusehen, wobei<br />
allerdings darauf zu achten ist, dass das Höchstmaß des gesetzlichen Bußgeldrahmens nicht überschritten<br />
werden darf (vgl. z.B. OLG Düsseldorf DAR 1996, 413 m.w.N.). Bei der Entscheidung über das<br />
Absehen haben eine Vielzahl von Einzelkriterien Bedeutung. Dabei spielen im Rahmen der Erforderlichkeit<br />
tatbezogene Umstände eine Rolle, während es bei der Angemessenheit allein auf die persönlichen<br />
Folgen beim Betroffenen ankommt.<br />
In der Regel ist es nach h.M. ausreichend, dass „erhebliche Härten“ oder eine Vielzahl für sich genommen<br />
gewöhnlicher oder durchschnittlicher Umstände vorliegen (BGHSt 38, 125 [s.o.]; OLG Rostock VRS 101,<br />
380; OLG Hamm NZV 2003, 398; Beschl. v. 19.1.2010, 2 (6) Ss OWi 987/09). Etwas anderes gilt bei einer<br />
Verurteilung nach § 24a StVG. Hier kommt wegen der anderen Formulierung im Gesetz ein Absehen vom<br />
Fahrverbot nur bei Vorliegen einer „Härte ganz außergewöhnlicher Art“ oder „außergewöhnlicher<br />
Umstände“ in Betracht (vgl. z.B. OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33; OLG Braunschweig DAR<br />
1996, 28; OLG Hamm VRS 101, 298 = DAR 2002, 324 m.w.N.; DAR 2008, 652 = VRR 2008, 434).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 841
Fach 9, Seite 1036<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Hinweise:<br />
Da i.d.R. die persönlichen Umstände des Betroffenen, die ggf. zum Absehen vom Fahrverbot führen<br />
können, nicht auf der Hand liegen und daher dem Gericht nicht bekannt sind, muss der Verteidiger dazu<br />
vortragen. Die entsprechende Aufklärungspflicht und die damit korrespondierende Begründungspflicht<br />
des Gerichts hängen von der entsprechenden Einlassung des Betroffenen ab. Ohne diese Einlassung hat<br />
das Gericht keinen Anlass und auch keine Beweismittel dafür, dass das Fahrverbot den Betroffenen<br />
unangemessen belasten würde. Deshalb muss sich der Betroffene einlassen und muss alles vortragen,<br />
was aus seiner persönlichen Sicht gegen die Anordnung eines Fahrverbots spricht (s. die Fallgestaltung<br />
bei OLG Bamberg VRR 2013, 310 = NZV 2014, 98).<br />
Der erforderliche Vortrag muss auch bereits beim AG erfolgen. In der Regel ist es zu spät, erst beim<br />
Rechtsbeschwerdegericht zur Erforderlichkeit und Angemessenheit des Fahrverbots vorzutragen bzw.<br />
Stellung zu nehmen.<br />
2. Erforderlichkeit des Fahrverbots<br />
a) Erhöhung der Geldbuße<br />
Abgesehen werden kann von einem Fahrverbot u.a. dann, wenn feststeht, dass die mit dem Fahrverbot<br />
gewünschte Erziehungswirkung auch mit einer empfindlicheren Geldbuße erreicht werden kann.<br />
Soweit ersichtlich wird von den OLG – wohl angesichts der erheblich gewachsenen Verkehrsdichte und<br />
da es sich bei den Katalogtaten um besonders schwere Verstöße handelt – die Erforderlichkeit des<br />
Fahrverbots meist nicht verneint. Daran hat sich leider auch nichts durch die am 1.2.2009 in Kraft<br />
getretenen Änderungen des § 24 StVG i.V.m. der BKatV (vgl. BGBl I 2009, S. 9, dazu BURHOFF VA 2009, 33<br />
und VRR 2009, 47) und die nochmaligen Erhöhungen der Geldbußengrenzen bei einem vorsätzlichen<br />
Verstoß auf 2.000 € und bei einem fahrlässigen Verstoß auf 1.000 € Geldbuße geändert. Zumindest der<br />
normale Durchschnittsverdiener mit entsprechenden Unterhaltspflichten dürfte durch die Ausschöpfung<br />
der neuen Höchstsätze mehr als bisher auch ohne Fahrverbot von der erneuten Begehung<br />
vergleichbarer Verstöße abzuhalten sein (so auch schon DEUTSCHER NZV 1999, 113 und NZV 2008, 185;<br />
dazu OLG Hamm VRR 2005, 155; VRR 2007, 236; VRR 2008, 43; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1304 ff.; abl.<br />
KÖNIG, in: HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 25 Rn 24). Darauf sollte der<br />
Verteidiger beim AG hinweisen und sich dabei auf die entsprechende obergerichtliche Rechtsprechung<br />
beziehen (OLG Hamm NZV 2001, 436 = DAR 2001, 519; VRR 2006, 351 = NZV 2007, 100; s. auch KRUMM<br />
NJW 2007, 257, 259; zur Berücksichtigung der [schlechten] wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen<br />
bei Bemessung/Erhöhung der Geldbuße s. OLG Jena zfs 2007, 412).<br />
b) Allgemeine Gründe<br />
Nach weitgehend übereinstimmender obergerichtlicher Rechtsprechung zur Erforderlichkeit sind<br />
folgende Kriterien – sowohl jedes für sich allein als auch beim Zusammentreffen mehrerer – als nicht<br />
ausreichend für ein Absehen vom Fahrverbot angesehen worden (s. auch DEUTSCHER NZV 1997, 26; OLG<br />
Hamm NZV 2003, 103 = VRS 104, 233): Der Betroffene ist Ersttäter bzw. weist auch bei langer<br />
Fahrpraxis keine Eintragung im Fahreignungsregister (FAER) auf – das ergibt sich i.Ü. auch aus § 4<br />
Abs. 2 BKatV (u.a. zuletzt OLG Bamberg zfs 2015, 49) –, der Betroffene ist Vielfahrer mit einer hohen<br />
Fahrleistung (OLG Dresden DAR 2001, 318; OLG Hamm NZV 1999, 394). Unerheblich ist es, ob ein<br />
Grenzwert ggf. nur geringfügig überschritten ist, der Gefährdungsgrad aufgrund schwachen Verkehrsaufkommens<br />
zur Tatzeit gering war oder ob es sich um eine Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer<br />
Autobahn gehandelt hat. Ohne Belang ist es schließlich auch, ob der Verstoß allgemein häufig begangen<br />
wird (vgl. zu allem BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1296 ff. m.w.N. aus der Rspr.).<br />
c) Teilnahme an Verkehrsunterricht/Verkehrsberatung<br />
Übersehen sollte der Verteidiger nicht die Möglichkeit, ggf. das Absehen vom Fahrverbot durch die<br />
Teilnahme des Mandanten an einer verkehrspsychologischen Maßnahme, wie z.B. „avanti-Fahrverbot“<br />
zu erreichen. Das wird jetzt teilweise von AG anerkannt (vgl. aus neuerer Zeit AG Bad Hersfeld VRR 2013,<br />
842 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1037<br />
Fahrverbot<br />
154; AG Bad Segeberg VRR 2005, 277; AG Bernkastel-Kues zfs 2014, 172 = DAR 2014, 401; AG Mannheim<br />
zfs 2014, 173 = DAR 2014, 405; AG Miesbach DAR 2010, 715; AG Niebüll VRR 2013, 437 = zfs 2014, 173) und<br />
zwar selbst dann, wenn der Betroffene in der Vergangenheit bereits dreimal in Erscheinung getreten ist<br />
(s. auch SCHMITZ DAR 2007, 603 unter Hinw. auf AG Recklinghausen, Beschl. v. 6.9.2006 – 37a OWi 55 Js<br />
1562/05 und AG Duderstadt zfs 2001, 519). Nach Auffassung einiger OLG rechtfertigt aber allein die<br />
Teilnahme des Betroffenen an einem „Aufbauseminar“ für Kraftfahrer für sich allein grundsätzlich nicht<br />
das Absehen von einem Regelfahrverbot. Eine Ausnahme vom Regelfahrverbot könne im Einzelfall nur<br />
dann gerechtfertigt sein, wenn neben dem Seminarbesuch eine Vielzahl anderer zugunsten des<br />
Betroffenen sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen einer wertenden Gesamtschau durch den<br />
Tatrichter festgestellt werden kann (OLG Bamberg VRS 114, 379 = VRR 2008, 272; ähnlich OLG<br />
Bamberg DAR 2011, 93 = VRR 2011, 71 m. Anm. GIEG; OLG Bamberg VRR 4/<strong>2018</strong>, 19; OLG Saarbrücken,<br />
Beschl. v. 12.2.2013 – Ss (B) 14/2013 (9/13 OWi); OLG Zweibrücken zfs 2017, 471; vgl. im gleichen Sinne<br />
dezidiert [„Freikaufverfahren für begüterte Betr.“] HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 25 m.w.N.<br />
auf die abweichende untergerichtliche Rspr.; a.A. aber BayObLG zfs 1995, 603 [u.a. Absehen vom<br />
Fahrverbot wegen Absolvierung eines mehrstündigen Verkehrsunterrichts]; AG Traunstein VRR 2014,<br />
114 = VA 2014, 33 = DAR 2014, 102; zu dieser Problematik BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1299 ff. und<br />
DEUTSCHER NZV 2014, 145, 147; KRENBERGER zfs 2017, 471; HEINRICH NZV 2010, 237).<br />
d) Zeitablauf<br />
Eines besonderen Hinweises bedarf die Frage, welche Auswirkungen ein erheblicher Zeitablauf seit der<br />
Tat auf die Verhängung eines Fahrverbots haben kann bzw. haben muss. Dazu lässt sich allgemein<br />
festhalten, dass die obergerichtliche Rechtsprechung insoweit weitgehend übereinstimmend davon<br />
ausgeht, dass grundsätzlich erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen Tat und (rechtskräftiger)<br />
Verurteilung ein Absehen wegen dieses Umstands in Betracht kommt (vgl. dazu die<br />
Zusammenstellung bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1390 ff.; aus neuerer Zeit OLG Hamm VRR 2012, 231<br />
= DAR 2012, 340; DAR 2004, 106; OLG Naumburg VA 2017, 178; OLG Oldenburg VRR 2011, 434 = DAR<br />
2011, 649). Hieraus kann aber keinesfalls gefolgert werden, dass bei einem mehr als zweijährigen<br />
Zeitablauf stets von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen wäre (BayObLG NZV 2004, 210;<br />
OLG Bamberg zfs 2008, 591 = DAR 2008, 651; zuletzt u.a. OLG Koblenz NZV 2010, 212 = VRR 2010, 194<br />
= VA 2010, 13). Der Zeitablauf von zwei Jahren führt nämlich nicht automatisch zu einem Absehen von<br />
einem Fahrverbot; er ist lediglich ein Anhaltspunkt dafür, dass eine tatrichterliche Prüfung, ob das<br />
Fahrverbot seinen erzieherischen Zweck im Hinblick auf den Zeitablauf noch erfüllen kann, naheliegt<br />
(OLG Bamberg a.a.O.; zur Berechnung der 2-Jahres-Frist einerseits OLG Zweibrücken DAR 2011, 649<br />
m. abl. Anm. KRUMM = StRR 2011, 480 m.w.N.; andererseits OLG Oldenburg a.a.O.; OLG Celle VA 2012,<br />
156). Auch der Umstand, dass eine Voreintragung i.S.d. § 4 Abs. 2 S. 2 BKatV „fast zwei Jahre<br />
zurückliegt“, kann für sich allein betrachtet keinen Anlass geben, vom Fahrverbot abzusehen (KG,<br />
Beschl. v. 20.3.<strong>2018</strong> – 3 Ws (B) 90/18).<br />
Hinweis:<br />
Ob sich die Grenze von zwei Jahren in der Rechtsprechung der OLG halten lässt, ist fraglich. Teilweise<br />
wird in der Rechtsprechung schon von kürzeren Fristen ausgegangen (vgl. OLG Zweibrücken VRR 2011,<br />
394 = DAR 2011, 649; NZV 2014, 479 [1 Jahr und 8 Monate]; s. aber auch OLG Zweibrücken VA 2015, 11 (kein<br />
Absehen bei nur 1 Jahr und 7 Monaten).<br />
3. Angemessenheit des Fahrverbots<br />
a) Typische Folgen<br />
Bei der Frage nach der Angemessenheit des Fahrverbots ist allgemein auf Folgendes zu achten: In der<br />
heutigen Zeit stellt angesichts der hohen Abhängigkeit vom Auto auch ein nur einmonatiges Fahrverbot<br />
für den davon Betroffenen stets eine Härte dar. Darauf beruht ja gerade der mit dieser Maßnahme<br />
bezweckte „Denkzetteleffekt“. Das bedeutet, dass bei der Prüfung der konkreten Angemessenheit des<br />
Fahrverbots all die Folgen außer Betracht bleiben müssen, die normalerweise mit dem Fahrverbot<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 843
Fach 9, Seite 1038<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
verbunden sind (vgl. z.B. OLG Hamm DAR 1995, 374 = VRS 90, 146; VRS 90, 210; NZV 2001, 355; OLG<br />
Frankfurt NStZ-RR 2002, 88). Das sind zumutbare Härten, die alle Betroffenen, gegen die ein Fahrverbot<br />
verhängt wird, hinzunehmen haben. Typische und somit zumutbare Folgen des Fahrverbots sind die<br />
damit i.d.R. verbundenen Unannehmlichkeiten, wie etwa der Zeitverlust, der durch die Benutzung<br />
öffentlicher Verkehrsmittel entsteht (OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 22; 1996, 119 f.; AG Lüdinghausen<br />
NZV 2012, 603 = VRR 2012, 478), und zwar auch dann, wenn der Betroffene als Wochenendheimfahrer<br />
auf den Pkw angewiesen ist oder als Geschäftsreisender nicht jeden Abend nach Hause kommen kann<br />
(zum Bundeswehrsoldaten AG Dortmund, Urt. v. 25.8.2017 – 729 OWi-267 Js 1323/17-211/17). Ebenfalls ist<br />
der bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bzw. Taxen entstehende finanzielle Mehraufwand<br />
grundsätzlich zumutbar (OLG Hamm DAR 1995, 374, 375 = VRS 90, 146; ähnlich BayObLG NZV 2002,<br />
144). Etwas anderes kann nur gelten, wenn dieser Aufwand angesichts des geringen Einkommens des<br />
Betroffenen wirtschaftlich sinnlos (BayObLG NZV 1991, 401, 402) oder der Aufwand so hoch ist, dass er<br />
deshalb nicht zumutbar wäre (OLG Hamm VRS 95, 138).<br />
In diesem Zusammenhang hat dann § 25a StVG und die dort eingeführte 4-Monats-Frist Bedeutung.<br />
Diese am 1.3.1998 neu in das StVG aufgenommene Vorschrift ist vom Gesetzgeber gerade auch<br />
geschaffen worden, um wirtschaftliche Nachteile, die einem Betroffenen durch die Verhängung eines<br />
Fahrverbots entstehen können, abzumildern, indem nämlich der Betroffene den Zeitraum, in dem das<br />
Fahrverbot wirksam sein soll, in gewissen Grenzen frei wählen kann. Das führt nach Auffassung der<br />
Rechtsprechung (BayObLG DAR 1999, 559; OLG Hamm DAR 1999, 84 = VRS 96, 231 = NZV 1999, 214; NZV<br />
200, 355; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 214; NStZ-RR 2002, 88) dazu, dass bei der Frage, ob und<br />
inwieweit wirtschaftliche Nachteile bei der Prüfung der Angemessenheit und Vertretbarkeit eines<br />
Fahrverbots überhaupt (noch) von Belang sind, ein noch strengerer Maßstab als in der Vergangenheit<br />
anzulegen ist. Der Betroffene wird sich aber kaum darauf verweisen lassen müssen, dass er das<br />
Fahrverbot während eines Krankenhausaufenthalts hätte vollstrecken lassen können (s. aber wohl<br />
AG Landstuhl DAR 2015, 415 = VRR 7/2015, 15 m. Anm. DEUTSCHER).<br />
Hinweis:<br />
Spätestens ab Zustellung des Bußgeldbescheids muss sich der Betroffene auf die Vollstreckung eines<br />
angedrohten Fahrverbots einrichten (OLG Karlsruhe VRS 88, 476; OLG Köln VRS 88, 392; weitergehend<br />
OLG Hamm DAR 2008, 652).<br />
b) Beschränkung auf eine Kraftfahrzeugart<br />
In Betracht kommen kann eine nur auf bestimmte Kfz-Arten i.S.d. §§ 69, 69a StGB beschränkte<br />
Anordnung eines Fahrverbots (OLG Bamberg DAR 2006, 515 = VRR 2006, 230; VRR 2006, 432; NStZ-<br />
RR 2008, 119; VRR 2008, 75 beim Taxifahrer Beschränkung auf Fahrverbot hinsichtlich Krad; StraFo <strong>2018</strong>,<br />
84 = DAR <strong>2018</strong>, 91 [Krankenwagen]; OLG Düsseldorf NZV 2008, 104 = VRR 2008, 114 [Ausnahme von<br />
Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr und Krankenwagen]; OLG Hamm VRR 2007, 73; 2010, 352; OLG Jena<br />
zfs 2007, 412; OLG Karlsruhe NZV 2004, 653; AG Lüdinghausen VRR 2014, 196 m. teilw. abl. Anm.<br />
DEUTSCHER = DAR 2014, 217 [Ausnahme für Fahrerlaubnisklassen C und CE]; s. aber OLG Hamm DAR<br />
2006, 100 m. abl. Anm. KRUMM DAR 2006, 100; eingehend zu den damit zusammenhängenden Fragen<br />
DEUTSCHER VRR 2010, 8 und REBLER DAR 2011, 109; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1499 ff.). Allerdings muss es<br />
sich dann um eine Gruppe von Kfz mit einem bestimmten Verwendungszweck handeln (OLG Hamm<br />
VRR 2007, 73). Nicht möglich ist z.B. die Beschränkung auf eine bestimmte Nutzungszeit (zuletzt OLG<br />
Hamm VRR 2010, 352; zu allem BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1504 ff. m.w.N.). Unzulässig ist es, das<br />
Fahrverbot z.B. auf Kraftfahrzeuge mit mehr als 100 PS Motorkraft zu beschränken (unzutreffend a.A.<br />
AG Lüdinghausen VRR 2013, 156 m. abl. Anm. DEUTSCHER = DAR 2013, 403 [Ls.]: ähnlich unzutreffend AG<br />
Dortmund VRR 2/<strong>2018</strong>, 19).<br />
Es soll in diesen Fällen dann aber eine Erhöhung der Geldbuße in Betracht kommen (bejahend OLG Jena<br />
VRS 113, 71; verneinend OLG Düsseldorf NZV 2008, 104 = VRR 2008, 114 m. abl. Anm. DEUTSCHER; AG<br />
844 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1039<br />
Fahrverbot<br />
Lüdinghausen VRR 2014, 196 m. abl. Anm. DEUTSCHER = DAR 2014, 217; zum Ganzen – allerdings für den<br />
verkehrsstrafrechtlichen Bereich – AG Alsfeld zfs 2010, <strong>16</strong>8 und AG Gießen zfs 2010, <strong>16</strong>9 [jeweils<br />
Ausnahme von den Klassen T und L bei einem Auszubildenden zum Landwirt]).<br />
c) Berufliche Folgen<br />
Ein weites Feld im Bereich der Angemessenheit sind die beruflichen Folgen für den Betroffenen (vgl.<br />
dazu eingehend BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, 1313 ff. m.w.N.; LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5<br />
Rn 194 ff.). Grundsätzlich sind auch diese, was häufig übersehen wird, ohne Bedeutung, da auch sie alle<br />
Fahrzeugführer in gleicher Weise vorhersehbar treffen. Eine unzumutbare Härte, die zur Unangemessenheit<br />
des Fahrverbots führt, ist daher erst dann anzunehmen, wenn das Fahrverbot beim<br />
konkreten Betroffenen zu einer Existenzgefährdung führen würde. Dazu lassen sich folgende<br />
Grundsätze festhalten, die der Verteidiger bei seiner täglichen Arbeit beachten muss:<br />
aa) Abhängig Beschäftigte<br />
Bei abhängig Beschäftigten ist eine Existenzgefährdung anzunehmen, wenn als Folge des Fahrverbots<br />
der Verlust des Arbeitsplatzes droht (BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1332 ff.). In solchen Fällen ist,<br />
insbesondere bei Berufskraftfahrern oder solchen Beschäftigten, die zur Ausübung ihrer beruflichen<br />
Tätigkeit auf die Fahrerlaubnis angewiesen sind, wie z.B. bei einem Busfahrer (AG Gelnhausen NZV<br />
2006, 327), grundsätzlich vom Fahrverbot unter angemessener Erhöhung der Geldbuße abzusehen (OLG<br />
Hamm NZV 1996, 118, 119). Erforderlich ist allerdings die konkrete Gefahr der Kündigung des<br />
Arbeitsplatzes. Die bloße Vermutung, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eines für die Zukunft<br />
zugesagten Arbeitsplatzes könne eintreten, reicht nicht (OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33;<br />
OLG Düsseldorf NZV 1992, 373 f.; OLG Hamm DAR 1996, 325; VRS 111, 219 = VRR 2006, 352; VRR 2007, 31).<br />
Hinweis:<br />
Zum Arbeitsplatzverlust muss konkret vorgetragen werden. Dabei ist bei größeren Firmen ggf. auch zur<br />
– zeitweisen – Vertretung durch andere Mitarbeiter Stellung zu nehmen. Der Amtsrichter muss die<br />
Wahrscheinlichkeit des behaupteten Arbeitsplatzverlustes als Folge eines Fahrverbots einer besonders<br />
gründlichen und kritischen Prüfung unterziehen. Das Vorbringen des Betroffenen, im Falle eines Fahrverbots<br />
mit der Kündigung rechnen zu müssen, reicht in aller Regel allein nicht aus. Aber auch eine<br />
schriftliche Erklärung des Arbeitgebers ist ebenso kritisch zu hinterfragen. In der Regel dürfte es sich<br />
empfehlen, die zeugenschaftliche Vernehmung des Arbeitgebers zu beantragen, damit sich der Amtsrichter<br />
einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit verschaffen und die Möglichkeit einer –<br />
im beiderseitigen Interesse – liegenden bloßen Gefälligkeitsbescheinigung ausschließen kann (vgl.<br />
OLG Hamm VA 2004, 54 [Ls.]).<br />
Ein Absehen vom Fahrverbot kommt nicht in Betracht, wenn der Betroffene den drohenden Arbeitsplatzverlust<br />
mit zumutbaren Mitteln abwenden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn er die Möglichkeit hat,<br />
während der Vollstreckung des Fahrverbots Urlaub zu nehmen (allg. Meinung, vgl. u.a. OLG Hamm NZV<br />
1996, 118, 119 und OLG Düsseldorf VRS 87, 450), wobei die bereits erwähnte Vorschrift des § 25a StVG von<br />
Bedeutung ist. Allerdings kann der Betroffene wohl nur dann auf die Möglichkeit des Urlaubs verwiesen<br />
werden, wenn feststeht, dass er tatsächlich noch über einen ausreichend langen Jahresurlaub verfügt,<br />
den er innerhalb der Frist des § 25a Abs. 2 StVG auch „an einem Stück“ abwickeln kann (OLG Hamm VRS<br />
97, 272 = NZV 2000, 96). Zu beachten ist hier auch, dass der Betroffene sich bei seiner Urlaubsplanung<br />
grundsätzlich auf die Möglichkeit der Verhängung des Fahrverbots wird einstellen müssen (vgl. z.B. OLG<br />
Köln VRS 88, 392 f.), und zwar spätestens ab Zustellung des Bußgeldbescheids, in dem ein Fahrverbot<br />
angeordnet wird. In dem Zusammenhang spielt dann auch die Frage eine Rolle, ob die Erschwernisse<br />
durch das Fahrverbot durch die Einstellung/Beschäftigung eines Fahrers und/oder die Fahrten mit<br />
einem Taxi ausgeglichen werden können. Meines Erachtens wird man das von der in der Rechtsprechung<br />
der OLG anzutreffenden Allgemeinheit kaum verlangen können (vgl. aber die teilweise andere<br />
OLG-Rspr. bei BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 1358). Denn ein Fahrverbot muss ebenso wie die daraus<br />
resultierenden Folgen für den Betroffenen noch verhältnismäßig sein (vgl. dazu nur BVerfG NJW 1996,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 845
Fach 9, Seite 1040<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
2284). Das wird in vielen Fällen im Hinblick auf die Einstellung eines Fahrers gerade aber nicht der Fall<br />
sein. Viele, wenn nicht die meisten Arbeitnehmer werden nämlich nicht in der Lage sein, aus ihrem<br />
Nettoeinkommen einen Fahrer bezahlen zu können (vgl. dazu OLG Koblenz NJW 2004, 1400). Zu dem<br />
Umstand der Finanzierbarkeit, sollten Verteidiger in der Hauptverhandlung unter Darlegung der<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen daher in der Hauptverhandlung vortragen, um so dem AG<br />
den Verweis auf die Einstellung eines Fahrers zumindest zu erschweren.<br />
Hinweis:<br />
Das Absehen vom Fahrverbot kann aber nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Betroffene<br />
habe mit Blick auf den Antritt eines Arbeitsverhältnisses einen Härtefall aufgrund einer durch das Fahrverbot<br />
konkret drohenden Kündigung durch Hinnahme des Bußgeldbescheids und die hierdurch mögliche<br />
Verbüßung des Fahrverbots noch vor Antritt der Tätigkeit verhindern können. Das ist eine ermessensfehlerhafte<br />
Verwertung zulässigen Verteidigungsverhaltens zum Nachteil des Betroffenen (OLG Bamberg<br />
StraFo <strong>2018</strong>, 84 = DAR <strong>2018</strong>, 91; ähnlich OLG Hamm VA 2001, <strong>16</strong>8 = NStZ-RR 2002, 20 (Ls.) für die<br />
Formulierung: „wenn der Betroffene eine Anstellung als Fahrer suchte, hätte es nahe gelegen, den am (…) ergangenen<br />
Bußgeldbescheid zu akzeptieren und das Fahrverbot unverzüglich anzutreten.“<br />
Für Taxifahrer und sonstige Berufskraftfahrer gelten i.Ü. grundsätzlich keine Ausnahmen. Allein die<br />
Tätigkeit als Taxifahrer genügt nicht, um eine unzumutbare Härte anzunehmen (KG DAR 2001, 413; OLG<br />
Hamm NZV 1995, 366 f.; 1995, 498; 1996, 77, 78; OLG Rostock VRS 101, 380). Das würde nämlich sonst<br />
dazu führen, dass bei Taxifahrern nie ein Fahrverbot verhängt werden könnte. Das gilt vor allem, wenn<br />
der Taxifahrer noch Voreintragungen hat (OLG Hamm NZV 1995, 498 = VRS 90, 213).<br />
bb) Selbstständige/Freiberufler<br />
Bei Selbstständigen und Freiberuflern ist von einem Fahrverbot abzusehen, wenn hierdurch eine<br />
ernsthafte Gefahr für den Fortbestand des Unternehmens bzw. Betriebs begründet würde (BURHOFF/<br />
DEUTSCHER, OWi, Rn 1349 ff., m.w.N.; LUDOVISY/EGGERT/BURHOFF/BURHOFF, a.a.O., § 5 Rn 198 ff. m.w.N.).<br />
Das gilt aber nur, wenn diese Gefahr nicht mit zumutbaren Maßnahmen anderweitig abgewendet<br />
werden kann. Das ist insbesondere bei Kleinbetrieben der Fall, wenn der Betriebsinhaber selbst<br />
betriebsbedingt auf die Fahrzeugbenutzung angewiesen ist und er keinen Angestellten mit Fahrerlaubnis<br />
hat oder sich die Einstellung eines Fahrers auch für die nur relativ kurze Zeit des Fahrverbots<br />
finanziell nicht leisten kann (OLG Hamm DAR 1999, 178 = VRS 96, 291 = NZV 1999, 301). Eine<br />
Existenzgefährdung angenommen bzw. nicht ausgeschlossen worden ist z.B. bei einer Baufirma<br />
mit nur zwei Mitarbeitern und zwei Fahrzeugen, die der Betroffene selbst fahren muss (OLG Hamm<br />
DAR 1999, 178 = NZV 1999, 301; ähnlich AG Offenbach zfs 2001, 431; AG Bersenbrück NZV 2003, 152 =<br />
zfs 2003, 97).<br />
Bei Rechtsanwälten oder anderen Freiberuflern genügen die allgemeinen beruflichen Unannehmlichkeiten<br />
als Folge des Fahrverbots ebenfalls nicht für ein Absehen (OLG Hamm NZV 2001, 438;<br />
Beschl. v. 1.7.2003 – 4 Ss OWi 385/03 und v. 20.7.2006 – 3 Ss OWi 325/06; s. auch BURHOFF/DEUTSCHER,<br />
OWi, Rn 1364 f.). Die Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von auswärtigen Terminen sind<br />
regelmäßig durch andere Maßnahmen abzuwenden (OLG Hamm NZV 1996, 247, 248 = VRS 91, 205 =<br />
DAR 1996, 4<strong>16</strong>), so durch Bestellen des Mandanten in die Kanzlei, durch Vertretung durch einen<br />
anderen Sozius, durch Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, durch Urlaub oder durch Einstellung<br />
eines Fahrers (s. aber AG Potsdam NJW 2002, 3342; AG Duderstadt zfs 2001, 519).<br />
Hinweis:<br />
Die Existenzgefährdung sollte auf jeden Fall durch Vorlage entsprechender Urkunden usw. glaubhaft<br />
gemacht werden (AG Dortmund, Urt. v. 4.7.2017 – 729 OWi-265 Js 968/17-173/17; zur Aufklärungspflicht des<br />
AG s. KG SVR 2015, 353; OLG Bamberg zfs 20<strong>16</strong>, 290; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 – 1 RBs 200/14;<br />
OLG Karlsruhe VA 20<strong>16</strong>, 49; OLG Zweibrücken zfs 20<strong>16</strong>, 294).<br />
846 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1041<br />
Fahrverbot<br />
cc) Sonstige persönliche Gründe<br />
Auch sonstige persönliche Gründe bieten schließlich noch ein weites Feld, um ggf. ein Absehen vom<br />
Fahrverbot zu erreichen. Insoweit gilt: Ist der Betroffene wegen einer körperlichen Behinderung in<br />
stärkerer Weise auf die Nutzung seines Pkw angewiesen als der durchschnittliche Autofahrer, kann das<br />
zum Absehen vom Fahrverbot führen. Entscheidend sind dabei allerdings die Schwere der Behinderung<br />
und deren Auswirkungen auf den Betroffenen. Eine – nur – schwere Gehbehinderung allein genügt für<br />
ein Absehen vom Fahrverbot nicht (OLG Hamm NZV 1999, 215 = zfs 1999, 311). Auch kann einem<br />
Betroffenen, der geltend macht, aus gesundheitlichen Gründen auf die Fahrerlaubnis angewiesen zu<br />
sein, zugemutet werden, für den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von einem Monat, in dem er wegen<br />
des angeordneten Fahrverbots sein Kfz entbehren muss, für seine Arztbesuche auf öffentliche Verkehrsmittel<br />
auszuweichen. Dies mutet ihm die Rechtsprechung ebenso zu wie sie dies von Arbeitnehmern<br />
für Fahrten zur Arbeitsstätte verlangt (OLG Hamm DAR 1999, 325 = VRS 97, 69). Auch<br />
allein eine Schwerbehinderung führt nicht zum Absehen vom Fahrverbot (OLG Hamm VA 2008, 194<br />
[Ls.]). Ebenfalls ist hohes Alter allein kein ausreichender Grund für das Absehen vom Fahrverbot (OLG<br />
Hamm DAR 2001, 229) – ebenso wenig wie eine krankheitsbedingt „schwache Blase“ und plötzlich<br />
auftretender Harndrang (OLG Hamm VA <strong>2018</strong>, 32 = VRR 3/<strong>2018</strong>, <strong>16</strong>).<br />
Ausreichen soll hingegen, wenn sich der Betroffene täglich um seine 89-jährige Großmutter kümmern<br />
muss (AG Mannheim zfs 2004, 236). Ob das zutreffend ist, ist fraglich. Jedenfalls muss aber, wenn vom<br />
Fahrverbot abgesehen werden soll, die verstärkte Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit feststehen und<br />
außerdem dürfen keine sonstigen unentgeltlichen Betreuungspersonen aus der Familie vorhanden und<br />
die Einstellung einer professionellen Hilfe nicht zumutbar sein (so wohl zutreffend OLG Hamm NZV<br />
2006, 664 = VRR 2006, 313 und VRR 2012, 308 = DAR 2012, 477).<br />
4. Fahrverbotsentscheidung bei Verurteilung nach § 24a StVG<br />
Es ist bereits ausgeführt worden, dass in den Fällen des § 24a StVG nach allgemeiner Meinung nur<br />
Härten ganz außergewöhnlicher Art oder sonstige das äußere und innere Tatbild beherrschende<br />
außergewöhnliche Umstände das Absehen von der Verhängung des Regelfahrverbots rechtfertigen<br />
(OLG Hamm VRS 101, 298 = DAR 2002, 324 m.w.N.; zum Fahrverbot bei der Trunkenheitsfahrt BURHOFF/<br />
DEUTSCHER, OWi, Rn 35<strong>16</strong> ff. und bei der Drogenfahrt BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn 780 ff.). Darauf kann hier<br />
verwiesen werden (vgl. III. 1). Das gilt erst recht, wenn der Betroffene bereits einmal wegen eines<br />
Verstoßes gegen § 24a StVG in Erscheinung getreten ist. Auch der Umstand, dass der Betroffene als<br />
Berufskraftfahrer tätig ist, ändert daran nichts. Gegebenenfalls eintretende wirtschaftliche und<br />
berufliche Folgen muss der Betroffene als selbstverschuldet hinnehmen (OLG Hamm VRS 98, 381 =<br />
NZV 2001, 486; s. aber OLG Hamm NJW 2002, 2485 = NZV 2002, 414 = VRS 103, 204; VA 2002, 47).<br />
Schließlich reicht auch allein ein Zeitraum von 25 Monaten seit dem Verkehrsverstoß nicht, um vom<br />
Fahrverbot absehen zu können (OLG Saarbrücken VA 2002, <strong>16</strong>9). Das bedeutet, dass der Betroffene bei<br />
einer Verurteilung nach § 24a StVG nur schwer der Verhängung des Fahrverbots entkommen wird, und<br />
zwar auch dann, wenn er freiberuflich tätig ist. Das ist sowohl für den freien Mitarbeiter einer<br />
Unternehmensberatung entschieden worden (OLG Hamm DAR 1999, 84 = VRS 96, 231 = NZV 1999, 214)<br />
als auch für einen Rechtsanwalt (OLG Hamm VRS 101, 298 [s.o.]).<br />
5. Anforderungen an die Urteilsgründe<br />
Die Entscheidung über das Absehen vom Fahrverbot ist in erster Linie eine Entscheidung aufgrund<br />
tatrichterlicher Würdigung, was allerdings häufig übersehen wird. Das bedeutet (vgl. auch BURHOFF/<br />
DEUTSCHER, OWi, Rn 1420 ff.): Dem Tatrichter ist eine gewisse Entscheidungsfreiheit bei der Beurteilung<br />
eingeräumt, die im Rahmen der Rechtsbeschwerde nur eingeschränkt auf das Fehlen von Ermessensfehlern<br />
überprüft werden kann (allg. Ansicht, vgl. nur OLG Köln NZV 1994, <strong>16</strong>1; OLG Hamm NZV 1996, 118,<br />
119; DAR 1996, 68 = zfs 1996, 35; VRS 92, 40). Das Rechtsbeschwerdegericht hat die Entscheidung des<br />
Tatrichters „bis zur Grenze des Vertretbaren“ hinzunehmen (OLG Bamberg NJW 2008, 3155; OLG Hamm<br />
NZV 2008, 308; OLG Oldenburg zfs 2002, 359). Es ist unerheblich, ob eine andere Entscheidung<br />
– ebenfalls – vertretbar gewesen wäre (OLG Hamm VRS 92, 40).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 847
Fach 9, Seite 1042<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Für seine Entscheidung muss der Tatrichter aber – durch das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbare<br />
– tatsächliche Feststellungen treffen, wobei ihm die vereinfachte Möglichkeit der Beweisaufnahme<br />
nach § 77a OWiG zur Verfügung steht. Seine Begründung muss sich auf Tatsachen stützen,<br />
unsubstantiierte bloße Behauptungen des Betroffenen reichen nicht aus (vgl. u.a. BGHSt 38, 231;<br />
KG SVR 2015, 353; OLG Bamberg DAR 2009, 39 = VRR 2009, 33; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2015 –<br />
1 RBs 200/14; OLG Hamm DAR 2012, 477 = VRR 2012, 308, jeweils m.w.N.; OLG Karlsruhe VA 20<strong>16</strong>, 49;<br />
OLG Zweibrücken zfs 20<strong>16</strong>, 294). Und das gilt sowohl zugunsten wie zu Lasten des Betroffenen.<br />
Erforderlich ist auf jeden Fall eine auf Tatsachen gestützte eingehende Begründung (OLG Hamm<br />
VRS 92, 367 und VRS 102, 385). Beruft sich der Betroffene auf einen drohenden Existenz- oder<br />
Arbeitsplatzverlust, muss der Tatrichter im Urteil seine Erwägungen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit<br />
der Angaben des Betroffenen darlegen (OLG Rostock VRS 101, 380; OLG Celle VRS 102, 310;<br />
OLG Hamm DAR 1996, 325). Er darf sie nicht einfach ungeprüft übernehmen (OLG Rostock NZV 2002,<br />
381). Auch eine schriftliche Erklärung des Arbeitgebers muss kritisch hinterfragt werden. Deshalb<br />
wird es sich empfehlen, von vornherein den Arbeitgeber als Zeuge zu benennen (OLG Köln VRS 113,<br />
441 = VRR 2008, 156; s. auch noch OLG Bamberg DAR 2011, 403 [Verdacht der Gefälligkeitsbescheinigung]).<br />
Hinweis:<br />
Der Tatrichter muss in den Urteilsgründen zu erkennen geben, dass er sich der Möglichkeit des Absehens<br />
von der Anordnung des Fahrverbots bewusst war und hierfür keine Anhaltspunkte ersichtlich waren. An<br />
dieser Anforderung an die Urteilsgründe wird von der h.M. in der Rechtsprechung festgehalten (vgl. dazu<br />
nur OLG Hamm NJW 2004, 172; DAR 2002, 276; NZV 2000, 264, jeweils m.w.N.; OLG Düsseldorf DAR<br />
2000, 4<strong>16</strong>). Wird ein längeres als ein einmonatiges (Regel-)Fahrverbot verhängt, muss den Urteilsgründen<br />
zu entnehmen sein, dass sich der Tatrichter der Möglichkeit bewusst war, auch ein kürzeres Fahrverbot<br />
verhängen zu können (OLG Zweibrücken DAR 2003, 531).<br />
IV.<br />
Verfahrensfragen<br />
1. Dauer des Fahrverbots<br />
Nach § 25 Abs. 1 StVG dauert das Fahrverbot einen bis zu drei Monate. Innerhalb dieses Rahmens muss<br />
der Tatrichter das angemessene Fahrverbot finden und verhängen. Bei den Verstößen, für die die BKatV<br />
ein Regelfahrverbot vorsieht, sowie bei den Verstößen gegen § 24a StVG müssen die Regelsätze der<br />
BKatV beachtet werden. Das bedeutet, dass bei der erstmaligen Verhängung eines nach der BKatV<br />
indizierten Fahrverbots der Tatrichter sich hinsichtlich der Dauer des Fahrverbots an die Regelsätze der<br />
BKatV halten muss (OLG Hamm NZV 2001, 178; OLG Düsseldorf NZV 1998, 384). Wenn er ein längeres<br />
Fahrverbot festsetzen will, muss das ausdrücklich begründet werden (OLG Hamm a.a.O.). In diesen<br />
Fällen muss sich der Tatrichter im Urteil damit auseinandersetzen, dass das Überschreiten der<br />
Regeldauer zur Erreichung des Erziehungs- und Warneffekts des Fahrverbots erforderlich ist (KG VRS<br />
103, 223 m.w.N.; OLG Hamm NZV 2001, 178). In der Regel werden auch in diesen Fällen zunächst eine<br />
Erhöhung der Geldbuße und die Verhängung des Regelfahrverbots in Betracht kommen (BayObLG zfs<br />
1995, 152).<br />
Hinweis:<br />
Die Verhängung eines unter der Mindestdauer von einem Monat liegenden Fahrverbots ist unzulässig<br />
(OLG Düsseldorf VRR 2011, 73 m. Anm. DEUTSCHER = VA 2011, 48).<br />
Diese Regeln gelten auch für die Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes<br />
(s. oben II. 2. b). Auch auf dieser Grundlage beträgt die Dauer des Fahrverbots bei erstmaliger<br />
Verhängung nach § 4 Abs. 2 S. 1 BKatV einen Monat. Das gilt i.Ü. auch, wenn ein früheres Fahrverbot<br />
schon länger zurückliegt (OLG Düsseldorf NZV 1998, 38; BayObLG DAR 1999, 221).<br />
848 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Straßenverkehrsrecht Fach 9, Seite 1043<br />
Fahrverbot<br />
2. Mehrere Fahrverbote<br />
Nach allgemeiner Meinung ist auch bei Tatmehrheit (§ 20 OWiG) immer nur ein einheitliches<br />
Fahrverbot festzusetzen (OLG Hamm NZV 2010, 159 m. Anm. SANDHERR = VRR 2010, 155 m. Anm.<br />
DEUTSCHER; HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 27 m.w.N. aus der Rspr.).<br />
Hinweis:<br />
Wenn gegen den Betroffenen mehrere Fahrverbote festgesetzt sind, war früher streitig, ob diese nacheinander<br />
oder ggf. nebeneinander zu vollstrecken sind (vgl. dazu eingehend BURHOFF VRR 2008, 409; KRUMM<br />
DAR 2008, 54; FROMM VRR 2010, 368 und zfs 2013, 368). Diese Streitfrage hat sich durch das „Gesetz zur<br />
effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) erledigt.<br />
Denn nach dem neuen § 25 Abs. 2b StVG sind, wenn gegen den Betroffenen mehrere Fahrverbote rechtskräftig<br />
verhängt sind, die Verbotsfristen nacheinander zu berechnen (Satz 1). Nach Satz 2 läuft die Verbotsfrist<br />
aufgrund des früher wirksam gewordenen Fahrverbots zuerst. Werden Fahrverbote gleichzeitig<br />
wirksam, so läuft nach Satz 3 die Verbotsfrist aufgrund des früher angeordneten Fahrverbots zuerst, bei<br />
gleichzeitiger Anordnung ist die frühere Tat maßgebend.<br />
3. Anwendung des § 25 Abs. 2a StVG<br />
Mit Einführung des § 25 Abs. 2a StVG 1998 in das StVG, kann der Betroffene innerhalb von vier<br />
Monaten nach Rechtskraft des Bußgeldbescheids den Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Fahrverbots<br />
durch die Abgabe seines Führerscheins selbst bestimmen (vgl. dazu ALBRECHT NZV 1998, 131;<br />
HENTSCHEL DAR 1998, 138; eingehend zu § 25 Abs. 2a StVG BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>93 ff.). Das<br />
ist eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung in § 25 Abs. 2 StVG, wonach das Fahrverbot<br />
grundsätzlich mit der Rechtskraft der Bußgeldentscheidung eintritt. Die Vergünstigung des § 25<br />
Abs. 2a StVG ist aber davon abhängig, dass gegen den Betroffenen in den zwei Jahren vor Begehung<br />
der Ordnungswidrigkeit und auch bis zur jeweiligen Entscheidung kein Fahrverbot angeordnet<br />
worden ist. Diese Privilegierung wird nur durch die Verhängung eines Fahrverbots ausgeschlossen,<br />
nicht auch durch die Entziehung der Fahrerlaubnis (OLG Dresden DAR 1999, 222; OLG Hamm NZV<br />
2001, 440; s. dazu HENTSCHEL DAR 1998, 137; DEUTSCHER NZV 2000, 110). Entscheidend für die Berechnung<br />
der 2-Jahres-Frist ist nicht der Zeitpunkt, in dem die frühere Entscheidung ergangen ist, sondern der<br />
der Rechtskraft (BayObLG VRS 96, 68; BGH NJW 2000, 2685; HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG<br />
Rn 30 m.w.N.). Auch dürfen im Zeitpunkt der neuen Entscheidung tilgungsreife Vorbelastungen im<br />
Rahmen des § 25 Abs. 2a StVG nicht berücksichtigt werden (KG VA 2004, 156; OLG Jena NZV 2008, <strong>16</strong>5<br />
= VRR 2008, 352).<br />
Hinweis:<br />
Die Privilegierung des § 25 Abs. 2a StVG ist zwingend. Sie steht nicht etwa im Ermessen des Tatrichters<br />
(OLG Düsseldorf DAR 2001, 39 = NZV 2001, 89 m.w.N.).<br />
4. Vollstreckung des Fahrverbots<br />
Das Fahrverbot wird nach § 25 Abs. 2 S. 2 StVG dadurch vollstreckt, dass der Führerschein amtlich<br />
verwahrt wird. Dazu muss der Betroffene seinen Führerschein bei der zuständigen Verwaltungsbehörde<br />
abgeben. Der Beginn der Vollstreckung des Fahrverbots erfordert aber nicht zwingend,<br />
dass der Führerschein bei der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde einzureichen ist (AG<br />
Parchim VA 2013, 49 = StraFo 2013, 80). Hat der Betroffene seinen Führerschein nach Rechtskraft der<br />
Fahrverbotsentscheidung verloren, ist für den Beginn der Verbotsfrist der Tag des Verlustes maßgebend<br />
(AG Neunkirchen zfs 2005, 208). Eine eidesstattliche Versicherung des Betroffenen über den Verlust ist<br />
nicht erforderlich (AG Neunkirchen a.a.O. m.w.N. auch zur a.A.). Tritt der Verlust vor Rechtskraft ein,<br />
beginnt die Verbotsfrist mit der Rechtskraft der Entscheidung (AG Neunkirchen a.a.O.).<br />
Gibt der Betroffene seinen Führerschein nicht freiwillig ab, kann der Führerschein nach § 25 Abs. 2 S. 4<br />
StVG beschlagnahmt werden. Fraglich ist, ob in der ggf. erfolgten Beschlagnahmeanordnung zugleich<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 849
Fach 9, Seite 1044<br />
Fahrverbot<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
auch die Anordnung der Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen liegt. Insoweit wird in<br />
Rechtsprechung und Literatur unterschieden: Ist das Fahrverbot gerichtlich verhängt, geht die wohl<br />
überwiegende Literaturmeinung davon aus, dass die Beschlagnahmeanordnung der Vollstreckungsbehörde<br />
zugleich auch die Anordnung der Wohnungsdurchsuchung beim Betroffenen enthält (vgl.<br />
MEYER-GOßNER/SCHMITT, StPO, 60. Aufl., § 463b Rn 1 m.w.N.). Ist das Fahrverbot hingegen nur im<br />
Bußgeldbescheid angeordnet, wird von der Literatur für die Wohnungsdurchsuchung ein besonderer<br />
gerichtlicher Beschluss verlangt (vgl. Nachw. bei HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG Rn 32; s. auch<br />
DEUTSCHER NZV 2000, 111; BURHOFF/GÜBNER, OWi, Rn 1705 ff. und eingehend zu der Problematik LG<br />
Lüneburg DAR 2011, 275 = NZV 2011, 153 m.w.N. aus Rspr. und Lit., zugleich auch zur Frage der<br />
Ermächtigungsgrundlage). Anderer Ansicht ist insoweit die überwiegende Rechtsprechung der LG bzw.<br />
AG (vgl. LG Limburg VA 2004, 65; LG Lüneburg, a.a.O.; AG Karlsruhe VRS 97, 377; AG Leipzig DAR 1999,<br />
134; AG Berlin-Tiergarten NZV 1996, 506).<br />
5. Fahrverbot in der Hauptverhandlung<br />
Wurde im Bußgeldbescheid kein Fahrverbot verhängt, dann ist in der Hauptverhandlung i.d.R. ein<br />
rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO erforderlich, wenn der Amtsrichter ein Fahrverbot verhängen will<br />
(st. Rspr. seit BGHSt 29, 274 = NJW 1980, 2479; vgl. u.a. BayObLG NZV 2000, 380; OLG Hamm StraFo<br />
2005, 298 = zfs 2005, 519; OLG Jena zfs 2010, 294 = StraFo 2010, 207; OLG Koblenz VA 2008, 102; OLG<br />
Köln NZV 2013, 613; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, Rn <strong>16</strong>83).<br />
Hinweis:<br />
Ist der Hinweis unterblieben, muss der Verteidiger den Verfahrensfehler mit der Verfahrensrüge, die den<br />
Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO) unterliegt, geltend machen.<br />
Ist bereits ein Fahrverbot verhängt, muss auf eine ggf. in Aussicht genommene Verlängerung nicht<br />
hingewiesen werden (BayObLG NJW 2000, 3511 = VRS 98, 33; OLG Köln NZV 2013, 613). Auch dann,<br />
wenn das Fahrverbot wegfallen und dafür die Geldbuße erhöht werden soll, ist ein Hinweis nach<br />
allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung ebenfalls nicht erforderlich, da die Geldbuße eine mildere<br />
Maßnahme als das Fahrverbot ist (vgl. wegen Rspr.-Nachw. HENTSCHEL/KÖNIG/DAUER, a.a.O., § 25 StVG<br />
Rn 29; BURHOFF/DEUTSCHER, OWi, a.a.O.).<br />
6. Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid<br />
Eine Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid (§ 67 OWiG) auf die Frage der<br />
Fahrverbotsanordnung, der Fahrverbotsdauer oder der Fahrverbotsbeschränkung auf Kraftfahrzeuge<br />
einer bestimmten Art (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG) scheidet nach ständiger Rechtsprechung und ganz h.M.<br />
im Schrifttum aufgrund der engen Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbuße, wie sie<br />
in § 4 Abs. 4 BKatV ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, grundsätzlich aus (OLG Bamberg<br />
zfs <strong>2018</strong>, 114 = VA <strong>2018</strong>, 52; OLG Düsseldorf DAR 2017, 92; OLG Hamm NZV 2002, 142; OLG Rostock<br />
NZV 2002, 137; ferner GÖHLER/SEITZ/BAUER, OWiG, § 67 Rn 34g und § 79 Rn 9; BURHOFF/GIEG, OWiG,<br />
Rn 955 m.w.N.; NIEHAUS NZV 2003, 411). In der Rechtsprechung wird aber häufig eine gleichwohl – auch<br />
schlüssig – erklärte Beschränkung allein auf das Fahrverbot oder seine Dauer bei Vorliegen der<br />
sonstigen Voraussetzungen, insbesondere eines den Anforderungen des § 66 Abs. 1 OWiG genügenden<br />
Bußgeldbescheids, als Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruchs in seiner Gesamtheit<br />
ausgelegt (KG NZV 2002, 466; OLG Rostock a.a.O.; NIEHAUS a.a.O.).<br />
850 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 927<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Strafverfahren<br />
Update <strong>2018</strong>: Notwendige Verteidigung – Beiordnungsvoraussetzungen,<br />
Verteidigerauswahl und Rücknahme der Bestellung<br />
Von RiLG THOMAS HILLENBRAND, Stuttgart<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. StPO-Reform 2017<br />
III. Beiordnung gem. § 140 Abs. 1 StPO<br />
IV. Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO<br />
1. Schwere der Tat<br />
2. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage<br />
3. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung<br />
V. Umfang der Beiordnung<br />
VI. Mehrere Pflichtverteidiger<br />
VII. Auswahl des Pflichtverteidigers<br />
VIII. Entscheidungszeitpunkt<br />
IX. Rücknahme der Bestellung<br />
1. Entpflichtung<br />
2. Herausdrängen des Pflichtverteidigers<br />
3. Einvernehmliche Umbeiordnung<br />
X. Strafvollstreckung<br />
XI. Checkliste für den Pflichtverteidiger<br />
1. Vor der Beiordnung<br />
2. Nach der Beiordnung/bei Entpflichtungsanträgen<br />
I. Einleitung<br />
Die nachfolgenden Ausführungen knüpfen an den Beitrag „Notwendige Verteidigung – Beiordnungsvoraussetzungen,<br />
Verteidigerauswahl und Rücknahme der Bestellung“ (<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 841 ff.) an und stellen als<br />
„Update“ die seither erfolgten Neuregelungen durch das am 24.8.2017 in Kraft getretene „Gesetz zur<br />
effektiveren und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens“ sowie die von Juli 2015 bis Mitte Juli<br />
<strong>2018</strong> ergangene Rechtsprechung zu Fragen der notwendigen Verteidigung dar. Ziel des Beitrags ist es, dem<br />
Verteidiger einen Überblick über die in diesem Zeitraum ergangenen Entscheidungen zu verschaffen und in<br />
Fällen, in denen um die Beiordnung oder deren Fortbestand gekämpft werden muss, die eine oder andere<br />
Argumentationshilfe zu geben.<br />
II. StPO-Reform 2017<br />
Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens (hierzu ausführlich<br />
BURHOFF,Effektiveres und praxistauglicheres Strafverfahren – Teil 1: Ermittlungsverfahren, <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 889<br />
ff. und Teil 2: Hauptverhandlung, <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 907 ff.) hat hinsichtlich der Bestellung eines Pflichtverteidigers<br />
im Ermittlungsverfahren eine wesentliche Neuerung gebracht:<br />
So hängt die Pflichtverteidigerbestellung jetzt nicht mehr von einem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
gem. § 141 Abs. 3 S. 2 StPO ab, sondern kann in Verfahren, in denen eine richterliche Vernehmung<br />
durchzuführen ist, bereits dann vorgenommen werden, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers<br />
aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten<br />
erscheint. Zuständig für die Beiordnung ist das Gericht, bei dem die Vernehmung durchzuführen ist.<br />
Erfasst werden nach zutreffender Ansicht hierdurch nicht nur richterliche Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen,<br />
sondern auch alle Beschuldigtenvernehmungen. Dies betrifft auch die Fälle, in denen ein<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 851
Fach 22, Seite 928<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Beschuldigter nach vorläufiger Festnahme oder nach seinem Ergreifen aufgrund eines Haftbefehls im<br />
Rahmen einer Vorführung vor dem Haftrichter zu vernehmen ist (AG Stuttgart StraFo <strong>2018</strong>, 114; LG Halle/<br />
Saale, Beschl. v. 26.3.<strong>2018</strong>, 10a Qs 33/18; BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 895 f.; SCHLOTHAUER StV 2017, 557, der hier den<br />
Hauptanwendungsbereich der Neuregelung sieht).<br />
Hinweis:<br />
Die Bestellung nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO gilt nur für den Zeitraum der Vernehmung und erlischt mit<br />
ihrem Ende (BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 896). Wird also im Rahmen der Vorführung ein Haftbefehl erlassen oder<br />
ein bestehender Haftbefehl in Vollzug gesetzt, bedarf es einer unverzüglichen weiteren Verteidigerbestellung<br />
im Hinblick auf die nunmehr einsetzende Vollstreckung der Untersuchungshaft. Dies ergibt<br />
sich aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO (zuvor Nr. 5, inhaltlich ist die Vorschrift unverändert geblieben), der<br />
überflüssig wäre, würde sich die Beiordnung automatisch auch auf das weitere Verfahren erstrecken.<br />
Hierbei kann, muss aber nicht, derselbe Verteidiger bestellt werden, der während der vorangegangenen<br />
Vernehmung des Beschuldigten die Verteidigung geführt hat. Insbesondere in Konstellationen, in denen der<br />
Wunschverteidiger bei der Haftrichtervorführung nicht anwesend sein kann, etwa wegen eines Termins in<br />
anderer Sache oder am Wochenende, kommt die Bestellung unterschiedlicher Verteidiger in Betracht.<br />
Außerhalb von Beschuldigtenvernehmungen wird eine Verteidigerbestellung zur Wahrung der Rechte<br />
des Beschuldigten insbesondere in Betracht zu ziehen sein, wenn ein Zeuge vernommen wird, bei dem<br />
die Möglichkeit besteht, dass er in der Hauptverhandlung nicht mehr zur Verfügung steht (SINGELSTEIN/<br />
DERIN NJW 2017, 2646). Zu denken ist hierbei vor allem an die Vernehmung von Angehörigen, die im<br />
weiteren Verlauf des Verfahrens von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 Abs. 1 StPO Gebrauch<br />
machen könnten.<br />
III. Beiordnung gem. § 140 Abs. 1 StPO<br />
Über die Neuregelung des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO hinaus sind die gesetzlichen Grundlagen der<br />
notwendigen Verteidigung unverändert geblieben.<br />
Im Bereich des § 140 Abs. 1 StPO gab es in den letzten Jahren kaum Bewegung in der Rechtsprechung.<br />
Die dortigen Regelungen sind klar und eindeutig, so dass für Auslegungsstreitigkeiten in aller Regel kein<br />
Raum bleibt. Eine Ausnahme hiervon stellen Beschlüsse des LG Osnabrück (Beschl. v. 6.6.20<strong>16</strong> – 18 Qs<br />
526 Js 9422/<strong>16</strong> (17/<strong>16</strong>), StRR 7/20<strong>16</strong>, 2) und des LG Dresden (v. 23.5.<strong>2018</strong> – 14 Qs <strong>16</strong>/18) dar, in denen der<br />
alte Streit, ob § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO bei inhaftierten Beschuldigten auch in anderen Verfahren gilt, in<br />
denen kein Haftbefehl erlassen wurde, reanimiert wurde.<br />
Das LG Osnabrück und das LG Dresden haben sich in dieser Frage gegen die h.M. (Nachweise hierzu bei<br />
BURHOFF, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 7. Aufl. Rn 2857, 8. Aufl. Rn 2874 [im<br />
Folgenden kurz: BURHOFF, EV]) gestellt und die Norm dahingehend ausgelegt, dass sie nur in dem<br />
Verfahren, in dem tatsächlich Untersuchungshaft vollstreckt wird, anzuwenden sei. Überzeugend ist<br />
dies freilich nicht: Die mit der Inhaftierung verbundene Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten<br />
besteht auch in anderen Verfahren. Es ist für einen inhaftierten Angeklagten nahezu unmöglich, sich<br />
selbst vernünftig zu verteidigen, so dass zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens mit der<br />
zutreffenden h.M. weiterhin von der Notwendigkeit der Verteidigung in allen gegen den inhaftierten<br />
Angeklagten geführten Verfahren auszugehen ist, unabhängig davon, in welcher Sache der Haftbefehl<br />
ergangen ist.<br />
IV. Beiordnung gem. § 140 Abs. 2 StPO<br />
Für erheblich mehr Diskussionsstoff als der eindeutig formulierte § 140 Abs. 1 StPO sorgt in der Praxis<br />
nach wie vor die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO. Hier wird, was die relativ große Zahl von Fällen, in<br />
denen Beschwerdegerichte eingreifen müssen, zeigt, immer wieder versucht, die Zahl der Beiordnungen<br />
durch eine unangemessen restriktive Auslegung der Vorschrift gering zu halten.<br />
852 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 929<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
1. Schwere der Tat<br />
Nach ganz h.M. ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers geboten, wenn dem Angeklagten im Fall der<br />
Verurteilung eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht (statt aller BURHOFF, EV, Rn 2876,<br />
8. Aufl. Rn 2893). Entgegen einer noch immer hin und wieder vertretenen Ansicht ist diese<br />
„Jahresgrenze“ nicht erst dann erreicht, wenn gerade in dem Verfahren, in dem die Beiordnung<br />
erfolgen soll, eine Strafe in dieser Größenordnung im Raum steht, sondern auch dann, wenn die<br />
Straferwartung aufgrund weiterer Verfahren durch eine Gesamtstrafenbildung (KG StraFo 2017, 153)<br />
oder durch einen möglichen Bewährungswiderruf in anderer Sache insgesamt ein Jahr erreicht (LG<br />
Dessau-Roßlau StraFo 2015, 515; OLG Naumburg StV <strong>2018</strong>, 143). Entscheidend ist also das drohende<br />
Gesamtstrafübel.<br />
2. Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage<br />
Häufig wird ein Fall der notwendigen Verteidigung – oftmals mittels eines in der Justiz weit verbreiteten<br />
Textbausteins – mit der Begründung verneint, es handele sich „um einen einfach gelagerten Sachverhalt“,<br />
der „weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten“ aufweise.<br />
Diese Argumentation mag in offensichtlich unproblematischen Fällen tragfähig sein, nicht aber, wenn<br />
acht Zeugen zu hören sowie zahlreiche Urkunden zu verlesen sind und daher umfassende Akteneinsicht,<br />
die dem Verteidiger vorbehalten ist, erforderlich erscheint (LG Saarbrücken StraFo 20<strong>16</strong>, 513).<br />
Gleiches gilt, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den<br />
Angeklagten ist (LG Braunschweig Blutalkohol 54 [2017], 2<strong>16</strong>).<br />
Dagegen soll sich die Notwendigkeit der Verteidigung nach Auffassung einiger Gerichte nicht zwingend<br />
bereits daraus ableiten lassen, dass der Verletzte auf eigene Kosten einen anwaltlichen Beistand<br />
hinzuzieht (OLG München, Beschl. v. 2.5.2017 – 2 Ws 504/17, StRR 6/2017, 2; OLG Hamburg StV 2017,<br />
149). Der Gesetzgeber habe die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO bewusst<br />
ausdrücklich nur für Fälle vorgeschrieben, in denen dem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet ist.<br />
Hinsichtlich der Konstellation, dass sich der Verletzte auf eigene Kosten anwaltlichen Beistands bedient,<br />
liege daher keine planwidrige Regelungslücke vor.<br />
Überzeugend ist diese Sichtweise indes nicht: Im Falle einer anwaltlichen Vertretung nur des Verletzten<br />
wird das Prinzip der Waffengleichheit unabhängig von der – für den Angeklagten nebensächlichen<br />
– Frage, ob der Beistand des Verletzten aufgrund gerichtlicher Beiordnung oder aufgrund<br />
Anwaltsvertrags tätig wird, nahezu immer beeinträchtigt sein, da sich der Angeklagte in beiden Fällen<br />
einem Verletzten gegenübersieht, der sich des fachkundigen Rats eines Rechtsanwalts bedient. Eine<br />
Differenzierung danach, auf welcher Grundlage der Verletztenbeistand tätig wird, erscheint daher<br />
nicht sachgerecht. Es ist vielmehr mit Blick auf den rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens<br />
und der Waffengleichheit geboten, auch dann einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der<br />
anwaltliche Vertreter des Verletzten nicht aufgrund gerichtlicher Bestellung tätig wird, sondern vom<br />
Verletzten selbst gewählt wurde (BEULKE, in: SATZGER/SCHLUCKEBIER/WIDMAIER, StPO, 3. Aufl. <strong>2018</strong>, § 140<br />
Rn 33 m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Die Problematik der beeinträchtigten Waffengleichheit wird im Grundsatz auch von Vertretern der Gegenposition<br />
anerkannt, wenn diese darauf hinweisen, dass eine Verteidigerbestellung nicht allein deshalb abgelehnt<br />
werden dürfe, weil ein Fall der §§ 397a, 406h StPO nicht vorliege. Erforderlich sei vielmehr eine<br />
einzelfallbezogene Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung trotz einer bestehenden<br />
anwaltlichen Vertretung des Verletzten, wobei neben der Komplexität des Anklagevorwurfs und der Beweislage<br />
auch der Umstand in die Erwägungen einzubeziehen sei, dass ein anwaltlich vertretener Verletzter<br />
regelmäßig von seinen verfahrensgestaltenden Rechten Gebrauch macht (OLG Hamburg StV 2017, 149). Im<br />
Ergebnis dürften daher beide Ansichten oftmals zum selben Ergebnis kommen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 853
Fach 22, Seite 930<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
3. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung<br />
a) Gesundheitliche und geistige Einschränkungen<br />
Bei der Prüfung des § 140 Abs. 2 StPO sind auch die in der Person des Angeklagten liegenden Umstände<br />
zu berücksichtigen. Wer mit geistigen Beeinträchtigungen leben muss, ist sehr viel schneller mit der<br />
Wahrnehmung seiner Rechte überfordert und daher u.U. in weitaus höherem Maße auf den Beistand<br />
eines Verteidigers angewiesen als Gesunde. Dennoch kommt es bei der Prüfung der Selbstverteidigungsfähigkeit<br />
immer wieder zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, bei deren Lektüre man<br />
oftmals nur staunen kann, welche Beeinträchtigungen der Selbstverteidigungsfähigkeit unbeachtlich<br />
sein sollen und was manch Angeklagtem zugemutet wird.<br />
So sollte es nicht des Eingreifens einer Beschwerdekammer bedürfen, um zu der Erkenntnis zu gelangen,<br />
dass ein unter motorischen Sprachstörungen leidender, unter Betreuung stehender Angeklagter,<br />
dessen Betreuer u.a. zur „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt ist, nicht in der Lage ist, sich in<br />
einem Strafverfahren selbst zu verteidigen (so aber in dem der Entscheidung LG Berlin StV 20<strong>16</strong>, 487<br />
zugrunde liegenden Fall). Wer selbst bei Alltagsvorgängen im Umgang mit Behörden überfordert ist und<br />
der Unterstützung durch einen Betreuer bedarf, ist in einem Strafverfahren, das ungleich belastender ist<br />
und in dem erhebliche Grundrechtseingriffe drohen, erst recht nicht in der Lage, sich selbst zu<br />
vertreten.<br />
Hinweis:<br />
Ein unter Betreuung stehender Angeklagter muss sich auch nicht darauf verweisen lassen, dass der Betreuer<br />
in der Hauptverhandlung anwesend sein kann. Die Aufgaben des Betreuers unterscheiden sich von<br />
jenen eines Strafverteidigers grundlegend (LG Oldenburg NdsRpfl 20<strong>16</strong>, 315). Dies gilt auch dann, wenn der<br />
Betreuer des Angeklagten selbst Rechtsanwalt ist (OLG Naumburg BtPrax 2017, 83).<br />
Auch eine langjährige, schwer behandelbare psychiatrische Erkrankung (dissozial-narzisstische<br />
Persönlichkeitsstörung) kann die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (OLG Hamburg StV <strong>2018</strong>,<br />
143). Gleiches gilt für einen reifeverzögerten Heranwachsenden mit stark beeinträchtigten geistigen<br />
Fähigkeiten (OLG Hamburg StV 2017, 724).<br />
Hinweis:<br />
Drogenabhängigkeit führt dagegen für sich allein noch nicht zur Verteidigungsunfähigkeit (KG, Beschl. v.<br />
23.2.20<strong>16</strong> – 3 Ws 87/<strong>16</strong>, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 422/20<strong>16</strong>). Hier bedarf es darüber hinaus weiterer Umstände, die die<br />
Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich machen. Anhaltspunkte hierfür können eine Betreuerbestellung<br />
sein oder Ausführungen in einem Sachverständigengutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit,<br />
wenn sich dort Erkenntnisse etwa über eine drogenbedingte Persönlichkeitsstörung und dergleichen<br />
finden.<br />
b) Sprachprobleme<br />
Immer wieder für Streit sorgt in der Praxis auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen einem<br />
Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ein Pflichtverteidiger zu bestellen<br />
ist. Auf Sprachschwierigkeiten gestützte Anträge stoßen immer wieder auf Widerstand, der i.d.R. damit<br />
begründet wird, dass doch die Anklageschrift übersetzt worden sei und in der Hauptverhandlung ein<br />
Dolmetscher zugegen wäre. Unzureichende Sprachkenntnisse des Angeklagten können aber durch die<br />
Bestellung eines Dolmetschers jedenfalls dann nicht vollständig ausgeglichen werden, wenn im<br />
Einzelfall komplexe Rechtsfragen zu prüfen sind (so zu Recht LG Detmold InfAuslR 2017, 131 für ein<br />
Verfahren, in dem außer nebenstrafrechtlichen Bestimmungen auch verwaltungsrechtliche Vorschriften<br />
zu erörtern waren). Zudem kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers – auch in rechtlich und tatsächlich<br />
einfach gelagerten Fällen – dann geboten sein, wenn es bei der Übersetzung eines Strafbefehls/<br />
einer Anklage zu Fehlern gekommen ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte<br />
854 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 931<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
aufgrund sprachbedingter Verständigungsschwierigkeiten nicht in der Lage war, alle Möglichkeiten<br />
einer angemessenen Verteidigung auszuschöpfen (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.6.<strong>2018</strong> – 5/17 Qs 26/17).<br />
Auch bei einer erforderlichen ausführlichen Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Angaben von<br />
Zeugen und/oder Mitangeklagten ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers unzureichend (LG Kiel StV<br />
20<strong>16</strong>, 485).<br />
Hinweis:<br />
Neben etwaigen Verständigungsschwierigkeiten sollen bei ausländischen Angeklagten im Rahmen der Prüfung<br />
des § 140 Abs. 2 StPO auch mögliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen in die Erwägungen einzubeziehen<br />
sein (LG Hof, Beschl. v. 25.11.2015 – 4 Qs 153/15). Dem wird man insbesondere in Fällen, in denen im<br />
Fall der Verurteilung eine Ausweisung droht, zustimmen können (zu aufenthaltsrechtlichen Folgen eines<br />
Strafverfahrens, BAHR, in: BURHOFF/KOTZ, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil H Rn 97).<br />
V. Umfang der Beiordnung<br />
Hinsichtlich der Reichweite der Beiordnung sind zwei Konstellationen weiterhin umstritten. Zum einen<br />
besteht Uneinigkeit darüber, ob sich die Verteidigerbestellung auch auf das Adhäsionsverfahren<br />
erstreckt (dafür: LG München StV <strong>2018</strong>, 153, dagegen: OLG Celle JurBüro 2017, 197).<br />
Praxishinweis:<br />
Da sich die Ansichten hierzu von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk unterscheiden können, empfiehlt es<br />
sich, den Beiordnungsantrag von vornherein ausdrücklich auch auf das Adhäsionsverfahren zu erstrecken.<br />
Zum anderen wird in der Rechtsprechung nach wie vor nicht einheitlich beurteilt, ob eine im Strafbefehlsverfahren<br />
gem. § 408b StPO erfolgte Beiordnung nur bis zur Einspruchseinlegung oder darüber<br />
hinaus auch für die auf den Einspruch folgende Hauptverhandlung gilt. Das OLG Oldenburg hat sich<br />
nunmehr insoweit der zuvor bereits von den OLG Köln (StV 2010, 68) und Celle (StV 2011, 661)<br />
vertretenen Auffassung angeschlossen und eine Wirkung der Verteidigerbestellung auch für die auf den<br />
Einspruch folgende Hauptverhandlung bejaht (StV <strong>2018</strong>, 152).<br />
VI. Mehrere Pflichtverteidiger<br />
In den allermeisten Verfahren, insbesondere in jenen vor den Amtsgerichten, wird die Bestellung eines<br />
Pflichtverteidigers genügen, um eine ordnungsgemäße Vertretung des Angeklagten zu sichern. Die<br />
Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt nach der Rechtsprechung daher nur in eng<br />
begrenzten Ausnahmefällen in Betracht (KG StV 2017, 155).<br />
Hinweis:<br />
Ein solcher Ausnahmefall ist erst gegeben, wenn für die Mitwirkung eines zweiten Verteidigers ein unabweisbares<br />
Bedürfnis besteht (KG a.a.O.).<br />
Dies kommt insbesondere in Umfangsverfahren in Betracht, in denen sich die Hauptverhandlung über<br />
einen längeren Zeitraum erstreckt und sichergestellt werden muss, dass auch bei einem vorübergehenden<br />
Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder wenn der Verfahrensstoff so<br />
außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger<br />
beherrscht werden kann (LG Dessau-Roßlau StV 20<strong>16</strong>, 488; KG a.a.O.).<br />
In derartigen Fällen soll es allerdings grundsätzlich zulässig sein, nach Abschluss des Tatsachenrechtszugs<br />
die Bestellung des zweiten Pflichtverteidigers zurückzunehmen, da es dann nicht mehr notwendig<br />
sei, den Fortgang der Hauptverhandlung zu sichern. Ein Bedürfnis für die weitere Mitwirkung des<br />
zweiten Verteidigers soll dann nur ausnahmsweise vorhanden sein (KG, Beschl. v. 10.7.2015 – 1 Ws 44/15).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 855
Fach 22, Seite 932<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
VII. Auswahl des Pflichtverteidigers<br />
Benennt der Beschuldigte/Angeklagte einen Rechtsanwalt, von dem er vertreten werden will, so ist<br />
dieser zum Pflichtverteidiger zu bestellen, sofern kein wichtiger Grund entgegensteht, § 142 Abs. 1 S. 2<br />
StPO. Ein solch wichtiger Grund ist nur ausnahmsweise anzunehmen; der Grundsatz des fairen<br />
Verfahrens gebietet es, die Wünsche des Mandanten soweit wie möglich zu berücksichtigen (BURHOFF,<br />
EV, Rn 2772, 8. Aufl. Rn 2789, m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Einen ausdrücklichen Rechtsanspruch auf die Beiordnung des gewünschten Verteidigers hat der Angeklagte<br />
aber nach wie vor nicht (BVerfG NStZ 2006, 460).<br />
Ein der Beiordnung entgegenstehender wichtiger Grund kann dann gegeben sein, wenn ein Interessenkonflikt<br />
vorliegt (BGH NStZ 20<strong>16</strong>, 115). Tritt ein solcher Konflikt erst nach der Beiordnung zutage, ist<br />
– nach Anhörung des Angeklagten – deren Rücknahme zu prüfen (BGH a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Nach einer neueren Entscheidung des OLG Bremen (Beschl. v. 2.3.<strong>2018</strong> – 1 Ws 12/18, NStZ-RR <strong>2018</strong>, 188) kann<br />
eine Verteidigerbestellung schon abgelehnt werden, wenn ein Interessenkonflikt absehbar ist. Die Ablehnung<br />
könne bereits vertretbar sein, wenn die Gefahr einer Interessenkollision aktuell noch nicht übermäßig<br />
groß erscheine, indes aber unbedingt vermieden werden soll, dass sie später doch virulent wird. Die sei bei der<br />
Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch Rechtsanwälte derselben Sozietät grundsätzlich schon dann<br />
der Fall, wenn eine Anklage wegen einer gemeinsamen Tat vorliege, sofern sich nicht im Einzelfall aus dem<br />
Einlassungsverhalten der Beschuldigten etwas anderes ergebe. Konkreter Hinweise auf das Bestehen dieses<br />
Konflikts bedürfe es dann nicht. Die Abberufung eines bereits bestellten Verteidigers hingegen soll nur bei<br />
Vorliegen konkreterer Hinweise auf einen tatsächlichen Interessenkonflikt erfolgen (OLG Bremen a.a.O.).<br />
Dem Wunsch des Angeklagten nach Beiordnung seines Wunschverteidigers kann im Einzelfall auch das<br />
Beschleunigungsgebot entgegenstehen. Ist der Verteidiger aufgrund anderweitiger Verpflichtungen<br />
daran gehindert, in angemessener Zeit Hauptverhandlungstermine wahrzunehmen, kann dem Beschleunigungsgebot<br />
der Vorrang gebühren, zumal dieses nicht zur Disposition des Angeklagten steht<br />
(OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436). Der Hinweis des Angeklagten, er sei notfalls mit einem späteren Beginn<br />
der Hauptverhandlung einverstanden, vermag ihm daher den gewünschten Anwalt nicht zu<br />
verschaffen.<br />
Fehlt es dagegen an einer besonderen Eilbedürftigkeit, kann einer Terminierung auf einen späteren<br />
Zeitpunkt gegenüber einer Entpflichtung der Vorrang gebühren (LG Lüneburg StV 20<strong>16</strong>, 490; zum<br />
Spannungsfeld zwischen dem Beschleunigungsgebot einerseits und der Verfügbarkeit des Wunschverteidigers<br />
andererseits s. auch HILLENBRAND <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 921, 925).<br />
Dagegen kann die Beiordnung nicht allein deshalb verweigert werden, weil der benannte Rechtsanwalt<br />
nicht im Gerichtsbezirk ansässig ist. Die frühere Beschränkung, wonach „möglichst“ auf im<br />
Bezirk ansässige Rechtsanwälte zurückzugreifen war, hat der Gesetzgeber bereits vor Jahren<br />
gestrichen. Auf eine (erhebliche) Ortsferne des Verteidigers kann daher allenfalls noch abgestellt<br />
werden, wenn hierdurch eine sachgerechte Verteidigung gefährdet erscheint (OLG Zweibrücken,<br />
Beschl. v. 18.8.20<strong>16</strong> – 1 Ws 198/<strong>16</strong>).<br />
VIII. Entscheidungszeitpunkt<br />
Liegen die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese möglichst<br />
frühzeitig vorzunehmen (BURHOFF, EV, Rn 3042, 8. Aufl. Rn 3059). Hierauf muss der Verteidiger achten<br />
und erforderlichenfalls darauf hinwirken, dass das Gericht dieser Verpflichtung auch tatsächlich<br />
nachkommt.<br />
856 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 933<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Dies ist nämlich nicht immer der Fall. Insbesondere in Verfahren, in denen im Hinblick auf anderweitige<br />
Tatvorwürfe eine Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO in Betracht kommt, werden Anträge immer wieder<br />
gern liegen gelassen, um eine Beiordnung dann mit oder gar nach der Einstellung des Verfahrens<br />
abzulehnen, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht (mehr) vorliege. Dahinter steckt regelmäßig<br />
der Gedanke, dass die Verteidigerbestellung überflüssig sei, da dem Angeklagten im Falle einer<br />
Einstellung ja kein Unheil drohe. Dies ist freilich schon deshalb falsch, weil eine solche Vorgehensweise<br />
dem Grundsatz, wonach die Verteidigerbestellung so früh wie möglich vorzunehmen ist, evident<br />
widerspricht. Es ist – auch bei einem nicht inhaftierten Beschuldigten – nicht zulässig, dem Verfahren<br />
erst Fortgang zu geben und dann am Ende über den Beiordnungsantrag zu entscheiden (LG<br />
Mühlhausen, Beschl. v. 1.12.2017 – 3 Qs 205/17, StRR 3/<strong>2018</strong>, 21). Überdies kann sich die Erforderlichkeit<br />
der Mitwirkung eines Verteidigers auch daraus ergeben, dass es die überwiegende Rechtsprechung<br />
nach wie vor für grundsätzlich zulässig hält, auch Taten, derentwegen das Verfahren gem. § 154 Abs. 2<br />
StPO eingestellt wurde, bei der Aburteilung der anderen Delikte im Rahmen der Strafzumessung<br />
strafschärfend zu berücksichtigen.<br />
Praxishinweis:<br />
Bleibt das Gericht untätig, kann es sich empfehlen, hiergegen mit dem Rechtsmittel der Beschwerde<br />
vorzugehen, auch wenn die StPO eine reine Untätigkeitsbeschwerde nicht kennt. Wird nämlich eine<br />
von Amts wegen gebotene oder auf Antrag zu treffende Entscheidung, die ihrerseits selbst anfechtbar<br />
wäre, unterlassen und kommt dies nicht lediglich einer Verfahrensverzögerung, sondern einer endgültigen<br />
Ablehnung gleich, ist dies anfechtbar (LG Dresden StV 2017, 174 für eine unterlassene Beiordnungsentscheidung,<br />
wenn ein nur <strong>16</strong> Tage später stattfindender Hauptverhandlungstermin anberaumt<br />
wird).<br />
Wird die Nicht-Verbescheidung des Antrags dagegen hingenommen, drohen später nicht unerhebliche<br />
Schwierigkeiten, nachdem die überwiegende Rechtsprechung weiterhin davon ausgeht, dass<br />
eine rückwirkende Verteidigerbestellung unzulässig sei. Der Zweck der Pflichtverteidigung, dem<br />
Angeklagten einen rechtskundigen Beistand und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu<br />
sichern, könne dann nicht mehr erreicht werden (OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 325/2015; LG Halle/Saale, Beschl. v. 31.7.2015 – 3 Qs 151/15, StRR 2015, 389; weitere Nachweise<br />
bei BURHOFF, EV, Rn 3044, 8. Aufl. Rn 3061). Die Gegenauffassung (u.a. LG Trier StRR 2015, 389; LG<br />
Mühlhausen, Beschl. v. 1.12.2017 – 3 Qs 205/17, StRR 3/<strong>2018</strong>, 21) hat sich bislang jedenfalls nicht auf<br />
breiter Linie durchzusetzen vermocht.<br />
Hinweis:<br />
Lässt das Gericht die Mitwirkung des Verteidigers ohne Hinweis auf ein eigenes Kostenrisiko zu, ist jedoch<br />
eine schlüssige Beiordnung zum Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen (BGH NStZ-RR 2009, 348;<br />
OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, <strong>ZAP</strong> En-Nr. 325/2015). Eine solche konkludente Beiordnung<br />
kann auch nachträglich festgestellt werden, so dass das Fehlen einer ausdrücklichen Beiordnung die<br />
Abrechnung der entstandenen Pflichtverteidigergebühren nicht hindert (BGH a.a.O.). Von einer konkludenten<br />
Bestellung wird man ausgehen können, wenn das Gericht mit dem Verteidiger Schriftwechsel führt,<br />
Stellungnahmen von ihm einholt oder ihm Terminsladungen zustellt.<br />
IX. Rücknahme der Bestellung<br />
Ist die begehrte Beiordnung erfolgt, gilt diese bis zur Rechtskraft des Urteils (BURHOFF, EV, Rn 3009,<br />
8. Aufl. Rn 3026). Sie kann grundsätzlich nicht zurückgenommen werden, weil sich im Nachhinein die<br />
Einschätzung des Gerichts zu der Frage, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ändert (LG<br />
Bonn StraFo 20<strong>16</strong>, 295). Dies gilt auch für das Berufungsgericht (KG StV 2017, 154).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 857
Fach 22, Seite 934<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Hinweis:<br />
Zudem kann ein – für das Gericht bindender – Beiordnungsantrag der Staatsanwaltschaft gem. § 141 Abs. 3<br />
StPO nicht zurückgenommen werden (LG Münster StV 20<strong>16</strong>, 157; LG Verden StraFo 2017, 279).<br />
Allerdings riskiert der Rechtsanwalt den Fortbestand der Bestellung, wenn er die Verteidigung nicht<br />
ordnungsgemäß führt, was leider hin und wieder vorkommt und belegt, dass der schlechte Ruf der<br />
Pflichtverteidigung (hierzu BURHOFF, EV, Rn 2763, 8. Aufl. Rn 2780) nicht nur der Justiz, sondern auch<br />
einem kleinen Teil der Anwaltschaft geschuldet ist.<br />
Es können jedoch bei Weitem nicht nur pflichtvergessene Anwälte, sondern auch völlig ordnungsgemäß<br />
agierende Verteidiger plötzlich mit der Frage einer Entpflichtung konfrontiert werden, sei es durch<br />
Versuche der Gerichte, einen missliebigen Pflichtverteidiger „loszuwerden“, sei es durch konkurrierende<br />
Rechtsanwälte, die in das Mandat hineindrängen. Im Einzelnen:<br />
1. Entpflichtung<br />
a) Fehlverhalten/Untätigkeit des Verteidigers<br />
Die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an eine Entpflichtung des bestellten Verteidigers<br />
sind hoch. Besitzt der Pflichtverteidiger das Vertrauen des Angeklagten, berührt eine Rücknahme der<br />
Beiordnung dessen Verteidigungsbelange auf das Stärkste und kommt deshalb nur in Betracht, wenn<br />
Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung ernsthaft gefährden (BGH NJW 20<strong>16</strong>, 884).<br />
Demgegenüber sinken die Voraussetzungen für die Rücknahme der Bestellung bei einem Fehlverhalten<br />
des Verteidigers. Hier kann es nicht nur zulässig, sondern sogar geboten sein, dass das Gericht<br />
einschreitet und eine sachgerechte Verteidigung sicherstellt. So verlangt Art. 6 Abs. 3c MRK nach<br />
Auffassung des EGMR und des BGH bei nicht ordnungsgemäßer Verteidigung (auch ohne anwaltliches<br />
Verschulden, etwa bei Erkrankung) positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden, um<br />
diesem Zustand abzuhelfen (BGH, Beschl v. 5.6.<strong>2018</strong> – 4 StR 138/18 m.w.N.).<br />
Der bestellte Pflichtverteidiger hat die Verteidigung ordnungsgemäß und mit dem gebotenen Engagement<br />
zu führen. Diese Verpflichtung trifft ihn nicht erst in der Hauptverhandlung, sondern unmittelbar ab dem<br />
Moment der Beiordnung. Verstößt der Verteidiger hiergegen, indem er den inhaftierten Beschuldigten über<br />
Monate hinweg nicht in der JVA besucht, um die Verteidigungsstrategie zu erörtern, rechtfertigt dies den<br />
Widerruf der Beiordnung (AG Köln StV 20<strong>16</strong>, 491; LG Ingolstadt StRR 9/2017, 2).<br />
Hinweis:<br />
Weigert sich der Vorsitzende trotz eines offensichtlichen Fehlverhaltens, die gebotene Entpflichtung vorzunehmen,<br />
begründet dies die Besorgnis der Befangenheit (AG Köln StV 20<strong>16</strong>, 491).<br />
Darüber hinaus hat der Pflichtverteidiger aufgrund ihrer überragenden Bedeutung für den Ausgang des<br />
Verfahrens regelmäßig an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Tut er dies in einem Umfangsverfahren<br />
nicht, ist eine ordnungsgemäße Verteidigung konkret in einer derart schwerwiegenden Weise<br />
gefährdet, dass die Rücknahme der Bestellung gerechtfertigt ist (OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436).<br />
Hinweis:<br />
Im Falle einer Verhinderung an einzelnen Verhandlungstagen ist jedoch eine Vertretung des anderweitig<br />
terminlich gebundenen Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger grundsätzlich zulässig,<br />
sofern eine ordnungsgemäße Verteidigung durch den Vertreter gewährleistet ist. Dies erfordert entweder eine<br />
umfassende Aktenkenntnis (die insbesondere bei größeren Verfahren kaum einmal vorhanden sein dürfte)<br />
oder einen überschaubaren Verhandlungsstoff an jenem Verhandlungstag (LG Dessau-Roßlau StV 20<strong>16</strong>, 488).<br />
858 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 935<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
b) Fehler im Beiordnungsverfahren<br />
Im Einzelfall können aber auch Fehler des Gerichts im Rahmen des Beiordnungsverfahrens zur Entpflichtung<br />
führen. Wird der Beschuldigte vor der Bestellung entgegen § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, der regelmäßig<br />
eine Pflicht zur Anhörung begründet, nicht ordnungsgemäß angehört, ist der dennoch<br />
beigeordnete Verteidiger auf Antrag auch dann zu entpflichten und ein vom Beschuldigten benannter<br />
Anwalt beizuordnen, wenn Anhaltspunkte für eine Störung des Vertrauensverhältnisses nicht dargelegt<br />
werden (OLG Koblenz StV 20<strong>16</strong>, 512). Dies gilt nicht nur, wenn eine Anhörung komplett unterbleibt,<br />
sondern auch dann, wenn die dem Beschuldigten gesetzte Frist zur Benennung eines Verteidigers zu<br />
kurz bemessen wird (LG Siegen StRR 2015, 465).<br />
Bei der Bemessung der Frist ist darauf zu achten, dass dem Beschuldigten genügend Zeit bleibt, um sich auf<br />
dem immer größer und unüberschaubarer werdenden Anwaltsmarkt zu orientieren und einen Besprechungstermin<br />
zu vereinbaren. Erst nach einem persönlichen Kontakt kann der Beschuldigte absehen,<br />
ob das für eine ordnungsgemäße Strafverteidigung unabdingbare Vertrauen zu dem ausgewählten<br />
Rechtsanwalt vorhanden ist oder ob er nach einer Alternative Ausschau halten muss.<br />
Wird gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft vollzogen, erschweren die damit zwangsläufig<br />
verbundenen Einschränkungen die Anwaltssuche abermals. Auch dies ist bei der Fristbemessung zu<br />
berücksichtigen (bedenklich daher LG Heilbronn, Beschl. v. 26.9.20<strong>16</strong> – 8 Qs 39/<strong>16</strong>, wonach bei einem<br />
sprachunkundigen inhaftierten Beschuldigten eine Frist von nur einer Woche ausreichend sein soll).<br />
Praxishinweis:<br />
Der in Korrektur des fehlerhaften Anhörungsverfahrens neu beigeordnete Verteidiger muss sich bei der<br />
Abrechnung des Mandats nicht entgegenhalten lassen, dass für die Tätigkeit des früheren Verteidigers<br />
bereits Gebühren angefallen seien. Einschränkungen dahingehend, dass die durch den – allein aufgrund<br />
des vom Gericht zu verantwortenden Verfahrensfehlers – erforderlich gewordenen Verteidigerwechsel<br />
entstehenden Mehrkosten nicht zu erstatten sind, sind unzulässig (LG Bielefeld RVGreport 20<strong>16</strong>, 478).<br />
2. Herausdrängen des Pflichtverteidigers<br />
Gefahr für den Bestand der Beiordnung geht jedoch nicht nur von den Gerichten aus, sondern in<br />
zunehmendem Maße auch von anderen Rechtsanwälten. Insbesondere in Verfahren, die wegen ihrer<br />
Bedeutung und/oder ihres Umfangs attraktiv erscheinen, müssen Pflichtverteidiger vermehrt mit<br />
Versuchen rechnen, aus dem Mandant herausgedrängt zu werden.<br />
a) Entpflichtung gem. § 143 StPO<br />
Dabei wird häufig dergestalt vorgegangen, dass sich zunächst ein neuer Rechtsanwalt als Wahlverteidiger<br />
legitimiert und zugleich die Entpflichtung des bisherigen Verteidigers gem. § 143 StPO beantragt. Nachdem<br />
diese erfolgt ist, wird das Wahlmandat niedergelegt und die eigene Beiordnung beantragt.<br />
Derartige Versuche lassen sich jedoch unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung recht gut<br />
abwehren. So betonen die Obergerichte, dass die Beiordnung des Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger<br />
in aller Regel dann nicht in Betracht kommt, wenn er zuvor durch die Übernahme des Wahlmandats die<br />
Entpflichtung des Pflichtverteidigers gem. § 143 StPO bewirkt und diesen so aus seiner Verteidigerstellung<br />
verdrängt hat. Stattdessen ist regelmäßig wieder der frühere Pflichtverteidiger zu bestellen<br />
(OLG Stuttgart StV 20<strong>16</strong>, 142; KG NStZ 2017, 64).<br />
Darüber hinaus hat die Rechtsprechung auch auf den hin und wieder zu beobachtenden Versuch, die<br />
Verdrängungsabsicht etwas weniger offensichtlich zutage treten zu lassen bzw. diese zu verschleiern,<br />
indem der „eigene“ Beiordnungsantrag erst eine gewisse Zeit nach der Entpflichtung des bisherigen<br />
Verteidigers gestellt wird, reagiert und klargestellt, dass es grundsätzlich nicht darauf ankomme, ob der<br />
Wahlverteidiger seinen eigenen Beiordnungsantrag in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit<br />
der Entpflichtung oder mit Verzögerung stellt (KG a.a.O.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 859
Fach 22, Seite 936<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Hinweis:<br />
In Ausnahmefällen, etwa wenn der Angeklagte im Laufe eines längeren Verfahrens unvorhergesehen<br />
mittellos wird und der ehemalige Pflichtverteidiger aufgrund des fortgeschrittenen Verfahrensstadiums die<br />
Verteidigung nicht erneut übernehmen kann, wird allerdings eine Bestellung des bisherigen Wahlverteidigers<br />
in Betracht zu ziehen sein. Der Vorwurf des Verdrängens geht bei zuvor nicht absehbaren, nachträglich<br />
eingetretenen Umständen fehl. Das KG hat diese Frage in der vorgenannten Entscheidung allerdings<br />
mangels Entscheidungsrelevanz jedoch offen gelassen.<br />
b) Vermeintlicher Vertrauensverlust<br />
Dieser Kurs der Gerichte erschwert eine Verdrängung des bisherigen Pflichtverteidigers über § 143 StPO<br />
zunehmend. Wohl als Reaktion hierauf wurde eine weitere Verdrängungsmethode entwickelt: Anstatt<br />
über § 143 StPO auf eine Entpflichtung des bisherigen Verteidigers hinzuwirken, wird unmittelbar die<br />
Umbeiordnung beantragt und zur Begründung vorgetragen, der Angeklagte habe zu seinem bisherigen<br />
Verteidiger kein Vertrauen mehr.<br />
Die Gründe hierfür erweisen sich oftmals als vorgeschoben, und entsprechend dünn sind dann die<br />
Ausführungen hierzu. Dies kann der zu Unrecht angegangene Pflichtverteidiger zur Abwehr solcher<br />
Angriffe nutzen: Die Rechtsprechung stellt hohe Darlegungsanforderungen, wenn eine Zerrüttung des<br />
Vertrauensverhältnisses geltend gemacht werden soll. Die entsprechende Behauptung muss mit<br />
konkreten Tatsachen belegt werden; allgemeine, floskelhafte Unzufriedenheitsbekundungen genügen<br />
für eine Entpflichtung ebenso wenig wie unterschiedliche Auffassungen über die Verteidigungsstrategie.<br />
Bei unsubstantiierten Entpflichtungsanträgen, mit denen lediglich pauschale Vorwürfe erhoben werden,<br />
kann der Angeklagte auch keinen (zweiten) Pflichtverteidiger für das „Entpflichtungsverfahren“, etwa<br />
für eine Beschwerde gegen die Ablehnung des Entpflichtungsantrags, verlangen (OLG Hamburg, Beschl.<br />
v. 29.2.20<strong>16</strong> – 2 Ws 28/<strong>16</strong>).<br />
Hinweis:<br />
Bei der Beurteilung, ob das Vertrauensverhältnis endgültig und nachhaltig erschüttert ist, kommt es nicht<br />
auf das subjektive Empfinden des jeweiligen Mandanten an. Maßgeblich ist vielmehr der Standpunkt eines<br />
vernünftigen und verständigen Angeklagten (KG StRR 2/<strong>2018</strong>, 9).<br />
Zu beachten ist auch, dass der Verteidiger rechtskundiger Beistand des Angeklagten ist und nicht<br />
dessen Vertreter. Er hat sich allseitig unabhängig zu halten und, wo er durch Anträge oder in sonstiger<br />
Weise in das Verfahren eingreift, dies in eigener Verantwortung und frei von Weisungen des<br />
Angeklagten zu tun. Auch liegt eine Pflichtverletzung nicht bereits dadurch vor, dass der Pflichtverteidiger<br />
für den Beschuldigten nicht durchgängig erreichbar ist (KG a.a.O. m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Sind die Gründe für den Vertrauensverlust aber schlüssig dargetan (einen vollen Beweis muss der<br />
Angeklagte nicht führen), kann auch der Wahlverteidiger beigeordnet werden (OLG Stuttgart StV<br />
20<strong>16</strong>, 142).<br />
3. Einvernehmliche Umbeiordnung<br />
Bei allseitigem Einverständnis ist eine Auswechslung des Pflichtverteidigers dagegen möglich (OLG<br />
Naumburg StraFo 20<strong>16</strong>, 515; OLG Karlsruhe NStZ 2017, 304). In diesem Fall gebietet es grundsätzlich<br />
die gerichtliche Fürsorgepflicht, dem Angeklagten den Anwalt seines Vertrauens beizuordnen. Eines<br />
zerrütteten Vertrauensverhältnisses oder eines Fehlverhaltens des bisherigen Verteidigers bedarf es<br />
dann nicht (OLG Celle StRR 10/2017, 2), so dass auch entsprechender Vortrag unterbleiben kann.<br />
860 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 937<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
Praxishinweis:<br />
Der Verteidigerwechsel darf allerdings nicht zu einer Verfahrensverzögerung führen (KG NStZ 2017, 305).<br />
Sind bereits Hauptverhandlungstermine bestimmt, empfiehlt es sich daher für den neuen Verteidiger,<br />
zugleich mit dem Beiordnungsantrag mitzuteilen, dass die Termine wahrgenommen werden können.<br />
Andernfalls geht er das Risiko ein, dass das Gericht die Umbeiordnung unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot<br />
ablehnt. Hiergegen wäre selbst dann schwer anzukommen, wenn der Angeklagte sich mit<br />
einer längeren Verfahrensdauer einverstanden erklärt. Das Beschleunigungsgebot steht nicht zu seiner<br />
Disposition (OLG Stuttgart NStZ 20<strong>16</strong>, 436).<br />
Darüber hinaus darf die Umbeiordnung auch keine Mehrkosten für die Staatskasse zur Folge haben.<br />
Um solche Mehrkosten zu vermeiden, kann der neue (oder der alte) Pflichtverteidiger auf Gebühren<br />
verzichten (OLG Saarbrücken StraFo 20<strong>16</strong>, 514; OLG Karlsruhe NStZ 2017, 304; OLG Stuttgart, Beschl. v.<br />
25.10.2017 – 2 Ws 277/17).<br />
Hinweis:<br />
Der Umstand, dass der neue Verteidiger seinen Kanzleisitz andernorts unterhält und daher im Vergleich<br />
zur Tätigkeit des bisherigen, ortsansässigen Anwalts höhere Reisekosten anfallen, rechtfertigt die<br />
Ablehnung der Umbeiordnung aber nicht. Diese Kosten wären auch dann angefallen, wenn der Angeklagte<br />
den neuen Verteidiger von Vornherein benannt hätte und dieser beigeordnet worden wäre<br />
(LG Osnabrück RVGreport 2017, 319).<br />
X. Strafvollstreckung<br />
Im Bereich der Strafvollstreckung ist, was die Bestellung von Pflichtverteidigern betrifft, in den letzten<br />
Jahren alles beim Alten geblieben (zur Beiordnung im Vollstreckungsverfahren BURHOFF, EV, Rn 2812,<br />
8. Aufl. Rn 2829). Der Gesetzgeber hält eine speziell auf das Vollstreckungsverfahren zugeschnittene<br />
gesetzliche Regelung nach wie vor für entbehrlich, so dass weiterhin § 140 Abs. 2 StPO analog<br />
angewendet werden muss. Ebenso unverändert ist der restriktive Kurs der Rechtsprechung, wonach<br />
eine Beiordnung regelmäßig nur in Ausnahmekonstellationen von besonderem Gewicht oder<br />
besonderer Komplexität in Betracht kommt, etwa bei Fragen der Überprüfung der Unterbringung in<br />
der Sicherungsverwahrung, bei komplexen Strafzeitberechnungen, Vollstreckungshilfeverfahren oder<br />
rechtlich oder tatsächlich schwierigen oder folgenreichen Konstellationen (OLG Stuttgart StV <strong>2018</strong>, 379).<br />
Hinweis:<br />
Im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung (hierzu HILLENBRAND, in: BURHOFF/<br />
KOTZ, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil A Rn 371) liegt eine solche Ausnahmekonstellation<br />
nicht schon dann vor, wenn der Verurteilte im Falle des Widerrufs eine Freiheitsstrafe von einem Jahr<br />
oder mehr zu verbüßen hätte (ganz h.M.). Die vereinzelt vertretene Gegenansicht (LG Paderborn,<br />
Beschl. v. 28.10.20<strong>16</strong> – 1 Qs 125/<strong>16</strong>) verkennt, dass im Widerrufsverfahren – im Gegensatz zum Erkenntnisverfahren<br />
– die Höhe der Strafe bereits rechtskräftig feststeht und die Gefahr, dass der Verurteilte<br />
durch einen schwerwiegenden Rechtsfolgenausspruch überrascht wird, nicht mehr besteht<br />
(OLG Stuttgart a.a.O.).<br />
Dagegen kann ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen, wenn<br />
• der Verurteilte nur über eingeschränkte Sprachkenntnisse verfügt und sich deshalb nicht eingehend<br />
mit einem vom Gericht im Vollstreckungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten<br />
auseinandersetzen kann (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.8.20<strong>16</strong> – 1 Ws 198/<strong>16</strong>);<br />
• das Verfahren bislang derart (verfahrens-)fehlerhaft bearbeitet wurde, dass das zuständige<br />
Beschwerdegericht bereits zwei erstinstanzliche Entscheidungen aufheben musste (OLG Köln StV<br />
2017, 157);<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong> 861
Fach 22, Seite 938<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Notwendige Verteidigung – Update <strong>2018</strong><br />
• die Strafvollstreckungskammer im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB<br />
aufgrund des Ergebnisses eines Sachverständigengutachtens erwägt, abweichend von der Stellungnahme<br />
der JVA zu entscheiden (OLG Stuttgart StraFo 20<strong>16</strong>, 2<strong>16</strong>);<br />
• im Reststrafenaussetzungsverfahren eine bislang nicht aktenkundige, langjährige dissozial-narzisstische<br />
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde (OLG Hamburg StV <strong>2018</strong>, 143) oder<br />
• der Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft auf eine erhobene Anklage und zwei laufende<br />
Ermittlungsverfahren abstellt, ohne dass die Taten bereits abgeurteilt oder zumindest glaubhaft<br />
gestanden sind (LG Paderborn StRR 3/2017, 15).<br />
Sind derartige einzelfallbezogene Besonderheiten dagegen nicht ersichtlich, scheidet eine Beiordnung<br />
im Vollstreckungsverfahren in aller Regel aus.<br />
Praxishinweis:<br />
Nach wie vor unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob eine einmal erfolgte Beiordnung für das<br />
gesamte Vollstreckungsverfahren gilt oder lediglich für den jeweiligen Verfahrensabschnitt. Einige Gerichte<br />
verlangen weiterhin eine erneute Beiordnung für jeden Abschnitt (so zuletzt OLG Koblenz StV 20<strong>16</strong>,<br />
512), so dass eine solche vorsorglich jeweils beantragt werden sollte, zumindest sofern es im betroffenen<br />
Gerichtsbezirk insoweit keine gefestigte einheitliche Rechtsprechung gibt.<br />
XI. Checkliste für den Pflichtverteidiger<br />
Die nachfolgende Checkliste gibt stichwortartig die wichtigsten Prüfungsschritte wieder, die der<br />
Verteidiger im Zusammenhang mit Fragen der Pflichtverteidigung beachten sollte.<br />
1. Vor der Beiordnung<br />
□ Liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor?<br />
□ Sind die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO gegeben?<br />
□ Wenn nein: greift stattdessen § 140 Abs. 2 StPO?<br />
□ Schwere der Tat (v.a. bei (Gesamt-)Straferwartung von mindestens einem Jahr)?<br />
□ Schwierige Sach- und/oder Rechtslage?<br />
□ Keine Fähigkeit zur Selbstverteidigung (insb. geistige Einschränkungen oder Sprachprobleme).<br />
□ Ist der Antrag weit genug gefasst (ggf. ausdrückliche Erstreckung auf das Adhäsionsverfahren oder<br />
auf die Hauptverhandlung in Fällen des § 408b StPO)?<br />
□ Wird der Beiordnungsantrag zeitnah verbeschieden?<br />
□ Wenn nein: ggf. Beschwerde zulässig.<br />
2. Nach der Beiordnung/bei Entpflichtungsanträgen<br />
□ Wird das Mandat ordnungsgemäß bearbeitet (insbesondere keine Untätigkeit)?<br />
□ Liegt ein unzulässiges Verdrängen des bisherigen Pflichtverteidigers vor?<br />
□ Wenn ja: keine Beiordnung des neuen Verteidigers.<br />
□ Aber: Umbeiordnung mit dem Einverständnis aller Beteiligter möglich, sofern keine zusätzlichen<br />
Gebühren anfallen.<br />
862 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>16</strong> 22.8.<strong>2018</strong>