10-2018 HEINZ-MAGAZIN Dortmund
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BÜHNE | TIPP DES MONATS<br />
Parallele Leben<br />
©Birgit Hupfeld<br />
Theatermit Glasfaserkabel Eine Theateraufführungdie gleichzeitig in <strong>Dortmund</strong> undBerlinstattfindet<br />
undüberdie Erkentnisse dertheoretischen Physik philosophiert– kann dasfunktionieren? Der <strong>Dortmund</strong>erSchauspiel-Chef<br />
KayVoges wagt das Experiment.<br />
M<br />
it einer Armada an Schauspielern, Statisten und Technikern<br />
hat Kay Voges zwei Paralleluniversen entstehen<br />
lassen: Die Hauptrolle in der weltersten Simultanaufführung spielt<br />
ein gut 420 Kilometer langes Glasfaserkabel, das das Berliner Ensemble<br />
mit dem Schauspiel <strong>Dortmund</strong> verbindet und den Darstellern<br />
ermöglicht, fast ohne Zeitverzögerung zu interagieren und<br />
durch die Ähnlichkeit ihrer Kostüme und Bühnenbilder zu verschwimmen,<br />
inder Unschärfe zuverschwinden, dass den Zuschauernder<br />
Kopfschwirrt.<br />
Die Lebensgeschichte des Erdenbewohners Fred, die in <strong>Dortmund</strong><br />
rückwärts (also mit dem Todbeginnend) und in Berlin vorwärts erzählt<br />
wird, kulminiert anbeiden Orten inder parallel gespielten<br />
Hochzeitsszene, bei der sich die Figuren über Wandmonitore begegnen.<br />
Obwohl Braut und Bräutigam vor dem Traualtar extra gefragt<br />
werden, obsie Paradoxien als wesentlichen Bestandteil alles<br />
Realen gelten lassen, mündet die Begegnung mit den Doppelgängern<br />
im Zickenkrieg:SowohlAnnika Meier in Berlin alsauchBettina<br />
Lieder wollenselbstredenddie Hauptrolleauf ihrerHochzeit spielen<br />
und realer sein als ihre Kopie im Paralleluniversum.<br />
„Die Parallelwelt“ist ein schrilles, manchmalnervtötendes Spektakel<br />
zur ungelösten Frage, wasdie Erkenntnisse der theoretischen Physik<br />
für unser alltägliches Leben bedeuten könnten. Es ist ein großer<br />
Mindfuck, aufgeladen mit Textschnipseln von Aristoteles, Newton,<br />
Beckett, Breton, Sebald,Heiner Müller und natürlich ausder Bibel.In<br />
der langen, parallelen Geburts- und Sterbeszene zur Eröffnung ist<br />
das Stückpathetischer Fernsehfilm und manstöhntinsgeheim: „Der<br />
ganze Aufwand, um Netflix Konkurrenz zu machen?“ Später mag<br />
man die Inszenierung wohlwollender in Referenzsysteme vonDavid<br />
Lynch bis Christopher Nolan einordnen. Die Bühne ist viergeteilt<br />
und zeigt gleichrangig Videobilder und Spielszenen. Voges Kamera-Team<br />
arbeitet mit Überblendungen und Überlagerungen, oft<br />
wissen die Zuschauer tatsächlich nicht mehr, welches Bild gerade<br />
vorne live auf der Bühne produziert wird. Die Entfernung zwischen<br />
Berlin und <strong>Dortmund</strong> ist nicht mehr existent –ein exzellentes Bild<br />
für eineglobalisierte Welt derGleichzeitig-und Erreichbarkeit.<br />
Leider istdie spärliche Handlung dem Versuchscharakter des Stücks<br />
komplett unterworfen. Esfragt nicht nur nach den Erkenntnissen<br />
der theoretischen Physik, sondern auch nach Notwendigkeit einer<br />
jahrtausendealtenVoraussetzung des Theatererlebnisses: der physischen<br />
Präsenz der Schauspieler und ihres Publikums an einem Ort.<br />
Und ja, man freut sich doch, wenn amEnde die Monitorwände an<br />
den Rand der Wahrnehmung rücken und das real anwesende Ensemble<br />
zur Applausordnung antritt.<br />
Max Florian Kühlem<br />
❚ DIE PARALLELWELT Schauspielhaus,Hiltropwall 15, <strong>Dortmund</strong>; Termin: 28.+31.<strong>10</strong>.; Preis: 9-23€<br />
60| <strong>HEINZ</strong> |<strong>10</strong>.<strong>2018</strong>