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CMS Stiftungsmagazin RADAR Nr. 6: Wie wohnen im Alter?

Dieses RADAR vermittelt Ihnen einen Überblick über Forschungsresultate zum Thema «Leben und Wohnen im Alter, lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt.

Dieses RADAR vermittelt Ihnen einen Überblick über Forschungsresultate zum Thema «Leben und Wohnen im Alter, lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt.

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Das Magazin der Christoph Merian Stiftung<br />

<strong>Wie</strong> <strong>wohnen</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Alter</strong>?<br />

Atelier Mondial<br />

<strong>Nr</strong>. 6 Dezember 2018


Editorial<br />

DIE ZEICHEN<br />

DER ZEIT<br />

ERKENNEN<br />

Die Christoph Merian Stiftung (<strong>CMS</strong>) engagiert sich seit Jahrzehnten<br />

<strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich und hat in den 50er-Jahren des<br />

letzten Jahrhunderts mit der Errichtung von <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

Pionierarbeit geleistet. Sie ermöglichte in den schwierigen<br />

Nachkriegsjahren und danach mit ihren <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

gerade auch wenig begüterten älteren Menschen ein Leben<br />

in damals modernen Wohnungen zu moderaten Preisen.<br />

Seither haben sich die Ausgangslage und die Bedürfnisse<br />

von Seniorinnen und Senioren entscheidend verändert: Die<br />

Lebenserwartung ist markant gestiegen, der Umzug in eine<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlung erfolgt <strong>im</strong>mer später. Somit haben das Durchschnittsalter<br />

und die Verletzlichkeit der Bewohnerinnen und<br />

Bewohner stark zugenommen, ebenso die sozialen Anforderungen<br />

und die ökonomischen Auswirkungen.<br />

Die <strong>CMS</strong> hat erkannt, dass sie als Vermieterin für diese<br />

anspruchsvolle Aufgabe nicht mehr das zwingend nötige<br />

Know-how mitbringt. Deshalb hat sie sich entschieden, die<br />

Verantwortung und den Betrieb ihrer <strong>Alter</strong>ssiedlungen einer<br />

Institution anzuvertrauen, die für diesen spezifischen Bereich<br />

über eine reiche Erfahrung verfügt und auch zertifiziert ist.<br />

Nicht irgendeiner Institution oder privaten auswärtigen Investoren,<br />

die <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich aufs schnelle Geld aus sind, sondern:<br />

dem Bürgerspital Basel. Ein idealer Partner, weil es eine<br />

Institution der Bürgergemeinde ist und wie die <strong>CMS</strong> öffentlich-rechtlich<br />

und eng verbunden mit der Stadt Basel.<br />

Wir sind uns bewusst, dass Neustrukturierungen auch<br />

Verunsicherungen auslösen können. Gerade bei den Bewohnerinnen<br />

und Bewohnern der <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen, denen<br />

wir uns als Liegenschaftsbesitzerin und Vertragspartnerin des<br />

Bürgerspitals verpflichtet fühlen. Die <strong>CMS</strong> fädelt sich aus dem<br />

Engagement für die ältere Generation mit der Übergabe<br />

unserer <strong>Alter</strong>ssiedlungen an das Bürgerspital <strong>im</strong> Übrigen auch<br />

nicht aus. Ganz <strong>im</strong> Gegenteil. Wir werden uns <strong>im</strong> Förderbereich<br />

für neue Projekte <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich vor allem in wenig<br />

privilegierten Quartieren einsetzen und bestehende Projekte<br />

noch gezielter auf spezifische Bedürfnisse der älteren Generation<br />

hin ausrichten.<br />

Dieses <strong>RADAR</strong> vermittelt Ihnen einen Überblick über Forschungsresultate<br />

zum Thema ‹Leben und Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>›,<br />

lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen, individuelle<br />

St<strong>im</strong>men – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus<br />

drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt.<br />

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!<br />

Dr. Lukas Faesch<br />

Präsident der Kommission der Christoph Merian Stiftung<br />

Balsam<br />

<strong>Wie</strong> illustriert man ‹Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>›? Mit Fotos<br />

lächelnder Seniorinnen und Senioren? <strong>RADAR</strong><br />

hat einen anderen Weg gewählt. Wir haben das<br />

Basler Illustrations- und Projektkollektiv Balsam<br />

beauftragt. Seit Oktober 2016 stellt das Netzwerk<br />

<strong>im</strong> St. Johann jungen Illustratorinnen und Illustratoren<br />

temporäre Arbeitsplätze zur Verfügung<br />

und unterstützt sie bei Aufträgen und Auftritten.<br />

Eine von ihnen, Annina Burkhard, hat für diese<br />

Ausgabe das Titelbild und die Porträts der sechs<br />

Menschen gezeichnet, die wir zum Leben und<br />

Wohnen – heute und <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> – befragt haben.<br />

www.balsam.cc<br />

3 Neuorientierung der<br />

<strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>sstrategie<br />

Gut bleiben, aber anders<br />

4 <strong>Alter</strong> ist nicht gleich <strong>Alter</strong><br />

Erkenntnisse aus der <strong>Alter</strong>sforschung<br />

5 Gefragt: Radikales Umdenken<br />

Die neuen Alten ticken anders<br />

6 <strong>Wie</strong> hätten wir’s denn gerne?<br />

12 Fragen an 6 Menschen<br />

aus 3 Generationen<br />

12 Vom Land zurück in die Stadt<br />

Wohnräume und -träume einer<br />

grauen Pantherin<br />

13 Jeder Mensch eine Autorin<br />

Sein eigenes Buch schreiben mit<br />

der Edition Unik<br />

14 4seasons<br />

Saisongerecht kochen und erst<br />

noch Spass haben<br />

15 Hundert Jahre Iglingerhof<br />

Einst fast eine visionäre Kleinstadt<br />

16 Aktuelles aus der <strong>CMS</strong><br />

Hasel und Hartriegel, junge Mütter<br />

und ihre Kinder<br />

2


Strategie<br />

UNSER ENGAGEMENT<br />

FÜRS ALTER<br />

NICHT WENIGER,<br />

ABER ANDERS<br />

Die <strong>Alter</strong>ssiedlungen der Christoph Merian<br />

Stiftung (<strong>CMS</strong>) waren einst Pionierprojekte.<br />

Das ist lange her. Seither hat sich vieles<br />

verändert: Das Durchschnittsalter der Bewohnerinnen<br />

und Bewohner ist deutlich<br />

höher. Die Anforderungen an die Betreuung<br />

älterer Menschen sind gestiegen. Und auch<br />

die Vorstellungen und Bedürfnisse älterer<br />

Menschen, wie sie leben und <strong>wohnen</strong> möchten,<br />

haben sich gewandelt. Die <strong>CMS</strong> hat den<br />

Betrieb ihrer traditionellen <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

einer kompetenten, lokalen Partnerinstitution<br />

übergeben: dem Bürgerspital Basel.<br />

Im Interesse vor allem der Bewohnerinnen<br />

und Bewohner. Ein Rückblick und Ausblick.<br />

Seit den 1950er-Jahren engagiert sich die <strong>CMS</strong> in<br />

Wohnprojekten für ältere Menschen. Sie leistete nach<br />

dem Krieg <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>swohnungsbau sogar eigentliche<br />

Pionierarbeit. 1954 errichtete sie eine erste <strong>Alter</strong>ssiedlung<br />

an der Rheinfelderstrasse mit 95 Wohnungen für<br />

rund hundert Personen. Die Mietzinse waren moderat<br />

und betrugen damals zwischen CHF 63.– und 68.– pro<br />

Monat. Weitere <strong>Alter</strong>ssiedlungen folgten: 1960 die<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlung Gellertfeld, 1966 die <strong>Alter</strong>ssiedlung<br />

Albert Schweitzer-Strasse und 1981 schliesslich die<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlung Friedrich Oser-Strasse. Darüber hinaus<br />

übernahm die Stiftung den Betrieb der <strong>Alter</strong>ssiedlung<br />

Basler Dybli von der gleichnamigen Stiftung in Riehen<br />

und den Dalbehof von der Sevogel-Stiftung an der<br />

Kapellenstrasse.<br />

Mit dem wachsenden Wohlstand stieg gleichzeitig<br />

der individuelle Raumbedarf. Bereits in den 1980er-<br />

Jahren reagierte die Stiftung darauf und legte die kleinen<br />

Einz<strong>im</strong>merwohnungen (einst ohne Warmwasser)<br />

zu komfortableren Zweiz<strong>im</strong>merwohnungen zusammen.<br />

So halbierte sich das Wohnungsangebot an der Rheinfelderstrasse<br />

und <strong>im</strong> Gellertfeld. Der Dalbehof sowie<br />

die Friedrich Oser-Strasse berücksichtigten bereits bei<br />

der Erstellung das Bedürfnis nach mehr Wohnraum.<br />

Danach geschah dreissig Jahre lang wenig bei den<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlungen, auch jenen der <strong>CMS</strong>. Veränderungen<br />

gab es hingegen <strong>im</strong> klassischen <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong>bereich in<br />

der Schweiz und auch in Basel: Weil ältere Menschen<br />

in <strong>im</strong>mer höherem <strong>Alter</strong> in ein He<strong>im</strong> übersiedelten,<br />

begannen <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong>e zusätzlich Pflegeleistungen<br />

anzubieten und wurden zu kombinierten <strong>Alter</strong>s- und<br />

Pflegehe<strong>im</strong>en. Die <strong>Alter</strong>ssiedlungen der <strong>CMS</strong> funktionierten<br />

dagegen weiterhin als Teil des regulären Vermietungsgeschäfts.<br />

Ab 2010 begann sich abzuzeichnen, dass die Ausstattung<br />

der <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen den aktuellen<br />

Anforderungen der <strong>im</strong>mer älteren Bewohnerinnen und<br />

Bewohner zum Teil nicht mehr genügte: In den 276<br />

Wohnungen lebten mittlerweile 300 Bewohnerinnen<br />

und Bewohner mit einem Durchschnittsalter von 84<br />

Jahren. Dies zwang die Stiftung zum Handeln, <strong>im</strong><br />

betrieblichen wie <strong>im</strong> baulichen Bereich. Zum einen<br />

wollte sie die <strong>Alter</strong>ssiedlungen mit dem gemeinsam mit<br />

der Age-Stiftung entwickelten Konzept ‹Avantage›<br />

nach den Ansätzen der Gemeinwesenarbeit weiterentwickeln,<br />

zum anderen realisierte sie mit einem altersgerechten<br />

Neubau an der Wettsteinallee ein Vorzeigeprojekt<br />

und unterzog in den Jahren 2013 bis 2014 die<br />

<strong>Alter</strong>sresidenz Dalbehof einer aufwendigen Sanierung.<br />

Dringend nötige Standortbest<strong>im</strong>mung<br />

Der Bedarf älterer Menschen generell und einzelner<br />

Mieterinnen und Mieter der <strong>CMS</strong>-Siedlungen nach mehr<br />

(Zusatz-)Betreuung, mehr Service und auch Pflege<br />

stieg unterdessen kontinuierlich. Dies bewog die <strong>CMS</strong><br />

2017 zu einer Standortbest<strong>im</strong>mung. Sie beauftragte<br />

Roland Wormser, einen ausgewiesenen <strong>Alter</strong>s- und<br />

Organisationsexperten, mit einer umfassenden Analyse<br />

(siehe Seite 4). Diese zeigte klar auf, dass Zustand und<br />

Ausrichtung der <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen in der heutigen<br />

Form aktuellen und künftigen Anforderungen an Wohnen<br />

in (hohem) <strong>Alter</strong> nicht mehr genügten. Weder<br />

bezüglich Betreuung noch bezüglich Service und Pflege<br />

oder baulicher Ausstattung: Die <strong>CMS</strong>-Immobilien aus<br />

den 1950er- bis 1980er-Jahren sind nicht durchgehend<br />

barrierefrei. Es fehlen zum Beispiel vereinzelt Lifte.<br />

Nasszellen und Küchen sind nicht überall altersgerecht.<br />

Zudem liegen zwei der Siedlungen an schlecht erschlossenen<br />

Orten auf dem Bruderholz – was <strong>im</strong> Widerspruch<br />

steht zu den heutigen Vorstellungen von altersgerechtem<br />

‹Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>›: Mobilität und Einkaufen sind<br />

für gehbehinderte Menschen schwierig bis unmöglich.<br />

Die Analyse hat zudem auch aufgezeigt, dass klassische<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlungen ohne Pflegeangebote ausgedient<br />

haben.<br />

Was also tun? Mit einem historisch gewachsenen,<br />

veralteten Modell weitermachen als auf diesem Gebiet<br />

nicht spezialisierte Förderstiftung? Nein. Die <strong>CMS</strong> hat<br />

deshalb entschieden, ihre <strong>Alter</strong>ssiedlungen nicht selber<br />

weiterzuführen, sondern einen kompetenten, verläss-<br />

lichen Partner zu suchen, der über eine hervorragende<br />

Fachkompetenz <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich verfügt.<br />

Zukunftsweisende Kooperation<br />

Mit dem Bürgerspital Basel hat sie ihn gefunden. Das<br />

Bürgerspital, eine Institution der Bürgergemeinde und<br />

wie die <strong>CMS</strong> eine renommierte öffentlich-rechtliche<br />

Basler Institution, hat eine fundierte Erfahrung <strong>im</strong><br />

<strong>Alter</strong>sbereich. Es betreibt bereits sechs <strong>Alter</strong>szentren<br />

und ist damit in Basel der grösste Anbieter. Die <strong>CMS</strong><br />

wird dem Bürgerspital per März 2019 den Betrieb von<br />

vier ihrer sechs <strong>Alter</strong>ssiedlungen übergeben (Basler<br />

Dybli, Dalbehof, Gellertfeld, Wettsteinpark). Die Liegenschaften<br />

selber bleiben <strong>im</strong> Besitz der <strong>CMS</strong>. Wo nötig,<br />

werden von der <strong>CMS</strong> altersgerechte Umbauarbeiten<br />

vorgenommen.<br />

Unter dem Titel ‹Wohnen mit Service› garantiert das<br />

Bürgerspital neu ein umfassenderes Betreuungs-<br />

angebot, als die <strong>CMS</strong> dies bisher anbieten konnte.<br />

Neben den <strong>im</strong> Pensionspreis inbegriffenen Leistungen<br />

(wie zum Beispiel Sprechstunden, 24-Stunden-Notruf,<br />

Anlässe und vieles andere) können neu individuell à la<br />

carte zusätzliche, kostenpflichtige Leistungen des<br />

Bürgerspitals vor Ort und unkompliziert in Anspruch<br />

genommen werden (Coiffeur, Handwerker, Wäscherei,<br />

Schneiderei etc.).<br />

Die beiden schlecht erschlossenen und nicht altersgerechten<br />

<strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen auf dem Bruderholz<br />

(Friedrich Oser-Strasse und Albert Schweitzer-Strasse)<br />

werden nicht mehr als <strong>Alter</strong>ssiedlungen weitergeführt.<br />

Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner können, so<br />

lange sie wollen, dort <strong>wohnen</strong> bleiben – oder in eine<br />

andere <strong>Alter</strong>ssiedlung umziehen. Frei werdende Wohnungen<br />

in diesen beiden Siedlungen werden künftig vor<br />

allem auch an jüngere Interessenten vermietet – was ein<br />

spannendes Zusammen<strong>wohnen</strong> von Jung und Alt<br />

ermöglicht, das auch in den Interviews in diesem <strong>RADAR</strong><br />

von allen Generationen gewünscht wird (Seiten 6-11).<br />

Für eine Übergangsphase von zwei Jahren bietet<br />

die <strong>CMS</strong> mit dem Bürgerspital überdies den Bewohnern<br />

der beiden Bruderholz-Siedlungen einen zusätzlichen<br />

mobilen Service mit Sprechstunden, Tages- und Notfallnummern<br />

und Mittagstischen an. Dieses attraktive<br />

Zusatzangebot ist gleichzeitig ein möglicherweise<br />

zukunftsweisendes Pilotprojekt: Wenn es erfolgreich ist<br />

und auch genutzt wird, prüft die <strong>CMS</strong> ein solches<br />

Angebot auch für ihre anderen Liegenschaften. Eine<br />

interne Untersuchung bei einer <strong>CMS</strong>-Liegenschaft <strong>im</strong><br />

Gellert hat beispielsweise ergeben, dass dort 38 Prozent<br />

der Bewohnerinnen und Bewohner über 75 Jahre<br />

alt sind. Da <strong>im</strong>mer mehr ältere Menschen so lange wie<br />

möglich in ihrer angestammten Wohnung bleiben und<br />

nicht in ein <strong>Alter</strong>s- und Pflegehe<strong>im</strong> wechseln möchten<br />

(vgl. die Beiträge in diesem <strong>RADAR</strong>), könnten solche<br />

mobilen <strong>CMS</strong>-Services für ältere Mieterinnen und Mieter<br />

einem grossen Bedürfnis entsprechen.<br />

Die Übergabe der <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen an das<br />

Bürgerspital Basel erfordert auch neue Verträge der<br />

bisherigen Bewohnerschaft mit dem Bürgerspital, der<br />

neuen Betreiberin. Die neuen Pensionsverträge entsprechen<br />

den hohen Schweizer und Basler Standards für<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlungen mit Service, sind seit Jahren für solche<br />

Wohnformen eigentlich üblich und bieten überdies<br />

einen noch umfassenderen Kündigungsschutz als die<br />

alten Verträge.<br />

Es bleibt noch viel zu tun<br />

Die <strong>CMS</strong> wird sich über die Kooperation mit dem Bürgerspital<br />

hinaus weiter in anderen Bereichen für die Anliegen<br />

der älteren Generation in der Stadt Basel engagieren.<br />

Auch und gerade <strong>im</strong> Förderbereich. Die Abteilung<br />

Soziales hat 2016 eine umfassende Bedarfsanalyse<br />

durchgeführt. Das Resultat: Viele sozial Benachteiligte,<br />

finanziell schlecht gestellte und vereinsamte ältere<br />

Personen, auch mit Migrationshintergrund, Menschen<br />

<strong>im</strong> hohen <strong>Alter</strong>, die sich auf Wohnungssuche begeben<br />

müssen, und pflegende Angehörige bräuchten eigentlich<br />

viel mehr Unterstützung und Hilfe. Hier klaffen noch<br />

<strong>im</strong>mer gravierende Lücken <strong>im</strong> sozialen Netz, auch in<br />

Basel. Ein Thema sind auch neue Formen von Nachbarschaftshilfe.<br />

In all diesen Bereichen wird die <strong>CMS</strong> sich<br />

weiter engagiert einsetzen.<br />

Dr. Beat von Wartburg<br />

Direktor Christoph Merian Stiftung<br />

3


Forschung<br />

ALTER IST NICHT<br />

GLEICH ALTER<br />

Die Vorstellung davon, wie wir <strong>im</strong> <strong>Alter</strong><br />

leben und <strong>wohnen</strong> wollen, hat sich<br />

in den letzten Jahren grundlegend<br />

verändert. Das hat nicht nur, aber<br />

auch Konsequenzen für die Wohnungswirtschaft<br />

und die Planung und<br />

Gestaltung von Wohnraum für ältere<br />

Generationen. Die <strong>CMS</strong> hat sich<br />

bei der Neuausrichtung ihrer <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

auf aktuellste Erkenntnisse<br />

gestützt. Eine Übersicht.<br />

‹Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>› ist zu einer Formel geworden, die so geläufig wie un-<br />

präzise ist. ‹Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>› umfasst vom selbstständigen Wohnen älterer<br />

Menschen in ihrer angestammten Wohnung bis hin zur Vollbetreuung in<br />

einem Pflegehe<strong>im</strong> die unterschiedlichsten Wohnformen.<br />

Denn <strong>Alter</strong> ist nicht gleich <strong>Alter</strong>. Die Grenze be<strong>im</strong> AHV-<strong>Alter</strong> um das<br />

65. Lebensjahr anzusetzen ist wenig hilfreich, weil <strong>Alter</strong>nsprozesse vielfältig<br />

und mehrd<strong>im</strong>ensional sind. Der bekannte <strong>Alter</strong>sforscher François<br />

Höpflinger 1 hat vor mehr als zwanzig Jahren eine Einteilung verschiedener<br />

<strong>Alter</strong>nsphasen vorgenommen, die unter Fachleuten noch heute anerkannt<br />

und auch für die Abklärung der Lebens- und Wohnbedürfnisse älterer<br />

Menschen nützlich ist:<br />

1. <strong>Alter</strong>nsphase<br />

Noch Erwerbstätige (50+) beginnen sich mit dem Übergang in die nachberufliche<br />

Phase zu beschäftigen. Viele überprüfen ihre Wohnsituation.<br />

2. <strong>Alter</strong>nsphase<br />

Menschen <strong>im</strong> gesunden Rentenalter (65+) erleben heute dank moderner<br />

Medizin und gesunder, aktiver Lebensführung eine lange Phase behinderungsfreier<br />

Lebensjahre, oft für zwanzig Jahre und länger. Dank der<br />

heutigen <strong>Alter</strong>svorsorge können sie diese Phase oft autonom gestalten.<br />

3. <strong>Alter</strong>nsphase<br />

Verstärkte Fragilisierung. Gesundheitliche Beschwerden und funktionale<br />

Einschränkungen (Hören, Sehen, Gehen) können ein selbstständiges<br />

Leben erschweren oder verunmöglichen. Ein geeignetes Wohnumfeld ist<br />

jetzt wichtig – und oft auch Hilfe <strong>im</strong> Alltag (Putzen, Einkaufen).<br />

4. <strong>Alter</strong>nsphase<br />

Pflegebedürftigkeit. Mehr als ein Drittel der über 85-Jährigen in der<br />

Schweiz ist pflegebedürftig. Über vierzig Prozent von ihnen sind an De-<br />

menz erkrankt. Wohnen sie noch zu Hause, benötigen sie meist tägliche<br />

Betreuung und Pflege durch Angehörige oder professionelle ambulante<br />

Dienste, oder sie sind in einem <strong>Alter</strong>s- und Pflegehe<strong>im</strong>.<br />

Wohnbedürfnisse und gewünschte Wohnformen sind weiter abhängig<br />

vom Bildungshintergrund und den Einkommens- und Wohneigentumsverhältnissen.<br />

Auch regionale Faktoren spielen eine grosse Rolle, zum<br />

Beispiel ob jemand in einer städtischen oder ländlichen Umgebung lebt.<br />

Wohnbedürfnisse und Wohnästhetik sind schliesslich von der individuellen<br />

Lebensgeschichte geprägt. Jeder ältere Mensch trägt Spuren<br />

früherer Zeiten in sich. Die eigene Wohnung ist für sie oder ihn weit mehr<br />

als nur ein ‹Wohnraum›, sie ist vielmehr ein Ort persönlicher Erinnerungen<br />

und Gegenstände. Bei einem Wechsel in ein <strong>Alter</strong>s- oder Pflegehe<strong>im</strong> wollen<br />

Menschen deshalb oft nicht nur ‹Nützliches› mitnehmen, sondern das, was<br />

ihnen lebensgeschichtlich wichtig ist.<br />

Die neuere Forschung bestätigt die lebensgeschichtliche Prägung<br />

der Wohnbedürfnisse eindrücklich. Die <strong>Alter</strong>sforscherin Joëlle Z<strong>im</strong>merli 2<br />

hat nachgewiesen, dass unser Bild der heutigen älteren, pensionierten<br />

Generation noch <strong>im</strong>mer stark vom traditionellen Gesellschaftsmodell<br />

der Vorkriegsgeneration mit den Jahrgängen 1915 bis 1942 best<strong>im</strong>mt ist<br />

(Sparsamkeit, Bescheidenheit und traditionelle Rollenbilder). Die heute<br />

über 75-Jährigen werden jedoch bei besserer Gesundheit älter, sie möchten<br />

so lange wie möglich <strong>im</strong> privaten Zuhause <strong>wohnen</strong> und nicht in ein <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong><br />

übersiedeln. Der Übertritt in ein Pflegehe<strong>im</strong> findet in dieser Generation,<br />

verglichen mit früheren Generationen, deutlich später oder gar<br />

nicht mehr statt und beschränkt sich auf wenige, aber pflegeintensive<br />

Jahre (4. <strong>Alter</strong>nsphase nach Höpflinger). Ihre Kinder wiederum, die heute<br />

55- bis 75-jährigen Babyboomer (Jahrgänge 1943 bis 1963), sind mobiler,<br />

trennen sich häufiger vom Lebenspartner und wechseln auch ihr Wohn-<br />

umfeld häufiger. Für die Wohnungswirtschaft hat dies zur Folge, dass der<br />

Anteil alter Mieterinnen und Mieter aus beiden Generationen steigt und<br />

<strong>im</strong>mer mehr alte Menschen zu Hause betreut werden möchten.<br />

Diesen Trend bestätigt auch die vom Kanton Basel-Stadt regelmässig<br />

durchgeführte ‹Befragung 55plus›. In der letzten von 2015 3 gaben rund<br />

achtzig Prozent der Befragten an, dass sie <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> sicher oder eher zu<br />

Hause bleiben möchten, eventuell mit Unterstützung etwa durch die<br />

Spitex. Nur rund dreizehn Prozent konnten sich gut vorstellen, in eine<br />

Seniorenresidenz überzusiedeln. ‹Zu Hause bleiben› ist also ein zentrales<br />

Anliegen.<br />

Die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen <strong>Alter</strong>ns-<br />

gruppen an Wohnformen hat die <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich tätige Ökonomin Ruth<br />

Köppel 4 in einer richtungsweisenden Publikation von 2016 gebündelt. Sie<br />

definiert zwei Wohnmodelle der Zukunft:<br />

Wohn-Typ A<br />

<strong>Alter</strong>sgerechte Wohnungen für frühzeitigen Einzug für die 1. und 2. <strong>Alter</strong>ns-<br />

phase nach Höpflinger. In solche barrierefreien Wohnungen an möglichst<br />

zentraler und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossener Wohnlage<br />

ziehen meist Paare, weil ihnen zum Beispiel ihre bisherige Wohnung<br />

zu gross oder zu teuer geworden ist oder weil sie das Einfamilienhaus den<br />

Kindern übergeben wollen. Der Wohnungsmix umfasst 2½- bis 4½-Z<strong>im</strong>mer-Wohnungen;<br />

wichtig ist die Möglichkeit, Parkplätze zu mieten. Wer<br />

einzieht, bleibt lange. Bei günstigen Mietzinsen kann es Jahre dauern, bis<br />

Interessierte oben auf der langen Warteliste angekommen sind. Die<br />

Bewohnerinnen und Bewohner brauchen weder Notruf noch Serviceleistungen<br />

und sind deshalb erst bereit, für diese zu zahlen, wenn sie sie auch<br />

beanspruchen.<br />

Wohn-Typ B<br />

Betreute Wohnungen für späten Einzug für die <strong>Alter</strong>nsphase 3 nach Höpflinger.<br />

Hier ziehen Hochbetagte (80 Jahre alt und älter) erst ein, wenn<br />

sie die gebotenen Leistungen inkl. Pflege auch wirklich benötigen. Die<br />

Betreuungspauschale beträgt oft mehrere hundert Franken monatlich.<br />

Der Anteil der Alleinstehenden ist hoch. Der Wohnungsmix besteht aus<br />

kleineren Wohnungen (oft 1½-Z<strong>im</strong>mer- bis höchstens 3½-Z<strong>im</strong>mer-Woh-<br />

nungen). Die Aufenthaltsdauer ist kürzer, und Wohnungen werden schneller<br />

frei. Parkplätze sind nur vereinzelt gefragt.<br />

Die Forschungsergebnisse und Analysen zeigen auf, dass es neue Wohnmodelle,<br />

Wohnformen und Wohnangebote für die ältere Generation<br />

braucht. Hier ist die Wohnwirtschaft gefordert – aber auch Stiftungen<br />

wie die <strong>CMS</strong>, welche die Herausforderung angenommen hat und ihre<br />

<strong>Alter</strong>ssiedlungen nach neuesten Erkenntnissen in Kooperation mit dem<br />

Bürgerspital Basel neu ausrichtet.<br />

Dr. Roland Wormser<br />

ROLAND WORMSER<br />

Roland Wormser ist Partner bei H Focus AG, einem privaten<br />

Kompetenz- und Beratungszentrum <strong>im</strong> Gesundheitswesen.<br />

Seit über zwanzig Jahren berät er Organisationen<br />

in der Strategie- und Organisationsentwicklung<br />

mit Schwerpunkt <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>sbereich. Elf Jahre lang war<br />

er Verwaltungsratspräsident eines <strong>Alter</strong>szentrums. Die<br />

<strong>CMS</strong> hat er bei der Strategieentwicklung für ihre <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

unterstützt.<br />

1 François Höpflinger/Joris Van Wezemael (Hg.): Age Report III, Wohnen in höherem Lebensalter. Grundlagen und Trends. Zürich/Genf 2014.<br />

2 Joëlle Z<strong>im</strong>merli: Wohnbedürfnisse und Wohnmobilität <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> – heute und in Zukunft. Studie <strong>im</strong> Auftrag des Amts für Raumentwicklung Kanton Zürich. Zürich 2012,<br />

online: http://www.z<strong>im</strong>raum.ch/studien/wohnbeduerfnisse-und-wohnmobilitaet-<strong>im</strong>-alter-heute-und-in-zukunft<br />

3 Online: http://www.statistik.bs.ch/befragungen/kantonal/befragung-55plus.html<br />

4 Ruth Köppel: Was Betagte sich wünschen. In: Age-Stiftung (Hg.): Age Dossier 2016. Betreute Wohnungen mit He<strong>im</strong>vorteil. Zürich 2016, S. 5–10,<br />

online: https://www.age-stiftung.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Age_Dossier/Age_Dossier_2016.pdf (alle abgerufen am: 08.11.2018).<br />

4


Expertin<br />

«HÖCHSTE ZEIT,<br />

DASS WIR HANDELN!»<br />

scy Wer heute pensioniert wird, wird älter und bleibt länger jung<br />

als alle Generationen vor uns. Das erfordert ein radikales Umdenken<br />

der künftigen Lebens- und Wohnformen von Seniorinnen und<br />

Senioren. Anna Ravizza ist inter<strong>im</strong>istische Leiterin der Abteilung<br />

‹Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>› der <strong>CMS</strong>. <strong>RADAR</strong> hat mit ihr über Irrtümer,<br />

die neuen Herausforderungen und Chancen gesprochen. Und über<br />

brachliegende Ressourcen.<br />

Die Gerontologin, Human-Resources-Managerin und Unternehmensberaterin<br />

Anna Ravizza ist seit Januar 2018 inter<strong>im</strong>istische Leiterin des Bereichs ‹Wohnen <strong>im</strong><br />

<strong>Alter</strong>› der <strong>CMS</strong>. Die passionierte Golferin wohnt am Murtensee und pendelt von<br />

ihrem Wohnort seither dre<strong>im</strong>al in der Woche nach Basel, wo sie die innovative<br />

Neuausrichtung der <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen mitkonzipiert hat und begleitet. Die<br />

Beschäftigung mit <strong>Alter</strong>sfragen ist für sie zu einer Herzensangelegenheit geworden.<br />

Und das kam so:<br />

Anna Ravizza hat sich 2005 be<strong>im</strong> Uhrenunternehmen Rolex in Biel als eine der<br />

ersten Personaldirektorinnen systematisch um die Lebensplanung der Mitarbeitenden<br />

auch über die Pensionierung hinaus gekümmert. Weil sie der Überzeugung<br />

war, dass ein Unternehmen gerade auch gegenüber langjährigen Mitarbeitenden<br />

eine Verantwortung trage. Sie hat bei Rolex das Projekt ‹58plus› initiiert und Mitarbeitende<br />

ab 58 mit fünf Weiterbildungstagen pro Jahr auf die Pensionierung<br />

vorbereitet. Ist so etwas denn überhaupt nötig? «O ja», sagt Ravizza. «Aus dem<br />

Arbeitsprozess austreten, noch fit sein, aber plötzlich nicht mehr ‹gebraucht› oder<br />

wahrgenommen werden: Da kommt oft die grosse Leere. Das kann depressiv<br />

machen oder zu Suchtproblemen führen. <strong>Wie</strong> und wo möchte man in den nächsten<br />

zwanzig, dreissig Jahren leben und <strong>wohnen</strong>, was tun mit all der Freizeit? Sich erst<br />

mit 65 mit diesen Fragen auseinanderzusetzen ist viel zu spät.»<br />

Die Erfahrungen mit ‹58plus› und die Gespräche mit Mitarbeitenden waren<br />

für Ravizza ein persönliches Aha-Erlebnis. Das Thema hat sie gepackt und ihr<br />

Interesse an <strong>Alter</strong>sfragen erst recht geweckt. Sie hat sich in Gerontologie weitergebildet<br />

und in Biel eine neue <strong>Alter</strong>sresidenz aufgebaut und geführt, die ganz<br />

anders war als bisherige ‹He<strong>im</strong>e›. Kein isoliertes, beschauliches, blüemletes Trögli<br />

am Waldrand weit weg vom Schuss, sondern das pure Gegenteil: modern, mitten<br />

in der Stadt, mit öV gut erreichbar, mit einem Mix von Wohnungen und Einzelz<strong>im</strong>mern<br />

<strong>im</strong> Pflegebereich, zwei Restaurants, Seminarräumen mit viel Publikumsverkehr,<br />

integriertem Fitness-Center, einer Kita, einem stufenlosen Pflegeangebot<br />

von Null bis Intensivpflege und einzeln buchbaren Serviceleistungen. Ravizza: «Die<br />

‹bescheidene› und ‹dankbare› Nachkriegsgeneration, die sich an den Waldrand<br />

ausgrenzen liess, stirbt weg. Die nachrückenden Seniorinnen und Senioren bleiben<br />

länger jung, sind autonomer, selbstbewusster und wollen weder bemuttert noch<br />

‹parkiert› werden.»<br />

Klar, nicht alle älteren Menschen würden sich für einen Umzug in eine <strong>Alter</strong>sresidenz<br />

entscheiden, auch nicht in eine moderne. Die meisten wollten so lange<br />

wie möglich selbstständig zu Hause <strong>wohnen</strong>. Aber egal, ob jüngere oder ältere<br />

Seniorinnen, ob zu Hause oder in <strong>Alter</strong>sresidenzen: «Man will Teil der Gesellschaft<br />

bleiben, wahrgenommen werden! Unter Menschen sein, weiterhin eine Rolle spielen<br />

und aktiv mitgestalten. Das grosse Potenzial der Menschen über 65 wird heute<br />

noch viel zu wenig erkannt. Wer pensioniert wird, verschwindet heute oft vom<br />

gesellschaftlichen Radar. Das ist schlecht für die Betroffenen und schlecht für<br />

unsere Gesellschaft.»<br />

Wer heute 65 sei, sei so fit wie früher 55-Jährige, das belegten zahlreiche<br />

Studien, sagt Ravizza. Die Generation Ü65 sei mobiler, sportlich häufig sehr aktiv<br />

und gegenüber neuen Technologien <strong>im</strong> Übrigen entgegen allen Clichés sehr offen.<br />

«Fitte ältere Menschen könnten und müssten deshalb viel stärker für Gemeinschaftsaufgaben<br />

gewonnen werden. In beider Interesse. Für Engagements in der<br />

Nachbarschaftshilfe zum Beispiel, auch für die Betreuung von noch älteren<br />

Menschen. Wer keine Betreuungsaufgaben übernehmen will, kann sich ja rein organisatorisch<br />

betätigen. Etwa generell bei der Freiwilligenarbeit auch auf anderen<br />

Gebieten. Oder sich politisch engagieren! Der Anteil der über 65-Jährigen<br />

in der Politik ist gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil viel zu klein.» Die erfahrene<br />

<strong>Alter</strong>sexpertin: «Da sind vor allem die Gemeinden und die Quartiere gefordert.<br />

Jemand muss den Lead haben, Ideen entwickeln und den Anstoss geben. Nicht von<br />

oben herab etwas verordnen, sondern unkompliziert Vernetzungen ermöglichen.»<br />

Für die ‹neuen Alten› sei vor allem auch eine ganz neue Wohnraumplanung<br />

und -politik nötig, ist Ravizza überzeugt. Für ältere Menschen, die sich gegen einen<br />

Umzug in eine <strong>Alter</strong>sresidenz entscheiden und so lange wie möglich selbstständig<br />

<strong>wohnen</strong> wollten, seien die heutigen Wohnungsangebote ungenügend. Es mangle an<br />

zentral gelegenen und mit öV gut erreichbaren, nicht zu teuren Zwei- bis höchstens<br />

3½-Z<strong>im</strong>mer-Wohnungen (für Ehepaare) mit Lift, Internet, schwellenlosem Zugang<br />

auch zu und in den Nasszellen und der Möglichkeit, je nach individuellem Bedarf<br />

Dienstleistungen à la carte beziehen zu können: Essen, Reinigung, Putzdienst,<br />

Spitex. Zumal mobile Angebote weniger Kosten verursachten. Auf jeden Fall keine<br />

<strong>Alter</strong>s-Ghettos, sondern idealerweise eine durchmischte Mietklientel.<br />

Gemischte Wohnmodelle mit Jung und Alt: tönt wunderbar. Aber was, wenn<br />

die Partys der Hipster die Älteren stören, wenn Babys nachts durchschreien und<br />

die Pingeligkeit der Älteren die Jüngeren nervt? Ravizza: «Unabdingbar ist bei<br />

gemischten Wohnmodellen, dass Alte und Junge Räume haben, in denen sie sich<br />

untereinander austauschen können. Es muss eine kontinuierliche Kommunikation<br />

sichergestellt sein. Das trägt zum Verständnis bei. Warum nicht in solchen neuen<br />

Wohnmodellen institutionell eine Mediatorin oder einen Mediator anstellen, die<br />

bei Konflikten gezielt vermitteln und eine gute Kommunikation ermöglichen? Das<br />

kommt allen zugute und wäre eine gute Investition.» Liegenschaftsbesitzer, -vermieter<br />

und Immobiliengesellschaften hätten das grosse Potenzial neuer,<br />

zukunftsgerichteter Wohnmodelle leider noch <strong>im</strong>mer nicht erkannt. Gerade ältere<br />

Mieterinnen und Mieter seien langjährige, treue Mieter. Zögen nicht alle zwei Jahre<br />

aus wie jüngere, was Hausbesitzern auch viele Umtriebe erspare. «Die Herausforderung<br />

ist: Wir müssen auch bei der<br />

ANNA RAVIZZA<br />

Planung von Wohnraum <strong>im</strong>mer zwanzig<br />

Jahre vorausdenken, entsprechend riere in jungen Jahren als Fernmeldesekretärin bei<br />

Die 65-jährige Anna Ravizza begann ihre Berufskar-<br />

bauen und renovieren. Wir leben in den ehemaligen PTT. Danach hat sie sich umfassend<br />

unserer Gesellschaft zum ersten Mal weitergebildet: Wirtschaftsdiplom, Personalmanagement,<br />

General-Management, Master in Human<br />

mit vier bis fünf Generationen zusammen.<br />

Das ist eine völlig andere Aus-<br />

Resources, dipl. He<strong>im</strong>leiterin, dipl. Gerontologin,<br />

CAS-Weiterbildungen <strong>im</strong> Gesundheitswesen und <strong>im</strong><br />

gangslage als noch bis vor Kurzem.<br />

Management. Sie war Personalchefin bei diversen<br />

Höchste Zeit, dass wir handeln.» Grossunternehmen (u.a. Bernmobil und Rolex) und<br />

Direktorin verschiedener <strong>Alter</strong>szentren. Seit Januar<br />

2018 ist sie inter<strong>im</strong>istische Leiterin ‹Wohnen <strong>im</strong><br />

<strong>Alter</strong>› der <strong>CMS</strong>. Nach der Neupositionierung der<br />

<strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen wird sie ab Frühjahr 2019 zum<br />

Bürgerspital Basel wechseln, das die <strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

neu betreiben wird. Dort wird sie den<br />

Ausbau des neuen Geschäftsfelds ‹Wohnen mit<br />

Service› begleiten.<br />

5


Nachgefragt<br />

LEBEN UND<br />

WOHNEN<br />

HEUTE UND<br />

IM ALTER<br />

12 FRAGEN AN 6 MENSCHEN<br />

AUS 3 GENERATIONEN<br />

ANITA TRAUB, 85<br />

Schweizerin, pensionierte Buchhalterin,<br />

keine Kinder, lebt allein in der<br />

<strong>CMS</strong>-<strong>Alter</strong>ssiedlung Gellertfeld<br />

6


Nachgefragt<br />

scy <strong>RADAR</strong> hat sechs ganz unterschiedliche Menschen<br />

in Basel persönlich in Interviews befragt: zu existenziellen<br />

Fragen des Lebens, Zusammenlebens, sozialer<br />

Kontakte, Wohnens, <strong>Alter</strong>ns, Sterbens – aber auch zu<br />

scheinbar Nebensächlichem wie Musikvorlieben und<br />

Lieblingsspeisen.<br />

Die beiden ältesten sind über achtzig Jahre alt und<br />

leben heute schon nicht mehr so, wie viele unserer<br />

überholten <strong>Alter</strong>skonzepte gegenwärtig noch funktionieren:<br />

mit Café complet und Schweizer Ländlern am<br />

Waldrand in einem <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong> parkiert. Sie wollen weiterhin<br />

autonom leben und wünschen sich allenfalls<br />

punktuelle Unterstützung be<strong>im</strong> selbstständigen Leben<br />

und eine bessere Infrastruktur in ihren Wohnungen. Die<br />

beiden jüngsten Befragten sind noch keine zwanzig<br />

und gehen frühestens in 46 Jahren in Pension, ab 2064.<br />

Diese Generation wird gemäss demografischen Prognosen<br />

multikultureller sein und noch unterschiedlichere<br />

Biografien und Bedürfnisse haben als frühere. Nur ein<br />

Detail: Riz Cas<strong>im</strong>ir, Braten, klassische Musik oder Rock<br />

sind bei dieser Generation out. Angesagt sind hingegen<br />

Rap und internationale Küche, auch des Herkunftslands.<br />

Auch das wird, dereinst, die Rahmenbedingungen<br />

der künftigen <strong>Alter</strong>sbetreuung mitbest<strong>im</strong>men.<br />

Allen ist trotz aller Unterschiede etwas gemeinsam:<br />

Freunde, Familie und gute Kontakte zu einer möglichst<br />

gleichgesinnten, toleranten Nachbarschaft sind zentral<br />

für ihr Wohlbefinden. <strong>Alter</strong> ihres gewünschten<br />

Lebensumfelds: irrelevant. Gleichsam ein Plädoyer für<br />

gemischte Wohnformen.<br />

Sie alle verbindet zudem die Sorge, <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> dement<br />

zu werden, Kinder und Familie zu belasten und die Kontrolle<br />

über sich selbst zu verlieren. Deshalb ist auch der<br />

Freitod für einige ein Thema – als noch unbeantwortete<br />

Frage, mit grossen Zweifeln behaftet.<br />

Ahmad Schech Mohamed (18), Mira Rauscher (19),<br />

Emanuel Strässle (54), Silvia Gnech (54), Hans Lengsfeld<br />

(81) und Anita Traub (85) haben uns Antworten<br />

gegeben zu ihrem Alltag und existenziellen Lebensfragen.<br />

Wir geben sie hier kurz und pointiert wieder, in der<br />

Reihenfolge ihres <strong>Alter</strong>s.<br />

AHMAD SCHECH MOHAMED, 18<br />

kurdischer Syrer, Praktikant Fachmann<br />

Betreuung in der <strong>Alter</strong>spflege, lebt mit<br />

Eltern und sechs Geschwistern <strong>im</strong> Gundeli<br />

7


Nachgefragt<br />

WAS MUSS IHRE WOHNUNG<br />

UNBEDINGT HABEN, DAMIT<br />

SIE SICH WOHLFÜHLEN?<br />

SILVIA GNECH, 54<br />

italienischschweizerische Doppelbürgerin,<br />

dipl. Therapeutin/Masseurin, lebt allein <strong>im</strong><br />

Klybeckquartier<br />

AHMAD Küche, Bad und zwei Z<strong>im</strong>mer. Am<br />

liebsten würde ich in einem Dorf leben, das<br />

aber nicht zu weit weg von der Stadt liegen<br />

sollte. Lieber nicht in einem Appartement<br />

mit vielen Leuten, die aufeinander hässig<br />

sind und streiten.<br />

WAS IST DAS WICHTIGSTE<br />

FÜR SIE IM LEBEN?<br />

AHMAD Meine Familie ist mir das Allerwichtigste.<br />

MIRA Die Menschen, die mir nahestehen.<br />

EMANUEL Freiheit, Freiraum, freies Schaffen.<br />

Auch deshalb bin ich Künstler.<br />

SILVIA Ein guter Freundeskreis, ein erfüllender<br />

Beruf und eine gesunde Lebensführung<br />

mit guter Ernährung und genügend Schlaf.<br />

Und ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühle<br />

und mich auch mal zurückziehen kann.<br />

HANS Meine Familie. Wichtig sind mir auch:<br />

Unabhängigkeit, Freiheit und Mobilität.<br />

ANITA Freunde und gutes Essen! Ein gemütliches<br />

Essen mit lieben Menschen ist für mich<br />

etwas vom Schönsten.<br />

WAS WÜRDEN SIE IN<br />

IHREM LEBEN ÄNDERN,<br />

WENN SIE KÖNNTEN?<br />

AHMAD Ich wünschte, die Schule wäre nicht<br />

so schwierig.<br />

MIRA Im Moment gar nichts! Ich bin sehr<br />

zufrieden mit meinem bisherigen und heutigen<br />

Leben.<br />

EMANUEL Da ich keinen anderen Job<br />

machen könnte, wäre es gut, wenn ich mit<br />

meiner künstlerischen Arbeit mehr Geld verdienen<br />

würde. Dann könnte ich auch mehr<br />

reisen: zum Beispiel nach Kalifornien, um<br />

alte Freunde zu besuchen, bevor sie wegsterben.<br />

Ich würde auch gerne mehr in der Natur<br />

sein. Aber dafür fehlt mir momentan die Zeit.<br />

SILVIA Ich hätte meinen beruflichen Weg<br />

vielleicht etwas früher gezielter einschlagen<br />

sollen.<br />

HANS Eigentlich nichts. Oder doch, etwas<br />

ganz Praktisches: Ich hätte gerne einen Lift<br />

zu meiner Altbauwohnung <strong>im</strong> dritten Stock,<br />

in der ich seit fünfzehn Jahren wohne.<br />

ANITA Ich würde wohl nicht mehr heiraten.<br />

MIRA Unbedingt ein grosses, gemütliches<br />

Wohnz<strong>im</strong>mer mit einem grossen Sofa, in<br />

dem das gemeinschaftliche soziale Leben<br />

stattfindet! Wichtig ist mir auch ein eigenes<br />

Z<strong>im</strong>mer, in das ich mich zurückziehen kann,<br />

ganz für mich. Und ein kleiner Balkon.<br />

EMANUEL Sie muss vor allem ruhig sein. Ich<br />

bin extrem geräuschempfindlich. Und sie<br />

muss hell sein. Ich bin auf dem Land aufgewachsen,<br />

lebe aber gerne in der Stadt. Ich<br />

brauche beides: die Natur und die Anonymität<br />

der Stadt. Ich liebe das Urbane. Ich habe<br />

lange Zeit <strong>im</strong> Gotthelfquartier gewohnt. Das<br />

war mir aber zu bürgerlich, zu wenig lebendig.<br />

SILVIA Licht und Sonne und einen Balkon!<br />

Sonst brauche ich keinen grossen Komfort.<br />

Am wohlsten fühle ich mich in Altbauwohnungen.<br />

HANS Sie muss zentral in der Stadt liegen<br />

und mit öV gut erreichbar sein, damit ich ins<br />

Kino, ins Theater, ins Konzert, in Museen und<br />

in die Lesegesellschaft gehen kann. Und sie<br />

sollte einen Balkon haben. Und jetzt <strong>im</strong> <strong>Alter</strong><br />

einen Lift.<br />

ANITA Eine schöne Küche, ein schönes Bad<br />

und einen Balkon, auf dem man Blumen<br />

pflanzen kann. Die Wohnung muss zentral<br />

gelegen sein – und es muss auch Grün drum<br />

rum haben. <strong>Wie</strong> die früher <strong>Alter</strong>ssiedlungen<br />

geplant haben weit weg vom Zentrum:<br />

furchtbar!<br />

8


Nachgefragt<br />

EMANUEL STRÄSSLE, 54<br />

Schweizer, Künstler, lebt mit der<br />

erwachsenen Tochter <strong>im</strong> Kleinbasel<br />

WEN HABEN SIE LIEBER<br />

ALS NACHBARN:<br />

GLEICHALTRIGE ODER<br />

GLEICHGESINNTE?<br />

AHMAD Ich wohne gerne mit jungen Menschen<br />

zusammen, aber auch mit alten. Ich<br />

habe alte Leute sehr gerne, weil sie so viele<br />

spannende Geschichten erzählen.<br />

MIRA Nachbarn sollten tolerant sein, auch<br />

wenn man nicht viel mit ihnen zu tun hat.<br />

<strong>Wie</strong> alt sie sind, spielt für mich keine Rolle.<br />

EMANUEL Auf jeden Fall Gleichgesinnte. Ich<br />

lebe in einem Haus, in dem auch andere<br />

Kunstschaffende und kulturell interessierte<br />

Menschen <strong>wohnen</strong>. Im Nebenhaus ist eine<br />

Studenten-WG. Die machten früher öfters<br />

bis zum frühen Morgen Partys auch unter<br />

der Woche. Ich reflektiere aber am besten<br />

frühmorgens und brauche mindestens sechs<br />

Stunden Schlaf. Da musste ich dann schon<br />

intervenieren, um meine Arbeit überhaupt<br />

noch tun zu können.<br />

SILVIA Ganz klar: Gleichgesinnte. Mir ist<br />

wichtig, dass ich mich mit den Nachbarn<br />

gut verstehe, egal wie alt sie sind.<br />

HANS Mir sind Nachbarn wichtig, denen ich<br />

vertrauen kann. Das müssen nicht Menschen<br />

aus dem gleichen Umfeld sein. Das<br />

<strong>Alter</strong> spielt keine Rolle. In unserem Haus<br />

wohnt eine Familie mit Kindern. Das finde<br />

ich sehr schön.<br />

ANITA Das <strong>Alter</strong> spielt für mich keine Rolle.<br />

Wichtig ist mir, dass ich mich mit meinen<br />

Nachbarn gut verstehe, dass sie ein gewisses<br />

Niveau haben – und dass ich mit ihnen gute<br />

Gespräche führen kann! Ob 20 oder 100: egal.<br />

WER KOCHT BEI IHNEN<br />

ZU HAUSE – UND WAS<br />

ESSEN SIE AM LIEBSTEN?<br />

AHMAD Meine Mutter und meine älteste<br />

Schwester kochen. Am liebsten mag ich<br />

Mahshi mit gefüllten Weinblättern, Fleisch,<br />

Reis, Kartoffeln, Auberginen und Tomaten.<br />

MIRA Meine Mutter und mein Bruder kochen.<br />

Am liebsten mag ich Currys, asiatisch oder<br />

indisch.<br />

EMANUEL Ich koche gerne, für mich alleine,<br />

meine Tochter und auch für Freunde: Pasta,<br />

Risotto, mediterrane Küche, viel Gemüse<br />

und saisonales Obst. Ich esse seit ein paar<br />

Jahren kein Fleisch mehr. Meine Tochter ist<br />

Veganerin, da musste ich mir in der Küche<br />

etwas einfallen lassen.<br />

SILVIA Ich koche selbst für mich – und meine<br />

Freunde. Am liebsten mag ich Braten mit<br />

Kartoffelstock und Rotkraut mit Marroni.<br />

HANS Ich lebe allein und koche nur, wenn<br />

ich Besuch habe, zu Weihnachten zum Beispiel<br />

Rindsbraten für die Familie. Mittags<br />

gehe ich in die Kantine meines ehemaligen<br />

Arbeitgebers, abends esse ich kalt. Am liebsten?<br />

Italienisch vielleicht, Spaghetti Bolognese.<br />

ANITA Ich koche selber für mich, und das<br />

sehr gerne. Jeden Tag mindestens einmal<br />

warm mit allem Drum und Dran und schön<br />

präsentiert mit Stil. Am liebsten habe ich Riz<br />

Cas<strong>im</strong>ir. Oder eine schöne Gemüsesuppe.<br />

WELCHE MUSIK HÖREN<br />

SIE AM LIEBSTEN?<br />

AHMAD Songs vom amerikanischen Rapper<br />

Whiz Kalifa, zum Beispiel ‹See you again›.<br />

Aber natürlich auch kurdische und arabische<br />

Musik. Und Musik vom deutschen Rapper<br />

Kurdo, der kurdisch-irakische Wurzeln hat.<br />

MIRA Bands vor allem. Alles von Hip-Hop,<br />

Rap, Indie bis Ska und Reggae, ausser Charts<br />

Musik.<br />

EMANUEL In meinen Jugendjahren gerne<br />

Pink Floyd, die Stones, die Beatles und später<br />

auch gerne deutschsprachige Liedermacher,<br />

heute querbeet. Vor zwei Jahren habe ich<br />

Akkordeon zu spielen begonnen. Ich versuche<br />

Lieder zu spielen, die mich bewegen. So<br />

wollte ich unbedingt das <strong>Wie</strong>genlied lernen,<br />

das ich für meine Tochter gesungen habe,<br />

‹Bajuschki Baju›, ein wunderschönes russisches<br />

<strong>Wie</strong>genlied.<br />

SILVIA Ich gehöre zur Rock-Generation und<br />

mag Rock am liebsten, auch Punkrock und<br />

Hardrock. Die Rolling Stones sind meine<br />

Lieblinge.<br />

HANS Ich habe bis vor Kurzem noch Klavier<br />

gespielt. Klassische Musik sagt mir am meisten<br />

zu – das bürgerliche Repertoire eben.<br />

Auch zum Beispiel Beatles oder Leonard<br />

Cohen. Ich höre aber wenig Musik – und nie<br />

nebenbei.<br />

ANITA Klavierkonzerte, zum Beispiel von<br />

Beethoven. Und dazwischen sehr gerne auch<br />

Ländler.<br />

9


Nachgefragt<br />

MIRA RAUSCHER, 19<br />

Schweizerin, Biologiestudentin<br />

<strong>im</strong> ersten Semester, lebt mit<br />

der Familie <strong>im</strong> Gotthelfquartier<br />

WENN SIE ALT UND<br />

GEBRECHLICH SIND:<br />

WELCHE UNTERSTÜTZUNG<br />

ERWARTEN SIE VON<br />

IHREN KINDERN, FREUNDEN,<br />

VOM STAAT?<br />

WIE OFT TREFFEN SIE<br />

SICH MIT FAMILIE UND<br />

FREUNDEN?<br />

AHMAD Ich wohne ja noch zu Hause und<br />

sehe meine Familie <strong>im</strong>mer. Richtige Freunde<br />

habe ich hier keine. Ich meine richtige<br />

Freunde, die <strong>im</strong>mer für dich da sind. Ein<br />

richtiger Freund ist mein Cousin, der <strong>im</strong><br />

Kriegsgebiet in Syrien lebt. Aber nette Kollegen<br />

habe ich schon, und die sehe ich auch<br />

häufig. Zwe<strong>im</strong>al pro Woche <strong>im</strong> Fussballtraining<br />

– und auch liebe Kollegen aus meiner<br />

ehemaligen Schule hier.<br />

MIRA Ich wohne noch zu Hause und sehe<br />

meine Familie täglich. Auch meine Freundinnen<br />

und Freunde treffe ich jeden Tag. Entweder<br />

<strong>im</strong> Zusammenhang mit meinen Hobbys<br />

Fasnacht und Volleyball – oder in der Stadt,<br />

an Partys, Konzerten und Festivals. Das wird,<br />

je nach Belastung <strong>im</strong> Studium, sicher abnehmen<br />

in Zukunft.<br />

EMANUEL Meine Tochter sehe ich natürlich<br />

regelmässig. Mittags esse ich oft mit meinen<br />

Künstlerkolleginnen und -kollegen und koche<br />

auch gerne für Freunde. Zwei meiner Geschwister<br />

leben in der Region, die treffe ich<br />

regelmässig.<br />

SILVIA Ich gehe jede Woche meine betagten<br />

Eltern besuchen, und am Freitag und Samstag<br />

gehe ich <strong>im</strong>mer mit Freunden in den<br />

Ausgang. Ich tanze sehr gerne!<br />

HANS Rund einmal pro Woche besuche ich<br />

eines meiner vier Kinder und deren Familien<br />

in Zürich und Basel. Dazwischen verabrede<br />

ich mich auch mit Freunden, zum Wandern<br />

zum Beispiel. Und ich besuche regelmässig<br />

meine Freundin, die in Deutschland lebt.<br />

ANITA Meinen Bruder und meine Schwägerin<br />

treffe ich regelmässig oder telefoniere mit<br />

ihnen. Und ebenso oft meine Freundinnen<br />

und Freunde. Mit den Kindern meiner ehemaligen<br />

Pflegekinder fahre ich manchmal<br />

mit meinem elektrischen Rollstuhl aus. Die<br />

steigen dann auf den Rollstuhl auf und fahren<br />

mit – und wir finden das alle sehr lustig!<br />

WEN BITTEN SIE UM HILFE,<br />

WENN SIE EINE SCHWERE<br />

GRIPPE HABEN?<br />

AHMAD Meine Familie natürlich, meine Mutter<br />

vor allem.<br />

MIRA Meine Familie, mit der ich zusammenwohne<br />

und die mich umsorgt.<br />

EMANUEL Ich kann es mir kaum leisten,<br />

krank zu werden, und bin es zum Glück auch<br />

selten. Ich versuche darum zu meinem Körper<br />

zu schauen. Im Notfall würde ich auch<br />

Freunde oder Leute <strong>im</strong> Haus um Hilfe bitten.<br />

SILVIA Vor ein paar Jahren hätte ich noch<br />

meine Mutter gefragt, aber sie ist mit ihren<br />

82 Jahren jetzt zu alt und braucht selber<br />

Hilfe. Ich habe einen guten Freundeskreis,<br />

da hilft man sich gegenseitig.<br />

HANS Meine Ex-Frau, die mir eine vertraute<br />

Freundin geblieben ist.<br />

ANITA Für Kleinigkeiten frage ich meine<br />

Nachbarinnen. Wenn es etwas Ernsteres ist:<br />

meinen Bruder und meine Schwägerin oder<br />

meine Nichten und Neffen.<br />

AHMAD In unserer Kultur ist es selbstverständlich,<br />

dass sich die Familie um ältere<br />

Menschen kümmert. Bei uns geht niemand<br />

in ein <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong>. Aber ich finde das schon<br />

ok hier, dass die Menschen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong><br />

sind. Wenn Bewohnerinnen und Bewohner<br />

zum Beispiel dement sind und die Verwandten<br />

keine Zeit haben, muss sich ja jemand<br />

um sie kümmern.<br />

MIRA Wenn ich vielleicht mal Kinder habe,<br />

würde ich nicht von ihnen verlangen, dass<br />

sie mich unterstützen oder pflegen. Ich<br />

möchte diese Verpflichtung auch gegenüber<br />

meinen Eltern nicht eingehen müssen. Dafür<br />

gibt es heute und wohl auch in Zukunft<br />

Menschen, die dafür ausgebildet und auch<br />

bezahlt werden. Vom Staat? Ich denke, ich<br />

werde mal genug verdienen, dass staatliche<br />

Unterstützung nicht nötig sein wird.<br />

EMANUEL Meiner Tochter möchte ich möglichst<br />

nichts aufbürden. Ich kann mir nicht<br />

vorstellen, dass ich je in ein <strong>Alter</strong>she<strong>im</strong><br />

gehen würde. Generationenübergreifende<br />

<strong>Alter</strong>s-Wohnprojekte finde ich zwar gut –<br />

aber ich bin sozial nicht durchwegs kompatibel.<br />

Ich könnte mir <strong>Alter</strong>nativen vorstellen,<br />

etwa in ein Kloster zu gehen.<br />

SILVIA Kinder habe ich keine. Ich möchte<br />

mal in eine <strong>Alter</strong>s-WG ziehen, sodass man<br />

sich gegenseitig helfen kann: Der eine kann<br />

vielleicht nicht mehr gut laufen, die andere<br />

sieht vielleicht nicht mehr gut. Vielleicht<br />

ziehe ich auch mit meiner Schwester zusammen.<br />

Vom Staat? Ich habe <strong>im</strong>mer geschaut,<br />

dass ich gut versichert bin und mein Leben<br />

möglichst selbst bestreiten kann.<br />

HANS Meine Kinder haben ihre eigenen<br />

Familien und sind beruflich sehr gefordert.<br />

Und solche Freunde habe ich nicht, von<br />

denen ich Unterstützung oder Hilfe erwarten<br />

würde. Ich werde wohl mal auf Spitex<br />

und Essen auf Rädern zurückgreifen. Im<br />

Moment hätte ich sehr gerne Unterstützung<br />

bei der Wohnungssuche, denn ich muss<br />

wegen der Treppen wohl in absehbarer Zeit<br />

raus aus meiner Wohnung. Es fehlt mir aber<br />

an Energie dafür.<br />

ANITA Ich habe keine Kinder. Wenn es mir<br />

wirklich schlecht geht, dann höre ich einfach<br />

auf zu essen und zu trinken. Dann werde ich<br />

schwach und schlafe nur noch. Die Nebenwirkungen<br />

überwacht mein Hausarzt, zu<br />

dem ich grosses Vertrauen habe – und er wird<br />

die entsprechenden Massnahmen treffen.<br />

10


Nachgefragt<br />

HANS LENGSFELD, 81<br />

Deutscher, pensionierter Mitarbeiter<br />

eines grossen Basler Pharmaunternehmens,<br />

lebt allein in der Innenstadt, vier erwachsene<br />

Kinder und sieben Grosskinder<br />

WIE GUT KOMMEN SIE KLAR<br />

MIT IHREM HEUTIGEN<br />

EINKOMMEN? REICHT ES FÜR<br />

HEUTE UND AUCH MORGEN?<br />

AHMAD Ich verdiene ein bisschen und gebe<br />

zu Hause etwas ab. Aber ich werde sicher<br />

mal einen guten Job haben als Krankenpfleger<br />

und werde dann hoffentlich genug verdienen.<br />

MIRA Ich habe eben mein Studium begonnen<br />

und rechne damit, dass ich einmal einen<br />

gut qualifizierten und bezahlten Job haben<br />

werde, der mir Freude macht und mich auch<br />

<strong>im</strong> <strong>Alter</strong> gut abstützt. Im Moment jobbe ich<br />

und verdiene mir einen Zustupf zu meinem<br />

Studium.<br />

EMANUEL Eigentlich reicht es heute schon<br />

nicht. Deshalb mache ich mir manchmal<br />

grosse Sorgen, wie das wird, wenn meine<br />

körperlichen Kräfte weiter schwinden. Aber<br />

irgendwie ging es ja <strong>im</strong>mer. Ich hoffe natürlich<br />

<strong>im</strong>mer wieder, dass ich auch Kunstobjekte<br />

verkaufen kann.<br />

SILVIA Ich lebe bescheiden und halte mich<br />

an mein Budget. Wenn etwas mehr in der<br />

Kasse ist, reserviere ich das für schlechtere<br />

Zeiten.<br />

HANS Ich habe mehr als dreissig Jahre lang<br />

bei einem der grossen Basler Pharmaunternehmen<br />

gearbeitet und habe eine gute Pension<br />

und natürlich AHV. Es reicht – auch in<br />

Zukunft, hoffe ich.<br />

ANITA Es reicht gut. Aber ich brauche auch<br />

nicht viel. Meine Haare schneide ich mir zum<br />

Beispiel selber und spare so auch Geld für<br />

den Coiffeur. Ich schnipple einfach ab, was<br />

raussteht. Und sehe doch <strong>im</strong>mer elegant aus<br />

– nicht wahr?<br />

WORAN DENKEN SIE,<br />

WENN SIE AN IHRE LETZTE<br />

LEBENSPHASE DENKEN –<br />

UND WAS MACHT IHNEN<br />

DABEI AM MEISTEN SORGEN?<br />

AHMAD Vor Schmerzen habe ich Angst.<br />

Oder dass ich dement werde und dann vielleicht<br />

unhöflich werde und Menschen verletze.<br />

MIRA Wenn ich mal dement und sehr krank<br />

werden sollte, würde ich nicht weiterleben<br />

wollen. Dann käme für mich Sterbehilfe<br />

schon infrage.<br />

EMANUEL Dass ich nicht genügend aufgeräumt<br />

habe und dass meine Tochter meine<br />

Wohnung oder mein Atelier räumen müsste.<br />

Vielleicht gehe ich, wenn es nicht mehr geht,<br />

in den Wald und lebe in der Natur und mit<br />

Tieren und sterbe dann dort einen natürlichen<br />

Tod. Vorstellbar ist für mich auch ein<br />

Freitod. Das Leben selbst zu beenden ist<br />

meiner Meinung nach ein Grundrecht. Ich<br />

hoffe und denke, dass meine Tochter diese<br />

Entscheidung akzeptieren würde.<br />

SILVIA Ich hoffe, dass ich möglichst lange<br />

gesund bleibe, beschwerdefrei gehen kann<br />

und nicht blind werde.<br />

HANS Die Unplanbarkeit des <strong>Alter</strong>s beschäftigt<br />

mich. Und dass ich meine geistige<br />

Autonomie verlieren könnte und dement<br />

werde. Ich bin unentschlossen: Exit ist für<br />

mich ein Thema, wenn es so weit ist. Andererseits<br />

war es für mich sehr wichtig, das<br />

natürliche Lebensende meiner Grosseltern<br />

und Eltern mitzuerleben. Um diese Erfahrung<br />

möchte ich meine Kinder und Enkel eigentlich<br />

nicht bringen.<br />

ANITA Mir macht gar nichts Sorgen! Ich<br />

weiss, was ich will – und ich kann mich auch<br />

wehren. Und ins Spital lasse ich mich auch<br />

nicht mehr einliefern. In letzter Zeit habe ich<br />

das Vertrauen in diese Institutionen verloren.<br />

Dasselbe gilt für Pflegehe<strong>im</strong>e.<br />

WIE ALT MÖCHTEN<br />

SIE WERDEN?<br />

AHMAD 150! Ich möchte in die Zukunft<br />

sehen können und wissen, wie das dann<br />

sein wird. Ob es dann <strong>im</strong>mer noch Kriege<br />

gibt und die Menschen sich um Öl streiten.<br />

Ich hoffe, es wird dann nur noch ein Land<br />

geben, nämlich das Land Erde – und nicht so<br />

viele Länder, die sich bekriegen.<br />

MIRA Ich möchte so alt werden, dass ich<br />

mich noch gesund und fit fühle und das<br />

Leben noch geniessen kann.<br />

EMANUEL Ich habe mit der Instanz ‹oben›<br />

mal 86 abgemacht. Wenn ich aber schon<br />

früher nicht mehr frei sein kann, möchte ich<br />

nicht auf dieser Zahl beharren. Natürlich<br />

hoffe ich, dass ich die Zeichen der Zeit frühzeitig<br />

erkennen und danach handeln kann.<br />

SILVIA Hundert Jahre alt! Das wollte ich<br />

schon als Kind.<br />

HANS So alt, solange mein Verstand mich<br />

nicht <strong>im</strong> Stich lässt.<br />

ANITA Ich sagte früher: Ich will mal 124<br />

Jahre alt werden. Heute sage ich: Ich will<br />

noch so lange leben, solange ich noch<br />

Freude am Leben habe. Sobald ich abhängig<br />

werde, will ich nicht mehr weiterleben.<br />

11


Graue Panther<br />

«WIR SOLLTEN MÖGLICHST VIELEN<br />

DAS MÖGLICHE ERMÖGLICHEN»<br />

Die 75-jährige Elisabeth Nussbaumer<br />

ist Vizepräsidentin der ‹Grauen<br />

Panther Nordwestschweiz›, einer<br />

Lobby-Organisation für ältere<br />

Menschen in der Region. Für <strong>RADAR</strong><br />

hat sie ihre persönlichen Wohnerfahrungen<br />

und -vorstellungen festgehalten.<br />

Und sie sagt auch:<br />

Hört auf, nur in <strong>Alter</strong>skategorien<br />

zu denken.<br />

Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>: Zu diesem Thema werden zahlreiche Studien<br />

erstellt, veröffentlicht, diskutiert – in öffentlichen Foren, in der Politlandschaft,<br />

<strong>im</strong> Freundes- und Bekanntenkreis. Da frage ich mich<br />

manchmal schon: Gibt es eigentlich auch Studien zum Wohnen mit<br />

25, mit 40? Und wenn nein, warum nicht? Welchen Hintergrund hat<br />

das Kümmern um die Wohnbedürfnisse der Alten – und was heisst<br />

denn eigentlich <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>?<br />

Wohnen war für mich <strong>im</strong>mer ein ganz wichtiger Bestandteil<br />

meiner Lebensqualität. Sich zu Hause wohlfühlen ist elementar für<br />

meine Befindlichkeit. Das hat einerseits mit dem Ort, mit der Lage,<br />

mit der Architektur, mit der Umgebung zu tun – aber vor allem mit<br />

den Menschen <strong>im</strong> nächsten Umfeld.<br />

Ich habe auch in jungen Jahren nie in einer WG gewohnt – ich<br />

brauche meine eigene Küche! Zu Beginn unserer Familienphase<br />

haben wir in Reinach so gewohnt, dass rund um uns andere Familien<br />

waren, mit denen zusammen wir Mittagstische, Spielgruppen, Babysitting<br />

etc. organisierten. Die Kontakte untereinander haben sich<br />

bis heute erhalten, und wenn sich die damaligen Kleinkinder nach<br />

vierzig Jahren irgendwo treffen, tauschen sie Erinnerungen an<br />

damals aus. Später haben wir zusammen mit einer dieser Familien<br />

ein altes Bauernhaus in einem Baselbieter Dorf gekauft und umgebaut.<br />

Auch dort war es wieder so, dass wir uns als Hausgemeinschaft<br />

mit zunächst drei und später vier Familien den Alltag unseren<br />

Bedürfnissen entsprechend geteilt haben. Familie und Beruf waren<br />

darum kein Problem. Es war garantiert, dass <strong>im</strong>mer jemand zu<br />

Hause war, wenn die Kinder von der Schule he<strong>im</strong>kamen, und dass<br />

unter der Woche abwechselnd gekocht wurde. Diese Möglichkeit von<br />

Gemeinsamkeit und gleichzeitiger Privatsphäre in der eigenen Wohnung<br />

finde ich opt<strong>im</strong>al. Abends nach der Arbeit spontan bei einem<br />

Glas Wein zusammensitzen, aber sich auch zurückziehen können,<br />

wenn einem danach ist, das ist für mich Wohnglück pur.<br />

Ich bin kein ‹Landkind›. Ich bin in einem Vorort von Basel aufgewachsen,<br />

und es war für mich <strong>im</strong>mer klar, dass ich – wenn ich denn<br />

einmal älter sein würde – in die Stadt zurückkehren wollte. Ein Trämli<br />

vor dem Haus, zu Fuss auf den Markt, ins Kino oder ins Theater, alles<br />

Wesentliche in der Nähe, Freundinnen und Freunde, die spontan vorbeikommen<br />

können.<br />

Lange habe ich mich vor allem theoretisch mit Zukunftsperspektiven<br />

beschäftigt. Denn mein ‹Traumhaus› auf dem Land wollte<br />

mich nicht loslassen. Zudem gab es, auch nachdem Ehepartner und<br />

Kinder ausgezogen waren, keinen zwingenden Grund dafür, sofort<br />

etwas an meiner Wohnsituation zu ändern. Es war für mich klar,<br />

dass ich nicht irgendwo in der Stadt allein in einer Wohnung zusammen<br />

mit wildfremden Menschen zusammenleben wollte.<br />

<strong>Wie</strong> aber eine Hausgemeinschaft neu aufbauen, wie ich sie<br />

während 35 Jahren erlebt hatte? Unkompliziert, tolerant, verbindlich<br />

und dennoch flexibel? Ich habe mich bei diversen Gruppierungen<br />

kundig gemacht, einmal bin ich sogar fast in ein Projekt in der Stadt<br />

eingestiegen. Allerdings zeigte sich hier der Unterschied zwischen 30<br />

und 65! Die Leichtigkeit, mit der wir uns als junge Familien mit anderen,<br />

ähnlich ‹gestrickten› Leuten zusammengetan hatten, ist eben<br />

<strong>im</strong> höheren <strong>Alter</strong> nicht mehr vorhanden. Alle bringen unendlich viele<br />

Erfahrungen mit. Und alle wissen – viel besser als vor fünfzig Jahren<br />

–, was sie wollen oder vielmehr: nicht (mehr) wollen. Ich hatte dann<br />

den Mut oder die Energie nicht, mich auf das Exper<strong>im</strong>ent einzulassen.<br />

Weil ich unsicher war, ob ich mich wohlfühlen würde – vielleicht<br />

auch, weil ich die andern zu kompliziert fand. Zudem wohnte ich<br />

nach wie vor sehr günstig in meinem viel zu grossen Haus, und es<br />

bestand kein unmittelbarer Zwang, mich zu entscheiden.<br />

Ich habe dann den Schritt doch gewagt. Seit gut vier Jahren<br />

wohne ich jetzt tatsächlich in der Stadt. Durch Bekannte wurde ich<br />

auf eine Wohnung aufmerksam, die von der Lage, von den Räumlichkeiten<br />

und von den Mitbewohnern her eine so attraktive <strong>Alter</strong>native<br />

zu meinem Haus <strong>im</strong> Dorf bot, dass ich mich spontan begeistern<br />

liess. Ich hab’s bisher nie bereut. Ich habe den Rhein vor meinen<br />

Fenstern, das Trämli in der Nähe, bin zu Fuss in fünf bis zehn Minuten<br />

fast überall in der Stadt, und die meisten meiner Freundinnen<br />

und Freunde <strong>wohnen</strong> in erreichbarer Nähe. Auch für die Grosskinder<br />

bin ich in zehn Minuten erreichbar. Glück gehabt – einmal mehr!<br />

Auch mein Bedürfnis nach unkomplizierter Nachbarschaft hat<br />

sich in Bezug auf Verlässlichkeit und Toleranz erfüllt. Bekannte fanden<br />

zwar, mit siebzig solle man nicht in eine Wohnung ohne Lift<br />

ziehen. Aber das tägliche Treppensteigen hält mich vorläufig noch<br />

fit. Ich hoffe, ich schaffe das mindestens noch fünf bis zehn Jahre<br />

lang – sonst ist dann halt wieder ein Wohnungswechsel fällig.<br />

Wohnen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> – es ist mir klar, dass es da noch viele anderen<br />

Facetten gibt. Probleme mit der Vertreibung von langjährigen Mieterinnen<br />

und Mietern aus der gewohnten Umgebung, unbezahlbare<br />

Mieten, Vereinsamung. Vieles ist in Bewegung, es gibt Projekte in<br />

den Quartieren, die sich mit den Problemen auseinandersetzen. Es<br />

gibt viele Ideen für neue Wohnprojekte und ‹altersgerechte› Überbauungen<br />

auch für generationenübergreifendes Wohnen. Bei einem<br />

Rundgang durch diverse Quartiere mit dem Schwerpunkt ‹<strong>Wie</strong> erreichen<br />

wir die unerreichbaren älteren Menschen?› ist mir allerdings<br />

aufgefallen, dass sich Herausforderungen für das Zusammenleben<br />

wohl nicht nur mit Konzepten vom Reissbrett lösen lassen. Nachbarschaftshilfe<br />

kann man nicht verordnen. Dort, wo in Quartieren<br />

bisher tatsächlich etwas geschah, waren es <strong>im</strong>mer einzelne Menschen,<br />

die sich an ihrem Arbeitsort oder innerhalb einer Siedlung<br />

unkompliziert und gezielt um andere kümmerten und so sehr viel<br />

bewirken konnten.<br />

Es gibt nicht einfach ‹das <strong>Alter</strong>› und es gibt nicht ‹die Alten›.<br />

Es gibt kein Universalrezept – denn es gibt unendlich viele Individuen<br />

und wohl ebenso viele unterschiedliche Vorstellungen und Träume<br />

in Bezug auf Leben und Wohnen. Wir sollten möglichst vielen das<br />

Mögliche ermöglichen.<br />

Elisabeth Nussbaumer<br />

Vizepräsidentin ‹Graue Panther Nordwestschweiz›<br />

www.grauepanther.ch<br />

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Unik<br />

SCHREIBT<br />

EUER BUCH!<br />

scy Jahrelang hat Gudrun Löffler ihre schwierige Kindheit<br />

aufzuarbeiten und niederzuschreiben versucht. Erst mit<br />

Unterstützung der Edition Unik ist es ihr gelungen. Sie hat<br />

sich freigeschrieben und ist vom Projekt so begeistert, dass<br />

sie nach ihrem ersten Buch gleich ein zweites Buch in<br />

Angriff n<strong>im</strong>mt. Dieses Mal in Basel, wo die Edition Unik<br />

nach Zürich seit diesem Herbst ebenfalls Begleitung bis<br />

zum fertigen Buch anbietet. <strong>RADAR</strong> hat sie erzählt, wie es<br />

dazu kam.<br />

Auf das Schreibprojekt Edition Unik ist Gudrun Löffler durch Zufall gestossen.<br />

In der Beilage einer Zeitung las sie davon und war zuerst skeptisch.<br />

Sie hatte zuvor ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben versucht.<br />

Etwas unstrukturiert und chaotisch, wie sie selber sagt. Sie habe <strong>im</strong>mer<br />

gerne geschrieben. Aber es blieb ein ungeordnetes Sammelsurium mit<br />

vielen Notizen und Zetteln. Sie informierte sich auf der Website der Edition<br />

Unik. «Schreib dein Buch», stand dort. Es liess sie nicht mehr los.<br />

Gudrun Löffler hat sich vor einem Jahr <strong>im</strong> damals noch ausschliesslich<br />

in Zürich durchgeführten Projekt angemeldet, nahm an der Einführungsveranstaltung<br />

teil, an den Workshops und wurde unterstützt: be<strong>im</strong><br />

Sammeln ihres Materials, be<strong>im</strong> Strukturieren, bei technischen Problemen<br />

bis hin zur Gestaltung und zum fertigen Buch, das sie nach einem<br />

17-wöchigen Schreibprozess heute stolz in den Händen hält: in senfgelbes<br />

Leinen gebunden, sorgfältig editiert und gedruckt wie Bücher der Weltliteratur.<br />

Nur dass darauf nicht ein illustrer Name steht, sondern: ‹Gudrun<br />

Löffler – Geist, schaff’ Leben – Vom Fliegenlernen›. Den Titel hat sie ganz<br />

bewusst gewählt, in Anlehnung und Abgrenzung zum christlich ausgerichteten<br />

Herder-Verlag in Freiburg <strong>im</strong> Breisgau. Ein emanzipatorischer<br />

Imperativ, gleichsam ein Appell an sich selber, denn das Motto des Verlags<br />

lautet anders, nämlich: ‹Geist schafft Leben›. Der Freiburger Verlag hat<br />

sehr direkt mit ihrer Biografie zu tun. Und nur schon der Buchtitel war<br />

eine Befreiung.<br />

Der Geist, der in ihrem erzkatholischen, konservativen Umfeld<br />

herrschte und angeblich Leben schaffen sollte, habe ihr Leben mehr<br />

behindert als ermöglicht, sagt Gudrun Löffler heute. Und das fing früh<br />

an. Ihre Eltern, beide Religionspädagogen und Sozialarbeiter, gaben sie,<br />

das älteste von fünf Kindern, bereits als Säugling zu Pflegeeltern. Das<br />

Kind war emotional zwischen den leiblichen und den Pflegeeltern hin und<br />

her gerissen, litt, besuchte das katholische Mädchengymnasium, brach<br />

es wieder ab, wurde vom Vater ebenso wie zwei ihrer Brüder in den Herder-Verlag<br />

geholt, schloss die Ausbildung als Verlagskauffrau ab und verliess<br />

den Verlag danach sofort.<br />

Viel später hat Gudrun Löffler sich von ihrem belastenden Umfeld gelöst,<br />

sich weitergebildet und ein eigenständiges Leben geführt – die letzten<br />

Jahre in Basel. Was sie zwischen ihrer Geburt und ihrer Emanzipation<br />

erlebt und erlitten hat, steht heute zwischen leinengebundenen, senfgelben<br />

Buchdeckeln. Nicht für die Öffentlichkeit best<strong>im</strong>mt, sondern in ihrem<br />

Buch. Nur für sie und ihre Freundin, die sie zum Schreiben ermuntert und<br />

ihr auch bei der Bildgestaltung geholfen hat.<br />

«Ich habe meine Kindheit und Jugend in Therapien aufzuarbeiten<br />

versucht, wie viele andere das ja auch tun», sagt Gudrun Löffler. Therapeuten<br />

hätten ihr auch schon geraten, sich ihre Lebensgeschichte von<br />

der Seele zu schreiben, aber es habe nie geklappt. Erst mit diesem begleiteten,<br />

strukturierten Schreibprozess bei der Edition Unik sei es ihr endlich<br />

gelungen. «Nichts bisher hat mich so sehr befreit wie dieses Projekt.<br />

Respekt für meine Ressourcen zu erfahren, war ein unhe<strong>im</strong>lich gutes<br />

Gefühl. Ich bin sehr glücklich, dass ich das gemacht habe, auch wenn es<br />

zwischendurch hart war und mich psychisch sehr gefordert hat.»<br />

Die Erfahrung mit ihrem ersten Buch hat sie so begeistert, dass sie<br />

sich gleich an ein zweites gemacht hat. Dieses Mal in Basel, wo die Edition<br />

Unik seit diesem Herbst neu ebenfalls jährlich zwei Schreibrunden<br />

anbietet. Das nächste Buch wolle sie, sagt Gudrun Löffler, dann nicht nur<br />

für sich selber, sondern auch für andere, vor allem Familienmitglieder<br />

schreiben. «Eine Art Leitfaden, eine Emanzipationshilfe als Ermutigung,<br />

wie man sich aus belastenden Fesseln befreien könnte.»<br />

EDITION UNIK<br />

Die vom Basler Kulturunternehmer und Kurator Martin Heller und seinem Zürcher Unternehmen<br />

Heller Enterprises 2014 lancierte Edition Unik ist ein Kulturprojekt, das Menschen die<br />

Möglichkeit gibt, ihre (Lebens-)Geschichte aufzuschreiben. Zielpublikum sind vor allem<br />

Personen, die noch nie geschrieben haben. Sie werden be<strong>im</strong> Sammeln und Strukturieren ihres<br />

Materials und ihrer Ideen unterstützt und in Workshops angeleitet. Nach rund vier Monaten<br />

wird das Material zu einem hochwertigen Buch gedruckt. Je nach Bedürfnis bleibt es bei zwei<br />

Ausgaben pro Teilnehmerin und Teilnehmer oder es werden mehrere Bücher für den privaten<br />

Gebrauch produziert – aber nicht öffentlich verlegt. Das Basispaket kostet 550 Franken für<br />

zwei Bücher – ohne Korrektorat, Mentoring und zusätzliche Bücher. Seit Herbst 2018 ist das<br />

Projekt von Zürich auf Basel ausgeweitet worden. Die nächste Runde startet <strong>im</strong> Frühjahr 2019.<br />

Bisher sind in der Edition Unik rund 300 Bücher entstanden.<br />

Die Christoph Merian Stiftung unterstützt das Projekt <strong>im</strong> Jahr 2018 mit CHF 30’000.<br />

www.edition-unik.ch<br />

13


4seasons<br />

4SEASONS<br />

EIN WERKSTATTBERICHT<br />

sen Dessertträume aus Gemüse, Kochen mit Eingemachtem. Oder<br />

doch lieber eine Pilzexkursion, ein Workshop zum Thema Food-<br />

Waste? Das Kursprogramm des Projektes ‹4seasons› liest sich verführerisch.<br />

Die Entscheidung fällt nicht leicht. Sofort schmecke<br />

ich süss-aromatische Gewürze auf der Zunge, sehe knackiges<br />

Gemüse vor meinem geistigen Auge, rieche den Duft von feuchtem<br />

Waldboden in der Nase.<br />

Ich entscheide mich für den dreistündigen Kochkurs zum Thema Essig. Kursort ist<br />

die Kochnische in der Basler Markthalle. An diesem Dienstagabend findet sich eine<br />

bunt gemischte Gruppe aus lernwilligen, begeisterungsfähigen Menschen unterschiedlichen<br />

<strong>Alter</strong>s zusammen. Der Ort ist ansprechend, die Atmosphäre locker und<br />

unkompliziert. Sofort ergibt sich ein reger Austausch unter den Kursteilnehmenden.<br />

Um Essig selber herzustellen – so lernen wir – braucht es viel Zeit. Mehr Zeit, als wir<br />

<strong>im</strong> Kurs zur Verfügung haben. Ziel des Abends ist deshalb nicht die Herstellung von<br />

frischem Essig. Sondern wir veredeln jeweils in kleinen Gruppen gekauften Essig.<br />

Mit Gewürzen, Beeren oder Wurzeln – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.<br />

Genau darum geht es den Initiantinnen von ‹4seasons›. Sie wollen bei den<br />

Teilnehmenden die Lust wecken, Neues auszuprobieren, mit altem Wissen zu exper<strong>im</strong>entieren,<br />

gemeinsam zu kochen und sich schliesslich be<strong>im</strong> Verkosten am grossen<br />

Tisch darüber auszutauschen. Denn das Ziel des Projektes ist es, über neue<br />

Erfahrungen das Bewusstsein für nachhaltige Ernährung zu schärfen. Umweltschonende<br />

Ernährung muss – allen Vorurteilen zum Trotz – nicht teuer sein. Im<br />

Gegenteil: Der Verein 4seasons bietet gezielt Kochkurse, Exkursionen und Workshops<br />

für Menschen mit kleinem Budget an. Denn für eine gesunde und nachhaltige<br />

Ernährung braucht es kein dickes Portemonnaie, sondern vielmehr gute Kenntnisse<br />

über Lebensmittel, wie sie produziert werden und wo sie in der Region beschafft<br />

werden können. Kochpraxis ist natürlich von Vorteil.<br />

Gemeinsam mit den Teilnehmenden gehen die Kursleitenden von ‹4seasons› in<br />

kurzweiligen und lebhaften Kursen der Frage nach, wie sich die Ausgaben für<br />

Lebensmittel niedrig halten lassen. Gleichzeitig wird gelernt, saisongerecht und<br />

gesund zu kochen, ohne dabei Lebensmittel zu verschwenden. Lebensmittelproduzentinnen<br />

und -produzenten erklären in Workshops und auf Exkursionen die<br />

Herstellungsbedingungen von Nahrungsmitteln. Fachleute vermitteln Wissen über<br />

ökologische Zusammenhänge und die Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens<br />

auf die Umwelt. Interessierte begegnen sich in Gärten und an Küchentischen<br />

zum Austausch.<br />

Die Veranstaltungen von ‹4seasons› rund um gesunde und nachhaltige Ernährung<br />

für Menschen mit wenig Geld – oder auch mit mehr Geld – sind <strong>im</strong> Raum Basel<br />

einzigartig. Durch die Zusammenarbeit mit den lokalen sozialen Organisationen<br />

wird ein ansprechendes Angebot erarbeitet, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern<br />

auch den Wissensaustausch fördert. Das Projekt, von der <strong>CMS</strong> mit jährlich<br />

CHF 18’000 in den Jahren 2018 bis 2020 gefördert, zeigt auf, dass eine nachhaltige<br />

Lebensweise nicht vom Einkommen abhängig ist. Es macht Lust aufs Entdecken.<br />

Mir hat es auf jeden Fall den Ärmel reingezogen. Zusammen mit den anderen<br />

Kursteilnehmenden fülle ich meinen mit H<strong>im</strong>beeren und Ingwer veredelten Essig<br />

in schöne Glasflaschen ab. Die beiden Kursleiterinnen haben aus einem Fair-Teiler<br />

Salat, Gemüse und Nüsse mitgebracht. Zusammen mit selbst gebackenem Brot<br />

können wir nun unseren Essig degustieren. Gemeinsam an einem langen Tisch, in<br />

regem Austausch über die gemachten Erfahrungen, fällt es den Teilnehmenden<br />

schwer, die gemütliche Runde am Schluss des Abends wieder zu verlassen.<br />

www.4seasons-basel.ch<br />

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Iglingerhof<br />

FAST WÄRE ER EINE<br />

KLEINSTADT GEWORDEN:<br />

DER IGLINGERHOF<br />

asa Der Iglingerhof bei Magden (AG) ist der älteste Landwirtschaftsbetrieb<br />

der Christoph Merian Stiftung (<strong>CMS</strong>).<br />

Den Pachthof umgibt eine vielfältige Hügellandschaft<br />

mit <strong>Wie</strong>sen, Weiden, Hochstamm-Obstbäumen, Hecken,<br />

Ackerland und Wald. Ebenso vielfältig ist die Betriebsform:<br />

Die Pächterfamilie hält Milchvieh, Mastvieh und Pferde und<br />

betreibt Ackerbau. Seit genau hundert Jahren ist der Iglingerhof<br />

<strong>im</strong> Besitz der <strong>CMS</strong>.<br />

Der gekaufte Gaul<br />

Ein Pferd, «das mager auf den Markt kommt, aber gesund, recht gebaut<br />

und in guten Jahren ist» – so landwirtschaftlich st<strong>im</strong>mig empfiehlt 1918<br />

ein Gutachten der Christoph Merian Stiftung den Iglingerhof. Zum Hof,<br />

wo noch Petroleumlampen Licht spenden, gehören damals verschlafene<br />

66 Hektaren. Die <strong>CMS</strong> will aber genau solche Bauernhöfe kaufen. Sie ahnt,<br />

dass ihr stadtnaher Landwirtschaftsbesitz früher oder später vom stetig<br />

wachsenden Basel übernommen wird. Am 20. September 1918 wird der<br />

Kauf des Iglingerhofs besiegelt, und ein Pächter übern<strong>im</strong>mt den Betrieb.<br />

Die Anfangszeit ist nicht einfach. Der Präsident der Stiftungskommission<br />

will nicht froh werden, als er in der Stiftungsgeschichte von 1936<br />

über den Ankauf des Iglingerhofs schreibt. Der Betrieb rentiert nicht,<br />

der Pachtzins ist sogar gesunken. Der Ärger über den Besitz des Iglingerhofs<br />

quillt aus jeder seiner Zeilen. Man liest Worte wie «ungünstiger<br />

Zeitpunkt», «übersetzte Preise», «Zweifel an der Zweckmässigkeit»,<br />

«erschwerte Aufsicht», «nicht <strong>im</strong> besten Zustande» und schliesslich das<br />

Totschlagargument für jeden Bauernhof: «ganz ungenügende Wasserversorgung».<br />

Wahrscheinlich denkt er sich, dass man 1918 das Pferd doch<br />

gründlicher hätte anschauen sollen. Und dennoch: Andere Stiftungshöfe,<br />

die nach der vorletzten Jahrhundertwende angekauft wurden und näher<br />

bei der Stadt lagen, wurden meist industriell erschlossen und gingen allesamt<br />

der Landwirtschaft verloren. Der Iglingerhof hat gut überlebt, und<br />

sein Umfang ist heute etwa der gleiche wie vor hundert Jahren. Es hätte<br />

aber auch anders kommen können.<br />

Satellitenabsturz in Iglingen<br />

Die 1960er-Jahre sind die Zeit von Hochkonjunktur und Babyboom, die<br />

Zukunft erscheint <strong>im</strong> hellsten Licht. Nun werden Idealsiedlungen für<br />

mehrere Tausend Bewohnerinnen und Bewohner auf der grünen <strong>Wie</strong>se<br />

geplant. Die Basler Chemie gründet 1962 die ‹AG für Wohnbauplanung<br />

der Industrie› mit dem Ziel, das Fricktal für ihre Angestellten zu erschliessen.<br />

Der Gemeindeplaner von Magden sieht seine Chance gekommen.<br />

Zusammen mit dem Geographischen Institut der Universität Basel und<br />

der <strong>CMS</strong> studiert er 1963/64 die Möglichkeit einer Satellitenstadt auf dem<br />

Boden, auf dem auch der Iglingerhof steht. Die Studien sind gigantisch.<br />

Sie rechnen mit 2’250, 3’000 und mindestens (!) 5’000 Menschen. Die<br />

aargauische Kantonsverwaltung hält das alles aber für ein «reines Spekulationsobjekt»<br />

und verweigert jegliche Unterstützung. Die Iglinger<br />

Visionäre schaffen es nicht, die zuständigen Stellen aus deren, wie sie<br />

meinen, Schlaf zu rütteln. Der Satellit Iglingen wird gegroundet, die<br />

stadtplanerischen Visionen für das Fricktal werden in der Liebrüti bei<br />

Kaiseraugst und <strong>im</strong> Augarten bei Rheinfelden Realität.<br />

Sankt Nikolaus bei der Scheune<br />

Wäre Iglingen zur Satellitenstadt geworden, hätte vom Hof nur sie überlebt:<br />

die merkwürdige spätgotische Kapelle. Heute ist sie der Abschluss<br />

einer Stallscheune, einst war sie der Chor einer 1860 abgebrannten Klosterkirche.<br />

Diese architektonische Kuriosität ist mindestens 500 Jahre alt,<br />

der Iglingerhof selbst entstand als alemannische Siedlung vor rund 1’500<br />

Jahren. Der Name Iglingen bedeutet vermutlich ‹Bei den Leuten des Igo›.<br />

Was für eine Siedlung Iglingen war, um wen es sich be<strong>im</strong> Germanen Igo<br />

handelte und was in den folgenden Jahrhunderten geschah, ist nicht<br />

bekannt. 1255 kauft das Kloster Olsberg die Siedlung, lässt dort den sehr<br />

beliebten Heiligen Nikolaus verehren und richtet eine klösterliche Niederlassung<br />

für Männer, ab 1465 eine für Frauen ein.<br />

Das religiöse Zusammenleben endet nach der Reformation <strong>im</strong> 16.<br />

Jahrhundert, der Bauernhof besteht aber weiter. Als die <strong>CMS</strong> das Anwesen<br />

erwirbt, ist die Kapelle ein baufälliger Geräteschuppen. 1945/46 finanziert<br />

die Stiftung die <strong>Wie</strong>derherstellung. Eines der erneuerten Kapellenfenster<br />

zeigt nun das Wappen der Familie Merian. Die Kapelle steht sowohl unter<br />

dem Schutz des Bundes als auch unter dem des Kantons Aargau, jener<br />

des H<strong>im</strong>mels scheint gegeben.<br />

15


Aktuell<br />

ASTHAUFEN<br />

aba Auch wenn die Astern verblüht sind und die<br />

Sammlungen ruhen, gibt es in den Merian Gärten<br />

viel zu sehen und zu bestaunen. Jedes Jahr<br />

wächst ab November auf dem Brüglingerhof ein<br />

Berg Äste und Zweige in die Höhe, so mächtig<br />

wie eine weitere Scheune. Ein verblüffter Besucher<br />

fragte kürzlich: Was ist das für ein riesiger<br />

Haufen?<br />

S<strong>im</strong>on Goll, Obergärtner in den Merian Gärten, weiss die Antwort:<br />

Ich finde, der Asthaufen gehört <strong>im</strong> Winter einfach zu den Merian Gärten. Er ist<br />

Anziehungspunkt für Kinder (hier finden sich die besten Stecken zum Spielen),<br />

temporäres Naturkunstwerk und vor allem Zeugnis unserer Winterarbeit. Denn <strong>im</strong><br />

Winter stehen bei mir als Leiter des Teams Landschaftspflege fast täglich Holzarbeiten<br />

auf dem Programm: Wildhecken, Waldränder und andere Gehölze müssen<br />

gepflegt werden.<br />

In den Wildhecken entfernen wir aufgekommene Bäume, welche die Hecke zu<br />

stark beschatten – meist handelt es sich um schnellwachsende Arten wie Eschen<br />

und Robinien. Bei den Sträuchern nehmen wir die Arten zurück, die andere verdrängen,<br />

wie Hasel oder Hartriegel. Umgekehrt stellen wir auch einzelne Sträucher wie<br />

Kreuzdorn oder eine schöne Kornelkirsche frei, um sie zu fördern. So sichern wir,<br />

dass die Vielfalt erhalten bleibt. Diese Arbeit muss <strong>im</strong> Winter gemacht werden, da<br />

in dieser Zeit keine Vögel in den Hecken brüten. Um die Störung der Wildtiere gering<br />

zu halten, sind die Heckenbereiche in Sektoren unterteilt und werden alternierend<br />

nur alle drei Jahre bearbeitet.<br />

Auch die Pflege der Waldränder gehört zu unserer Winterarbeit. Wir entfernen<br />

die Bäume und Sträucher, welche zu weit über die <strong>Wie</strong>sen hinauswachsen. Unser<br />

Ziel ist ein gestufter Waldrand mit einem sanften Übergang vom Krautsaum über<br />

Kleinsträucher zu den Bäumen. Wichtige Vorgaben für die Eingriffe liefert dabei die<br />

Biodiversitätsstrategie, auf deren Basis wir den langfristigen Pflegeplan erarbeiten.<br />

Zentral für uns ist auch die Ästhetik. Wir sind ein Garten, da steht das Besuchserlebnis<br />

<strong>im</strong> Vordergrund. Unsere Eingriffe erfolgen deshalb gezielt, damit das Erscheinungsbild<br />

auch nachher natürlich und harmonisch wirkt. Ich bin froh, dass unser<br />

Team damit viel Erfahrung hat. Wir schauen jeweils vor Ort gemeinsam an, was<br />

zurückgeschnitten werden soll und was stehen bleibt. Wir sind mit Motorsägen,<br />

Schnittschutzausrüstung, Gesichts- und Gehörschutz ausgestattet und können die<br />

Arbeiten dann gleich erledigen. So ist keine grosse Kennzeichnung wie <strong>im</strong> Forst<br />

nötig und die Auswirkung auf die Besucherinnen und Besucher bleibt (nebst dem<br />

Maschinenlärm) gering.<br />

Das Holz, das anfällt, wird übrigens direkt <strong>im</strong> Garten sortiert. Was sich als<br />

Brennholz eignet, wird zugeschnitten, gespalten und für den Holzofen <strong>im</strong> Lehmhaus<br />

eingelagert. Der Rest landet hier auf dem Asthaufen und wartet auf den Häcksler.<br />

Das ist eine grosse Maschine, welche alles zu Holzschnitzeln für unsere Heizung<br />

verarbeitet. Pro Winter ergibt das <strong>im</strong> Schnitt rund 200 Kubikmeter Schnitzel – deren<br />

Energie würde ausreichen, um sechs Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu heizen.<br />

Ich staune <strong>im</strong>mer wieder über den Berg Holz, der klein beginnt, aber schnell<br />

auf vierzig Meter Länge und fünf Meter Höhe anwächst. Während man in den<br />

Hecken und Gehölzen unsere Eingriffe kaum sieht, zeigt sich hier, wie viel Material<br />

der Garten liefert. Und obwohl das Holz ein wichtiger Ertrag für uns ist, freuen wir<br />

uns, wenn Besucherinnen und Besucher den einen oder anderen Ast mitnehmen<br />

und sich zu Hause ein Stück Merian Gärten in die Vase stellen.<br />

JUNGE MÜTTER – LEBENSGESCHICHTEN<br />

ccl Jung, keine abgeschlossene Berufsausbildung – und schwanger.<br />

Junge Mütter leben mit einem hohen Risiko, in ökonomischer<br />

Abhängigkeit zu verbleiben und keine sozial eigenständige Biografie<br />

aufbauen zu können. In Basel leistet der Verein AMIE seit 2007<br />

Pionierarbeit <strong>im</strong> Bereich der Berufsintegration junger Mütter. Das<br />

Programm von AMIE stellt sicher, dass junge Mütter auf ihrem Weg<br />

in ein eigenständiges und unabhängiges Leben die Unterstützung<br />

bekommen, die sie benötigen.<br />

Zum Beispiel Lucia, die ihr ungewolltes Kind einer Pflegefamilie überlassen<br />

wollte und sich dann doch anders entschied. Oder Yangdron,<br />

die aufgrund ihrer Schwangerschaft den Einstieg ins Berufsleben<br />

verschieben musste.<br />

Das Porträtbuch gibt Einblick in das Leben junger Mütter und<br />

soll auf ihre Situation aufmerksam machen. Die Autorin und Journalistin<br />

Martina Rutschmann hat mit neun Frauen ausführliche<br />

Gespräche geführt. Die porträtierten Mütter erzählen ungeschminkt<br />

von ihrem Lebensweg, ihren Gefühlswelten und ihrem Alltag.<br />

Ausgewählte Fachbeiträge vertiefen die Problematik und beleuchten<br />

das Thema aus gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher<br />

Perspektive. Der Fotograf Daniel Infanger setzte mit den jungen Frauen<br />

jeweils individuelle Bildserien um, die sie in ihrem eigenen Umfeld, in<br />

ihrem Alltag und in Bewegung zeigen.<br />

‹Junge Mütter – Lebensgeschichten› ist ein einfühlsames Porträtbuch<br />

über das frühe Muttersein, über Freundschaft, Mut und<br />

Durchhaltevermögen. Die Publikation erschien <strong>im</strong> Oktober 2018 <strong>im</strong><br />

Christoph Merian Verlag.<br />

Amie Basel (Hg.)<br />

Junge Mütter<br />

Lebensgeschichten<br />

240 Seiten, 113 farbige Abbildungen,<br />

Klappenbroschur, 15 × 21 cm<br />

CHF 29.-/EUR 28,–<br />

ISBN 978-3-85616-878-0<br />

Redaktion: Carlo Clivio (ccl), Elisabeth Pestalozzi, Kommunikation <strong>CMS</strong>; Sylvia Scalabrino (scy), Basel<br />

Mitarbeit: Alexandra Baumeyer (aba), Leiterin Vermittlung & Kommunikation Merian Gärten;<br />

Sandra Engeler (sen), Projektleiterin Soziales <strong>CMS</strong>; André Salvisberg (asa), Archivar <strong>CMS</strong><br />

Gestaltung: BKVK, Basel – Beat Keusch, Anna Klokow<br />

Illustrationen: Balsam, Basel – Annina Burkhard<br />

Korrektorat: Dr. Rosmarie Anzenberger, Basel<br />

Druck und Bildbearbeitung: Gremper AG, Basel/Pratteln<br />

Auflage: 3’500 Exemplare; erscheint dre<strong>im</strong>al jährlich (April, August, Dezember)<br />

Bildnachweis: Archiv Gudrun Löffler (S. 13), Kathrin Schulthess (S. 14, S. 15 unten, S. 16 oben), Archiv <strong>CMS</strong> (S. 15)<br />

St. Alban-Vorstadt 12<br />

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