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akzent Januar '19 BO

akzent – DAS GRÖSSTE LIFESTYLE- & VERANSTALTUNGSMAGAZIN VOM BODENSEE BIS OBERSCHWABEN

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SEE-LEUTE<br />

de Ligny. „Es war wie ein Friedensangebot an<br />

die 1200 Gefangenen, als Ligny beschloss ‚wir<br />

bauen eine Kirche„“, erinnert sich Waibel. Als<br />

Ministrant erlebt er dort in einem Weihnachtsgottesdienst,<br />

was Gefangenschaft ist. „Den Tag<br />

werde ich nie vergessen“, so Waibel.<br />

Mittendrin bei Maggi und GF<br />

Später macht er eine kaufmännische Lehre bei<br />

den Maggi-Werken in Singen, ein „nationalsozialistischer<br />

Musterbetrieb“. Der Einsatz von<br />

Zwangsarbeitern war selbstverständlich. Genau<br />

wie bei rund 20 weiteren Firmen in Singen.<br />

„Etwa jeder 6. Singener war Gefangener oder<br />

Zwangsarbeiter“, erinnert sich Waibel. Später<br />

wechselt er zur Georg Fischer AG (GF). Auch<br />

sie war beteiligt. Waibel wird EDV-Spezialist, arbeitet<br />

sich hoch zum Abteilungsleiter und wird<br />

zum Prokurist ernannt. Zwangsarbeiter gibt es<br />

zu dieser Zeit längst nicht mehr, dennoch lässt<br />

ihn diese Vergangenheit nicht los. Im Gegensatz<br />

zu den Firmen, die zwar Bescheid wissen, aber<br />

ihre Geschichte teilweise bis heute nicht anerkennen.<br />

Ende der 1960er-Jahre beginnt Waibel,<br />

eine Datenbank anzulegen mit Namen von<br />

Zwangsarbeitern, und sucht gezielt nach ihnen.<br />

Jahrelang. Im Umfeld erfährt er wenig Unterstützung,<br />

eher Kopfschütteln. „Ich habe mich selbst<br />

oft gefragt, was ich da tue. Ob es den Aufwand<br />

wert ist, aber es hat mich nicht losgelassen“, so<br />

der heute 84-Jährige. Im Dokumentarfilm wird<br />

es später heißen, Waibel habe vor 50 Jahren zufällig<br />

eine Kiste mit rund 1500 Personalakten<br />

gefunden. „Doch so einfach war das nicht“,<br />

erklärt Waibel, der aber Verständnis zeigt, dass<br />

Regisseur Marcus Welsch die Geschichte nur<br />

sehr gestrafft darstellen kann. Tatsache ist, dass<br />

er als leitender Angestellter Zugang zu den Kellerräumen<br />

der GF hatte, in dem sich Archive für<br />

1<br />

seine Abteilung befanden – und eben auch andere.<br />

Er beginnt, gezielt zu suchen. Er findet<br />

schließlich auch in der Eisenbibliothek der GF<br />

in Schaffhausen viele brauchbare Dokumente.<br />

Wissend, dass er seinen Job riskieren könnte,<br />

recherchiert er dennoch weiter. Es geht um die<br />

Verstrickung der deutschen und Schweizer Industrie<br />

in lukrative Aufträge für die Wehrmacht.<br />

Und er möchte Versöhnung zwischen den ehemaligen<br />

Feinden. Die ist ihm gelungen. Rund<br />

150 Briefe schreibt er Ende der 1970er-Jahre<br />

an vorgefundene Adressen ehemaliger Zwangsarbeiter.<br />

Nach Russland, nach Polen, in die<br />

Ukraine. Die Kommunikation in den Osten ist<br />

mühsam. „Viele Briefe kamen nie an“, berichtet<br />

er. Doch er gibt nicht auf. Reist elf Mal ins<br />

ukrainische Kobeljaki, woraus später auch die<br />

Städtepartnerschaft mit Singen entsteht. Bei<br />

seinen ersten Aufenthalten begegnet man ihm<br />

noch mit viel Zurückhaltung. „Erst beim dritten<br />

oder vierten Mal konnte ich z.B. die Veteranen<br />

der Roten Armee treffen.“ Schließlich gelingt<br />

es ihm auch, zwei ehemalige deutsche Soldaten<br />

aus Singen mit nach Kobeljaki zu nehmen.<br />

„Dann war das Eis gebrochen.“ Ein bewegender<br />

Moment, als die Männer sich versöhnend in den<br />

Arm nehmen.<br />

Endlich Anerkennung<br />

Bis heute pflegt Waibel die Kontakte. Vor<br />

drei Jahren wurde er für seinen Einsatz für die<br />

Stadtgeschichte und Völkerverständigung zum<br />

Ehrenbürger von Singen ernannt. „Mir wurden<br />

nicht selten Auskünfte verweigert, weil ich kein<br />

studierter Historiker bin. Die Ehrenbürgerschaft<br />

hat mir Türen geöffnet.“ Dass der 1969 in Singen<br />

geborene Regisseur Marcus Welsch jetzt<br />

seine Geschichte verfilmt hat, ehrt ihn zudem.<br />

Neben Welsch ist vor allem Frau Dr. Carmen<br />

Scheide vom Förderverein Theresienkapelle Singen<br />

e.V. eine massive Säule der Filmentstehung.<br />

„Der Chronist“ zeigt Waibels Arbeit mit Erinnerungen<br />

der letzten noch lebenden Zwangsarbeiter<br />

und rekonstruiert die außergewöhnliche<br />

Geschichte der Versöhnung zwischen ehemaligen<br />

Feinden.<br />

21.01.<br />

Der Chronist – Dokumentarfilm,<br />

Audimax Universität Konstanz<br />

Universitätsstraße 10, D-78464 Konstanz<br />

www.uni-konstanz.de/international-office<br />

Förderverein<br />

Theresienkapelle Singen e.V.<br />

+49 (0)7731 82 71 044<br />

theresienkapellesingen.wordpress.com<br />

TEXT: TANJA HORLACHER, FOTOS: <strong>BO</strong>RIS VYAZOVSKIY<br />

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