Stadt der Zukunft - Deutscher Bundesjugendring
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Nach <strong>der</strong> Wahl<br />
ist vor <strong>der</strong> Wahl<br />
Die Materialien für „Jugend wählt – Jugend zählt“ gibt es unter bestellung.dbjr.de<br />
Mehr Infos über die jugendpolitischen For<strong>der</strong>ungen des DBJR unter<br />
www.jugend-waehlt-zaehlt.de
Thema „Freiräume für Jugend“<br />
Fotonachweis<br />
Titelbild: [Michael Scholl, Bratscher/, cw-design/, pontchen/, mages/, chribier/photocase.com], scx.hu/woodsy<br />
DBJR-Archiv (S. 9, 25, 29, 36), Michael Scholl (S. 10, 17), Röhr:Wenzel (S. 14), Johannes Kazah (S. 19), <strong>Stadt</strong>-Kin<strong>der</strong> Dortmund (S. 21, 22).<br />
Impressum<br />
Jugendpolitik - Zeitschrift des Deutschen <strong>Bundesjugendring</strong>s, 35. Jahrgang<br />
Herausgeber: <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong> | Mühlendamm 3 | 10178 Berlin | 0 30 / 4 00 40 400 | info@dbjr.de<br />
Verantwortlich: Daniel Grein<br />
Redaktion: Michael Scholl [msch], Annika Ochner [ao], Andrea Koß [ak]<br />
Autoren-Meinungen entsprechen nicht unbedingt <strong>der</strong> Meinung des Herausgebers<br />
Satz/Layout: Michael Scholl<br />
Anzeigen: <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong> | Mühlendamm 3 | 10178 Berlin | 0 30 / 4 00 40 411 | info@dbjr.de<br />
Druck: Druck Center Meckenheim | Werner-von-Siemens-Straße 13 | 53340 Meckenheim<br />
Abo-Verwaltung: Druck Center Meckenheim | Werner-von-Siemens-Straße 13 | 53340 Meckenheim<br />
Erscheinungsweise: vierteljährlich<br />
Bezugspreis: 12 Euro für vier Ausgaben im Jahr | Einzelheft: 4 Euro<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
Jugendpolitik mit Freiräumen<br />
Sven Frye über ein notwendiges Umdenken in <strong>der</strong> Politik ................................................................................................................ Seite 4<br />
Die Jugend von heute<br />
Eine Bestandsaufnahme aus Jugendforschung und Medien...............................................................................................................Seite 6<br />
Lebensalltag und Lebensbiografie<br />
Markus Etscheid-Sams über die Schwierigkeiten, Freiräume zu füllen ................................................................................................Seite 12<br />
Viel Platz – wenig Raum<br />
Matthias Sammet über städtische und ländliche Räume für Jugendliche ............................................................................................Seite 16<br />
<strong>Stadt</strong> für Kin<strong>der</strong> – <strong>Stadt</strong> <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong><br />
Dagmar Brüggemann über kin<strong>der</strong>- und jugendgerechte <strong>Stadt</strong>planung ...............................................................................................Seite 21<br />
Teilhabe an <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />
Ein Gespräch mit Professor Lothar Böhnisch.....................................................................................................................................Seite 24<br />
Partizipation konkret<br />
Kristin Napieralla über Erfahrungen aus dem Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung................................................................Seite 28<br />
Die EU-Jugendstrategie<br />
Eine Zusammenfassung des Dokuments <strong>der</strong> Europäischen Kommission ..............................................................................................Seite 32<br />
Stellungnahme zur EU-Jugendstrategie<br />
Eine Position des Deutschen <strong>Bundesjugendring</strong>es.............................................................................................................................Seite 34<br />
Bildung – Integration – Teilhabe<br />
Positionspapier <strong>der</strong> AGJ zur Jugendpolitik........................................................................................................................................Seite 38<br />
Licht und Schatten im Koalitionsvertrag<br />
Die „Kieler Erklärung“ des DBJR.....................................................................................................................................................Seite 41<br />
geför<strong>der</strong>t durch das<br />
3
3/2009<br />
4<br />
Jugendpolitik mit Freiräumen<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche müssen vom Objekt <strong>der</strong> Politik<br />
zu handelnden Persönlichkeiten in <strong>der</strong> Gesellschaft werden<br />
Von Sven Frye<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sind eigenständige<br />
Persönlichkeiten. Sie müssen müssen deswegen<br />
als Akteure von Politik und Gesellschaft<br />
in den Blick genommen werden. Sie<br />
brauchen einen Rahmen, um selbstbestimmt handeln<br />
und aufwachsen zu können. Eine in sich stimmige<br />
Jugendpolitik muss sie dabei unterstützen.<br />
Bislang werden Kin<strong>der</strong> und Jugendliche zu<br />
sehr als Objekte <strong>der</strong> Politik gesehen. Über sie und<br />
ihre Anliegen wird in unterschiedlichen Politikfel<strong>der</strong>n<br />
diskutiert und entschieden. Sie sind Objekte<br />
in <strong>der</strong> Bildungspolitik, in <strong>der</strong> Familienpolitik,<br />
in <strong>der</strong> Arbeits- und Sozialpolitik. Melden sie<br />
sich im Kontext dieser Politikfel<strong>der</strong> einmal zu<br />
Wort – wie dies etwa bei den Bildungsstreiks geschieht<br />
– dann werden sie als Störenfriede wahrgenommen,<br />
als Aufmüpfige und nicht als ernstzunehmende<br />
Partner. Diese Sicht auf die jetzt<br />
junge Generation muss sich än<strong>der</strong>n.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche haben Anliegen, sie<br />
haben Vorstellungen und Meinungen zu vielem,<br />
was in <strong>der</strong> Welt geschieht. Jugendpolitik muss<br />
deswegen alle Bereiche umfassen, in denen Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche direkt o<strong>der</strong> zukünftig von<br />
(politischen) Entscheidungen und Prozessen betroffen<br />
sind. Jugendpolitik muss eine Querschnittsaufgabe<br />
sein, besser aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt<br />
sein und einen umfassen<strong>der</strong>en Ansatz<br />
haben als <strong>der</strong>zeit.<br />
Vor allem darf eine stimmige Jugendpolitik<br />
nicht die persönliche Entwicklung junger Menschen<br />
nur zum Nutzen für die Gesellschaft bewusst<br />
steuern. Beispielsweise darf die Bildung<br />
junger Menschen nicht nur <strong>der</strong> beruflichen Bildung<br />
dienen. Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sind eben<br />
mehr als Schülerinnen und Schüler, als Fachkräfte<br />
o<strong>der</strong> künftige Steuerzahlende.<br />
Eine gute, ressortübergreifende Jugendpolitik<br />
kann deswegen nur das Ziel haben, die Interessen<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen in die Gesellschaft<br />
zu vermitteln. Sie muss Freiräume schaffen; also<br />
Orte, Zeiten und Möglichkeiten, in denen Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche ihr Tun und Handeln selbst bestimmen,<br />
Verantwortung für ihr eigenes Handeln<br />
übernehmen können. Freie Räume sind die Mög-<br />
lichkeit für eine zweckfreie und selbstbestimmte<br />
Entwicklung. Konkret kann das heißen:<br />
Zeitliche Freiräume sind Zeitspannen, die von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen selbstbestimmt gestaltet<br />
und wahrgenommen werden können. Sie müssen<br />
selbst entscheiden können, was mit <strong>der</strong> eigenen<br />
Zeit angefangen wird. Diese Zeitfenster<br />
werden durch stärkere direkte und indirekte<br />
Fremdbestimmung des Alltags und <strong>der</strong> Biographie<br />
des Aufwachsens eingeschränkt.<br />
Entwicklungen, die die (all)tägliche selbstbestimmbare<br />
Zeit einschränken sind z. B. die Ausdehnung<br />
<strong>der</strong> Schulzeit auf den ganzen Tag (Ganztagsschulen,<br />
G8 u.a.), lange Schulwege, lange<br />
Wege zu infrastrukturellen Einrichtungen und<br />
Gleichaltrigen und an<strong>der</strong>e Anfor<strong>der</strong>ungen, Termine<br />
(z. B. Praktika, Nachhilfe, Zusatzkurse), die<br />
zwar formal freiwillig sind, aber Jugendliche aus<br />
Gründen <strong>der</strong> sozialen Erwünschtheit nicht nicht<br />
wahrnehmen können.<br />
Entwicklungen und Tatsachen, die die selbstbestimmte<br />
Lebenszeit (zunehmend) einschränken,<br />
sind zum einen Pflichtdienste (Wehrpflicht) o<strong>der</strong><br />
de facto Pflichtpraktika. Es sind aber auch gesellschaftliche<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen/Entwicklungen, wie<br />
<strong>der</strong> Drang nach einem möglichst schnellen Ausbildungs-/<br />
Studienabschluss und die Auswirkungen<br />
gesellschaftlicher Realitäten wie die Notwendigkeit<br />
<strong>der</strong> eigenen Finanzierung des<br />
Studiums durch Erwerbsarbeit vor o<strong>der</strong> neben<br />
dem Studium (und damit Verlängerung <strong>der</strong> Studiendauer).<br />
Dazu zählt auch die Beschränkung<br />
<strong>der</strong> Wahlfreiheit bei <strong>der</strong> Berufswahl durch nicht<br />
zur Verfügung stehende Ausbildungs- und Studienplätze<br />
o<strong>der</strong> die (ggf. nicht vorhandenen) Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Einkommenssicherung mit vielen<br />
Studienabschlüssen.<br />
Örtliche Freiräume<br />
Örtliche Freiräume sind Orte, die Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendliche für sich selbstbestimmt als freie<br />
Räume begreifen und besetzen können. Örtliche<br />
Freiräume müssen Räume sein, die Jugendliche<br />
selbstbestimmt füllen, belegen und besetzen können.<br />
Dies umfasst das eigene Zimmer, den Ju-<br />
Jugend politik
gendraum aber auch die Möglichkeit, sich frei in<br />
<strong>der</strong> eigenen Lebenswelt zu bewegen, diese zu erkunden<br />
und in Beschlag zu nehmen. Auch hier findet<br />
ein Zurückdrängen statt. Zum einen werden<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche zunehmend gezwungen,<br />
sich an fremdbestimmten Orten mit vorgegebenem<br />
Zweck (z. B. Schule) aufzuhalten. Zum an<strong>der</strong>en<br />
werden ehemals öffentliche Räume, in denen sich<br />
junge Menschen (weitgehend) frei bewegen konnten,<br />
zunehmend kommerzialisiert (z. B. Umwidmung<br />
zu Einkaufsstraßen und -zentren in Innenstädten),<br />
reguliert (z. B. zunehmend restriktivere<br />
<strong>Stadt</strong>ordnungen) und überwacht. Die natürlichen<br />
Lebensäußerungen von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
werden immer weniger toleriert und damit das<br />
Recht Jugendlicher auf altersgemäße Entfaltung<br />
eingeschränkt. Darüber hinaus werden mangels<br />
Ressourcen weniger Räume, wie Jugendräume,<br />
Jugendhäuser und verbandliche Angebote, angeboten.<br />
Gestalterische Freiräume<br />
Gestalterische Freiräume bieten Möglichkeiten,<br />
das eigene Leben und die eigene Lebensumwelt<br />
(mit)zugestalten. Jugendliche wollen und<br />
müssen die Möglichkeit erhalten, sie müssen sich<br />
an allen Fragen, die sie betreffen, beteiligen können.<br />
Gestalterische Freiheit heißt auch, Verantwortung<br />
für eigene Entscheidungen zu übernehmen.<br />
Freiräume müssen in diesem Kontext auch für<br />
die Gestaltung des eigenen selbstverantworteten<br />
Lebensentwurfs vorhanden sein. Also Freiraum,<br />
das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen und<br />
Zielen selbst zu gestalten.<br />
Finanzielle Freiräume<br />
Finanzielle Freiräume schaffen den Rahmen<br />
für eine freie und selbstbestimmte Entwicklung<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen – unabhängig von<br />
den persönlichen ökonomischen Rahmenbedingungen.<br />
Der finanzielle Hintergrund ist zurzeit<br />
ein offensichtlicher Indikator für die Räume, die<br />
Jugendliche tatsächlich erschließen können. Zum<br />
Beispiel durch Kin<strong>der</strong>armut, mangelnde soziale<br />
Durchlässigkeit des Bildungssystems o<strong>der</strong> die aufgrund<br />
mangeln<strong>der</strong> (persönlicher) finanzieller Ressourcen<br />
eingeschränkte Mobilität werden jungen<br />
Menschen Freiräume verwehrt. Individuelle Lebensziele<br />
müssen unabhängig von finanziellem<br />
Druck ausgewählt werden können. Diese Freiräume<br />
können von einer Gesellschaft geschaffen<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
werden. Ein möglicher Ansatz dazu ist beispielsweise<br />
das, was Studentinnen und Studenten sowie<br />
Schülerinnen und Schüler for<strong>der</strong>n: kostenfreie<br />
Bildung.<br />
In dieser Ausgabe beleuchten wir Freiräume<br />
für die Jugend, beschreiben die Situation junger<br />
Menschen anhand aktueller Jugendstudien und<br />
Berichten in Medien. Wir werfen einen Blick in<br />
den Lebensalltag und auf die Biografien, auf Jugendräume<br />
in Städten und auf dem Land. Wir beschäftigen<br />
uns damit, wie Jugendliche in <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />
ernsthaft eingebunden werden<br />
können und zeigen durch eine erste grobe Auswertung<br />
des Aktionsprogramms für mehr Jugendbeteiligung,<br />
welche Erfolge konkret möglich<br />
sind. Der Blick auf die Situation Jugendlicher in<br />
Europa darf nicht fehlen, zumal die Europäische<br />
Kommission eine neue Jugendstrategie auf den<br />
Weg gebracht hat, die Auswirkungen auf die deutsche<br />
Jugendpolitik haben wird und einen Ansatz<br />
wählt, <strong>der</strong> dem des DBJR nahe kommt: Eine Jugendpolitik<br />
aus einem Guss, die Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
ernstnimmt, beteiligt und zum Subjekt<br />
in Politik und Gesellschaft macht.<br />
Sven Frye<br />
ist Vorsitzen<strong>der</strong> des DBJR und Vorsitzen<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Sozialistischen Jugend Deutschlands –<br />
Die Falken<br />
5
3/2009<br />
6<br />
Die Jugend von heute<br />
Die neue Klingelton-Twitter-Praktikum-Doof-MeMeMe-XXL-Absinth-Porno-Generation<br />
Prekär leben - global denken- vernetzt sein ?!<br />
Jugend ist nicht nur eine eigenständige Lebensphase,<br />
son<strong>der</strong>n ein beson<strong>der</strong>s wichtiger<br />
und prägen<strong>der</strong> Lebensabschnitt. In die Jugendzeit<br />
fallen die Pubertät, das Ende <strong>der</strong> Schulzeit,<br />
<strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Berufsausbildung, das Abnabeln<br />
vom Elternhaus und die Hinwendung zu den<br />
Gleichaltrigen, das Nebeneinan<strong>der</strong> von Unselbständigkeit<br />
und Selbständig-Werden, das Entwikkeln<br />
und Finden <strong>der</strong> eigenen Werte und Normen,<br />
<strong>der</strong> Identität, Rolle, des eigenen Lebensentwurfs.<br />
Die Abgrenzung zum Erwachsenenalter wird<br />
heutzutage jedoch immer unklarer, was vor allem<br />
daran liegt, dass frühere Bestimmungsmerkmale<br />
zum Eintritt in das Erwachsenenalter heute nicht<br />
mehr zutreffen. So finden viele junge Menschen<br />
erst relativ spät einen Einstieg ins Berufsleben; Arbeitslosigkeit,<br />
mangelnde Ausbildungsplätze o<strong>der</strong><br />
Praktika nach Studienende bestimmen häufig die<br />
eigene Berufsrolle. Es wird seltener geheiratet<br />
und wenn, dann viel später. Generell ist es deutlich<br />
schwieriger, auf eigenen Beinen zu stehen und so<br />
wird <strong>der</strong> Lebensabschnitt zwischen Schule und<br />
Beruf bzw. Familie immer ausgedehnter und gestaltet<br />
sich schwieriger.<br />
Eine spannende Lebensphase also. Es geht<br />
nicht nur um die prägenden Faktoren dieser Lebensphase,<br />
son<strong>der</strong>n vor allem um die Jugendlichen<br />
an sich. Wenn von Jugend gesprochen wird, dann<br />
wird versucht, die jungen Menschen von 14 bis 27<br />
unter dem Dach einer Generation zusammenzufassen.<br />
Doch kann man überhaupt von einer Generation<br />
sprechen? Gibt es Gemeinsamkeiten?<br />
Wie wird sie denn beschrieben, diese Generation<br />
– und wie sieht sie sich selber?<br />
Als „Krisenkin<strong>der</strong>“ beschreibt sie <strong>der</strong> Spiegel,<br />
als „eine verunsicherte Generation“ mit kleinen<br />
Träumen, <strong>der</strong>en große Frage „Was wird aus mir?“<br />
lautet. Für die Shell-Studie aus dem Jahr 2006 ist<br />
sie „eine pragmatische Generation unter Druck“.<br />
Und Jens Jessen nennt sie im Feuilleton <strong>der</strong> ZEIT<br />
gar „traurige Streber“ mit „früh gestyltem Lebenslauf“.<br />
Meredith Haaf, selbst Teil dieser Generation,<br />
beklagt sich hingegen in <strong>der</strong> Süddeutschen<br />
Zeitung darüber, dass die jungen Menschen<br />
heute „ängstlich, lieb und unfähig, Verantwortung<br />
zu übernehmen“ seien – gemäß <strong>der</strong> Devise: „Hilfe,<br />
die Welt will was von uns“. Über die jungen Leute,<br />
die Jugend von heute wurde und wird nach wie vor<br />
viel geschrieben. Keine son<strong>der</strong>lich positiven o<strong>der</strong><br />
angenehmen Zuschreibungen sind das für die<br />
Deutschen von morgen, die „lieber Milch aufschäumen<br />
als auf die Straße zu gehen“ (Spiegel).<br />
Doch was macht die jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />
tatsächlich aus? Wie leben und arbeiten<br />
sie? Welche Wünsche, Träume, Visionen, aber<br />
auch Ängste und Sorgen haben die jungen Menschen<br />
in Bezug auf ihre <strong>Zukunft</strong>? Welche Vorstellungen<br />
und Ziele haben sie?<br />
Bildung – die soziale Herkunft lässt grüßen<br />
In <strong>der</strong> Lebensspanne zwischen 12 und 25 Jahren<br />
werden die Weichen gestellt für das weitere<br />
Leben. Umso wichtiger ist die Bildung, die die Jugendlichen<br />
in diesem Lebensabschnitt erwerben.<br />
Die Shell-Studie wertet deshalb den Faktor Bildung<br />
als „Schlüsselfrage“.<br />
Die Zugehörigkeit zur Familie hat dabei einen<br />
beson<strong>der</strong>s starken Effekt auf die Bildungs- und somit<br />
auch auf die berufliche Laufbahn – obwohl in<br />
Deutschland formal die gleichen Bildungschancen<br />
existieren. Jugendliche aus sozial privilegierteren<br />
Elternhäusern besuchen häufig höhere Schulformen,<br />
durchlaufen in <strong>der</strong> Regel gute und qualifizierende<br />
berufliche Ausbildungen, finden sich<br />
deutlich häufiger an Hochschulen wie<strong>der</strong>. An<br />
Haupt- und Son<strong>der</strong>schulen befinden sich hingegen<br />
vor allem Jugendliche aus <strong>der</strong> Unterschicht.<br />
Für alle Jugendlichen gilt jedoch, dass sie auf<br />
dem Weg ins Erwachsenenleben noch stärker als<br />
früher mit dem Risiko konfrontiert sind, eventuell<br />
zu scheitern. Dies ist den Jugendlichen heute auch<br />
deutlich bewusst. So können Jugendliche mit keinem<br />
o<strong>der</strong> schlechtem Bildungsabschluss nicht damit<br />
rechnen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten –<br />
geschweige denn einen ihrer Wahl. Der Eintritt ins<br />
Erwerbsleben verzögert sich häufig o<strong>der</strong> führt zu<br />
einer Beschäftigung in Bereichen, für die man nur<br />
gering qualifiziert sein muss.<br />
Insgesamt driften die verschiedenen Bildungswelten<br />
und die damit verbundenen Chancen<br />
und Möglichkeiten immer weiter auseinan<strong>der</strong>.<br />
Dieser Verknüpfung zwischen persönlicher Bil-<br />
Jugend politik
dung und den daraus resultierenden Chancen sind<br />
sich die Jugendlichen durchaus bewusst.<br />
Inzwischen haben die jungen Frauen die jungen<br />
Männer im Bereich <strong>der</strong> Schulbildung überholt<br />
und streben auch in <strong>Zukunft</strong> höherwertige Bildungsabschlüsse<br />
an.<br />
Arbeit – „Berufswunsch Geld und Sicherheit“<br />
Einerseits gibt es eine unglaubliche Vielfalt<br />
an Möglichkeiten – noch nie gab es so viele verschiedene<br />
Ausbildungen und Berufe, Schulen,<br />
Hochschulen, Studiengänge, Weiterbildungen.<br />
Das macht es den Jugendlichen schwer, sich angesichts<br />
des Überangebots und <strong>der</strong> Multioptionalität<br />
zu entscheiden. An<strong>der</strong>erseits können nicht<br />
alle Jugendlichen tatsächlich frei entscheiden, was<br />
sie machen möchten. Hauptschulabgänger haben<br />
inzwischen relativ eingeschränkte Möglichkeiten;<br />
immer seltener glauben Schüler generell an die Erfüllung<br />
ihrer beruflichen Wünsche. Selbst ein Ausbildungsplatz<br />
macht die Jugendlichen 2006 nicht<br />
zuversichtlicher, ihre beruflichen Wünsche erfüllen<br />
zu können – stets steht die Frage nach <strong>der</strong><br />
Übernahme im Raum.<br />
Die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes<br />
bzw. davor, erst gar keinen Ausbildungs- o<strong>der</strong> Arbeitsplatz<br />
zu finden, stieg in den vergangenen Jahren<br />
drastisch von 55 Prozent auf 69 Prozent an.<br />
Berufliche und finanzielle Existenzsicherung ist<br />
für die jungen Menschen ein sehr präsentes<br />
Thema, das sowohl Hauptschulabgänger als auch<br />
gut ausgebildete Hochschulabsolventen beschäftigt.<br />
Letztere bezeichnete Jens Jessen, Feuilletonchef<br />
<strong>der</strong> ZEIT, als „traurige Streber“ und löste damit<br />
eine Debatte aus: „Die Praktikanten und<br />
Berufsanfänger akzeptieren bis zur Charakterlosigkeit<br />
jede Bedingung, jede eingespielte Dummheit,<br />
jede ethisch bedenkliche Praxis.“ Dies läge<br />
am „erbarmungslosen Leistungs- und Anpassungsdruck“,<br />
den alle empfinden. Die Imperative<br />
von Knappheit und Konkurrenz müssten nicht<br />
von außen herangetragen werden; sie seien längst<br />
verinnerlicht: „Man kann in dumpfes Brüten verfallen<br />
über die eingereichten Lebensläufe von<br />
Hochschulabsolventen, die tatsächlich alles enthalten,<br />
was heute gerne verlangt wird, Auslandsaufenthalte,<br />
soziale Hilfsdienste, Berufspraktika<br />
ohne Zahl, EDV- und Sprachkenntnisse. Sie enthalten<br />
nur eines nicht, können es gar nicht enthalten:<br />
persönliche Wege und Umwege zum<br />
Glück, denn für Selbstfindungen ist keine Zeit,<br />
nicht einmal für die winzigste in einem solch früh<br />
gestylten Lebensplan. Nur nicht bummeln! Nicht<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
träumen, keine falschen Hoffnungen hegen. Es<br />
ist, als ob die Eltern ihre Abstiegsangst gnadenlos<br />
an die Kin<strong>der</strong> weitergereicht hätten. Schon die<br />
Berufswünsche sind von einem ernüchterten Realismus“.<br />
Für die Gutausgebildeten dieser Generation<br />
ist Arbeit nicht einfach nur ein Job, eine zu erfüllende<br />
Aufgabe – Arbeit ist Sinngebung, Arbeit ist<br />
– laut Klaus Hurrelmann – alles. Dennoch ist <strong>der</strong><br />
Weg für die Gutausgebildeten oft steinig und ein<br />
Studium mit Einserabschluss, Auslandserfahrung<br />
und Fachkenntnisse aller Art sind kein Garant<br />
mehr für Erfolg, Macht, Geld, überhaupt dafür, einen<br />
adäquaten Job zu finden. So hat sich inzwischen<br />
eine kreative Elite o<strong>der</strong> digitale Bohème<br />
gebildet, die sich selbst, ihre Ideen und Ideale<br />
verwirklichen möchte und dabei wenig Wert legt<br />
auf Materielles. Das Prekäre wird zum Lebensstil<br />
verklärt, fungiert als Gegenmodell zum trögen<br />
Angestelltendasein. „Es geht so: Ende des Sicherheitsdenkens.<br />
Das Schicksal in die eigene<br />
Hand nehmen“ (Spiegel).<br />
Insgesamt hat <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Shell-Studie 2002<br />
festgestellte große persönliche Optimismus einer<br />
gemischteren Sichtweise Platz gemacht hat. Doch<br />
trotz aller Ängste, vor allem in Bezug auf die<br />
Chancen am Arbeitsmarkt und die steigende Armut,<br />
überwiegt eine positive persönliche <strong>Zukunft</strong>saussicht.<br />
Nach wie vor kann von Resignation<br />
o<strong>der</strong> Ausstieg in vermeintliche jugendliche<br />
Ersatzwelten keine Rede sein. 50 Prozent <strong>der</strong> von<br />
Shell befragten Jugendlichen haben eine eher zuversichtliche<br />
Vorstellung von ihrer eigenen <strong>Zukunft</strong>;<br />
42 Prozent sehen sie eher gemischt, 8 Prozent<br />
eher düster.<br />
Familie, Freunde, Partnerschaft<br />
„Ich will für meinen Mann kochen, wenn er<br />
nach Hause kommt, und für meine Kin<strong>der</strong> da sein.<br />
Danach aber will ich in einem Club auflegen gehen.“<br />
(Karline Weiss, 27, Spiegel)<br />
Diese Aussage steht für den Wunsch einer Generation<br />
von Rastlosen nach Konstanz, Beständigkeit<br />
und Bindung. Das Wichtigste im Leben ist<br />
die Familie. So kommt es, dass Realisten überdimensionierte<br />
Traumhochzeiten feiern. „Absichtliche<br />
Überinszenierungen“ nennt Jugendforscher<br />
Klaus Hurrelmann den Kitschtraum aus Schloss,<br />
Kutsche und Hochsteckfrisur. 81 Prozent <strong>der</strong> vom<br />
Spiegel befragten jungen Menschen zwischen 20<br />
und 35 finden Treue gut, 70 Prozent wollen irgendwann<br />
heiraten. „Der einzige unbefristete Vertrag,<br />
den diese Generation noch ohne Probleme<br />
7
3/2009<br />
bekommt, ist <strong>der</strong> Trauschein“, meint Hurrelmann.<br />
Auch die Shell-Studie stellt fest, dass die heutigen<br />
Jugendlichen – ganz entgegen <strong>der</strong> These<br />
von <strong>der</strong> Auflösung von Ehe und Familie – eine<br />
starke Familienorientierung haben. So sind 72<br />
Prozent <strong>der</strong> Jugendlichen <strong>der</strong> Meinung, dass man<br />
eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben<br />
zu können. Vor allem die relativ schlechte Wirtschaftslage<br />
verstärkt den Stellenwert von Familie.<br />
Diese bietet Rückhalt, sorgt für einen Spannungsausgleich<br />
und bringt Sicherheit und emotionale<br />
Unterstützung.<br />
Überhaupt kann man von einem guten Verhältnis<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen zu ihren Eltern sprechen;<br />
etwa 90 Prozent kommen nach eigener Auskunft<br />
gut mit den Eltern zurecht. Die Mehrheit <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
ist mit <strong>der</strong> Erziehung <strong>der</strong> Eltern zufrieden.<br />
Junge Frauen sind dabei weitaus stärker<br />
familienorientiert, wünschen sich häufiger Kin<strong>der</strong><br />
und befinden sich früher in festen Partnerschaften.<br />
Sie werden früher als die jungen Männer selbständig<br />
und ziehen eher aus ihrem Elternhaus aus.<br />
Trotz <strong>der</strong> Fokussierung auf Familie wächst<br />
gleichzeitig die Zahl junger Erwachsener, die auf<br />
die Realisierung von Kin<strong>der</strong>n und Familie verzichtet.<br />
Dies liegt vor allem an den zahlreichen<br />
Schwierigkeiten, denen Frauen bei <strong>der</strong> Familiengründung<br />
begegnen. So sind in <strong>der</strong> „Rush Hour<br />
des Lebens“ in einem sehr engen Zeitfenster Ausbildung,<br />
berufliche Integration und Partnerschaft<br />
mit Familiengründung unterzubringen.<br />
Neben <strong>der</strong> Familie spielen Peergroups eine<br />
wichtige Rolle. Die Peer-Groups <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
sind meist milieukonform und helfen bei <strong>der</strong><br />
Orientierungs- und Identitätssuche. Peer-Groups<br />
übernehmen oft Entwicklungsaufgaben: Sie sollen<br />
die Abhängigkeit von den Eltern lockern, die Aufnahme<br />
von Beziehungen zum an<strong>der</strong>en Geschlecht<br />
ermöglichen, bei Freizeitangeboten orientieren,<br />
soziale Beziehungen gestalten lernen und bei <strong>der</strong><br />
Schul- und Berufswahl unterstützen.<br />
Freizeit – zwischen Clique und Community<br />
Soziale Ungleichheiten wirken auch in an<strong>der</strong>e<br />
Lebenswelten hinein – auch in den Freizeitbereich.<br />
So beschäftigen sich Jugendliche aus den<br />
oberen Schichten in ihrer Freizeit beson<strong>der</strong>s häufig<br />
mit Lesen, mit kreativen o<strong>der</strong> künstlerischen<br />
Aktivitäten und pflegen ihre sozialen Kontakte –<br />
sie werden bezeichnet als „kreative Freizeitelite“.<br />
Für die Gruppe <strong>der</strong> „geselligen Jugendlichen“<br />
spielen Gleichaltrige eine enorm wichtige Rolle;<br />
sie organisieren sich ihre Freizeit um konkrete<br />
8<br />
Anlässe und Orte wie Jugendzentren, Kneipen,<br />
Discos o<strong>der</strong> Partys.<br />
Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien<br />
tauchen häufig in die Gleichaltrigengruppe<br />
mit ihrer spezifischen Freizeitkultur ab; sie verbringen<br />
ihre Zeit vor allem mit Rumhängen, Fernsehen,<br />
Computerspielen und Internet. „Computerspiele<br />
wie „Counterstrike“ sind wie mo<strong>der</strong>nes<br />
„Räuber und Gendarm“. Früher hat man es draußen<br />
im Garten gespielt, unsere Generation spielt es<br />
eben am Computer.“ (Kilian Ricken, 23, Spiegel)<br />
Zwischen den Geschlechtern gibt es im Freizeitverhalten<br />
eine klare Trennlinie: So gehen junge<br />
Frauen gerne shoppen o<strong>der</strong> verbringen Zeit mit <strong>der</strong><br />
Familie, junge Männer interessieren sich eher für<br />
Technik. Insbeson<strong>der</strong>e männliche Jugendliche aus<br />
<strong>der</strong> Unterschicht gehören zu den so genannten<br />
Technikfreaks.<br />
Engagement für an<strong>der</strong>e gehört für Jugendliche<br />
häufig ganz selbstverständlich zum persönlichen<br />
Lebensstil dazu. Dabei liegt <strong>der</strong> Schwerpunkt eindeutig<br />
im Umfeld <strong>der</strong> Jugendlichen und im Einsatz<br />
für konkrete bedürftige Zielgruppen – übergreifende<br />
Ziele sind nicht Fokus des Engagements.<br />
Die Jugendlichen engagieren sich in Vereinen,<br />
Schulen, Hochschulen, teilweise auch Kirchengemeinden<br />
o<strong>der</strong> Jugendorganisationen. Bildungsniveau<br />
und soziale Schicht haben auch hier einen<br />
deutlichen Einfluss – Jugendliche aus gehobenen<br />
Herkunftsschichten bzw. Gymnasiasten und Studierende<br />
weisen die höchsten Quoten auf. Die<br />
Motivation <strong>der</strong> Jugendlichen für ihr Engagement<br />
entspricht dem pragmatischen Gestus dieser Generation.<br />
Die persönliche Befriedigung durch die<br />
aktive Beteiligung im eigenen Umfeld prägt viel<br />
mehr als ideologische Konzepte o<strong>der</strong> auch mögliche<br />
gesellschaftliche Utopien.<br />
Eine zentrale Rolle im Freizeitverhalten <strong>der</strong><br />
jungen Generation spielt das Internet, es wird<br />
quasi zum Herz <strong>der</strong> Gesellschaft. „Das Internet ist<br />
<strong>der</strong> einzige Ort, an dem die Generation nicht unsichtbar,<br />
son<strong>der</strong>n durchsichtig ist. Wer etwas über<br />
sie wissen will, muss sie googeln, ganze Leben<br />
entblättern sich in Suchresultaten. Du bist deine<br />
Treffer. Hier hinterlässt sie ihre Spuren, nicht draußen<br />
in <strong>der</strong> Welt. Diese Generation ist die erste, für<br />
die das Internet immer schon selbstverständlich<br />
war. (...) Ohne Internet, ohne Handy wäre ihr Leben<br />
nicht denkbar, könnten sie sie gar nicht zusammenhalten.<br />
Die private E-Mail-Adresse ist das<br />
Einzige, was konstant bleibt, während sich Wohnorte<br />
dauernd än<strong>der</strong>n“ (Spiegel). Fast alle jungen<br />
Menschen sind Mitglie<strong>der</strong> von Communities; dort<br />
melden sich 85 Prozent <strong>der</strong> Befragten mehrmals<br />
Jugend politik
pro Woche an. Im Durchschnitt haben die Befragten<br />
gut 130 „Freunde o<strong>der</strong> Kontakte“.<br />
Als „geschwätzig“ bezeichnet Meredith Haaf<br />
ihre Generation in <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung:<br />
„Wenn es eins gibt, das sie quer über alle Grenzen<br />
von Wohlstand, Bildung o<strong>der</strong> Ethnie hinweg eint,<br />
dann das hemmungslose Mitteilungsbedürfnis.<br />
Wir posten Weblinks bei Twitter, laden Fotos bei<br />
Flickr hoch, aktualisieren unsere Statusmeldungen<br />
bei Facebook und scheuen dabei keine Banalität.<br />
Eine meldet, dass sie mit ihrem Boyfriend chillt,<br />
die an<strong>der</strong>e brät sich ein Steak – »Mmm, lecker« –<br />
, <strong>der</strong> Nächste kratzt sich am Kopf. Die Grunger<br />
und Raver vor uns waren süchtig nach Party, Drogen<br />
und merkwürdiger Synthetikkleidung. Wir<br />
sind vor allem süchtig danach, etwas zu sagen.<br />
Egal, was.“<br />
Insgesamt lässt sich zudem feststellen, dass<br />
für die Jugendlichen die Zugehörigkeit zu einem<br />
bestimmten Milieu bzw. zu einer Szene wichtig ist<br />
– sei es die Skater-Szene, die Graffiti-Szene, die<br />
Szene <strong>der</strong> Konsolenspieler, <strong>der</strong> Sportkletterer, <strong>der</strong><br />
DLRGler, <strong>der</strong> Manga-Fans, <strong>der</strong> Emos, <strong>der</strong> Pfadfin<strong>der</strong>,<br />
<strong>der</strong> türkischen Street Gangs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Antifa.<br />
Dabei kann man von posttraditionalen Formen<br />
<strong>der</strong> Gemeinschaftsbildung sprechen.<br />
Sinus-Milieu-Studie<br />
Dies ist auch das Ergebnis <strong>der</strong> SINUS-Milieu-<br />
Studie U27, die im Jahr 2008 veröffentlicht wurde.<br />
Sie beschreibt die verschiedenen Milieus <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
und zeigt: „Jugendliche und junge Erwachsene<br />
bilden auch untereinan<strong>der</strong> unterschiedliche,<br />
ja gegensätzliche soziale Welten aus, die<br />
sich durch tiefe Gräben massiv voneinan<strong>der</strong> abheben“.<br />
Die Studie zeigt zudem, dass bei Jugendlichen<br />
nicht von ‚Milieus’ im eigentlichen Sinn,<br />
son<strong>der</strong>n eher von „Milieuorientierung“ gesprochen<br />
werden sollte, da sich eine „Milieuidentität“<br />
erst im späteren Verlauf des Erwachsenwerdens<br />
herausbilde.<br />
Die vorgestellten Milieus sind die Mo<strong>der</strong>nen<br />
Performer, die junge Leistungselite, die selbstbestimmt<br />
leben möchte, um nichts zu verpassen und<br />
mitreden zu können und <strong>der</strong>en Fokus die eigene<br />
soziale Top-Position ist. Dann gibt es die Hedonisten,<br />
die sich und das Leben sinn- und lustvoll<br />
erfahren wollen und dabei Wert legen auf Spaß,<br />
Unterhaltung, Action und Power. Die Experimentalisten<br />
möchten das Eigentliche erfahren und sich<br />
selbst erkunden; sie suchen nach Erfahrungsvielfalt,<br />
auch in scheinbar nebensächlichen Dingen.<br />
Die Bürgerliche Mitte steht mit beiden Beinen<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
9
3/2009<br />
fest im Leben, ohne sich dem Fortschritt zu verschließen.<br />
Den Konsum-Materialisten ist es wichtig,<br />
sich etwas leisten können; ihnen geht es primär<br />
um den Anschluss an die Mittelschicht, um Teilhabe,<br />
Anerkennung und Aufstieg. Die Gruppe <strong>der</strong><br />
Traditionsverwurzelten möchte mitverantwortlich<br />
leben; Leitwerte sind das (national) Eigene und die<br />
Ordnung <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Erwachsenen sowie Disziplin,<br />
Harmonie, Ehrgeiz und Sparsamkeit. Die<br />
Postmateriellen leben ethisch bewusst und konsequent,<br />
sie setzen sich für Gerechtigkeit ein, für politische<br />
Mitverantwortung und Selbstentfaltung.<br />
Sie verfügen über ein hohes Maß an Selbsterkenntnis,<br />
Weltoffenheit, Gesundheits- und Umweltbewusstsein.<br />
Die Zeit ist reif, um auf die Straße zu gehen<br />
„Wer mich fragt, ob ich ein politischer Mensch<br />
sei, dem sage ich nein und denke: stimmt nicht. Ich<br />
habe nur keine Ahnung, was politisch sein heute<br />
überhaupt noch bedeutet. (…) Meine Agenda sagt<br />
nicht: Engagiere dich, trete einer Partei bei, löse<br />
das Welthungerproblem, überwinde den Kapitalismus,<br />
gehe fleißig demonstrieren, gestalte die<br />
Globalisierung o<strong>der</strong> gründe eine Bürgerinitiative.<br />
Ich weiß, das wird erwartet von mir, von uns, <strong>der</strong><br />
Jugend, von meiner Generation. Wir sollten rebellisch<br />
sein und protestieren. (…) Keine Sorge,<br />
meine Agenda beinhaltet nicht, dass mir alles egal<br />
ist. (…) Ich kann nur nicht Parteimitglied werden<br />
o<strong>der</strong> demonstrieren o<strong>der</strong> sonst etwas. (..) Es ist ein<br />
ästhetisches Unbehagen. Die Angst, dass mein<br />
Leben so hässlich wird wie die Parteizentralen.“<br />
(Adrian Renner, 23, Student, Spiegel)<br />
Das Interesse an Politik ist niedrig ausgeprägt.<br />
Dabei reklamiert immerhin mehr als zwei Drittel<br />
<strong>der</strong> Studierenden sowie ebenfalls ein signifikant<br />
höherer Anteil <strong>der</strong> Schüler aus <strong>der</strong> gymnasialen<br />
Oberstufe für sich ein Interesse an Politik. Dem<br />
politischen Extremismus wird eine klare Absage<br />
erteilt; die politische Positionierung ist leicht links<br />
von <strong>der</strong> Mitte.<br />
Den politischen Parteien wird insgesamt wenig<br />
Vertrauen entgegengebracht. Obwohl ein klarer<br />
Konsens mit den Normen des demokratischen Systems<br />
besteht, sind die Jugendlichen politikverdrossen<br />
und denken, dass eher persönlicher<br />
Machterhalt als Gemeinwohl das Agieren von Parteien<br />
bestimmt. Politik ist kein eindeutiger Bezugspunkt<br />
mehr, an dem man sich orientiert o<strong>der</strong><br />
persönliche Identität gewinnt.<br />
Dazu gehört auch die Tatsache, „dass diese<br />
Generation wenig Lust verspürt, das System zu be-<br />
10<br />
kämpfen, sie hat große Lust, im System zu funktionieren“<br />
(Spiegel). Dieselbe Beobachtung macht<br />
auch Meredith Haaf – zum einen fürchte ihre Generation<br />
die Konfrontation, zum an<strong>der</strong>en denke sie<br />
nicht politisch: „Das politische Argument ist in<br />
meiner Generation fast ausgestorben, unser Verhältnis<br />
zur Demokratie marode. (…) Im Grunde<br />
wissen wir gar nicht, wie man politische o<strong>der</strong> ökonomische<br />
Ordnungen kritisiert o<strong>der</strong> verteidigt,<br />
denn wir haben das Mantra, dass es keine Alternative<br />
zur Marktwirtschaft gebe, zu stark verinnerlicht.<br />
Außerdem: Um ein System in Frage zu<br />
stellen, braucht man eine Menge Energie. Wir<br />
verwenden unsere Energie dafür, unsere Karrieren<br />
zu sichern, unsere Bachelorstundenpläne einzuhalten<br />
und zwischendurch bei Facebook einzugeben,<br />
was wir gerade tun. Wenn wir das nicht än<strong>der</strong>n,<br />
werden wir irgendwann feststellen, dass eine<br />
an<strong>der</strong>e, jüngere Generation über uns sagen wird:<br />
Sie ließen ihre Welt veröden, weil sie lieber labern<br />
wollten“.<br />
<strong>Zukunft</strong> – zwischen Plänen und Ängsten<br />
„Ich habe die Angst nicht besiegt, mich nur gefügt“<br />
(Marc Kemper, 29, Spiegel). Die Arbeitslosigkeit<br />
wird von 64 Prozent <strong>der</strong> Jugendlichen als<br />
das größte Problem in Deutschland gesehen. Auf<br />
Platz zwei folgt für 16 Prozent <strong>der</strong> Befragten die<br />
Wirtschaftslage und mit 13 Prozent Steuern o<strong>der</strong><br />
Steuererhöhungen. Im persönlichen Bereich wird<br />
Schule o<strong>der</strong> Studium bei 15 Prozent <strong>der</strong> Jugend-<br />
Jugend politik
lichen und jungen Erwachsenen als das größte<br />
Problem gesehen.<br />
„Das Prekäre ist das zentrale Merkmal dieser<br />
Generation. Und zwar nicht prekär im Sinne von<br />
niedrigem Einkommen, son<strong>der</strong>n als Ausdruck von<br />
Unsicherheit. Materiell geht es dieser Generation<br />
nicht unbedingt schlechter. Das Prekäre an dieser<br />
Generation ist, dass die Lebensverhältnisse instabil<br />
sind und sich je<strong>der</strong>zeit än<strong>der</strong>n können“, beschreibt<br />
dies <strong>der</strong> Soziologe Ronald Hitzler. Dieses<br />
Lebensgefühl <strong>der</strong> Unsicherheit nimmt vor allem<br />
jetzt, durch die Krise, noch zu. Doch es gibt kein<br />
verbindendes Protestgefühl, keine Wortführer,<br />
keine Ideologie, was vielleicht daran liegt, dass<br />
sich diese Generation gar nicht als eine solche<br />
begreift. Sie sind nur Einzelne, die sich in ihren<br />
Ängsten und Problemen gleichen. Geprägt hat sie<br />
das Wort „Krise“ - <strong>der</strong> 11. September, Bildungskrise,<br />
Globalisierungskrise, Umweltkrise, Finanzkrise.<br />
Der Münchner Soziologe Ulrich Beck<br />
sagt, <strong>der</strong> Übergang zu unsicheren Arbeitsverhältnissen<br />
konstituiere eine neue Generation. Und<br />
Klaus Hurrelmann, Mitherausgeber <strong>der</strong> Shell-Jugendstudie:<br />
„Die Unruhe, eventuell nicht an <strong>der</strong><br />
Gesellschaft teilhaben zu können, führt zu einem<br />
latenten o<strong>der</strong> offenen Krisengefühl.“<br />
Auch eine Studie <strong>der</strong> Stiftung für <strong>Zukunft</strong>sfragen<br />
zeigt: 70 Prozent sehnen sich nach Sicherheit.<br />
Dabei sind ihre Träume oft klein: ein Job, das<br />
Gefühl, dazuzugehören, vielleicht eine Familie,<br />
sich etwas leisten können. Doch Wirtschaftskrise<br />
und Arbeitslosigkeit trifft die Jungen immer zuerst;<br />
fast die Hälfte <strong>der</strong> jungen Generation war laut<br />
Spiegel-Umfrage schon einmal arbeitslos. Zwei<br />
Drittel schaffen laut Arbeitsministerium keinen<br />
nahtlosen Einstieg von <strong>der</strong> Ausbildung in den Beruf.<br />
Die Hälfte hat schon drei o<strong>der</strong> mehr Praktika<br />
gemacht, ein Fünftel sogar fünf o<strong>der</strong> mehr.<br />
Meredith Haaf schreibt: „Wir wissen, was auf<br />
uns zukommt – und haben: Angst (…) Wir erben<br />
eine Welt, <strong>der</strong>en Natur sich unaufhaltsam verän<strong>der</strong>t<br />
– und nicht zum Besseren – und <strong>der</strong>en Wirtschaftsordnung<br />
immer mehr Menschen ausschließt.<br />
Dem entgegenzusetzen haben wir aber<br />
nur Fleiß, Konsum, Kommunikation und als<br />
Hauptantrieb die Angst. Nicht vor Überwachung<br />
und auch nicht ernsthaft vor Terrorismus, son<strong>der</strong>n<br />
davor, keinen Platz in dieser Welt zu finden. Und<br />
Angst ist alles Mögliche, nur nicht produktiv“.<br />
Fazit – Der kleinste gemeinsame Nenner<br />
Tatsächlich ist es schwierig, von einer Generation<br />
zu sprechen. Viel zu wichtig ist den Ju-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
gendlichen ihre Individualität, schaut je<strong>der</strong> zuerst<br />
auf sich und achtet eher auf Abgrenzung von den<br />
an<strong>der</strong>en als auf Gemeinsamkeiten. Wichtig sind<br />
die verschiedenen Milieus und Szenen, in denen<br />
man sich bewegt und denen man sich zugehörig<br />
fühlt – zumindest für einen gewissen Zeitraum.<br />
So gibt es viel, das die Jugendlichen heute<br />
voneinan<strong>der</strong> unterscheidet und sie trennt. Viel ist<br />
ihnen auch gemeinsam – sei es <strong>der</strong> Stellenwert von<br />
Familie und Sicherheit, die allgegenwärtige<br />
„Krise“, die das Leben eines jeden beeinflusst<br />
o<strong>der</strong> seien es die Schlagworte Flexibilität, Mobilität,<br />
Globalität, die zur „Dreieinigkeit“ (Spiegel)<br />
<strong>der</strong> Jugend wurden.<br />
Dennoch gibt es ihn, den kleinen kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner dieser Generation – <strong>der</strong> Journalist<br />
Juan Moreno hat ihn gefunden:<br />
„Wenn es etwas gibt, was unsere heutige Generation<br />
wirklich verbindet, den kleinsten gemeinsamen<br />
Nenner, dann ist es die komplette Verweigerung,<br />
auf irgendetwas zu verzichten.<br />
Hamburg, München o<strong>der</strong> doch Berlin? Joggen<br />
und Yoga? Vielleicht doch eine Weltreise? Verzichten<br />
ist das, was wir nie wirklich mussten. Verzicht<br />
kommt in meiner Generation <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage<br />
gleich. Wir sind die Generation <strong>der</strong> Optionen.<br />
(…) Verän<strong>der</strong>ung ist toll. Auch das passt zu unserer<br />
Generation. Wir kündigen eher, trennen uns<br />
eher, langweilen uns schneller. Verän<strong>der</strong>ung ist<br />
gewollt, sie darf nur nicht schmerzhaft sein. Das<br />
ist nämlich die zweite große Gemeinsamkeit unserer<br />
Generation. Wir vermeiden, wo es geht,<br />
Schmerz. Es soll nicht weh tun. Das ist wichtig.<br />
Und wir sind bereit, viel dafür zu tun.“ (Spiegel)<br />
[ao]<br />
Quellenangaben<br />
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann/ Prof. Dr. Mathias Albert/ TNS Infratest<br />
Sozialforschung: 15. Shell Jugendstudie: Jugend<br />
2006. S. Fischer Verlag Frankfurt a.M. 2006.<br />
Carsten Wippermann/ Marc Calmbach: Wie ticken Jugendliche?<br />
SINUS-Milieu-Studie U27, hrsg. Vom Bund <strong>der</strong> Katholischen<br />
Jugend (BDKJ) & Misereor, Düsseldorf: Verlag Haus<br />
Altenberg 2008.<br />
Der Spiegel: Wir Krisenkin<strong>der</strong>. Wie junge Deutsche ihre <strong>Zukunft</strong><br />
sehen. Nr. 25/ 15.5.2009.<br />
Der Spiegel Special: Was wird aus mir? Wir Krisenkin<strong>der</strong>: Das<br />
Selbstporträt einer Generation. Nr.1/2009.<br />
Die Zeit: Die traurigen Streber. Wo sind Kritik und Protest <strong>der</strong><br />
Jugend geblieben? Die Angst vor <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong> hat eine ganze<br />
Generation ermutigt. Eine Polemik. Jens Jessen.<br />
28.08.2008, Nr. 36.<br />
Süddeutsche Zeitung Magazin: Hilfe, die Welt will was von uns.<br />
Meredith Haaf. Nr.33/2009.<br />
11
3/2009<br />
12<br />
Lebensalltag und Lebensbiografie<br />
Freiräume sind fast unendlich groß – eigentlich immer zu groß<br />
Von Markus Etscheid-Sams<br />
Nie zuvor gab es so viele Fernsehprogramme,<br />
durch die sich <strong>der</strong> 16-jährige<br />
Devrim zappen konnte, während er seinem<br />
besten Freund Pascal eine SMS schreibt. Zur<br />
gleichen Zeit freut sich Carola wohl artikuliert<br />
über das gerade erschienene Werkverzeichnis des<br />
Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy mit<br />
über 400 neuen, bisher teils unbekannten Werken,<br />
<strong>der</strong>weil ihr Bru<strong>der</strong> Christopher Cello übt. Felix<br />
twittert gerade das Neueste aus <strong>der</strong> Bundestagsdebatte,<br />
die er live bei Phoenix verfolgt, bevor sein<br />
Gezwitscher zwischen den unzähligen Kurznachrichten<br />
und Blogs vermeintlich verloren geht. Er<br />
schlürft seinen fair gehandelten Kaffee, als sich<br />
Dennis und Nicole im Chat zum Online-Pokern in<br />
<strong>der</strong> Nacht verabreden. Zeitgleich steigt Marie aus<br />
dem Flugzeug in Edinburgh, um eine Freundin zu<br />
besuchen, ärgert sich, dass Schottland den Euro<br />
nicht hat und zahlt ihren Kaffee schließlich mit ihrer<br />
Visa-Card, indes Pia anruft, die gerade in Pisa<br />
studiert.<br />
Die jungen Frauen und Männer von heute sind<br />
unterschiedlich. Sie sind keine dichte soziale Einheit,<br />
die mit irgendeinem Catch-all-Begriff erfassbar<br />
wäre. Es gibt nicht die Generation Praktikum,<br />
nicht die Generation Doof. Es handelt sich<br />
we<strong>der</strong> um eine „Jugend ohne Charakter“ noch um<br />
eine durchweg und gleichermaßen „pragmatische<br />
Generation“ (Shell-Studie 2006). – Die Verschiedenheit<br />
scheint das Gemeinsame, das Unterscheidende<br />
das Verbindende!<br />
Dieser Entwicklung möchte ich nachgehen.<br />
Zuerst <strong>der</strong> Blick zurück: Es geht um eine Skizze<br />
gesellschaftlicher, soziologischer und entwicklungspsychologischer<br />
Ursachen. In vier Bereichen<br />
werden Pluralisierungsbewegungen beschrieben.<br />
Dann <strong>der</strong> Blick nach vorn: Welche Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
ergeben sich daraus? Dazwischen, in <strong>der</strong><br />
Mitte – die Jugendlichen! Denn jenseits je<strong>der</strong> Studie,<br />
je<strong>der</strong> These und (soziologischen) Schublade<br />
geht es um die Menschen. Dieses personale Prinzip<br />
gilt einmal mehr in <strong>der</strong> Situation, in <strong>der</strong> junge<br />
Menschen immer diffiziler von einan<strong>der</strong> abgegrenzte<br />
Individuen sind, sein müssen o<strong>der</strong> wollen.<br />
So geht es um die große Freiheit, auf die junge<br />
Menschen im angebrochenen 21. Jahrhun<strong>der</strong>t tref-<br />
fen. Eine Freiheit, die mal lebendig und kreativ<br />
macht, mal zögerlich-ängstlich und die neben den<br />
Gewinnern auch Randständige kennt.<br />
Wertepluralität<br />
Mit <strong>der</strong> Globalisierung fing vielleicht alles an:<br />
Die zugänglichen Wertekonstrukte werden quantitativ<br />
mehr und qualitativ differenzierter. Migration<br />
und schnellere Kommunikationswege unterstützen<br />
diese Pluralisierung <strong>der</strong> Werthaltungen.<br />
Die heutige Jugend teilt nicht das eine bündige<br />
Wertesystem miteinan<strong>der</strong>. Der einzelne junge<br />
Mensch wächst nicht mehr automatisch in ein bestehendes,<br />
gesellschaftlich breit getragenes Regelwerk<br />
hinein. Die Zeit solcher großen kollektiven<br />
Orientierungen – wie sie zum Beispiel durch<br />
die Volkskirchen gegeben waren – ist längst vorbei.<br />
Das Individuum ist zum „kulturellen Selbstversorger“<br />
(Niklas Luhmann) geworden.<br />
Doch geht diese Marginalisierung <strong>der</strong> klassischen<br />
Sozialisationsinstanzen wie Familie o<strong>der</strong><br />
Kirche nicht mit einem breiten Verlust von Anstand<br />
und Moral einher. Wer aufmerksam ist und<br />
bereit, den eigenen Standpunkt zu verlassen und<br />
einen an<strong>der</strong>en Blickwinkel einzunehmen, <strong>der</strong> stößt<br />
auf eine Pluralität von Wertorientierungen, die je<br />
nach eigenem Ausgangspunkt zunächst richtiger<br />
(im Sinne von wert-voller) und damit auch plausibler<br />
wirken – o<strong>der</strong> gerade nicht. Die Vielfalt ist<br />
hier das Spannende. Der „Selbstversorger“ hat<br />
die Möglichkeit, aus allen Kulturen, Regionen<br />
und Religionen zu wählen und zu rekombinieren,<br />
was ihm wichtig und richtig erscheint. So entstehen<br />
schier unbegrenzt viele individuelle Wertkomplexe.<br />
Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensorte<br />
Gestiegene Wahlmöglichkeiten betreffen alle<br />
Bereiche des Lebens: Es geht nicht allein um<br />
grundsätzliche und abstrakte Fragen von Werten,<br />
Normen und Religiosität, son<strong>der</strong>n um ganz alltägliche,<br />
scheinbar belanglose Fragen. So kann<br />
ich lange vor einem Regal mit unzähligen Zahnpasta-Sorten<br />
stehen, bis ich zu einer Entscheidung<br />
komme, die mein Leben vermutlich wenig be-<br />
Jugend politik
wegt. Dann gibt es jedoch optionsreiche Fel<strong>der</strong>,<br />
die die weitere Sozialisation und Biographie stärker<br />
beeinflussen. Dazu gehört unbedingt die Pluralisierung<br />
<strong>der</strong> Lebens- und Erlebnisorte junger<br />
Menschen. Auch hier gibt es eine zunehmende<br />
Erweiterung <strong>der</strong> Spielräume. Die gestiegene Mobilität<br />
prägt das Individuum schon früh, wenn beispielweise<br />
nicht <strong>der</strong> räumlich nächstgelegene Kin<strong>der</strong>garten,<br />
son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> besten För<strong>der</strong>ung<br />
gewählt wird. Freundinnen und Freunde wohnen<br />
so nicht unbedingt zwei Türen weiter – und die<br />
Konsequenzen lassen sich weiter ausmalen. Die<br />
klassischen Sozialräume verlieren ihre Prägekraft.<br />
Zumindest gibt es unterschiedliche Lebensradien,<br />
in denen sich die verschiedenen Menschen einer<br />
Generation bewegen. Diese Grenzen verschwimmen,<br />
wo die Freiheit größer wird.<br />
Europa wächst immer weiter zusammen, die<br />
Grenzen sind offen, die Währung eine gemeinsame.<br />
Der eiserne Vorhang ist längst gefallen –<br />
ebenso eine Tatsache für die Geschichtsbücher<br />
wie die Teilung Deutschlands. Dazu werden junge<br />
Menschen heute nur sagen können „das war vor<br />
meiner Zeit“ – und mit diesem Satz ihre eventuell<br />
mangelnde Kenntnis entschuldigen. Wichtig ist, zu<br />
erkennen, dass junge Menschen in einer Zeit aufwachsen,<br />
die stärker als je zuvor von räumlicher<br />
Offenheit und Freiheit einer globalen Welt gekennzeichnet<br />
ist. Man kann den Studienort frei<br />
wählen – BA-/MA-Studiengänge wollen das unterstützen,<br />
zahlreiche För<strong>der</strong>programme und Stipendien<br />
schaffen den wirtschaftlichen Rahmen.<br />
Fremdsprachen gehören längst zur elementaren<br />
Schulbildung und Medien ermöglichen, die<br />
fremde weite Welt vor <strong>der</strong> Ankunft schon ein wenig<br />
zu kennen.<br />
Zeitliche Pluralität<br />
Der Ausspruch „Alles zu seiner Zeit“ gilt nicht<br />
mehr. Beinahe alles ist heute je<strong>der</strong>zeit möglich:<br />
Für die Nachrichten muss ich nicht bis zur Tagesschau<br />
um 20.00 Uhr warten – dank Internet kann<br />
ich sie mir je<strong>der</strong>zeit auf den Bildschirm holen. An<br />
<strong>der</strong> Tankstelle bekomme ich mitten in <strong>der</strong> Nacht<br />
alle Zutaten für meinen Caipirinha – samt gecrushtem<br />
Eis. Auf Omas 70. Geburtstag liegt das<br />
Handy auf dem Schoß, ich verfolge nebenbei die<br />
Bundesliga. Wir leben in einer vergleichzeitigten<br />
und ungeheuer beschleunigten Welt, die durch digitale<br />
Parallelwelten und neue Kommunikationsmittel<br />
angetrieben wird. Alles ist möglich – welche<br />
Freiheit, welche Bürde! Während die subjektiv<br />
verfügbare Zeit also zum einen flexibler, dynami-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
scher und effektiver nutzbar wird, gibt es an<strong>der</strong>e<br />
Lebensbereiche, in denen gerade jungen Menschen<br />
Zeit genommen o<strong>der</strong> stark vorstrukturiert<br />
wird: Ganztagsschulen werden ausgeweitet, die<br />
Schulzeit verkürzt, in den Semesterferien sind<br />
mehr Praktika notwendig, <strong>der</strong> Nebenjob finanziert<br />
die Studiengebühren, für den Arbeitgeber ist<br />
<strong>der</strong> Auszubildende je<strong>der</strong>zeit erreichbar und einsetzbar.<br />
Plurales Wissen<br />
Wohl noch nie war für einen jungen Menschen<br />
so viel Wissen so leicht und schnell verfügbar wie<br />
heute. Unaufhörlich wächst es; Enzyklopädien<br />
haben unfassbare Ausmaße erreicht. In dieser Situation<br />
kann sich das Individuum die Freiheit nehmen,<br />
manches als wichtig zu begreifen und an<strong>der</strong>es<br />
als nicht wissenswert zu deklassieren. Das<br />
Allgemeinwissen scheint zu schwinden und die<br />
Wissensbestände einzelner Menschen werden unterschiedlicher,<br />
pluraler. Es entstehen Son<strong>der</strong>wissensbestände,<br />
Inseln des Wissens. Entscheidend ist<br />
<strong>der</strong> subjektive Blickwinkel, das jeweilige Interesse.<br />
Auch das Wissen selbst wird flui<strong>der</strong>: Audiovisuelle<br />
Zugänge ermöglichen Kin<strong>der</strong>n früh Wege<br />
zum Wissen, das mit dem Lexikon auf dem PDA<br />
plötzlich tragbar, digital durchsuchbar, im Internet<br />
frei verfügbar und auch selbst verän<strong>der</strong>bar ist.<br />
Leben im Ausschnitt: Individualisierung<br />
Pluralisierung von Zeit, Werten, Lebensorten<br />
und Wissen. Vier Aspekte, die einerseits große<br />
Freiräume für die Jugend beinhalten und an<strong>der</strong>erseits<br />
voller Herausfor<strong>der</strong>ungen stecken können.<br />
Alle Bereiche – die hier nur exemplarisch für an<strong>der</strong>e<br />
Lebensbereiche stehen, die ebenso von Globalisierung<br />
und Pluralisierung geprägt sind, stekken<br />
voller Ambivalenz. Einerseits bieten diese<br />
Freiräume vielfältige Chancen und sind fast unendlich<br />
groß – an<strong>der</strong>erseits sind sie eigentlich immer<br />
zu groß. Leben kann nur im Ausschnitt gelingen<br />
– in <strong>der</strong> individuellen Auswahl und<br />
Generierung <strong>der</strong> persönlichen Lebenswelt.<br />
Die neue Freiheit ruft dem Einzelnen zu: „Du<br />
bestimmst! Wie, wo und wann willst Du leben? –<br />
Mach was draus!“. Notwendigerweise muss jede<br />
und je<strong>der</strong> selbst einen Filter anwenden und sortieren.<br />
Alles geht eben doch nicht. Jugendliche<br />
bauen sich ihre eigenen Welten bestehend aus<br />
dem, was je<strong>der</strong> akzeptieren kann und will. Subjektivität,<br />
Unverwechselbarkeit, Ich- und Echt-<br />
13
3/2009<br />
Sein sind entscheidende, lebensbejahende und systemimmanente<br />
Desi<strong>der</strong>ate <strong>der</strong> Pluralisierungsdynamik.<br />
Der Weg <strong>der</strong> Individualisierung führt<br />
von einer normenorientierten zu einer präferenzorientierten<br />
Alltagskultur und Lebensbiographie<br />
(Thomas Ziehe).<br />
Ästhetik als Ausdrucksform<br />
In dieser Atmosphäre <strong>der</strong> Multioptionalität<br />
steigt <strong>der</strong> Distinktionsdruck innerhalb <strong>der</strong> jungen<br />
Generation. Abgrenzung ist notwendig, um den eigenen<br />
Lebensradius zu beschreiben. Wenn dann<br />
die Mutter die Klamotten ihrer Tochter trägt und<br />
<strong>der</strong> Vater die Musik des Sohns hört und so die Elterngeneration<br />
nur wenig Abgrenzungsfläche bietet,<br />
werden die „jungen Alten“ zunehmend zur<br />
kulturellen Konkurrenz. Die gesamte demographische<br />
Entwicklung Deutschlands verläuft zu<br />
Ungunsten <strong>der</strong> nachfolgenden Generation. Der<br />
Jugend fehlt das Gegenüber; sie ist auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach ihrem Platz in einer sich permanent wandelnden<br />
Welt. Hier gewinnt nun gerade <strong>der</strong> ästhetische<br />
Aspekt an Bedeutung, um <strong>der</strong> Individuali-<br />
14<br />
tät so autonom Ausdruck zu verleihen. Die individuelle<br />
ästhetische Entscheidung schlägt einen<br />
Pflock, einen Haltepunkt in die pluralisierte Welt.<br />
Kulturelle Wissensbestände und Kompetenzen,<br />
Mode und Musik werden zu Rohstoffen <strong>der</strong> Identitätskonstruktion<br />
– die Postmo<strong>der</strong>ne macht den<br />
„aesthetic turn“. Konkret bedeutet das: Denke ich<br />
bei Beethoven an den Komponisten o<strong>der</strong> an den<br />
Bernhardiner aus dem gleichnamigen Film? – Jugendliche<br />
sind unterschiedlich. Devrim, Carola,<br />
Felix, Dennis und Marie werden nicht die gleiche<br />
Musik hören, nicht die gleichen Freunde treffen<br />
o<strong>der</strong> die gleichen Ziele im Leben haben.<br />
Dabei werden juvenile Lebenswelten differenzierter,<br />
auch diffiziler. Denn Zeichen lassen<br />
sich nicht einfach ideologischen o<strong>der</strong> soziokulturellen<br />
Positionen zuordnen – auch die Steinbrüche<br />
<strong>der</strong> Ästhetik sind <strong>der</strong> Pluralisierungsdynamik unterworfen.<br />
Der Teufel liegt im semiotischen Detail,<br />
wie sich am Beispiel des Palästinensertuchs zeigen<br />
lässt: Was die einen noch an die bäuerliche Protestbewegung<br />
<strong>der</strong> Palästinenser erinnert, verbinden<br />
an<strong>der</strong>e mit dem Aufmarsch von Rechtsextremen;<br />
wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e denken an die eigene<br />
Jugend politik
Antifa-Zeit und die links-orientierte Szene, während<br />
die nächsten in <strong>der</strong> BRAVO lesen, wie sich<br />
das Palituch als (politisch aussageloses) Mode-Accessoire<br />
noch individuell „pimpen“ lässt.<br />
Begrenzte Freiheit o<strong>der</strong> befreiende Begrenzung<br />
Die Verwertungsgrade <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Freiheit<br />
sind unterschiedlich. Offensichtlich profitieren<br />
nicht alle Jugendlichen gleichermaßen von<br />
den Chancen <strong>der</strong> Pluralisierung. Nicht alle haben<br />
die finanziellen, intellektuellen o<strong>der</strong> sozialen Möglichkeiten,<br />
sich diese Freiräume zu erschließen.<br />
Die Freiheit des jugendlichen Individuums ist determiniert<br />
durch seine Startposition, wozu wesentlich<br />
die soziale Lage, stark vom Bildungsgrad<br />
abhängig, und die ästhetische und<br />
wertemäßige Grundorientierung gehören.<br />
Wer beispielsweise traditionell denkt und sein<br />
Leben aus einer Reproduktionslogik heraus gestaltet<br />
(„Das war bei uns schon immer so!“), für<br />
den ist die Vielfalt manchmal eine Last, <strong>der</strong> entscheidet<br />
sich ständig gegen so vieles. Ein an<strong>der</strong>er<br />
Jugendlicher managt sein Leben nüchtern, zielorientiert,<br />
pragmatisch und flexibel; für den ist <strong>der</strong><br />
Reichtum an Optionen eine große Lust – er entscheidet<br />
sich immer wie<strong>der</strong> für das eine und dann<br />
(vielleicht sogar zugleich) für das nächste. Die<br />
gleichen Pluralisierungsprozesse bieten den Rahmen<br />
für ganz unterschiedliche Lebensbiographien,<br />
die je nach kultursoziologischer Verortung und<br />
Wertorientierung von einem an <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
festhaltenden, ängstlichen „entwe<strong>der</strong> o<strong>der</strong>“<br />
o<strong>der</strong> einem zuversichtlichen und selbstbewussten<br />
„sowohl als auch“ geprägt sein können.<br />
Nicht alle wollen und können das hohe Tempo<br />
<strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne mitgehen. Nicht alle jungen<br />
Menschen leben unter Bedingungen, die es ihnen<br />
ermöglichen, die Chancen <strong>der</strong> pluralen Prozesse<br />
konstruktiv zu ergreifen. Vor allem schlechtere<br />
sozialökonomische Bedingungen und gesellschaftliche<br />
Exklusionstendenzen verhin<strong>der</strong>n die<br />
Teilhabe an den beschriebenen Freiräumen – dies<br />
führt dann eher zum Rückzug in die Eigenwelt,<br />
zum sogenannten Cocooning. Hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Verwertbarkeit <strong>der</strong> Freiräume einerseits und den<br />
Begrenzungen an<strong>der</strong>erseits gilt <strong>der</strong> „Matthäus-<br />
Effekt“: Wer hat, dem wird gegeben. Die Fähigkeit,<br />
mit <strong>der</strong> Vervielfältigung und <strong>der</strong> Beschleunigung<br />
<strong>der</strong> Welt konstruktiv umgehen zu können, ist<br />
die Voraussetzung dafür, diesen Freiraum noch<br />
stärker nutzen zu können.<br />
Für manche jungen Menschen bringen so gerade<br />
die scheinbar einengenden Entwicklungen<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
eine neue Freiheit. Am Beispiel <strong>der</strong> Ganztagsschule<br />
wird das deutlich: Diese bestimmt zunächst<br />
die Zeit, den Raum, den potentiellen Freundeskreis,<br />
das Freizeit-Angebot. Sie ist ein begrenzter<br />
und begrenzen<strong>der</strong> Lebensraum; auf den ersten<br />
Blick wird also Freiheit genommen. Das System<br />
eröffnet jedoch vielen Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
eine wohltuende Rhythmisierung des Tages, versorgt<br />
sie mit einem warmen Essen und sportlichen<br />
o<strong>der</strong> musisch-kulturellen Freizeitangeboten, zu<br />
denen sie sonst keinen Zugang hätten.<br />
Integration und Differenzierung<br />
Am Ende dieser Reflexion steht kein Rezept,<br />
das detaillierte Maßnahmen beschreiben würde,<br />
wohl aber ein Fingerzeig: Integration und Differenzierung<br />
statt Segregation und Einheitsbrei! Es<br />
geht um ein Diversity-Management, das die Vielfalt<br />
<strong>der</strong> jugendlichen Lebenswelten wahr- und<br />
ernst nimmt, diese anerkennt und konstruktiv miteinan<strong>der</strong><br />
in Beziehung setzt. Wichtig dafür ist,<br />
den Blick für die Verschiedenheiten junger Menschen<br />
zu schärfen (hierbei kann unter an<strong>der</strong>em<br />
die Sinus-Milieustudie U27, die BDKJ und Misereor<br />
2008 veröffentlichten, eine große Hilfe sein).<br />
Markus Etscheid-Stams<br />
ist Referent für Kirchenpolitik und Jugendpastoral<br />
beim Bund <strong>der</strong> Deutschen Katholischen<br />
Jugend (BDKJ)<br />
15
3/2009<br />
16<br />
Viel Platz – wenig Raum?!<br />
Von <strong>der</strong> Bushaltestelle bis zum Jugendverband:<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche vernetzen ihre Sozialräume<br />
Von Matthias Sammet<br />
Raum – egal ob als Freiraum, Territorium,<br />
Sozialraum o<strong>der</strong> Jugendraum bezeichnet –<br />
ist von großer Bedeutung für das Aufwachsen<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen. Im Folgenden<br />
wird auf diese Bedeutung, die Erscheinungsformen<br />
von Raum, die dort stattfindenden<br />
Prozesse, die Unterschiede zwischen <strong>Stadt</strong> und<br />
Land und auf die speziellen jugendpolitischen Implikationen<br />
eingegangen.<br />
Den Blick auf den dem Menschen zur Verfügung<br />
stehenden Raum zu richten und dann zu beobachten,<br />
wie er mit diesem Raum umgeht, führt<br />
nicht nur in Bezug auf Jugendliche – aber bei ihnen<br />
vor allem – zu neuen Erkenntnissen, zumindest<br />
aber zu Überraschungen. Ist die Aneignungsmöglichkeit<br />
von Raum im weitesten Sinne<br />
die Formel dafür, ob Menschen ihr Leben als gelingend<br />
erleben und bewerten? Wirken bei diesem<br />
Prozess die Kategorien Geschlecht, Kultur, <strong>Stadt</strong><br />
– Land o<strong>der</strong> sozioökonomische Faktoren nicht<br />
stärker als sonst?<br />
Zur Abgrenzung sei gesagt, dass es im folgenden<br />
Artikel nicht um Sozialraumorientierung geht,<br />
wie sie heute häufig in <strong>der</strong> Jugendhilfe <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Träger anzutreffen ist. Mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einführung<br />
von Sozialraumorientierung durch den<br />
8. Jugendbericht und das KJHG war zwar die<br />
Hoffnung verbunden, eine stärkere Subjektorientierung<br />
im Bereich <strong>der</strong> administrativen Jugendpolitik<br />
und <strong>der</strong> öffentlichen Jugendhilfe zu erreichen.<br />
Schaut man sich jedoch heute an, was unter<br />
dem Begriff Sozialraumorientierung subsumiert<br />
wird, dann muss man feststellen, dass die Methode<br />
häufig einer „sozialgeographische(n)“ Kartierung<br />
gleichgesetzt wird (vgl. Deinet, Ulrich:<br />
Sozialräumliche Orientierung – mehr als Prävention!<br />
in Deutsche Jugend 3/2001, S. 117-124). Im<br />
Folgenden sind mit sozialem Raum o<strong>der</strong> Sozialraum<br />
subjektive Prozesse Jugendlicher und <strong>der</strong>en<br />
Auswirkungen bei <strong>der</strong> Aneignung von Territorien<br />
und Räumen gemeint.<br />
Raum – eine Definition<br />
Was ist ein Raum? Man kann differenzieren<br />
zwischen realen, sozialen und virtuellen Räumen.<br />
Auf virtuelle Räume kann jedoch nur unzureichend<br />
eingegangen werden, da die Thematik an<br />
dieser Stelle zu umfassend wäre. Räume und Territorien,<br />
von denen hier die Rede ist, sind Jugendräume,<br />
Gemein<strong>der</strong>äume, Wohnungen, Häuser,<br />
Bushaltestellen, Scheunen, Einkaufszentren,<br />
U-Bahn-Anlagen, Landjugendheime, Bauwagen,<br />
Fabrikgelände, Plätze, Parks, Fel<strong>der</strong>, Wald, Straßen,<br />
Fabrikgelände, Sportplätze, Skateranlagen<br />
etc. Diese Räume und Territorien haben eines gemeinsam:<br />
Sie weisen eine geringe Dichte hinsichtlich<br />
Regeln, Normen und Vorgaben auf – zumindest<br />
scheint dies auf den ersten Blick so zu<br />
sein.<br />
Wie entstehen soziale Räume?<br />
Reale Räume und Territorien haben nicht per<br />
se eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung für Jugendliche. Die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Räume und Territorien als Treffpunkt,<br />
Party-, Aktions- o<strong>der</strong> Kommunikationsraum,<br />
politisches Feld o<strong>der</strong> Engagementmöglichkeit<br />
– also als Sozialraum im obigen Sinne –<br />
entsteht erst infolge eines Prozesses <strong>der</strong> Jugendlichen,<br />
innerhalb dessen konkrete Bedürfnisse und<br />
Interessen in diesen Räumen verwirklicht werden.<br />
Um Sozialräume zu schaffen, muss es deshalb<br />
möglich sein, dass Nutzungswünsche und<br />
Nutzungsvorstellungen sowie die konkreten räumlichen<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Jugendlichen in Übereinstimmung<br />
gebracht werden. Ulrich Deinet<br />
drückt das so aus: „Die Operationalisierung des<br />
Aneignungsbegriffes erfolgt in Bezug auf Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche, insbeson<strong>der</strong>e in den Dimensionen<br />
eigentätige Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Umwelt,<br />
Erweiterung des Handlungsraumes und Verän<strong>der</strong>ung<br />
vorgegebener Arrangements und<br />
Situationen“.<br />
Die beim Aneignungsprozess entstehenden Sozialräume<br />
können sehr unterschiedlich besetzt<br />
werden, was Wirkungen, Verbindlichkeiten, Regelungsdichte,<br />
Wert- und Zielprojektionen, zeitli-<br />
Jugend politik
che Bestandsdauer, ausgeprägte Inhalte, Engagement-<br />
und Vernetzungsmöglichkeiten und an<strong>der</strong>es<br />
angeht. Ein Sozialraum kann also eine Bushaltestelle<br />
im Dorf sein, wo erste Begegnungen und<br />
Gespräche mit dem an<strong>der</strong>en Geschlecht stattfinden<br />
– ebenso gilt aber ein Jugendverband mit bundesweit<br />
übergreifenden Strukturen als Sozialraum.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche leben nie in nur einem<br />
Sozialraum. Sozialräume sind vernetzt und bilden<br />
dabei die „emanzipatorische Lebenswelt“ des einzelnen<br />
Jugendlichen o<strong>der</strong> Kindes, aber auch die<br />
von Gruppen, Peer Groups o<strong>der</strong> Cliquen ab.<br />
Emanzipatorisch sind sie, weil die Aneignungsprozesse<br />
vom Individuum o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe selbst<br />
gesteuert und gestaltet werden. Die Aneignungsprozesse<br />
bei Sozialräumen, die von Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />
Jugendlichen dauerhaft besetzt werden können,<br />
führen dazu, dass die Eigenständigkeit <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />
und das Übernehmen von Verantwortung<br />
aus sozialer, kultureller, organisatorischer,<br />
gesellschaftlicher und zum Teil auch politischer<br />
Sicht geför<strong>der</strong>t wird. Sozialisatorische Wirkungen<br />
von zur Verfügung gestellten Räumen verschwimmen<br />
hier mit dem pädagogischen Handeln,<br />
dem Arrangieren dieser Räume. Es kann<br />
festgehalten werden, dass Aneignungsgelegenheiten<br />
von Territorien und Räumen eine Grundvoraussetzung<br />
dafür sind, dass Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
ein aktiver Teil <strong>der</strong> demokratischen<br />
Gesellschaft werden und sich zu eigenständigen<br />
Persönlichkeiten entwickeln.<br />
Umgekehrt gilt, dass zum Hineinwachsen in<br />
eine Gesellschaft räumliche und territoriale Aneignungsmöglichkeiten<br />
gegeben sein müssen. Daraus<br />
folgt, dass gesellschaftliche Teilhabe o<strong>der</strong> Partizipation<br />
mit dem Aneignungsprozess gleichgesetzt<br />
werden kann, denn dort, wo Räume o<strong>der</strong> Territorien<br />
aneigenbar sind, findet auch Partizipation<br />
statt.<br />
Virtuelle und reale Räume<br />
Virtuelle Räume, wie sie beispielsweise von<br />
Chats, Mikrobloggs o<strong>der</strong> Foren „aufgespannt“<br />
werden, erfahren dann große Bedeutung, wenn<br />
sie zur realen Raumaneignung führen. Bei einem<br />
Chat in Berlin verabredeten sich z. B. Hun<strong>der</strong>te Jugendliche<br />
an einem bestimmten Wochentag auf<br />
dem Alexan<strong>der</strong>platz. Dennoch tragen virtuelle<br />
Räume häufig zu einem Bedeutungsverlust realer<br />
Räume bei. In virtuellen Räumen werden Aneignungsprozesse<br />
durch symbolische Handlungen ersetzt.<br />
Die Tendenz <strong>der</strong> Vereinzelung geht einher<br />
mit einer Abnahme gesellschaftlicher Teilhabe.<br />
Jugend politik<br />
Der städtische Raum<br />
3/2009<br />
Auffallend am städtischen Raum ist die geringe<br />
Mobilität von Jugendlichen. In Berlin gibt es<br />
beispielsweise Jugendliche, die noch nie in einem<br />
an<strong>der</strong>en <strong>Stadt</strong>teil waren. Der eigene Kiez ist das<br />
hauptsächliche Territorium für Jugendliche. Im<br />
Kiez sind die Bezüge, die Mechanismen, die<br />
Wege, die Rückzugsräume, aneigenbares und<br />
fremdes Territorium, bekannt. Virtuelle Räume<br />
werden in <strong>der</strong> Großstadt teilweise mit realen Räumen<br />
verbunden. Territorien und Räume, die von<br />
Jugendlichen aneigenbar sind, „konkurrieren“ in<br />
<strong>der</strong> Großstadt in hohem Maße mit Interessen des<br />
Handels und <strong>der</strong> Banken, überzogenem Ruhe- und<br />
Sauberkeitsbedürfnis, medieninduzierten Ängsten<br />
vor Gewalt und finanzpolitischer Argumentation<br />
zur Schließung hochwirksamer Angebote <strong>der</strong> Jugendarbeit.<br />
Gegen all diese Konkurrenz sind Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche regelmäßig die Verlierer.<br />
17
3/2009<br />
Wenn Anwohner sich durch Lärm gestört fühlen,<br />
werden an sechsspurigen Straßen gelegene Skaterbahnen<br />
und Halfpipes mit Öffnungszeiten versehen;<br />
<strong>Stadt</strong>viertel mieten sich eigene Sicherheitskräfte,<br />
um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.<br />
So wird <strong>der</strong> Aufenthalt an öffentlichen Plätzen<br />
für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche so unattraktiv wie nur<br />
möglich gestaltet. Die Reglementierung von Plätzen,<br />
U-Bahn-Anlagen o<strong>der</strong> Parks nimmt in ungeahntem<br />
Maße zu. Jugend- und Gemeindehäuser<br />
fallen zunehmend dem Rotstift zum Opfer. Die Innenstädte<br />
werden zunehmend jugendfeindliche<br />
Räume. Wenn es in Umfragen darum geht, welche<br />
Bedürfnisse und Interessen Jugendliche haben,<br />
dann werden sehr häufig Stichworte wie Treffpunkte,<br />
Jugendclubs, Räume o<strong>der</strong> „sich mit Freunden<br />
treffen“ genannt. Eine enorme und wachsende<br />
Bedürfnislage, die we<strong>der</strong> aus sozialplanerischer<br />
noch aus jugendpolitischer Sicht ignoriert werden<br />
kann und <strong>der</strong> eine sich drastisch reduzierende<br />
Angebotsstruktur gegenübersteht.<br />
Der ländliche Raum<br />
Im ländlichen Raum gibt es mehr Erholungsgebiete<br />
als in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> – doch wie sehen die<br />
Räume und Territorien <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
auf dem Land aus? Ein großer Unterschied<br />
zu den städtischen Räumen ist die erschwerte Mobilität.<br />
Die Formel ist einfach: Wer auf dem Land<br />
nicht mobil ist, wird isoliert und Teilhabe-Chancen<br />
sind ihm verschlossen. Jugendliche und Kin<strong>der</strong><br />
müssen zur Kita, zu Freunden, zur Schule, zu Feten,<br />
zum Jugendclub gebracht werden. Auf dem<br />
Land findet eine Vernetzung <strong>der</strong> angeeigneten<br />
Räume in <strong>der</strong> Region statt. Die Einschnitte und<br />
Einschränkungen bei ÖPNV führen im günstigsten<br />
Fall dazu, dass private Initiativen entstehen und<br />
dies übernehmen. Damit werden staatliche Aufgaben<br />
auf die Bürger übertragen. Junge Menschen<br />
auf dem Land sind gezwungen, mobil zu sein, um<br />
ihr Leben gestalten zu können. O<strong>der</strong> aber sie „verinseln“<br />
und treten den Rückzug in z. B. virtuelle<br />
Räume an, sofern das im ländlichen Raum, wo die<br />
Breitbandanbindung immer noch große Lücken<br />
aufweist, möglich ist. Zentralisierungstendenzen<br />
bei öffentlichen Einrichtungen, Schulen o<strong>der</strong> Ausbildungsbetrieben<br />
mit <strong>der</strong> trügerischen Aussicht,<br />
öffentliche Gel<strong>der</strong> zu sparen, verschärfen diese<br />
Tendenzen und tragen zur Verinselung und Isolation<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen bei. Der<br />
Freundeskreis wohnt nun plötzlich nicht mehr nur<br />
drei o<strong>der</strong> sechs Kilometer entfernt, son<strong>der</strong>n 15, 20<br />
o<strong>der</strong> noch weiter. Die Leistungen, die Kin<strong>der</strong>, Ju-<br />
18<br />
gendliche und zum Teil Familien auf dem Lande<br />
für eine gelingende Freizeitgestaltung und, damit<br />
verbunden, eine Sozialisation <strong>der</strong> jungen Menschen<br />
in die Gesellschaft aufbringen müssen, steigen<br />
drastisch. Hier entstehen quasi Kosten, die bei<br />
einer Gewinn- und Verlustrechnung <strong>der</strong> Demokratie<br />
zu Buche schlagen, nicht jedoch in den<br />
Haushaltsbüchern von Bund, Län<strong>der</strong>n und Kommunen<br />
auftauchen.<br />
Aneigenbare Räume auf dem Land sehen teilweise<br />
an<strong>der</strong>s aus als in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>. Hier spielen die<br />
Bushaltestelle, das Landjugendheim, <strong>der</strong> Gemein<strong>der</strong>aum<br />
<strong>der</strong> Kirche, Bauwagen, Jugendzentren,<br />
private Hütten, Skateranlagen o<strong>der</strong> Marktplätze<br />
eine bedeutende Rolle. Das Problem ist<br />
jedoch sowohl in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> als auch auf dem Land<br />
dasselbe: Die Räume, die den Jugendlichen zur<br />
Verfügung stehen, werden durch das ordnungspolitische<br />
„Waffenarsenal“ massiv eingeschränkt beziehungsweise<br />
mit Regeln übersät. Dass Jugendliche<br />
in einer Gesellschaft, die sich dem Diktat von<br />
Ruhe und Ordnung selbst in Gewerbe- und Gewerbemischgebieten<br />
unterzuordnen scheint, immer<br />
wie<strong>der</strong> zu Verlierern o<strong>der</strong> Rebellen werden<br />
können, liegt auf <strong>der</strong> Hand. Das Bedürfnis von Jugendlichen<br />
nach aneigenbaren Räumen auf dem<br />
Land übersteigt in Erhebungen und Statistiken<br />
noch die Zahlen, die aus städtischem Kontext bekannt<br />
sind.<br />
Beengte Jugend und die Folgen<br />
Über Räume verfügen zu können heißt sowohl<br />
in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> als auch auf dem Land, Bedeutung zu<br />
haben. Die Möglichkeit <strong>der</strong> Aneignung von Räumen<br />
und Territorien ist ein grundlegen<strong>der</strong> Baustein<br />
für Individuen beim Hineinwachsen in eine Gesellschaft.<br />
Hier wird soziale und gesellschaftliche<br />
Verantwortung ausgeprägt. Über die Aneignung<br />
von Raum kommunizieren Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendliche mit <strong>der</strong> Erwachsenenwelt.<br />
Was geschieht nun, wenn immer weniger Territorien<br />
und Raum zur Verfügung stehen? Wenn<br />
das Bedürfnis und <strong>der</strong> Wunsch junger Menschen<br />
nach Räumen zu wenig politisch-öffentliche Akzeptanz,<br />
Beachtung, Unterstützung o<strong>der</strong> den notwendigen<br />
Vertrauensvorschub vonseiten <strong>der</strong> Erwachsenen<br />
erhält? Wenn entsprechende Anliegen<br />
nach eigenen und selber gestaltbaren Räumen mit<br />
Vertröstungen und Verweisen auf z. B. finanzielle<br />
Rahmenbedingungen („Wir müssen für nachfolgende<br />
Generationen sparen, deshalb schließen wir<br />
alle Jugendräume“), Bebauungspläne und partei-<br />
Jugend politik
politische Schwerpunktsetzungen („Jetzt sind zuerst<br />
einmal die alten Menschen dran“) abgetan<br />
werden? Wenn Jugendliche, die ihre Wünsche und<br />
For<strong>der</strong>ungen stellen, ohne Perspektive vertröstet<br />
werden?<br />
Was geschieht also, wenn eine Aneignung von<br />
Raum aufgrund verkümmerter parteilicher Jugendpolitik,<br />
des ordnungspolitisch faktenschaffenden<br />
Willens von Verwaltungen, juristisch erzwungenen<br />
Einschränkungen, Bürgern/innen, die<br />
wie Lärmseismographen handeln, stets vorfahrthaben<strong>der</strong><br />
Verkehrsplanung o<strong>der</strong> unwirtlicher Bebauung<br />
<strong>der</strong> Städte nicht mehr o<strong>der</strong> nur noch erheblich<br />
eingeschränkt möglich ist?<br />
Durch räumliche Beengtheit entsteht sozialer<br />
Stress – häufig leiden Jugendliche und Kin<strong>der</strong> unter<br />
eben diesem. Die Folgen sind im positiven<br />
Fall, dass sich Jugendliche und Kin<strong>der</strong> dennoch<br />
Raum und Territorien aneignen. Nicht selten<br />
kommt es jedoch zu Vandalismus, Provokationen,<br />
Überschreitung von Regeln, Gewalt o<strong>der</strong> Normbrüchen.<br />
Die Jugendlichen versuchen, dem Mangel<br />
an Erlebnismöglichkeiten und -qualität auf<br />
diese Weise entgegenzusteuern. Sie versuchen,<br />
Bedeutung für sich und ihr Leben zu erlangen. Der<br />
Teufelskreis endet damit, dass die Erwachsenenwelt<br />
auf dieses deviante Verhalten von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen zuerst mit Erstaunen und Entsetzen,<br />
dann mit <strong>der</strong> Verschärfung von Regelungen,<br />
Gesetzen und Verordnungen reagiert.<br />
Anstiften zum Unfrieden<br />
Aus Sicht <strong>der</strong> sozialräumlichen Kategorie ist<br />
ein gelingendes Aufwachsen von Kin<strong>der</strong> und Ju-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
gendlichen zunehmend gefährdet. Das gilt mit unterschiedlichen<br />
Parametern gleichwohl für Städte<br />
wie auch für ländliche Räume. Nur am Rande sei<br />
hier erwähnt, dass die sozialräumliche Komponente<br />
sich hinsichtlich Geschlecht, soziokulturellem,<br />
sozioökonomischem o<strong>der</strong> Migrationshintergrund<br />
zum Teil sehr unterschiedlich ausprägt.<br />
Das Aufwachsen von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
und die Sozialisation als Bürger/in in eine demokratische<br />
Gesellschaft gelingt dort, wo Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche nicht aus den Zentren in die Peripherie<br />
des gesellschaftlichen Geschehens verbannt<br />
werden, son<strong>der</strong>n teilhaben an Räumen und<br />
Territorien. Deshalb bedarf das Verständnis von<br />
Jugendpolitik einer Neuausrichtung.<br />
Land auf und Land ab ist in Studien und Erhebungen<br />
bei Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen ein Bedarf<br />
an Räumen konstatiert worden. Die Zeichen<br />
<strong>der</strong> räumlichen Enge von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
sind allerorts zu finden. Doch was tun? Im<br />
Folgenden wird nur auf die jugendpolitischen<br />
Aspekte eingegangen mit einigen Thesen zu einer<br />
parteilichen Jugendpolitik des, wenn man so will,<br />
„räumlichen Unfriedens“:<br />
» Jugendpolitik muss sich mehr politischen Raum<br />
aneignen und zwar in allen Politikfel<strong>der</strong>n, die<br />
Einfluss auf die Einengung von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
aus sozialräumlicher Perspektive haben.<br />
Sie hat das Recht dazu, denn Jugendpolitik<br />
ist <strong>Zukunft</strong>spolitik.<br />
» Jugendpolitik darf nicht weiter stillschweigend<br />
zusehen, wie sämtliche Ressorts indirekte<br />
Staatspädagogik ausüben und dabei „Räume<br />
und Territorien“ für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
19
3/2009<br />
verengt werden. Beispielsweise gehört in Bebauungs-<br />
und Verkehrsvorhaben Jugendpolitik<br />
unbedingt miteinbezogen. Bereits bei Baugenehmigungen<br />
können Lärmschutzverordnungen<br />
zu Gunsten von Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen verankert<br />
werden.<br />
» Regionalpolitik muss die Kategorie „Jugend in<br />
ländlichen Räumen“ einbeziehen. Die Diktion<br />
des öffentlichen Sparens muss Halt machen,<br />
wenn es um die Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen geht, denn diese sind die <strong>Zukunft</strong><br />
<strong>der</strong> Region.<br />
» Der „Befreiung <strong>der</strong> Innenstädte von Jugendlichen“<br />
muss Einhalt geboten werden. Auch <strong>der</strong><br />
Handel und die Banken stehen nicht über den Interessen<br />
einer demokratischen Gesellschaft. Das<br />
Überregulieren und die zunehmende Unwirtlichkeit<br />
<strong>der</strong> Städte stehen im Wi<strong>der</strong>spruch zum<br />
Anspruch des KJHGs, ein gelingendes Aufwachsen<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu gewährleisten.<br />
» Die Kategorie „Raum“ muss ein handlungsleitendes<br />
Ziel <strong>der</strong> Jugendpolitik sein. Methodisch<br />
wäre zu befürworten, dass Jugendpolitik die<br />
konstruktive Streitkultur dem Neokorporatismus<br />
vorzieht.<br />
» Ordnungspolitische Aspekte haben in <strong>der</strong> parteilichen<br />
Jugendpolitik nichts zu suchen. Das ist<br />
Aufgabe <strong>der</strong> Innenpolitik. Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
müssen nicht beruhigt, son<strong>der</strong>n für ihre <strong>Zukunft</strong><br />
befähigt werden.<br />
» Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Familien-, Innen-,<br />
Kultus- und Kin<strong>der</strong>politik sind nicht Jugendpolitik.<br />
Jugendpolitik ist ein eigenständiges Politikfeld<br />
– so eigenständig wie Jugendliche es<br />
auch als Bürger einer Demokratie sein sollen.<br />
Dementsprechend sollten für die Jugend zuständige<br />
Ministerien und Ämter auf Bundes-,<br />
Landes- und Kommunalebene auch handeln.<br />
» Öffentliche Verwaltungen benötigen politische<br />
Handlungsleitlinien, insbeson<strong>der</strong>e hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Ausübung von Ermessen und Duldung,<br />
wenn es um Räume und Territorien von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen geht.<br />
» Das Gestalten, Bereitstellen und Arrangieren<br />
von aneigenbaren Räumen bedarf öffentlicher<br />
För<strong>der</strong>ung.<br />
» Mehrgenerationenhäuser und Schulen lassen<br />
Aneignung von Raum nicht zu. Sie stellen für<br />
Jugendliche keine Möglichkeit zur räumlichen<br />
Aneignung bereit, da ihre Regelungsdichte notwendigerweise<br />
sehr hoch ist. Der Unterschied<br />
zwischen Schule und Jugendarbeit ist nirgends<br />
besser zu erkennen als aus sozialräumlicher Per-<br />
20<br />
spektive. Dabei wird deutlich, wie notwendig<br />
die Sozialisationsinstanz Jugendarbeit für die<br />
Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen in<br />
unserer Gesellschaft ist.<br />
» Das räumliche Kindes- und Jugendwohl ist in<br />
Gefahr. Bundespolitik muss sich ebenso im Bereich<br />
Jugend profilieren wie dies beispielsweise<br />
bei <strong>der</strong> Familien-, Finanz- o<strong>der</strong> Wirtschaftspolitik<br />
in kürzester Zeit gelang.<br />
» Auf kommunaler Ebene sind Raumkonzepte für<br />
die Jugendarbeit notwendig. Welche Räume<br />
Kommunen „ihren“ Jugendlichen zugestehen,<br />
sagt viel über die Lebensqualität <strong>der</strong> Kommune<br />
aus. Kommunalpolitik hat dann <strong>Zukunft</strong>, wenn<br />
sie „ihrem Nachwuchs“ genug Raum gibt. Das<br />
heißt nicht, dass alle Kommunen große Jugendhäuser<br />
bauen müssen. Vielmehr sollten die lokalen<br />
Ressourcen genutzt und zum Beispiel Jugendverbände<br />
in solche Konzepten eingebunden<br />
und an ihnen beteiligt werden.<br />
Matthias Sammet<br />
ist Geschäftsführer beim Bund <strong>der</strong> Deutschen<br />
Landjugend (BDL).<br />
Jugend politik
Jugend politik<br />
<strong>Stadt</strong> für Kin<strong>der</strong> – <strong>Stadt</strong> <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong><br />
Kin<strong>der</strong>- und jugendgerechte <strong>Stadt</strong>planung<br />
Von Dagmar Brüggemann<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche brauchen Spielräume<br />
– draußen, im Freien, in <strong>der</strong><br />
Natur! Damit sind nicht einfach nur<br />
Spielplätze gemeint, son<strong>der</strong>n sämtliche Freiflächen<br />
im Wohnumfeld, im Quartier, im <strong>Stadt</strong>teil<br />
und in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>. Sie sollen kindgerecht, anregend<br />
und vielfältig sein und zum Spielen und Erleben<br />
einladen.<br />
Freiraum hat für die Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen eine zentrale Bedeutung.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sind nach wie vor die intensivsten<br />
Nutzer von Freiräumen. Die Raumnutzung<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen lässt sich dabei<br />
nicht auf bestimmte Funktionsräume<br />
reduzieren: We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Spielplatz, die Sportanlage<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Park an sich, son<strong>der</strong>n ein System von miteinan<strong>der</strong><br />
verbundenen Freiräumen ist für die Aneignung<br />
durch Kin<strong>der</strong> und Jugendliche von großer<br />
Bedeutung.<br />
Die Bedürfnisse von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
sind bei <strong>der</strong> räumlichen Entwicklung in Städ-<br />
3/2009<br />
ten und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten<br />
nicht genügend beachtet worden. Die dramatische<br />
Zunahme des Verkehrs und <strong>der</strong> Verlust von Freiflächen<br />
haben dazu geführt, dass sich Kin<strong>der</strong> immer<br />
weniger draußen im Freien aufhalten und zunehmend<br />
aus öffentlichen Räumen verdrängt<br />
werden. Auch Kindheit hat sich verän<strong>der</strong>t: Verinselung,<br />
Verhäuslichung und Medialisierung sind<br />
die zentralen Begriffe in dieser Diskussion.<br />
Die aufgezeigten Trends haben dramatische<br />
Auswirkungen auf die Gesundheit, denn Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche, die ohne geeignete Spiel- und<br />
Aufenthaltsräume im Freien aufwachsen, weisen<br />
Defizite in ihrer körperlichen, geistigen und seelischen<br />
Entwicklung auf. Motorische Störungen<br />
aufgrund von Bewegungsmangel und Fettleibigkeit<br />
verbunden mit den bekannten gesundheitlichen<br />
Risiken sind Ausdruck davon, dass sich die<br />
Entwicklungsbedingungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> verschlechtert<br />
haben.<br />
21
3/2009<br />
Das Handlungsfeld<br />
Die große Bedeutung <strong>der</strong> städtischen Freiräume<br />
für das Aufwachsen junger Menschen verweist<br />
auf das Handlungsfeld <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklung<br />
und <strong>Stadt</strong>planung. Maßnahmen und<br />
Vorhaben <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklung und <strong>Stadt</strong>planung<br />
beeinflussen direkt das Lebensumfeld von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen – jede Maßnahme und jedes<br />
Vorhaben <strong>der</strong> räumlichen Planung greift unmittelbar<br />
in ihr Lebensumfeld ein. Die Folgen<br />
planerischer Interventionen auf das Lebensumfeld<br />
wurden jedoch bislang zu wenig thematisiert<br />
und in <strong>der</strong> Praxis von <strong>Stadt</strong>entwicklung und <strong>Stadt</strong>planung<br />
nur unzureichend berücksichtigt.<br />
Die <strong>Stadt</strong>entwicklung und <strong>Stadt</strong>planung wird<br />
zu einem wichtigen Akteur, um ein kin<strong>der</strong>- und jugendgerechtes<br />
Deutschland umzusetzen. Es gilt,<br />
zukünftig die Interessen von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
im Rahmen von räumlichen Planungen<br />
mehr als bisher zu berücksichtigen.<br />
In den vergangenen Jahren haben viele Städte<br />
angefangen, <strong>der</strong> oben beschriebenen Entwicklung<br />
entgegenzusteuern. Beflügelt durch den demografischen<br />
Wandel ringen Städte und Gemeinden<br />
um die Entwicklung neuer Leitbil<strong>der</strong>. Dabei rückt<br />
das Leitbild <strong>der</strong> kin<strong>der</strong>- und familienfreundlichen<br />
22<br />
<strong>Stadt</strong> zunehmend in den Vor<strong>der</strong>grund. Für die<br />
Umsetzung dieses Leitbildes fehlten bisher die<br />
richtigen Instrumente. Eine vielfältige Landschaft<br />
von Projekten <strong>der</strong> kin<strong>der</strong>freundlichen <strong>Stadt</strong>planung<br />
hat sich entwickelt. Dies sind beispielsweise<br />
Projekte, in <strong>der</strong>en Rahmen Schulhöfe und Spielplätze<br />
mit <strong>der</strong> Beteiligung von Kin<strong>der</strong>n gestaltet<br />
werden. Es hat sich jedoch gezeigt, dass einzelne<br />
Projekte die kin<strong>der</strong>freundliche Gesamtentwicklung<br />
von Städten und Gemeinden nicht beeinflussen.<br />
Projekte sind zeitlich begrenzt und beziehen<br />
sich immer nur auf räumlich begrenzte Ausschnitte.<br />
Neues Instrument: Spielleitplanung<br />
Diese Erkenntnis hat das Land Rheinland-Pfalz<br />
Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre dazu bewogen, mit <strong>der</strong><br />
Spielleitplanung ein neues Planungsinstrument zu<br />
entwickeln, das die Interessen von Kin<strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen strukturell und langfristig auf <strong>der</strong><br />
Ebene <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklung verankert und das<br />
Leitbild <strong>der</strong> kin<strong>der</strong>- und jugendgerechten <strong>Stadt</strong><br />
auf <strong>der</strong> operationalen Ebene umsetzt.<br />
Spielleitplanung richtet den Blick auf die gesamte<br />
<strong>Stadt</strong> und Gemeinde als Spiel-, Erlebnisund<br />
Erfahrungsraum. Spielplätze sind demnach<br />
Jugend politik
nur ein Teilaspekt, Spielleitplanung geht weit darüber<br />
hinaus. Spielleitplanung erfasst, bewertet und<br />
berücksichtigt alle öffentlichen Freiräume, in denen<br />
sich Kin<strong>der</strong> und Jugendliche aufhalten und aktiv<br />
werden, beispielsweise Brachen, Siedlungsrän<strong>der</strong>,<br />
Baulücken, Grünanlagen, Straßen,<br />
Hauseingänge o<strong>der</strong> Plätze.<br />
Zentraler Bestandteil ist die Beteiligung von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen bei allen Planungs-,<br />
Entscheidungs- und Umsetzungsschritten. Durch<br />
die konsequente Verzahnung von Planung und<br />
Beteiligung wird von Anfang an eine neue Partizipations-<br />
und Planungskultur in <strong>der</strong> Kommune<br />
etabliert. Das zeichnet die Spielleitplanung als ein<br />
zukunftsorientiertes Handlungskonzept aus.<br />
Gemeinsam mit Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
werden die Qualitäten und Defizite im Bestand eines<br />
Gemeindegebietes untersucht und im Plan<br />
dargestellt. Der daraus entwickelte Spielleitplan<br />
enthält Darstellungen von Maßnahmen und Vorhaben<br />
zur Flächensicherung und -entwicklung,<br />
aber auch zur Sicherung von kleinteiligen Qualitäten<br />
wie beispielsweise Kletterbäumen o<strong>der</strong><br />
Trampelpfaden. Erste, kurzfristig zu realisierende<br />
Starterprojekte sind ein weiterer wichtiger Bestandteil<br />
<strong>der</strong> Spielleitplanung.<br />
Um dauerhaft bestehen zu können, setzt Spielleitplanung<br />
auf die Kooperation vieler. Sie führt<br />
Verbände, Initiativen, Vereine, engagierte Bürgerinnen<br />
und Bürger, Multiplikatoren, Schulen, Einrichtungen<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendarbeit sowie<br />
Agenda-21-Gruppen zusammen und verbindet sie<br />
in unterstützenden Netzwerken.<br />
Mit <strong>der</strong> Spielleitplanung hat das Handlungsfeld<br />
<strong>der</strong> kin<strong>der</strong>- und jugendgerechten <strong>Stadt</strong>planung<br />
zum ersten Mal ein schlagkräftiges Instrument, das<br />
die Belange von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen auf<br />
gleicher Augenhöhe mit an<strong>der</strong>en räumlichen Belangen<br />
zur Darstellung bringt und auf planerischer<br />
Ebene absichert. Die Spielleitplanung findet<br />
mittlerweile bundesweit Anwendung und ist ein<br />
Qualitätssprung im Handlungsfeld <strong>der</strong> kin<strong>der</strong>freundlichen<br />
<strong>Stadt</strong>planung. Sie verknüpft die Belange<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen mit den klassischen<br />
Planungsinstrumenten wie z.B. <strong>der</strong><br />
Bauleit- und Verkehrsentwicklungsplanung.<br />
Beteiligung als Qualifizierung von Planung<br />
Während Beteiligungsprojekte sich früher in<br />
erster Linie auf pädagogische Orte wie Spielplätze<br />
o<strong>der</strong> Schulgelände bezogen, ist es mittlerweile<br />
unter an<strong>der</strong>em durch die Spielleitplanung gelungen,<br />
in ersten Schritten die Kernbereiche von<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
<strong>Stadt</strong>planung wie z. B. die Flächennutzungs-, Verkehrsentwicklungs-<br />
und <strong>Stadt</strong>teilentwicklungsplanung<br />
für die Einbeziehung <strong>der</strong> Belange von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen zu erschließen. Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche haben ein unersetzliches Wissen<br />
über ihre <strong>Stadt</strong> und ihr Lebensumfeld. Ein Wissen,<br />
das den Planungsprozess und die Qualität des Ergebnisses<br />
mit neuen Perspektiven bereichern kann.<br />
Für die Beteiligung von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
sollte ein sozialraumorientierter Ansatz gewählt<br />
werden. Der Bezugspunkt von Raumnutzungsmustern<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen ist<br />
das Quartier. Beson<strong>der</strong>s wichtig wird dieser Ansatz<br />
aufgrund <strong>der</strong> Segregation und <strong>der</strong> ungleichen<br />
Entwicklung von <strong>Stadt</strong>quartieren. Die differenzierte<br />
Landschaft <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>quartiere braucht sozialraumorientierte<br />
Lösungen und keine Pauschalentwicklungen.<br />
Um Kin<strong>der</strong> und Jugendliche im Rahmen des<br />
neuen Handlungsfeldes zu beteiligen, benötigt die<br />
<strong>Stadt</strong>entwicklung verlässliche Partner. Im Kontext<br />
von <strong>Stadt</strong>entwicklung und <strong>Stadt</strong>planung werden<br />
Schulen, Vereine sowie soziale, pädagogische<br />
und kulturelle Einrichtungen zu wichtigen Partnern<br />
für die Planung bei <strong>der</strong> Organisation und<br />
Durchführung von Beteiligungsverfahren.<br />
Das hohe Potenzial <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Spielleitplanung<br />
angelegten Kooperationsstrukturen mit neuen sozialen<br />
und pädagogischen Akteuren ist noch längst<br />
nicht ausgeschöpft. Gerade in <strong>der</strong> Kooperation<br />
mit Schulen und Vereinen liegen vielfältige, noch<br />
nicht erschlossene Möglichkeiten, die es zukünftig<br />
zu nutzen gilt.<br />
Dagmar Brüggemann<br />
ist <strong>Stadt</strong>planerin im Planungsbüro <strong>Stadt</strong>-<br />
Kin<strong>der</strong>, Dortmund.<br />
23
3/2009<br />
24<br />
Teilhabe an <strong>der</strong> Zivilgesellschaft<br />
Ein Gespräch mit Professor Lothar Böhnisch<br />
Professor Lothar Böhnisch beschäftigt sich<br />
mit den sozialen Dimensionen zivilgesellschafter<br />
Modelle. Im Gespräch erläutert er<br />
die Grundzüge <strong>der</strong> Zivilgesellschaft. Er beschreibt,<br />
welchen Platz Jugendliche in einer solchen Gesellschaft<br />
haben und welche Rolle Jugendverbände<br />
spielen sollten und können.<br />
Die Idee <strong>der</strong> Zivilgesellschaft: Wie kann man sie<br />
mit wenigen Worten beschreiben?<br />
Der zivilgesellschaftliche Diskurs hat drei bis vier<br />
Dimensionen. Einmal ist Zivilgesellschaft – im europäischen<br />
Diskurs – ein gouvernamentaler Entwurf:<br />
Er beschreibt das neue und gute Regieren,<br />
bei dem es darum geht, die Top-Down-Tradition<br />
durch Bottom-Up-Prozesse zu ergänzen. Beim<br />
Regieren werden Bürgerinnen und Bürger inzwischen<br />
eingebunden, damit kommt Dynamik in<br />
Regierungsprozesse. Die zweite Dimension ist<br />
eine mehr institutionelle Dimension. Neben dem<br />
und unterhalb des parlamentarischen Systems bilden<br />
sich Organisationen, Verbände und vor allem<br />
Bürgerinitiativen. Die Idee ist, den Pluralismus <strong>der</strong><br />
Verbände o<strong>der</strong> Initiativen stärker zu betonen und<br />
in Verantwortung zu bringen. Bei dieser Dimension<br />
sind Verbände zentrale Figuren. Vor allem in<br />
<strong>der</strong> deutschen Gesellschaft sind Verbände stark kooptiert.<br />
Die Frage an die großen Verbände ist: Wie<br />
weit bilden sie selbst zivilgesellschaftliche Strukturen<br />
aus, um ihre Mitglie<strong>der</strong> (und Klienten) stärker<br />
in Teilhabe und Mitbestimmung und Engagement<br />
zu bringen.<br />
Und die dritte und vierte Dimension?<br />
Die dritte Dimension bezieht sich auf die Krise <strong>der</strong><br />
Arbeitsgesellschaft und <strong>der</strong> Entgrenzung des Sozialstaates.<br />
Wir leben in Deutschland und den<br />
westeuropäischen Län<strong>der</strong>n in einem System, in<br />
dem soziale Rechte vom Arbeitsstatus und Normalarbeitsverhältnis<br />
abgeleitet werden. Wer arbeitslos<br />
ist, hat wenige Chancen <strong>der</strong> Teilhabe. Die<br />
zivilgesellschaftliche Idee ist ein Versuch, die Bürgerrechte<br />
zu erweitern; o<strong>der</strong> darauf zu antworten,<br />
dass soziale Rechte o<strong>der</strong> Teilhaberechte, die fak-<br />
tisch über Arbeit vermittelt werden, erreichbar<br />
sind für alle, die arbeitslos o<strong>der</strong> in prekären Arbeitsverhältnissen<br />
sind. Die vierte Dimension ist<br />
mit <strong>der</strong> Frage verknüpft: Wird in zivilgesellschaftlichen<br />
Diskursen thematisiert, ob und wie<br />
Gruppen, die aus verschiedensten Gründen ausgeschlossen<br />
sind – etwa Jugendliche – beteiligt<br />
werden können.<br />
Können Jugendliche beteiligt werden?<br />
Jugend soll an <strong>der</strong> Zivilgesellschaft beteiligt werden,<br />
gleichzeitig haben alle Konzepte von Zivilgesellschaft<br />
aber keinen Jugendbegriff. Die Konzepte<br />
von Zivilgesellschaft gehen vom fertigen<br />
Bürger aus. Sie sagen wenig über zivilgesellschaftliche<br />
Sozialisation aus; und damit natürlich<br />
wenig über die Frage, wie Jugendliche befähigt<br />
werden können, bürgerschaftlich zu agieren. Sie<br />
sagen nichts darüber, welche Gegebenheiten Jugendliche<br />
vorfinden und welchen Zugang sie eigentlich<br />
haben. Weil alle zivilgesellschaftlichen<br />
Diskurse vom fertigen Bürger ausgehen, ist das ein<br />
blin<strong>der</strong> Fleck, über den man diskutieren und nachdenken<br />
muss.<br />
Wo sollte denn wer darüber nachdenken?<br />
Der DBJR wäre ein geeignetes Forum. Die Jugendverbände<br />
stehen aus meiner Sicht vor dem<br />
Problem, dass sie sich selbst zivilgesellschaftlich<br />
überprüfen sollten. Die Frage wäre: Welche Möglichkeiten<br />
haben Verbände und welche Tradition,<br />
um Jugendliche als Bürger ins Spiel zu bringen.<br />
Aus meiner Beobachtung haben wir in den Jugendverbänden<br />
manifest und latent ein sehr starkes<br />
hierarchisches Verhältnis zwischen Jugendlichen,<br />
Erwachsenen, erst Recht zwischen<br />
Jugendverbänden und den Erwachsenenverbänden.<br />
Das ist eine Konfliktsituation, mit <strong>der</strong> ganz<br />
unterschiedlich umgegangen wird, die teilweise<br />
bereits entschärft ist, aber oft wie<strong>der</strong> aufbricht.<br />
Dieser Konflikt liegt im Grunde quer zur bürgerschaftlichen<br />
Idee, dass Jugendliche und Erwachsene<br />
gleichermaßen als Bürgerinnen und Bürger<br />
anerkannt werden sollen.<br />
Jugend politik
Das verlangt eine Erklärung.<br />
Die Frage ist: Ist die traditionelle Sozialisation<br />
zum erwachsenen Mitglied des Verbandes auch<br />
eine zum Bürger und zur Bürgerin? O<strong>der</strong> braucht<br />
es an<strong>der</strong>e Voraussetzungen – auch in den Jugendverbänden<br />
– um Sozialisation zum Bürger/zur<br />
Bürgerin und gleichzeitig den Zugang zur Bürgerschaft<br />
miteinan<strong>der</strong> zu verbinden? Im Diskurs<br />
<strong>der</strong> letzten Jahrzehnte bedeutet Sozialisation Jugendlicher:<br />
Nicht fertig sein, sich noch entwickeln<br />
müssen. Jugendliche verhalten sich aber oft schon<br />
wie Erwachsene, wenn sie 17 o<strong>der</strong> 18 Jahre alt<br />
sind und könnten daher schon als Bürgerinnen<br />
und Bürger gelten. Zugleich bleiben sie aber ökonomisch<br />
abhängig, sie stecken in einer Übergangsphase,<br />
weil sich beispielsweise die arbeitsgesellschaftlichen<br />
Bedingungen geän<strong>der</strong>t haben,<br />
prekär geworden sind. Kurzum: Jugendliche kommen<br />
trotz ihres formal erwachsenen Alters nicht in<br />
<strong>der</strong> Zivilgesellschaft an.<br />
Was bedeutet das konkret?<br />
Wir müssen uns fragen, welche zivilgesellschaftlichen<br />
Strukturen dieser Lebenslage Jugend heute<br />
entgegen kommen. Wir brauchen eine Struktur, in<br />
<strong>der</strong> wir Jugendlichen eine Chance geben, sich<br />
zum Bürger zu entwickeln und sie gleichzeitig<br />
als Bürger o<strong>der</strong> Bürgerin akzeptieren. Gemeinsam<br />
mit Wolfgang Schröer habe ich einmal den<br />
Begriff <strong>der</strong> „protect autonomie“ gebraucht (vgl.<br />
Schröer/Böhnisch: Die soziale Bürgergeschaft,<br />
Weilheim/München 2002). Jugendliche brauchen<br />
weiter einen geschützten Raum, in dem sie aber<br />
autonom agieren können.<br />
Haben Sie ein Beispiel?<br />
Die Gesellschaft nimmt beispielsweise Jugendliche<br />
zunächst aus <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft heraus,<br />
damit sie im geschützten Raum lernen und sich<br />
entwickeln können. Später werden sie wie<strong>der</strong> qualifiziert<br />
in die Arbeitsgesellschaft eingebunden.<br />
Inzwischen gibt es ein Problem: Die Einbindung<br />
ist heute nur noch für einen Teil <strong>der</strong> Jugend selbstverständlich.<br />
Für viele Jugendliche ist Jugend hingegen<br />
zur Risikophase geworden. Sie werden<br />
nicht mehr automatisch in die Arbeitsgesellschaft<br />
integriert.<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
25
3/2009<br />
26<br />
Buchtipp<br />
Die Diskussionen um die Bürgergesellschaft und die <strong>Zukunft</strong><br />
des Sozialstaates treffen in Deutschland immer noch kontraproduktiv<br />
aufeinan<strong>der</strong>. Entwe<strong>der</strong> finden sich die Diskutanten<br />
<strong>der</strong> Bürgergesellschaft als Erben des Sozialstaates,<br />
wollen ihn ersetzen o<strong>der</strong> sie reduzieren ihn auf die Rolle eines<br />
fiskalischen Ressourcenbeschaffers. Der Staat als zentrales<br />
Medium sozialpolitischer Gestaltung verschwindet aus<br />
dem Blickwinkel. In diesem Buch wird nun <strong>der</strong> Versuch unternommen,<br />
den bürgerschaftlichen Diskurs in eine gesellschaftspolitisch<br />
verbindliche und den Herausfor<strong>der</strong>ungen des<br />
digitalen Kapitalismus angemessene Richtung zu lenken. Es<br />
wird aufgezeigt, dass sich die bürgerschaftlichen Programmatiken<br />
in Deutschland an einer unhinterfragten Adaption<br />
des amerikanischen Modells orientieren, welche die historische<br />
Realität <strong>der</strong> deutschen Sozialstaats- und Bürgerentwicklung<br />
nicht angemessen beschreibt. Zentral ist, dass das<br />
Sozialpolitische eine an<strong>der</strong>e Logik hat, als dies das Bürgerschaftliche<br />
in se iner aktuellen und historischen Sozialstaatskritik<br />
unterstellt. Der sozialpolitische Diskurs in<br />
Deutschland hat sich immer aus dem Spannungsverhältnis<br />
von Kapital und Arbeit heraus entwickelt und nicht aus einer<br />
lokalen Bewegung mit bürgergesellschaftlichem Anspruch.<br />
Dieses sozialpolitische Spannungsverhältnis wird in diesem<br />
Buch aktualisiert und auf den verschiedenen Ebenen <strong>der</strong><br />
sozialökonomischen Entwicklung zur bürgergesellschaftlichen<br />
Perspektive in Bezug gesetzt.<br />
Die Autoren:<br />
Lothar Böhnisch war bis vor kurzem Professor für Sozialpädagogik<br />
und Sozialisation <strong>der</strong> Lebensalter an <strong>der</strong> Technischen<br />
Universität Dresden. Er hat seit kurzem eine Professur<br />
für Soziologie an <strong>der</strong> Freien Universität Bozen in <strong>der</strong> Fakultät<br />
für Bildungswissenschaften.<br />
Wolfgang Schröer, Jg. 1967, Dr. phil., ist Dozent am Institut<br />
für Sozial- und Organisationspädagogik an <strong>der</strong> Universität<br />
Hildesheim.<br />
Was ist dabei die Aufgabe <strong>der</strong> Verbände?<br />
Es geht darum, Selbstständigkeit von Jugendlichen<br />
gesellschaftlich anzuerkennen und gleichzeitig zu<br />
sehen, dass sie sich in geschützter Umgebung entwickelt.<br />
Deswegen darf man Jugendliche nicht<br />
alleine lassen. Eine Auffor<strong>der</strong>ung an Jugendverbände<br />
ist deswegen: Durchdenken, ob die unterschiedlichen<br />
Hierarchien in den Verbänden bürgergesellschaftlich<br />
quer liegen. Außerdem gilt es<br />
Projekte zu organisieren, in denen bürgergesellschaftliche<br />
Möglichkeiten für Jugendliche deutlich<br />
werden. Natürlich kann es dann das Problem geben,<br />
dass ein solches Projekt sich plötzlich auch<br />
gegen einen Verband richtet.<br />
Wie ist das zu verstehen?<br />
Ein Beispiel mit Begriffen aus <strong>der</strong> Sozialarbeit:<br />
Wir machen den Klienten zum Bürger und merken<br />
oft nicht, dass sich damit <strong>der</strong> Status verän<strong>der</strong>t.<br />
Der Bürger ist nämlich nicht mehr Klient. Klient<br />
sein heißt aber, begrenzt sein. Der Bürgerstatus ist<br />
aber nicht begrenzt. Der Bürgerstatus eines Jugendlichen<br />
im Verband wäre deswegen ein doppelter:<br />
Verbandsangehöriger sein, in die Hierarchie<br />
hineinkommen und damit gleichzeitig Räume im<br />
Verband zu erschließen, die über den Verband hinausreichen<br />
können. Dies würde auch zur inneren<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Verbände beitragen.<br />
Was heißt dann an dieser Stelle Entwicklung?<br />
Bei den Verbänden beobachte ich, dass die große<br />
Zeit <strong>der</strong> Konflikte vorüber ist. Das Aufbegehren<br />
hat sich entschärft. Die Verbände werden wie<strong>der</strong><br />
als Karrierewege entdeckt. Gleichwohl finden Jugendliche<br />
Verbände immer noch als Räume für<br />
Projekte interessant. Denn nur aus solchen eigen<br />
entwickelten Projekten können sich produktive<br />
Konflikte entwickeln, die zivilgesellschaftliche<br />
Qualität entfalten. Den Verbänden können diese<br />
Konflikte nur gut tun.<br />
Die Verbände bieten doch Partizipation, bieten<br />
Raum für Mitbestimmung und Konflikte.<br />
Die Partizipationsfrage im Jugendalter ist vielschichtig:<br />
Mit welchen Voraussetzungen kommen<br />
Jugendliche aus den Familien und wie sieht es in<br />
<strong>der</strong> Schule aus? Es gab Zeiten, in denen die Idee<br />
Jugend politik
einer demokratisch verfassten Schule diskutiert<br />
wurde. Die Idee hat sich nicht durchgesetzt. Aus<br />
<strong>der</strong> Schule ist deswegen kaum Unterstützung in<br />
Sachen Partizipation zu erwarten. Die Verbände<br />
könnten sich also zur Schulpolitik äußern, mit <strong>der</strong><br />
For<strong>der</strong>ung nach Beteiligung, nach einem Raum für<br />
Partizipation in <strong>der</strong> Schule. Dabei haben wir jedoch<br />
das Problem, dass sich die Zeit für Bildung<br />
in <strong>der</strong> Jugendzeit ohnehin verlängert, die Zeit für<br />
Entwicklung dadurch aber verkürzt wird. Die Jugendarbeit<br />
muss deswegen viel stärker darauf pochen,<br />
dass Jugend <strong>der</strong> Ort ist, um Jugend leben zu<br />
können.<br />
Der <strong>Bundesjugendring</strong> for<strong>der</strong>t klar und deutlich<br />
Freiräume für die Jugend.<br />
Diese Freiräume müssen aber in <strong>der</strong> Richtung<br />
qualifiziert werden, dass klar zwischen Bildungsjugend<br />
und Entwicklungsphase Jugend unterschieden<br />
wird. Wir haben inzwischen das Problem,<br />
dass wir den Kin<strong>der</strong>garten massiv als<br />
Bildungsort diskutieren und uns nicht fragen, welchen<br />
Raum es für Entwicklung gibt. Die Spannung<br />
zwischen Bildung und Entwicklung heißt, dass<br />
Entwicklung Bildung in einer gewissen Art beeinflusst,<br />
zum Beispiel als Umweg gebraucht werden<br />
kann. Bildung geht von relativ eindimensionalen<br />
Vergleichbarkeiten aus, während wir aus<br />
<strong>der</strong> Jugendarbeit wissen, dass Jugendliche sich<br />
ganz unterschiedlich entwickeln und ungeheuer<br />
zurückgeworfen und beschädigt werden können,<br />
wenn sie rein aus <strong>der</strong> Bildungsperspektive, die<br />
immer eine Vergleichsperspektive ist, gesehen<br />
werden.<br />
Also keine For<strong>der</strong>ung nach mehr Beteiligung in<br />
<strong>der</strong> Schule?<br />
Ich würde den Partizipationsanteil nicht so hoch in<br />
<strong>der</strong> formellen Bildung sehen. Die Frage ist nämlich:<br />
Wo werden Jugendliche anerkannt und wie<br />
können sie Wirksamkeit spüren? In <strong>der</strong> Schule<br />
können Jugendliche nur begrenzt Wirksamkeit<br />
spüren, da müssen sie Leistung bringen. Soziale<br />
und kulturelle Anerkennung bekommen sie eigentlich<br />
nur in Experimentier- und Entwicklungsräumen.<br />
Die findet man in <strong>der</strong> Jugendarbeit.<br />
Es ist also nicht gut, Jugendarbeit massiv zum<br />
Bildungs- und Lernort machen zu wollen, Jugendarbeit<br />
als Lernort im Sinne eines Bildungsortes<br />
zu sehen und sie dem Bildungsbereich zu-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
zuschlagen. In <strong>der</strong> Spannung zwischen Bildung<br />
und Entwicklung gibt es Konflikte.<br />
Soll sich Jugendarbeit also nicht im Feld <strong>der</strong> Bildung<br />
positionieren?<br />
Die Jugendarbeit kann ihren Bildungsgehalt darstellen.<br />
Aber das ist nicht ihr Kern, wenn man<br />
sieht, dass es für Jugendliche immer schwerer<br />
wird, ihre Jugend zu organisieren – im Sinne einer<br />
Experimentier- und Konfliktphase, in <strong>der</strong> vieles<br />
schief gehen, aber auch vieles gelingen kann, in<br />
<strong>der</strong> es Beziehungen braucht. Das bedeutet: Das<br />
Verhältnis Jugendarbeit und Schule ist spannend.<br />
Jugendarbeit und Schule sind zwei Pole. Man<br />
sollte die eigenständige Leistung <strong>der</strong> Jugendarbeit<br />
betrachten und nicht dauernd schauen, wie man alles<br />
unter Bildung subsumieren kann. Das eigentliche<br />
Profil von Jugendarbeit ist aus meiner Sicht<br />
immer, dass Jugend Zeit und Raum braucht, um<br />
Jugend sein zu können. Wir können noch so gebildete<br />
Leute im Sinne <strong>der</strong> formalen Bildung haben:<br />
Wenn junge Menschen die Jugend nicht als<br />
Entwicklungsphase gehabt haben, dann Gnade<br />
uns Gott. Dann bekommen wir keine Zivilgesellschaft,<br />
son<strong>der</strong>n eine Expertengesellschaft, eine<br />
von Rationalität durchtränkte Gesellschaft, die<br />
unfähig ist, mit Konflikten umzugehen, die Konflikte<br />
nicht lösen kann. Ein Schlüssel ist, dass Jugend<br />
den Raum hat, sich auszuprobieren, um partizipieren<br />
zu können, um konfliktfähig zu werden,<br />
sich etwas zu trauen und mit Grenzen umgehen zu<br />
können. Das sind alles Dinge, die man in <strong>der</strong> Jugendarbeit<br />
praktisch umsetzen kann. Doch Vorsicht:<br />
Man geht in <strong>der</strong> Jugendarbeit immer selbstverständlich<br />
davon aus – weil man keine Curricula<br />
hat wie die Schule – dass man gut und sinnvoll ist.<br />
Vieles, was in den Verbänden, in ihrer Arbeit<br />
selbstverständlich ist, wird draußen aber nicht<br />
mehr gesehen. Deswegen entstehen viele Fragen:<br />
Was lernen Jugendliche dort? Was bringen die<br />
Verbände? In <strong>der</strong> Jugendarbeit schon immer das<br />
Problem, dass sie so schwer evaluierbar ist, weil<br />
die Jugendlichen erst wenn sie älter sind spüren,<br />
was ihnen die Jugendarbeit gebracht hat. In <strong>der</strong> Jugendzeit<br />
sehen sie oft nur Selbstverständlichkeiten<br />
und Konflikte. Deshalb ist es notwendig, dass die<br />
Jugendverbände ihre Evaluationen auf die Dimension<br />
<strong>der</strong> biografischen Nachhaltigkeit ausrichten.<br />
So könnten sie sich auch besser im neueren<br />
Bildungsdiskurs zum Lebenslangen Lernen<br />
verorten.<br />
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3/2009<br />
28<br />
Partizipation konkret<br />
Erfahrungen aus dem Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung<br />
Von Kristin Napiralla<br />
Eine zentrale For<strong>der</strong>ung von Jugendverbänden<br />
ist die Partizipation von Kin<strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen. Sie wird von vielen gesellschaftlichen<br />
Akteuren/innen unterstützt und als<br />
eine wichtige jugendpolitische Zielstellung anerkannt.<br />
Unter dem Begriff Partizipation wird im<br />
Allgemeinen die Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen<br />
Prozessen verstanden. Dabei besteht<br />
in <strong>der</strong> Praxis allerdings immer die Gefahr,<br />
dass bereits die bloße Teilnahme Jugendlicher an<br />
Veranstaltungen o<strong>der</strong> Diskussionen als echte Partizipation<br />
ausgegeben wird.<br />
In solcherart Alibi-Veranstaltungen dienen die<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen dann lediglich als Dekoration<br />
und haben keine wirklichen Mitbestimmungsrechte;<br />
es handelt sich um eine „Scheinbeteiligung“.<br />
In <strong>der</strong> Definition des Deutschen<br />
<strong>Bundesjugendring</strong>s bedeutet Partizipation deshalb<br />
vor allem Gestaltungsmacht. Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
sollen die Möglichkeit haben, ihr Recht<br />
wahrzunehmen, die Gesellschaft, in <strong>der</strong> sie leben,<br />
aktiv mitzugestalten. Überall, wo Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
sich beteiligen, soll ihr Mitwirken auch<br />
Wirkung zeigen (vgl. <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong><br />
2002).<br />
Ausgehend von diesen Überlegungen hat <strong>der</strong><br />
Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> 2006 gemeinsam mit<br />
dem Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend (BMFSFJ) und <strong>der</strong> Bundeszentrale<br />
für politische Bildung (bpb) das Aktionsprogramm<br />
für mehr Jugendbeteiligung ins Leben<br />
gerufen. Unter dem Motto „Nur wer was macht,<br />
kann auch verän<strong>der</strong>n!“ för<strong>der</strong>te das Aktionsprogramm<br />
Projekte und Initiativen, in denen Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche maßgeblich in gesellschaftliche<br />
und politische Entscheidungsprozesse eingebunden<br />
werden. Ziel war neben dieser Einbindung<br />
auch die Stärkung ihres gesellschaftlichen Engagements.<br />
Außerdem sollten Erwachsene und Entscheidungsträger/innen<br />
für die Belange und Bedürfnisse<br />
von Jugendlichen sensibilisiert werden.<br />
Im Rahmen des Aktionsprogramms för<strong>der</strong>te <strong>der</strong><br />
Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> über 200 Projekte<br />
mit bis zu 5000 Euro. Alle Projekte leisteten einen<br />
Beitrag zur För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Partizipation von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen.<br />
Beson<strong>der</strong>s hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang<br />
die Methode „Come in Contract“,<br />
die in über 120 Projekten zum Einsatz kam und<br />
zum Ziel hatte, dass Verträge zwischen Jugendlichen<br />
und Personen aus Politik und Gesellschaft<br />
geschlossen werden. Der Vertragsabschluss (Contract)<br />
– das Kernelement dieser Methode – führt<br />
dazu, dass die Ideen, Wünsche und For<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen aufgrund <strong>der</strong> Verbindlichkeit einer<br />
schriftlichen Vereinbarung ernst genommen<br />
werden. So wird es möglich, dass die Jugendlichen<br />
mit ihren Vertragspartnern/innen gleichberechtigt<br />
und auf Augenhöhe miteinan<strong>der</strong> ins Gespräch<br />
kommen. Die Evaluation des Aktionsprogramms<br />
durch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) kommt zu<br />
dem Schluss, dass die Methode „Come in Contract“<br />
ein sehr wirksames Instrument ist, um Jugendliche<br />
an politische Partizipationsprozesse heranzuführen.<br />
Nicht zuletzt durch die Anbindung <strong>der</strong> Projekte<br />
an Vereine und Verbände wurde eine hohe Nachhaltigkeit<br />
des Engagements Jugendlicher erreicht.<br />
Viele Projekte konnten auch über den För<strong>der</strong>zeitraum<br />
hinaus fortgeführt o<strong>der</strong> neu aufgelegt werden.<br />
Bei einer Befragung gegen Ende <strong>der</strong> Projektlaufzeit<br />
gaben zwei Drittel <strong>der</strong> befragten<br />
Jugendlichen an, sich künftig stärker sozial zu engagieren<br />
und mehr als die Hälfte (52%) möchte<br />
sich umfassen<strong>der</strong> mit politischen Themen auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />
Durch die aktive Teilnahme an einem<br />
Projekt haben die Jugendlichen außerdem auch<br />
vielfältige persönliche Erfahrungen gewonnen. In<br />
<strong>der</strong> Auswertung gaben sie an, dass sie viel über das<br />
Projektthema erfahren haben, interessante Kontakte<br />
knüpfen konnten und gelernt haben, sich<br />
besser in einer Gruppe zu behaupten.<br />
Persönliche Entwicklung<br />
So vermitteln erste Partizipationserfahrungen<br />
nicht nur nötiges Wissen und Fähigkeiten für die<br />
weitere politische und gesellschaftliche Beteiligung,<br />
son<strong>der</strong>n sie sind auch für die persönliche<br />
Entwicklung jedes Jugendlichen hilfreich.<br />
Die Bedingungen für gelungene Partizipation<br />
sind heutzutage – zumindest theoretisch – besser<br />
denn je. Der gesellschaftliche Wertewandel von<br />
Jugend politik
materialistischen Werten hin zu postmaterialistischen,<br />
wie er von Ronald Inglehart propagiert<br />
wird, sollte zu einem gestiegenen Interesse <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
an sozialem und gesellschaftlichem Engagement<br />
führen. Durch die allgemeine Zunahme<br />
des Bildungsniveaus steigt auch die Fähigkeit zur<br />
Beteiligung. Nicht zuletzt durch neue Formen <strong>der</strong><br />
Interessenorganisation (soziale Bewegungen) und<br />
Kommunikation (Internet) entstehen auch neue<br />
und erweiterte Zugangsmöglichkeiten von Beteiligung<br />
(vgl. Forster 2007).<br />
Trotzdem beobachten Sozialwissenschaftler in<br />
den letzten Jahren eine Kluft zwischen <strong>der</strong> von Jugendlichen<br />
geäußerten Bereitschaft zur Partizipation<br />
und ihrem Interesse an Politik auf <strong>der</strong> einen<br />
Seite und ihrer tatsächlichen politischen Partizipation<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Benedikt Widmaier<br />
spricht in diesem Zusammenhang von einem „Partizipationsparadox“<br />
(vgl. Widmaier 2009, S. 215).<br />
In <strong>der</strong> Evaluation des Aktionsprogramms wird<br />
deutlich, dass sich beson<strong>der</strong>s viele besser gebildete<br />
Jugendliche mit einem hohen Interesse an Politik<br />
in Projekten engagierten. Die Mehrheit <strong>der</strong> aktiven<br />
Jugendlichen rekrutierte sich aus den Jugendverbänden<br />
und konnte bereits auf erste (positive) Partizipationserfahrungen<br />
zurückblicken. Dies be-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
deutet im Umkehrschluss, dass politische Bildung<br />
und möglichst frühzeitige Beteiligungserlebnisse<br />
zur Lösung des Partizipationsparadox´ beitragen<br />
könnten. Partizipationskompetenz ist in diesem<br />
Sinne weniger Voraussetzung als vielmehr Folge<br />
von partizipativen Prozessen. Zivilgesellschaftliche<br />
Organisationen, Schulen und die Jugendverbände<br />
können dabei die Aufgabe übernehmen, Jugendliche<br />
bei <strong>der</strong> Aneignung politischen Wissens<br />
und dem Erwerb von Praxiserlebnissen gesellschaftlicher<br />
Teilhabe zu unterstützen.<br />
Wirksames Instrument<br />
Wie bereits erwähnt ist die Methode „Come in<br />
Contract“ ein wirksames Instrument, um Jugendliche<br />
an Partizipation heranzuführen. Dennoch<br />
findet sich auch hier ein interessantes und eher unerwartetes<br />
Resultat in <strong>der</strong> Evaluation des DJI.<br />
Dieses betrifft den Zusammenhang zwischen politischem<br />
Interesse und dem Verständnis für politische<br />
Prozesse, <strong>der</strong> zu zwei Befragungszeitpunkten<br />
erhoben wurde. Während zu Beginn <strong>der</strong><br />
Projekte noch 61% <strong>der</strong> Jugendlichen angaben,<br />
„sehr“ o<strong>der</strong> „ziemlich“ an Politik interessiert zu<br />
sein, waren es zu Projektende nur noch 53%.<br />
29
3/2009<br />
Die Ergebnisse dieser Selbsteinschätzung sind<br />
weitgehend unabhängig von sozialer Herkunft und<br />
Bildungsniveau <strong>der</strong> Befragten. Der Anteil <strong>der</strong> „gar<br />
nicht Interessierten“ verdoppelte sich in <strong>der</strong> Projektlaufzeit<br />
annähernd (von 12% auf 21%).<br />
Gleichzeitig gab über die Hälfte <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
an, dass ihr Verständnis für Politik gestiegen sei.<br />
Dieses Ergebnis scheint nahe zu legen, dass ein<br />
besseres Verständnis für Politik zu einem geringeren<br />
Interesse an Politik führt. Handelt es sich gewissermaßen<br />
um einen Realitätsschock, <strong>der</strong> zu einer<br />
gestiegenen Politikverdrossenheit beiträgt?<br />
Eine Erklärung könnte sein, dass eine Diskrepanz<br />
zwischen den Erwartungen <strong>der</strong> Jugendlichen zu<br />
Projektbeginn und den tatsächlich erreichten Ergebnissen<br />
besteht. Zwar fühlten sich 82% <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
von den Vertragspartnern/innen ernst<br />
genommen, doch äußerten immerhin 42% die Befürchtung,<br />
dass die Zusammenarbeit nur ein Strohfeuer<br />
und nicht von langer Dauer sei. Gerade bei<br />
Projekten, die Vertragsabschlüsse mit Politikern/innen<br />
auf Bundesebene anstrebten, zeigte<br />
sich häufig, dass die Vereinbarungen zum Bedauern<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen sehr allgemein formuliert<br />
wurden o<strong>der</strong> nur schwer nachprüfbar waren. Erkennbar<br />
ist hier auch eine Diskrepanz zwischen<br />
dem Interesse <strong>der</strong> Jugendlichen (Bundesebene)<br />
und den tatsächlichen Umsetzungsmöglichkeiten<br />
(kommunale Ebene).<br />
Ein Großteil <strong>der</strong> Jugendlichen interessiert sich<br />
eher für Bundespolitik, weniger Schwierigkeiten<br />
bei <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> Projekte haben allerdings<br />
Jugendliche mit kommunalen Vertragspartnern/innen.<br />
Resultierende Frustrationen und Vertrauensverluste<br />
<strong>der</strong> Projektteilnehmer/innen werden<br />
aus diesem Blickwinkel verständlich. Dies<br />
trifft insbeson<strong>der</strong>e dann zu, wenn man die in <strong>der</strong><br />
Jugend- und Partizipationsforschung verbreitete<br />
These in Betracht zieht, dass Selbstwirksamkeit<br />
(„political efficacy“) ein entscheiden<strong>der</strong> Antrieb<br />
für politische Partizipation ist. Umgekehrt verstärkt<br />
die aktive Beteiligung an politischen Prozessen<br />
die selbst wahrgenommene politische<br />
Kompetenz einer Person (vgl. Widmaier 2009).<br />
Kausalbeziehung<br />
Zwischen politischer Partizipation und selbst<br />
eingeschätzter politischer Handlungskompetenz<br />
besteht somit eine wechselseitige Kausalbeziehung.<br />
Für die Praxis <strong>der</strong> Jugendarbeit bedeutet<br />
dies, dass Projekte so gestaltet werden sollten,<br />
dass Jugendliche in ihrer politischen Selbstwirksamkeit<br />
bestätigt werden. Dies ist vor allem dann<br />
30<br />
<strong>der</strong> Fall, wenn die Ergebnisse politischer Beteiligung<br />
für junge Menschen positiv und unmittelbar<br />
erfahrbar sind. An<strong>der</strong>nfalls können bei enttäuschten<br />
Erwartungen und bescheidenen Resultaten<br />
auch Effekte wie ein steigendes Desinteresse an<br />
Politik auftreten. Die vorangegangenen Ausführungen<br />
verdeutlichen aber auch, wie wichtig es generell<br />
ist, jungen Menschen Gelegenheiten zu bieten,<br />
an politischen Aktionen zu partizipieren und<br />
so die Entwicklung ihrer Handlungskompetenzen<br />
in diesem Feld zu unterstützen.<br />
An<strong>der</strong>e Zugangswege<br />
Im Rahmen des Aktionsprogramms zeigte sich<br />
außerdem, dass nicht alle Gruppen von Jugendlichen<br />
gleichermaßen für Partizipationsprojekte erreichbar<br />
sind. Deutlich besser zu erreichen sind Jugendliche,<br />
die bereits verbandlich organisiert sind,<br />
ein höheres Bildungsniveau und keinen Migrationshintergrund<br />
haben. Für die Ansprache sozial<br />
benachteiligter Jugendlicher bedarf es demnach<br />
<strong>der</strong> Entwicklung neuer Zugangswege und <strong>der</strong><br />
Schaffung langfristigerer Projektstrukturen. Da<br />
Partizipation nicht umsonst zu haben ist, müssen<br />
Budgets so gestaltet werden, dass den vielfältigen<br />
Ansprüchen an Beteiligung Rechnung getragen<br />
wird. Der Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> for<strong>der</strong>t deshalb<br />
eine ausreichende finanzielle Ausstattung <strong>der</strong><br />
Jugendverbände, um Planungssicherheit durch<br />
langfristige För<strong>der</strong>vereinbarungen sicherzustellen<br />
und so eine nachhaltige und integrative Partizipationsför<strong>der</strong>ung<br />
zu ermöglichen (DBJR 2004, S. 3).<br />
Um neben dem Interesse an Politik und <strong>der</strong> Beteiligungsbereitschaft<br />
auch tatsächliche politische<br />
Partizipation zu för<strong>der</strong>n, muss die Attraktivität<br />
von Beteiligungsmaßnahmen für Jugendliche gegeben<br />
sein. Dies ist vor allem dann <strong>der</strong> Fall, wenn<br />
junge Menschen selbstbestimmt Themen aus ihrer<br />
Lebenswelt auswählen können, für die sie sich<br />
engagieren möchten. Wichtig ist dabei auch, dass<br />
den Jugendlichen ein hohes Maß an Verantwortung<br />
und Selbstbestimmungsmöglichkeiten eingeräumt<br />
wird, so dass ihre Beteiligung erfahrbare<br />
Ergebnisse bewirkt. Die Erfahrung zeigt, dass sich<br />
direkte Mitbestimmung von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
am einfachsten auf lokaler Ebene realisieren<br />
lässt. Die Erfolge von Partizipation werden so<br />
für junge Menschen unmittelbar erfahrbar, stärken<br />
das Selbstvertrauen in die eigene Wirksamkeit<br />
und erhöhen damit die Motivation zu weiterem<br />
Engagement.<br />
Jede Demokratie ist auf aktive Mitgestaltung<br />
<strong>der</strong> Bürger/innen – im Sinne <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit<br />
Jugend politik
gerade auch auf die Beteiligung junger Menschen<br />
– angewiesen. Neben <strong>der</strong> projektbezogenen Partizipation<br />
Jugendlicher wären auch verstärkte Einflussmöglichkeiten<br />
an politischen Entscheidungen<br />
wünschenswert. Dies wäre denkbar, indem<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen die Teilnahme an Wahlen<br />
und Abstimmungen ermöglicht wird. Der<br />
Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> setzt sich deshalb für<br />
eine Senkung des aktiven Wahlalters auf 14 Jahre<br />
ein. Wenn junge Menschen sich aktiv an Politik<br />
und Gesellschaft beteiligen sollen, muss ihnen<br />
auch eine konkrete Entscheidungs- und Gestaltungsmacht<br />
zugestanden werden.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche verfügen über das nötige<br />
Interesse und die Kompetenzen, ihre Ideen,<br />
Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren. Für den<br />
Erhalt und die Weiterentwicklung einer demokratischen<br />
Gesellschaft ist es unabdingbar, dass diese<br />
For<strong>der</strong>ungen ernst genommen und unterstützt werden.<br />
Die Jugendverbände können und werden sich<br />
auch weiterhin dafür einsetzen, dass Partizipation<br />
von jungen Menschen keine Absichtserklärung<br />
bleibt, son<strong>der</strong>n zur politischen und gesellschaftlichen<br />
Realität wird.<br />
Literatur<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong> (2002): Mitwirkung mit Wirkung.<br />
Position 12. Berlin.<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong> (2004): Jugend braucht Gestaltungsmacht.<br />
Position 35. Berlin.<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundesjugendring</strong> (2008): Partizipation in Jugendverbänden.<br />
Schriftenreihe 48. Berlin.<br />
Deutsches Jugendinstitut (2009): Kurzzusammenfassung <strong>der</strong><br />
Evaluation des Aktionsprogramms für mehr Jugendbeteiligung.<br />
München.<br />
Forster, Rudolf (2007): Partizipation. Universität Wien. Institut<br />
für Soziologie.<br />
Inglehart, Ronald (1998): Mo<strong>der</strong>nisierung und Postmo<strong>der</strong>nisierung.<br />
Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel.<br />
Campus Verlag GmbH.<br />
Widmaier, Benedikt (2009): Wie<strong>der</strong>aneignung des Politischen.<br />
Das Partizipationsparadox und die Jugendarbeit. In: Deutsche<br />
Jugend, 57. Jg., Heft 5.<br />
Jugend politik<br />
Kristin Napieralla<br />
war Projektleiterin des Aktionsprogramm<br />
für mehr Jugendbeteiligung und leitet nun<br />
das Jugendbeteiligungsprojekt zum NAP.<br />
3/2009<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendbeteiligung<br />
Durch das „Projekt Kin<strong>der</strong>- und Jugendbeteiligung an <strong>der</strong><br />
Umsetzung des NAP für ein kin<strong>der</strong>gerechtes Deutschland<br />
2005 bis 2010“ sollen Kin<strong>der</strong> und Jugendliche dazu ermutigt<br />
werden, sich mit den Inhalten und Themenfel<strong>der</strong>n des Nationalen<br />
Aktionsplans für ein kin<strong>der</strong>gerechtes Deutschland<br />
auseinan<strong>der</strong> zu setzen, Projekte anzustoßen, For<strong>der</strong>ungen zu<br />
formulieren und Aktionen zu starten.<br />
Folgende Ziele wurden dem Projekt gestellt:<br />
Der Bekanntheitsgrad des NAP wird bei Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
erhöht.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche kennen den NAP nicht nur, son<strong>der</strong>n<br />
machen sich die Themen und For<strong>der</strong>ungen zu Eigen, ergänzen<br />
diese, entwickeln sie weiter und arbeiten gemeinsam<br />
an einem kin<strong>der</strong>gerechten Deutschland.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche werden dabei auch den gesamten<br />
Prozess zu einem kin<strong>der</strong>gerechten Deutschland konstruktiv<br />
begleiten. Ihre Ansichten und Erfahrungen fließen in die<br />
Umsetzung und Weiterentwicklung des NAP ein, sodass die<br />
Beteiligung von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen Wirkung zeigen<br />
kann, nicht nur an einzelnen Orten wo Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
aktiv werden, son<strong>der</strong>n auch bundesweit.<br />
Die Art und Weise <strong>der</strong> Beteiligung können die Mitgliedsorganisationen<br />
des Deutschen <strong>Bundesjugendring</strong>s o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en<br />
Mitgliedsorganisationen bzw. Unterglie<strong>der</strong>ungen sowie die<br />
<strong>der</strong> Servicestelle für Jugendbeteiligung angeschlossenen Initiativen<br />
frei wählen.<br />
Je nach gewählter Methode können Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
in Gruppen vor Ort aktiv werden o<strong>der</strong> sich in zentraleren Angeboten<br />
auf Regional-, Landes- o<strong>der</strong> Bundesebene engagieren.<br />
Die jeweilige Organisation wählt die für ihren Hintergrund,<br />
ihre Zielgruppe und die von ihr ausgewählten<br />
Themenkomplexe geeigneten Methoden und Orte. Ziel ist es<br />
dabei natürlich immer, dass Kin<strong>der</strong> und Jugendliche sich<br />
zum NAP und seiner Umsetzung konkret einmischen und beteiligen<br />
können. Die Aktivitäten können vom Aufstellen von<br />
For<strong>der</strong>ungen bis zum „Selbst-Aktiv-werden“ gehen, vom<br />
(kreativen) Darstellen <strong>der</strong> Vorstellungen von einer kin<strong>der</strong>gerechteren<br />
Welt bis zum politischen Einfor<strong>der</strong>n und dem<br />
Versuch, die jeweilige Lebensumwelt kin<strong>der</strong>gerechter zu gestalten.<br />
31
3/2009<br />
32<br />
Die EU-Jugendstrategie<br />
Eine Zusammenfassung des Dokumentes <strong>der</strong> Europäischen Kommission<br />
Die Europäische Union widmet jungen<br />
Menschen eine eigene Strategie. Sie beschreibt<br />
darin die Herausfor<strong>der</strong>ungen für<br />
die <strong>Zukunft</strong> und formuliert Ziele, die von <strong>der</strong> Europäischen<br />
Union selbst, viel stärker aber noch<br />
von den Mitgliedsstaaten erreicht werden sollen.<br />
Getragen wird die Europäische Jugendstrategie<br />
von dem Gedanken: „Die europäische Jugend<br />
muss darauf vorbereitet werden, Chancen wie<br />
Bürgerbeteiligung und politische Partizipation,<br />
Freiwilligentätigkeit, Kreativität, unternehmerische<br />
Initiative, Sport und internationales Engagement<br />
zu nutzen.“<br />
Die EU-Jugendstrategie konstatiert, dass <strong>der</strong><br />
größte Teil <strong>der</strong> jungen Menschen gut gebildet ist,<br />
dem technischen Fortschritt folgen kann und sehr<br />
mobil ist. Werte spielen für Jugendliche in Europa<br />
eine große Rolle, etwa Freundschaft, Respekt, Toleranz<br />
und Solidarität. Dem entgegen steht, dass in<br />
Europa ein hoher Wettbewerbsdruck besteht und<br />
Chancengerechtigkeit aus unterschiedlichen Gründen<br />
nicht erreicht ist. Die aktuelle Lage steht ebenfalls<br />
quer zum Potenzial junger Menschen und zu<br />
ihren Werten. Im Bildungsbereich etwa sind die<br />
Strukturen und Lehrpläne nicht den künftigen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
gewachsen, die Situation auf den Finanzmärkten<br />
schränkt die Spielräume <strong>der</strong> heute<br />
jungen Generation ein und <strong>der</strong> Arbeitsmarkt ist europaweit<br />
labil. Wenn es nicht explizit als Defizit in<br />
<strong>der</strong> EU-Jugendstrategie analysiert wird, dann steht<br />
es wenigstens zwischen den Zeilen.<br />
Für Jugendliche relevant sind die demografischen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, die bereits ablaufen und<br />
künftig zu erwarten sind. Familienstrukturen verän<strong>der</strong>n<br />
sich bereits seit längerem, Solidarität innerhalb<br />
einer Generation und zwischen den Generationen<br />
schwindet, auch das<br />
Wirtschaftswachstum ist nicht mehr programmiert.<br />
Es bedarf also dringend einer Strategie, die<br />
Jugendliche einbindet, ihre Themen auf die Tagesordnung<br />
holt und das „junge Humankapital“<br />
mitarbeiten lässt.<br />
Die Werkzeuge dazu sind in Europa vorhanden.<br />
In <strong>der</strong> EU-Jugendstrategie wird die Offene<br />
Methode <strong>der</strong> Koordinierung (OMK) als sinnvolles<br />
und gutes Mittel herausgestellt. „Insgesamt gilt die<br />
OMK als geeignetes Instrument für die Zusam-<br />
menarbeit, und ihre Prioritäten haben noch immer<br />
Gewicht“, heißt es in <strong>der</strong> EU-Jugendstrategie und<br />
weiter: „Die Koordinierung geht nicht weit genug,<br />
um alle Probleme zu erfassen. Es besteht Einigkeit<br />
darüber, dass ein stärker bereichsübergreifen<strong>der</strong><br />
Ansatz erfor<strong>der</strong>lich ist, wie dies auch das Europäische<br />
Parlament im Jahr 2008 in einer Erklärung<br />
zur verstärkten Einbeziehung <strong>der</strong> Jugend in die<br />
EU-Politikbereiche gefor<strong>der</strong>t hat.“ Kurzum: Die<br />
OMK muss flexibler und einfacher werden, wenn<br />
sie Erfolg bringen soll.<br />
Mitspracherecht verankert<br />
Das Mitspracherecht junger Menschen hat die<br />
EU verankert, jedoch nicht näher definiert. Im<br />
strukturierten Dialog sind Jugendliche bereits einbezogen,<br />
wenn auch nicht weit genug. In <strong>der</strong> aktuellen<br />
EU-Jugendstrategie wird deswegen gefor<strong>der</strong>t,<br />
den strukturierten Dialog besser zu<br />
organisieren und vor allem nicht-organisierte und<br />
benachteiligte Jugendliche darin einzubeziehen.<br />
Alles in allem führt das zu einem neuen Verständnis<br />
von Jugendpolitik in <strong>der</strong> Europäischen<br />
Union. „Angestrebt wird eine stärkere Zusammenarbeit<br />
zwischen Jugendpolitik und an<strong>der</strong>en<br />
Politikbereichen wie Bildung, Beschäftigung, Integration<br />
und Gesundheit, wobei Jugendaktivitäten<br />
und Jugendarbeit eine wichtige Rolle spielen<br />
sollen“, heißt es in <strong>der</strong> EU-Jugendstrategie. Insgesamt<br />
acht Aktionsbereiche beschreibt die Stragetie<br />
deswegen genauer und nennt darin konkrete<br />
Ziele:<br />
Bildung: „Neben <strong>der</strong> formalen Bildung sollte<br />
als Beitrag zum Lebenslangen Lernen in Europa<br />
die nichtformale Bildung für junge Menschen unterstützt<br />
werden, indem die Qualität dieser Bildung<br />
verbessert wird, ihre Ergebnisse anerkannt<br />
werden und sie besser in die formale Bildung integriert<br />
wird.“ Von den Mitgliedstaaten erwartet<br />
die Europäische Union unterschiedliche Maßnahmen,<br />
eine davon ist, partizipative Strukturen innerhalb<br />
des Bildungssystems aufzubauen und damit<br />
die Zusammenarbeit zwischen Schulen,<br />
Familien und lokalen Gemeinschaften zu verbessern.<br />
Beschäftigung: „Die beschäftigungspolitischen<br />
Maßnahmen in den Mitgliedstaaten und auf EU-<br />
Jugend politik
Ebene sollten gemäß den vier Komponenten <strong>der</strong><br />
Flexicurity koordiniert werden, um den Übergang<br />
von <strong>der</strong> Schule zur Beschäftigung o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Erwerbs-<br />
o<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit zur Beschäftigung<br />
zu erleichtern. Haben die jungen Menschen erst<br />
einmal eine Arbeit, so sollten sie dabei unterstützt<br />
werden, beruflich voranzukommen.“ Neben dem<br />
Abbau <strong>der</strong> Hin<strong>der</strong>nisse für die Freizügigkeit <strong>der</strong><br />
Arbeitnehmer in <strong>der</strong> EU sollen als konkrete Maßnahme<br />
hochwertige Praktika im Rahmen von Bildung<br />
und Berufsbildung und/o<strong>der</strong> Beschäftigungsprogrammen<br />
geför<strong>der</strong>t werden.<br />
Kreativität und unternehmerische Initiative:<br />
„Die Talententwicklung, die kreativen Fähigkeiten,<br />
die unternehmerische Initiative und <strong>der</strong> kulturelle<br />
Ausdruck sollten bei allen jungen Menschen<br />
geför<strong>der</strong>t werden.“ Das bedeutet unter<br />
an<strong>der</strong>em, den Zugang zu kreativen Instrumenten<br />
im Bereich neuer Technologien auszubauen.<br />
Gesundheit und Sport: „För<strong>der</strong>ung eines gesunden<br />
Lebensstils junger Menschen, körperlicher<br />
und sportlicher Aktivitäten sowie <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />
zwischen Jugendarbeitern,<br />
Gesundheitsexperten und Sportverbänden, um<br />
Übergewicht, Verletzungen, Drogenabhängigkeit<br />
und -missbrauch vorzubeugen und zu bekämpfen<br />
und die sexuelle und psychische Gesundheit <strong>der</strong><br />
Jugend zu bewahren“. Ein konkreter Schritt ist aus<br />
Sicht <strong>der</strong> EU für die Mitgliedstaaten, das Peer-Lernen<br />
in Gesundheitsfragen in Schulen und Jugendorganisationen<br />
zu för<strong>der</strong>n.<br />
Partizipation: „Sicherstellung <strong>der</strong> umfassenden<br />
Partizipation <strong>der</strong> Jugend an <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />
indem die Jugend stärker in das staatsbürgerliche<br />
Leben <strong>der</strong> lokalen Gemeinschaft und in die repräsentative<br />
Demokratie einbezogen wird, und<br />
zwar durch die Unterstützung von Jugendorganisationen<br />
sowie verschiedener Formen des Erwerbs<br />
von Partizipationskompetenz, durch die För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Partizipation nichtorganisierter junger<br />
Menschen und durch qualitativ hochwertige Informationsdienste.“<br />
Dazu müssen Qualitätsstandards<br />
für Partizipation, Information und Konsultation<br />
<strong>der</strong> Jugend entwickelt werden.<br />
Soziale Integration: „Verhütung von Armut<br />
und sozialer Ausgrenzung benachteiligter Gruppen<br />
junger Menschen und Unterbrechung <strong>der</strong> Vererbung<br />
dieser Probleme von einer Generation an<br />
die nächste, indem alle betroffenen Akteure (Eltern,<br />
Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Gesundheitsexperten,<br />
Jugendarbeiter, die jungen Menschen<br />
selbst, Polizei und Justiz, Arbeitgeber usw.) einbezogen<br />
werden“ lautet das Ziel in diesem Bereich.<br />
Ein Mittel ist, die Möglichkeiten, die Ju-<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
gendarbeit und Jugendzentren zur Integration beisteuern<br />
können, voll auszuschöpfen.<br />
Das Ziel <strong>der</strong> Freiwilligentätigkeit<br />
Freiwilligentätigkeit: „Unterstützung von Freiwilligentätigkeiten<br />
junger Menschen durch Ausbau<br />
<strong>der</strong> Zahl von Freiwilligenplätzen, Erleichterung<br />
von Freiwilligentätigkeiten durch die<br />
Beseitigung von Hin<strong>der</strong>nissen, Sensibilisierung<br />
für den Wert von Freiwilligentätigkeiten, Anerkennung<br />
von Freiwilligentätigkeiten als wichtige<br />
Form <strong>der</strong> nichtformalen Bildung und Stärkung<br />
<strong>der</strong> grenzüberschreitenden Mobilität junger Menschen.“<br />
Um dieses Ziel zu erreichen, ist zu diskutieren,<br />
wie die Rechte von Freiwilligen besser geschützt<br />
und die Qualität von Freiwilligentätigkeiten<br />
sichergestellt werden können. Junge<br />
Menschen und <strong>der</strong>en Organisationen könnten dazu<br />
anlässlich eines möglichen Europäischen Jahres<br />
<strong>der</strong> Freiwilligentätigkeit (2011) eingebunden werden.<br />
Jugend und die Welt: „Einbeziehung <strong>der</strong> Jugend<br />
in die globale Politik auf allen Ebenen (lokal,<br />
national und international) im Rahmen existieren<strong>der</strong><br />
Jugendnetze und Instrumente (z. B. strukturierter<br />
Dialog) und Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />
Klimawandel und den Millenium-Entwicklungszielen<br />
<strong>der</strong> Vereinten Nationen“ lautet das Ziel in<br />
diesem Bereich. Konkret kann das zum Beispiel<br />
heißen, nachhaltige Verbrauchs- und Produktionsmuster<br />
junger Menschen zu unterstützen.<br />
Eine Bedeutung kommt laut EU-Jugendstrategie<br />
bei allen Maßnahmen <strong>der</strong> Jugendarbeit selbst<br />
zu. "Die Jugendarbeit sollte unterstützt, für ihren<br />
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag<br />
anerkannt und professioneller gestaltet werden",<br />
heißt es in dem Papier.<br />
[msch]<br />
Das Papier im Original unter:<br />
http://eur-lex.europa.eu<br />
33
3/2009<br />
Stellungnahme zur EU-Jugendstrategie<br />
Der Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> zur Mitteilung<br />
<strong>der</strong> EU-Kommission für eine EU-Jugendstrategie<br />
Die Europäische Kommission legte im<br />
April 2009 ihre Mitteilung „Eine EU-Strategie<br />
für die Jugend – Investitionen und<br />
Empowerment“ vor. Diese Mitteilung ist die<br />
Grundlage für Beratungen zur Nachfolge des<br />
„Rahmens <strong>der</strong> europäischen Zusammenarbeit im<br />
Jugendbereich“, <strong>der</strong> dieses Jahr ausläuft. Die Jugendstrategie<br />
soll bis 2018 gelten und vom EU-<br />
Rat beschlossen werden. Dabei wird eine neue<br />
Etappe beschritten: Erstmals wird es nicht nur einen<br />
europäischen „Rahmen“, son<strong>der</strong>n eine „Strategie“,<br />
einschließlich <strong>der</strong> Benennung von künftigen<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen und Prioritäten sowie von<br />
Verfahren und Instrumenten, geben.<br />
Mit den vorliegenden Einschätzungen beteiligt<br />
sich <strong>der</strong> DBJR am nationalen Dialog <strong>der</strong> Bundesregierung<br />
zur vorgeschlagenen Jugendstrategie.<br />
Vom alten zum neuen Rahmen<br />
Die Revision des europäischen Rahmens geschieht<br />
mit großem Vorlauf, so dass eine Einbindung<br />
aller Akteure möglich gewesen wäre. Lei<strong>der</strong><br />
hat die EU-Kommission die Beteiligten lange<br />
nicht in einer transparenten Weise über die jeweiligen<br />
Schritte des Prozesses informiert. Trotz ihres<br />
eigentlich hohen Konsultationsanspruchs verfolgte<br />
sie bisweilen ihre eigene Agenda. Aufgrund<br />
<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen Signale an nationale Regierungen,<br />
Ministerien und die Jugendarbeit lässt<br />
sich kaum nachvollziehen, inwieweit die Erkenntnisse<br />
aus dem Konsultationsverfahren tatsächlich<br />
berücksichtigt werden.<br />
Der Strukturierte Dialog mit <strong>der</strong> Jugend ist<br />
nach wie vor ein „zartes Pflänzchen“, das zumindest<br />
auf europäischer Ebene umgesetzt zu werden<br />
schien. Jedoch hat die Kommission ohne jegliche<br />
Benachrichtigung den Strukturierten Dialog in<br />
diesem Jahr ausgesetzt. Die halbjährlichen Treffen<br />
zwischen EU-Kommission, den Jugendministerien<br />
und den nationalen Jugendringen wurde trotz<br />
mehrfacher Nachfragen nicht einberufen. Das<br />
Treffen ist seit Januar überfällig. Wenn Prozesse<br />
wie <strong>der</strong> Strukturierte Dialog nach nur zwei Jahren<br />
ohne Ankündigung ausgesetzt werden, gehen auf-<br />
34<br />
grund <strong>der</strong> fehlenden Kontinuität bereits erreichte<br />
Ergebnisse verloren. Die Glaubwürdigkeit des gesamten<br />
jugendpolitischen Rahmens wird in Frage<br />
gestellt, da er den Strukturierten Dialog als ein<br />
zentrales Element beinhaltet.<br />
Die neue Strategie beschreibt umfangreiche<br />
Konsultationsverfahren, die im Rahmen <strong>der</strong> Evaluierung<br />
des existierenden Rahmens stattgefunden<br />
haben. Die Unterstreichung dieses Aspekts ist erfreulich,<br />
an<strong>der</strong>erseits muss kritisch hinterfragt<br />
werden, inwieweit nachprüfbare Ergebnisse vorliegen<br />
und an einer zentralen Stelle zugreifbar<br />
sind. Es wird nach wie vor nicht darauf eingegangen,<br />
wie Ergebnisse aus Konsultationsverfahren<br />
bewertet werden (z. B. aus <strong>der</strong> Europäischen<br />
Jugendwoche). Aus Sicht des DBJR muss die EU-<br />
Kommission, die hier die „Spielregeln“ festlegt,<br />
ebenfalls die dazugehörigen Mechanismen zur Ergebnissicherung<br />
präsentieren. Einbindung vieler<br />
Akteure funktioniert nur, wenn ihre Beiträge auch<br />
sichtbar gemacht werden.<br />
Offen ist darüber hinaus, wie die „Übersetzung“<br />
für einbezogene Jugendliche erfolgen kann.<br />
Die Kommission hebt nichtorganisierte Jugend<br />
und insbeson<strong>der</strong>e benachteiligte Gruppen als beson<strong>der</strong>s<br />
wichtig hervor. Aufgrund <strong>der</strong> bisherigen<br />
Erfahrungen stellt die Übersetzung von „EU-<br />
Sprech“ selbst für gut integrierte Jugendliche eine<br />
nicht zu unterschätzende Herausfor<strong>der</strong>ung dar.<br />
Nahezu erschreckend sind die Formulierungen<br />
im Einführungsabschnitt <strong>der</strong> neuen Strategie:<br />
Jugend wird in erster Linie als „Humankapital, das<br />
gehegt und gepflegt“ werden müsse, bezeichnet.<br />
Dies findet sich mit unterschiedlichen Bezeichnungen<br />
gleich mehrfach im vorgeschlagenen Text<br />
– es ist die Rede von „Potenzial ausschöpfen“<br />
o<strong>der</strong> einer „kritischen Ressource“. Die Strategie<br />
macht kein Hehl daraus, dass man Jugend vor allem<br />
unter dem Aspekt <strong>der</strong> <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit betrachtet.<br />
Jugendliche werden hier zum Objekt von<br />
Politik, individuelle Entwicklung und Persönlichkeitsentfaltung<br />
geraten in den Hintergrund.<br />
Wenn die neue Strategie davon spricht, die<br />
„gegenseitige Solidarität zwischen Gesellschaft<br />
und jungen Menschen för<strong>der</strong>n“ zu wollen, gewinnt<br />
man den Eindruck, dass Jugend nicht als es-<br />
Jugend politik
senzieller Teil <strong>der</strong> Gesellschaft gesehen wird.<br />
Auch dass die EU-Kommission eine Untersuchung<br />
über den ökonomischen und sozialen Einfluss<br />
von Jugendarbeit stellen möchte, schlägt in<br />
diese Kerbe.<br />
OMK und Strukturierter Dialog<br />
Die offene Methode <strong>der</strong> Koordinierung (OMK)<br />
gibt den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit voneinan<strong>der</strong><br />
zu lernen, ohne dass eine Steuerung von<br />
Brüssel aus nötig ist. Die Kommission schätzt die<br />
OMK als geeignetes Instrument mit relevanten<br />
Prioritäten ein. Auch wenn wir in Deutschland<br />
die OMK oftmals kritisch betrachten, so muss<br />
doch festgehalten werden, dass sie gerade in Län<strong>der</strong>n<br />
mit geringer jugendpolitischer Tradition als<br />
„Türöffner“ verstanden wird. Daher begrüßt <strong>der</strong><br />
DBJR grundsätzlich die Festhaltung an diesem<br />
Instrument.<br />
Dennoch ist dringend Nachbesserung nötig:<br />
Die OMK leidet nach wie vor an einem übermäßig<br />
aufwändigen Berichtswesen, das in den Mitgliedsstaaten<br />
eher als Verpflichtung denn als Instrument<br />
für gegenseitiges Lernen wahrgenommen<br />
wird. Solange nicht alle Mitgliedsstaaten ihre Berichte<br />
öffentlich zugänglich machen, ist auch die<br />
Transparenz dieses Verfahrens nicht gegeben: Die<br />
von <strong>der</strong> EU-Kommission vorgestellten zusammenfassenden<br />
Berichte verkürzen die Ergebnisse,<br />
so dass <strong>der</strong> Erkenntnisgewinn weit hinter dem<br />
Möglichen zurück bleibt. Auch deshalb erscheint<br />
das momentan so herausgestellte „peer learning“<br />
als angeblich neue Zielrichtung zwischen den Mitgliedsstaaten<br />
verlockend.<br />
Die EU-Kommission verwendet den Begriff<br />
des „peer learning“ in verschiedener, nicht klar<br />
voneinan<strong>der</strong> abgegrenzter Weise. Das seit langem<br />
eingeführte Verständnis hinsichtlich peer learning<br />
von Individuen in Kleingruppen wird überlagert<br />
durch ein zusammenhanglos eingeführtes „peer<br />
learning“ zwischen Mitgliedsstaaten. Letzteres<br />
hätte bereits im Rahmen <strong>der</strong> OMK passieren sollen.<br />
Die neue Strategie schlägt zahlreiche wichtige<br />
Themen vor, die im Rahmen <strong>der</strong> OMK bearbeitet<br />
werden sollen. Daran sollte festgehalten werden.<br />
Je nach Situation <strong>der</strong> einzelnen Mitgliedsstaaten<br />
sollte jedoch die Möglichkeit für eine Einengung<br />
dieses umfangreichen Themenportfolios bestehen.<br />
Das Herausgreifen von Schwerpunkten und einer<br />
Clusterbildung würde langfristig auch den weniger<br />
damit beschäftigten Mitgliedsstaaten einen<br />
Vorteil bringen, da sie von den Erfahrungen profitieren<br />
können.<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
Der Strukturierte Dialog mit <strong>der</strong> Jugend soll<br />
auf allen Ebenen junge Menschen an <strong>der</strong> Entwicklung<br />
europäischer Politik beteiligen. Dass<br />
dieser Dialog verbesserungswürdig ist, steht außer<br />
Frage; hier sind sich vermutlich alle Akteure einig.<br />
Der DBJR begrüßt daher ausdrücklich die vorgeschlagene<br />
gemeinsame Arbeitsgruppe <strong>der</strong> EU-<br />
Kommission mit den Mitgliedsstaaten und dem<br />
Europäischen Jugendforum ab 2010, die den<br />
Strukturierten Dialog überarbeiten soll – insbeson<strong>der</strong>e<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Einbindung <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Ebenen, nichtorganisierter Jugendlicher,<br />
<strong>der</strong> Rolle von EU-Events und Follow-ups.<br />
Der DBJR begrüßt ebenso, dass die Themensetzung<br />
im Strukturierten Dialog künftig mit den<br />
Teilnehmenden gemeinsam vorgenommen werden<br />
soll. Allerdings schlägt die EU-Kommission<br />
bereits „Jugendbeschäftigung“ für 2010 und „Jugend<br />
und die Welt“ für 2011 vor. Es erstaunt, dass<br />
das für 2011 ausgerufene Europäische Jahr <strong>der</strong><br />
Freiwilligkeit hier keine Beachtung findet.<br />
Zugleich schlägt die Strategie eine engere Verzahnung<br />
<strong>der</strong> aktiven Politikfel<strong>der</strong> vor und erinnert<br />
daran, dass <strong>der</strong> Jugendpakt Jugendthemen innerhalb<br />
<strong>der</strong> Lissabon-Strategie insgesamt einen größeren<br />
Platz verschafft hat. Dennoch müssen auch<br />
alle Fel<strong>der</strong> des Paktes berücksichtigt werden.<br />
EU-Kommission und Mitgliedsstaaten sollen<br />
Gelegenheiten <strong>der</strong> „Debatte“ zwischen europäischen/<br />
nationalen Institutionen und jungen Menschen<br />
weiterentwickeln und möchten darüber hinaus<br />
Qualitätsstandards für Jugendbeteiligung,<br />
-information und -konsultation zwischen <strong>der</strong> EU-<br />
Kommission und den Mitgliedsstaaten erarbeiten.<br />
Hier könnten Jugendliche und ihre Strukturen sicherlich<br />
einen wertvollen Beitrag leisten!<br />
Die Zielformulierung <strong>der</strong> neuen Strategie, neben<br />
<strong>der</strong> formalen Bildung auch nichtformale Bildung<br />
zu unterstützen, ist zu begrüßen. Gleichzeitig<br />
irritiert <strong>der</strong> Wunsch <strong>der</strong> EU-Kommission,<br />
nichtformale Bildung in die formale Bildung „besser“<br />
zu integrieren. Dies wi<strong>der</strong>spricht den zugrunde<br />
liegenden Aspekten bei<strong>der</strong> Ansätze.<br />
E-Demokratie<br />
E-Demokratie soll vor allem für nichtorganisierte<br />
Jugendliche weiter entwickelt werden; allerdings<br />
geht die Strategie nicht darauf ein, was<br />
damit genau gemeint ist. Es ist zu befürchten,<br />
dass über solche Instrumente gerade nicht-organisierte<br />
und benachteiligte Jugendliche nicht erreicht<br />
werden können. Die dahinter liegenden Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
sind dabei vielfältiger, als es im<br />
35
3/2009<br />
Rahmen dieses Statements zu beleuchten ist – die<br />
Bandbreite reicht von <strong>der</strong> digitalen Schere in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft bis hin zu konkreten Fragen wie<br />
nicht-organisierte Jugendliche überhaupt für entsprechende<br />
Internetangebote anzusprechen und<br />
zu interessieren sind. Auch die Probleme von möglicherweise<br />
mangeln<strong>der</strong> Repräsentativität müssen<br />
bedacht werden.<br />
Die neue Strategie nennt das EU-Parlament<br />
und auch den Europarat explizit als Partner. Gerade<br />
letzteres ist eine erfreuliche Referenz, denn<br />
<strong>der</strong> Europarat ist in Fragen <strong>der</strong> Beteiligung, u. a.<br />
durch sein Ko-Management im Jugendbereich,<br />
bereits weiter als die Europäische Union und kann<br />
daher als Vorbild für die weitere Entwicklung dienen.<br />
Ebenso erfreulich ist die Erwähnung <strong>der</strong><br />
Schriftlichen Erklärung 33/2008 des Europäischen<br />
Parlaments. Eine regelmäßige institutionelle Politikfolgenabschätzung<br />
für Jugendliche wird vom<br />
DBJR ausdrücklich begrüßt. Jedoch sollte nicht<br />
vergessen werden, dass gerade deutsche Europaabgeordnete<br />
im europäischen Vergleich absolutes<br />
Schlusslicht <strong>der</strong> Unterstützer dieser Erklärung waren<br />
und sie daher an ihre Verantwortung aktiv erinnert<br />
werden müssen.<br />
Mehrfach widmet sich die neue Strategie dem<br />
Aspekt eines bereichsübergreifenden Ansatzes,<br />
<strong>der</strong> grundsätzlich begrüßenswert ist. Die Zusam-<br />
36<br />
menarbeit neuer EU-Ratsformationen und <strong>der</strong>en<br />
Stärkung durch bereichsübergreifende Arbeitsgruppen<br />
erscheint spannend, wenngleich auch <strong>der</strong><br />
wichtige Aspekt <strong>der</strong> Transparenz, die gerade in <strong>der</strong><br />
Arbeit <strong>der</strong> Rates oft kritisiert wurde, hier noch Berücksichtigung<br />
finden muss.<br />
Auch eine stärkere Zusammenarbeit innerhalb<br />
<strong>der</strong> Direktorate <strong>der</strong> EU-Kommission bei jugendpolitischen<br />
Themenstellungen wäre wünschenswert.<br />
Es ist auffällig, dass die EU-Kommission<br />
diese engere Verzahnung bei an<strong>der</strong>en Akteuren<br />
wünscht, auf Vorschläge z. B. des Europäischen<br />
Jugendforums für sich selbst jedoch keine Reaktion<br />
zeigt.<br />
Ein eigener Abschnitt 5.5 widmet sich „evidenzbasierter<br />
Politik“. Offen bleibt, welche Ziele<br />
die EU-Kommission damit verfolgt. Eine Ausrichtung<br />
<strong>der</strong> Jugendpolitik, die alleine Statistiken<br />
und Expertenmeinungen als Grundlage hat, ist<br />
nicht zielführend – zahlreiche Aspekte und auch<br />
die notwendige Vielfalt bleiben erfahrungsgemäß<br />
in solchen Erhebungen außen vor und werden<br />
nicht berücksichtigt.<br />
Die Rolle <strong>der</strong> Jugend<br />
Erfreulich ist, dass die wichtige Funktion und<br />
<strong>der</strong> gesellschaftliche Beitrag von selbstorgani-<br />
Jugend politik
sierten Zusammenschlüssen junger Menschen erwähnt<br />
und die Bedeutung langfristig bestehen<strong>der</strong>,<br />
stabiler Jugendverbandsstrukturen hervorgehoben<br />
wird. Die vorgesehene Stärkung <strong>der</strong> Jugendarbeit<br />
im europäischen Kontext ist als Fortschritt und als<br />
Bereicherung <strong>der</strong> jugendpolitischen Perspektive<br />
<strong>der</strong> EU auch um wichtige Aspekte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und<br />
Jugendhilfe zu bewerten.<br />
Auch <strong>der</strong> DBJR sieht noch Verbesserungsbedarf<br />
sowohl bei <strong>der</strong> Unterstützung von Jugendorganisationen<br />
als auch bei <strong>der</strong> Beteiligung an <strong>der</strong><br />
repräsentativen Demokratie, wie ihn die neue Strategie<br />
beschreibt.<br />
Mit großer Sorge müssen wir beobachten, dass<br />
im Zuge <strong>der</strong> Wirtschaftskrise die Jugendarbeit in<br />
manchen EU-Mitgliedsstaaten zunehmend unter<br />
Druck gerät. Beispielsweise kämpfen die Jugendstrukturen<br />
in Lettland o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Slowakei ums finanzielle<br />
Überleben. Eine verstärkte finanzielle<br />
und politische Unterstützung für Jugendverbände<br />
UND Jugendringe, die auch auf nationaler und lokaler<br />
Ebene den Mitgliedsstaaten explizit empfohlen<br />
wird, begrüßt <strong>der</strong> DBJR sehr.<br />
Erfreulich sind die Berücksichtigung <strong>der</strong><br />
Rechte junger Freiwilliger und Ehrenamtlicher<br />
und <strong>der</strong> angestrebte bessere Schutz in den Mitgliedsstaaten<br />
sowie auch die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Mobilität.<br />
Der DBJR unterstützt die Ausführungen zu<br />
freiwilligem Engagement; aus deutscher Sicht<br />
wünscht er sich allerdings eine stärkere Kohärenz<br />
im eigenen Land – momentan lässt sich <strong>der</strong> Trend<br />
feststellen, dass mehrere Ministerien nebeneinan<strong>der</strong><br />
und unabgestimmt eigene Freiwilligendienste<br />
anbieten. Hohe Standards, wie sie für den Europäischen<br />
Freiwilligendienst z.B. hinsichtlich von<br />
Qualität, dem Prinzip <strong>der</strong> Gegenseitigkeit und <strong>der</strong><br />
rechtlichen Absicherung entwickelt worden sind,<br />
dürfen nicht aufgeweicht werden.<br />
Gleichzeitig unterstützt <strong>der</strong> DBJR den Ansatz<br />
<strong>der</strong> Strategie, die weltweite Zusammenarbeit von<br />
Jugendarbeit unter Berücksichtigung bestehen<strong>der</strong><br />
Netzwerke zu stärken und Jugendarbeit künftig<br />
u.a. auch über Strukturfonds und innovative Services<br />
zu för<strong>der</strong>n.<br />
Bei <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> Strategie muss berücksichtigt<br />
werden, dass Freiwilligenarbeit sowie<br />
die Jugendarbeit insgesamt auch mit einer konkreten<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Reisefreiheit von Jugendlichen<br />
einher gehen muss. Junge Menschen<br />
mit einer Nicht-EU-Staatsbürgerschaft, selbst<br />
wenn sie in <strong>der</strong> EU leben, sind von Erschwernissen<br />
bei <strong>der</strong> Visa-Erteilung beson<strong>der</strong>s betroffen.<br />
Jugend politik<br />
Schlussfolgerungen<br />
3/2009<br />
Die vorgelegte Strategie wirkt ambitioniert;<br />
sie bleibt jedoch in weiten Teilen unkonkret o<strong>der</strong><br />
missverständlich. Konzepte wie „e-Demokratie“<br />
o<strong>der</strong> „peer learning“ werden ohne eine notwendige<br />
Konkretisierung verwendet.<br />
Das kommende Halbjahr bis zur Befassung<br />
im Rat muss intensiv genutzt werden. Nicht nur<br />
das BMFSFJ, son<strong>der</strong>n vor allem auch die an<strong>der</strong>en<br />
Ebenen (Län<strong>der</strong>, Kommunen) müssen ihre Verantwortung<br />
bei <strong>der</strong> neuen Strategie wahrnehmen.<br />
Die in Deutschland oft zitierten Schwierigkeiten<br />
aufgrund <strong>der</strong> fö<strong>der</strong>alen Struktur bzw. <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>zuständigkeit<br />
darf die Umsetzung von jugendgerechter<br />
Politik nicht gefährden. Gerade im<br />
schulischen wie auch im außerschulischen Bildungswesen<br />
kann die neue Jugendstrategie nur<br />
einen politischen Rahmen anbieten. Es ist Aufgabe<br />
<strong>der</strong> Bundesregierung, die EU-Strategie in den eigenen<br />
Strukturen zu konkretisieren und umzusetzen.<br />
Die Glaubwürdigkeit von EU-Politik in<br />
Deutschland darf unter bürokratisch-organisatorischen<br />
Hemmnissen nicht leiden.<br />
Jugendverbände sind Orte nichtformaler Bildung.<br />
Diese ist freiwillig, selbstbestimmt, werteorientiert<br />
und an den Bedürfnissen des Menschen<br />
ausgerichtet. Daher muss die Eigenständigkeit<br />
von nichtformaler Bildung erhalten bleiben, eine<br />
„Integration“ in die formale Bildung wird abgelehnt.<br />
Die Europäische Kommission stellt für die<br />
Umsetzung des Strukturierten Dialogs Jugendliche<br />
als Akteure in den Mittelpunkt. Auf Ebene <strong>der</strong><br />
Mitgliedsstaaten weist die EU-Kommission den<br />
Jugendringen und den Nationalagenturen des Programms<br />
JUGEND IN AKTION eine beson<strong>der</strong>e<br />
Rolle zu. In einem gemeinsamen Konzept zum<br />
Strukturierten Dialog siedeln <strong>der</strong> DBJR und die<br />
deutsche Nationalagentur europäische Themen<br />
auch dort an, wo jene noch zu wenig kommuniziert<br />
werden. Europäische Politik wird nicht nur in<br />
Brüssel gemacht, son<strong>der</strong>n auch auf Län<strong>der</strong>- o<strong>der</strong><br />
regionaler Ebene. Die Basis <strong>der</strong> Beteiligten muss<br />
hier noch deutlich erweitert werden.<br />
(Am 25. Juni 2009 vom Vorstand des Deutschen<br />
<strong>Bundesjugendring</strong>s einstimmig beschlossen.)<br />
37
3/2009<br />
38<br />
Bildung – Integration – Teilhabe<br />
Positionspapier <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft für Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfe<br />
Recht auf Kindheit und Jugend sichern,<br />
Kindheit und Jugend unter kin<strong>der</strong>- und jugendgemäßen<br />
gesellschaftlichen und politischen<br />
Rahmenbedingungen auszuleben ist das<br />
individuelle Recht eines jeden Menschen, das ihm<br />
mit Geburt als unveräußerliches Menschenrecht<br />
zuteil wird. Die umfassenden Formulierungen von<br />
Kin<strong>der</strong>rechten in <strong>der</strong> UN-Kin<strong>der</strong>rechtskonvention<br />
beinhalten daher nicht nur Schutzrechte, son<strong>der</strong>n<br />
ebenso Rechte auf Beteiligung und Selbstverwirklichung<br />
sowie För<strong>der</strong>ung als eigenständige<br />
Rechte im menschlichen Entwicklungsprozess.<br />
Folgt man diesem Menschenrechtsverständnis,<br />
so begründet sich Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik<br />
zuallererst in <strong>der</strong> Aufgabe, das individuelle Recht<br />
auf Kindheit und Jugend zu sichern, und nicht<br />
darin, Kin<strong>der</strong> und Jugendliche in ihrer gesellschaftlichen<br />
Verwertbarkeit als zukünftige Erwachsene<br />
zu formen. Eine zukunftsfähige Gesellschaft<br />
baut auf Individuen, die sich zu ihr<br />
bekennen und mit Selbstwertgefühl und den entsprechenden<br />
Erfahrungen sich und ihren Platz in<br />
<strong>der</strong> Welt suchen und zur Entwicklung einer solidarischen<br />
und demokratischen Gesellschaft beitragen.<br />
Kindheit und Jugend in diesem Sinne ausleben<br />
zu können ist für jeden Menschen eine wesentliche<br />
Voraussetzung, um ein erfülltes und menschenwürdiges<br />
Leben zu führen und seine Persönlichkeit<br />
als Individuum zu entfalten, ohne als<br />
Anhängsel seiner Familie, als wertschöpfen<strong>der</strong><br />
Faktor in einem Produktionsprozess o<strong>der</strong> als <strong>Zukunft</strong>sträger<br />
einer Gesellschaft gesehen zu werden.<br />
Der aktuelle öffentliche Diskurs, genauso wie die<br />
sich in diesem Zusammenhang entwickelnden politischen<br />
Strategien, blenden diese zentrale Bedeutung<br />
von Kindheit und Jugend weitgehend aus.<br />
Sie werden nicht mit dem individuellen Recht von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen als eigenständige<br />
Rechtssubjekte auf För<strong>der</strong>ung, Schutz und Beteiligung<br />
begründet, son<strong>der</strong>n mit den gesellschaftlichen<br />
Verwertungsinteressen.<br />
Die Lebensphase Kindheit und Jugend hat aber<br />
als Experimentierraum grundlegende Bedeutung –<br />
nicht nur für ein wandlungs- und entwicklungsfä-<br />
higes Gemeinwesen, son<strong>der</strong>n auch für die Wandlungs-<br />
und Entwicklungsfähigkeit jedes einzelnen<br />
Kindes und Jugendlichen. Im Sinne einer tragfähigen<br />
<strong>Zukunft</strong>spolitik ist es Aufgabe von Staat<br />
und Gesellschaft, darauf hinzuwirken, dass junge<br />
Menschen die für ihre gelingende Entwicklung<br />
notwendigen Gestaltungsräume vorfinden und damit<br />
eine Wertschätzung erfahren, <strong>der</strong>en Erwi<strong>der</strong>ung<br />
den Fortbestand des Gemeinwesens sichert.<br />
Wenn man den Ausbau <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung<br />
nur mit beschäftigungs-, bildungs- und<br />
gleichstellungspolitischen Argumenten vorantreibt,<br />
geht diese Sichtweise verloren. Würde man<br />
sie ernst nehmen, müsste dies zu einer deutlichen<br />
Erweiterung um Aspekte wie Beteiligung o<strong>der</strong><br />
Verwirklichung eigener Interessen und Modifizierung<br />
entsprechen<strong>der</strong> Ausbauprogramme führen.<br />
Bei Jugendlichen kommt noch hinzu, dass<br />
sie innerhalb politischer Entscheidungsprozesse<br />
zunehmend mehr im Status einer Randgruppe<br />
wahrgenommen werden, die einzig im Zusammenhang<br />
mit Devianz und Defiziten thematisiert<br />
wird. Im Fokus stehen Themen wie Schulverweigerung,<br />
Delinquenz, Suchtabhängigkeit und Extremismus;<br />
von einer grundständigen auf die Jugendphase<br />
ausgerichteten Gesamtpolitik kann<br />
kaum noch gesprochen werden. Diese Politik ist<br />
vornehmlich geprägt durch die Interessen <strong>der</strong> Erwachsenengesellschaft<br />
und ihre Ängste, dass ein<br />
Teil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen sich nicht ausreichend<br />
effektiv „verwerten“ lässt und damit als<br />
soziale und ökonomische Dauerbelastung dieser<br />
Gesellschaft die <strong>Zukunft</strong>sfähigkeit gefährdet.<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik im eigentlichen<br />
Sinne muss es demgegenüber darum gehen, den<br />
Subjektstatus von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen als<br />
aktive Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> in Gegenwart und<br />
<strong>Zukunft</strong> mit eigenständigen und legitimen Ansprüchen<br />
anzuerkennen und dieser Wertschätzung<br />
im politischen Handeln Ausdruck zu verleihen.<br />
Dazu gehört, jungen Menschen ein Recht auf Beteiligung<br />
an den ihre Lebenswelt betreffenden Gestaltungsprozessen<br />
einzuräumen. Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik<br />
muss daher ihre Legitimation aus dem<br />
Recht junger Menschen auf För<strong>der</strong>ung ihrer Entwicklung<br />
und Erziehung zu einer eigenverant-<br />
Jugend politik
wortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit<br />
ableiten wie sie im § 1 SGB VIII, Kin<strong>der</strong>- und<br />
Jugendhilfegesetz, normiert ist. Es ist zentrale<br />
Aufgabe von Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik, innerhalb<br />
<strong>der</strong> politischen Entscheidungsprozesse darauf hinzuwirken,<br />
dass die im Gesetz verankerte öffentliche<br />
Verantwortung für die gelingende Entwicklung<br />
junger Menschen eingelöst wird, indem<br />
diesen Ermöglichungsstrukturen für eine gelingende<br />
Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung<br />
gestellt werden.<br />
Diese müssen getragen sein von einer gesamtgesellschaftlichen<br />
Ermutigungskultur, die grundsätzlich<br />
jedem Kind und jedem Jugendlichen die<br />
Erfahrung gestattet, mit seinen individuellen Potentialen<br />
in <strong>der</strong> Gesellschaft willkommen zu sein.<br />
Persönlichkeitsentwicklung bedarf <strong>der</strong> Begleitung<br />
durch menschliche Gegenüber, die Dialoge, Feedback<br />
und Reibung ermöglichen. Es zählt zu den<br />
Kernaufgaben öffentlicher Verantwortung, die<br />
Rückgriffsmöglichkeit auf diese Ressource nicht<br />
dem Zufall zu überlassen, son<strong>der</strong>n sie allen Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen zur Verfügung zu stellen.<br />
Interessen und Rechte gegenüber An<strong>der</strong>en<br />
Die demographische Entwicklung bedingt,<br />
dass <strong>der</strong> Anteil an Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen an<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung weiter abnimmt. Dieser Aspekt<br />
wird bevorzugt als Begründung genommen, junge<br />
Menschen zu verplanen und ihre Entwicklung<br />
möglichst effektiv und effizient zu steuern. Vor<br />
diesem Hintergrund muss Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik<br />
stärker als in <strong>der</strong> Vergangenheit darauf achten,<br />
dass junge Menschen mit ihren Ansprüchen und<br />
Interessen mehr Berücksichtigung finden. Dies<br />
ist das Gegenteil einer Generationenpolitik, die auf<br />
gemeinsamen Zielen und Interessen aller Generationen<br />
aufbaut. Neben dem Recht auf Gleichaltrigengemeinschaft<br />
geht es hierbei insbeson<strong>der</strong>e um<br />
eine gleichberechtigte Teilhabe am Öffentlichen<br />
Raum, die für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche nicht ausreichend<br />
gewährleistet ist.<br />
Die damit verbundenen Erwartungen an junge<br />
Menschen erhöhen die Gefahr <strong>der</strong> Verplanung und<br />
<strong>der</strong> Verknappung entwicklungsnotwendiger freier<br />
Gestaltungsräume in den Lebensphasen Kindheit<br />
und Jugend, denn Freiräume, Entfaltungs- und<br />
Gestaltungsmöglichkeiten von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
werden vor allem dann zum Problem,<br />
wenn sie sich nicht mit an<strong>der</strong>en Politikzielen vereinbaren<br />
lassen. So steht beispielsweise das Bedürfnis<br />
nach Sicherheit und Kontinuität von Lebensorten<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen in ihren<br />
Jugend politik<br />
3/2009<br />
Familien im Wi<strong>der</strong>spruch zur gefor<strong>der</strong>ten Mobilität<br />
<strong>der</strong> Erwachsenen, die Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
zum Teil innerhalb kürzester Zeit Wechsel<br />
von Freundeskreisen, Betreuungssituationen und<br />
Schulen zumutet. Anspruch auf Raum und Zeit<br />
auch außerhalb von pädagogischen Institutionen<br />
steht angesichts innerstädtischer Verdichtungsprozesse<br />
und dem Wegfall von Freiflächen in Konkurrenz<br />
zu Flächenverbrauch durch Verkehr, Gewerbe,<br />
höhere Wohnansprüche o<strong>der</strong> das<br />
Ruhebedürfnis von Erwachsenen.<br />
Benachteiligungen entgegenwirken<br />
Die Bedingungen des Aufwachsens von Kin<strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen und Voraussetzungen für<br />
die Entwicklung einer eigenverantwortlichen und<br />
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit haben sich<br />
im Zuge des gesellschaftlichen Wandels verkompliziert.<br />
Parallel zum Wegfall orientierungsgeben<strong>der</strong><br />
Normallebensläufe steigt die biographische<br />
Optionsvielfalt. Diese bedeutet aber nicht,<br />
dass Kin<strong>der</strong> und Jugendliche aus einem Riesenangebot<br />
von Ausgestaltungsmöglichkeiten ihrer<br />
Lebensentwürfe auswählen können, son<strong>der</strong>n dass<br />
die objektiven Voraussetzungen, aus einer Vielfalt<br />
wählen zu können, sich je nach Lebenslage und -<br />
alter extrem unterscheiden.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche haben ungleiche Voraussetzungen,<br />
die dazu führen, dass die einen tatsächlich<br />
aus einer großen Fülle von Optionen Entscheidungen<br />
über ihren Lebensstil, über die<br />
Gestaltung ihres Privatlebens, über ihren Bezug zu<br />
Gesellschaft und Politik und nicht zuletzt ihre eigene<br />
berufliche Entwicklung bestimmen können.<br />
An<strong>der</strong>e sind dagegen in ihren Entscheidungsmöglichkeiten<br />
beschnitten und auf Grund ihrer<br />
eingeschränkten För<strong>der</strong>ung und Kompetenzen<br />
kaum in <strong>der</strong> Lage, aus Kreisläufen <strong>der</strong> sozialen<br />
und bildungsmäßigen Verarmung, <strong>der</strong> reduzierten<br />
Freizeit-, Kultur- und Konsummuster auszubrechen,<br />
die sie in ihrem Umfeld vorfinden. So<br />
stellt sich die Optionsvielfalt <strong>der</strong> Gesellschaft für<br />
viele Kin<strong>der</strong> und Jugendliche nicht her und die Risiken<br />
bei <strong>der</strong> Ausgestaltung ihrer Lebenswelten<br />
sind deutlich höher als die Chancen, die viele Jugendliche<br />
für sich nicht mehr erkennen, geschweige<br />
denn nutzen können.<br />
Der Ausgleich sozialer Benachteiligung in<br />
Folge von Armutskreisläufen, familiärer Migrationsgeschichte<br />
o<strong>der</strong> von nach wie vor vorzufinden<strong>der</strong><br />
geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeiten<br />
bei <strong>der</strong> Wahrnehmung und Nutzung von<br />
Lebenschancen muss deshalb im Mittelpunkt einer<br />
39
3/2009<br />
auf Kin<strong>der</strong> und Jugendliche ausgerichteten Unterstützungspolitik<br />
von Staat und Gesellschaft stehen.<br />
Entfaltung und soziale Gerechtigkeit<br />
Die Verbindung des Rechtes auf Kindheit und<br />
Jugend als individuelles Menschenrecht und <strong>der</strong><br />
berechtigte Anspruch, soziale Gerechtigkeit für<br />
möglichst viele Kin<strong>der</strong> und Jugendliche zu erreichen,<br />
stehen nicht im Gegensatz zueinan<strong>der</strong>. Beiden<br />
gemeinsam ist die zentrale Bedeutung von<br />
Bildung als Grundvoraussetzung für individuelle<br />
Entfaltungsmöglichkeiten. Mit dieser Verortung<br />
von Bildung bekommen entsprechende För<strong>der</strong>maßnahmen<br />
und Unterstützungsangebote eine erweiterte<br />
Bedeutung. Sie begründen sich eben nicht<br />
über ihren Verwertbarkeitszusammenhang in Hinblick<br />
auf materielle Absicherung von Lebensläufen<br />
und dem gesellschaftlichen Interesse, qualifizierten<br />
Nachwuchs zu erhalten, son<strong>der</strong>n sollen<br />
umfassende gesellschaftliche Teilhabechancen ermöglichen.<br />
Nur wenn es gelingt, Bildung in einem umfassenden<br />
Sinne für alle Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen zu<br />
verbessern und ihnen damit nicht nur im Bereich<br />
<strong>der</strong> institutionalisierten Bildung durch Kin<strong>der</strong>tagesbetreuung<br />
und Schule bessere <strong>Zukunft</strong>sperspektiven<br />
zu entwickeln, ist Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik<br />
mehr als nur kompensatorische Sozial- und<br />
Bildungspolitik, son<strong>der</strong>n zugleich auch die Realisierung<br />
vom Recht auf eine menschenwürdige<br />
Kindheit und Jugend.<br />
Dies bedeutet den Erhalt und Ausbau von Freiräumen<br />
für zweckfreies und experimentierendes<br />
Gestalten von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, wie sie<br />
insbeson<strong>der</strong>e die Jugendarbeit bietet. Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendliche müssen als subjektive Rechtspersönlichkeiten<br />
und als Partner in einem Gestaltungsprozess<br />
anerkannt werden, in dem es nicht nur um<br />
die Verbesserung schulischer und beruflicher<br />
Kompetenzen geht, son<strong>der</strong>n in dem die Freude am<br />
Leben, die Wahrnehmung unterschiedlicher kultureller<br />
Ausdrucksformen, das Ausprobieren neuer<br />
Lebens- und Kommunikationsformen und informelle<br />
Lernerfolge die gleiche Beachtung finden<br />
wie die Sprachför<strong>der</strong>ung von Kin<strong>der</strong>n, die Kooperation<br />
von Jugendhilfe und Schule, <strong>der</strong> Ausbau<br />
<strong>der</strong> Ganztagsbetreuung und <strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong> Frühen<br />
Hilfen. Das Spannungsverhältnis, in dem sich<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik bewegt, wird markiert<br />
von den Interessen und Bedürfnissen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendlichen sowie den aktuellen und zukünftigen<br />
gesellschaftlichen Anfor<strong>der</strong>ungen an<br />
40<br />
ihre eigenverantwortlichen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
In diesem Zusammenhang sind nicht die<br />
stromlinienförmigen Karrierebiographien das Leitbild,<br />
son<strong>der</strong>n eine Gesellschaft voller Persönlichkeiten,<br />
die aus einer erfüllten Kindheit und Jugend<br />
heraus kompetent ihr eigenes Leben gestalten und<br />
Verantwortung für sich und an<strong>der</strong>e übernehmen.<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendpolitik steht mehr denn je vor<br />
<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung, ein erkennbares Profil und<br />
eine Perspektive ihrer Einmischung in gesellschaftliche<br />
und politische Prozesse zu entwickeln,<br />
so dass sie wirksam auf <strong>der</strong> Grundlage einer eigenständigen<br />
Legitimation als <strong>Zukunft</strong>spolitik<br />
zum Wohle ihrer Zielgruppe agieren kann.<br />
Vorstand <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft für Kin<strong>der</strong>- und<br />
Jugendhilfe – AGJ<br />
Berlin 30. September / 01. Oktober 2009<br />
Jugend politik
Jugend politik<br />
3/2009<br />
Licht und Schatten im Koalitionsvertrag<br />
Die „Kieler Erklärung“ des Deutschen <strong>Bundesjugendring</strong>es<br />
Der Koalitionsvertrag <strong>der</strong> neuen Bundesregierung<br />
sendet Signale aus, die Mut machen. Gleichzeitig<br />
weckt er auch Ängste und Befürchtungen.<br />
Der DBJR hat zum Vertrag in seiner „Kieler Erklärung“<br />
Stellung bezogen:<br />
Der DBJR begrüßt das Bekenntnis <strong>der</strong> Koalition<br />
zur Stärkung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>rechte, dem Dreiklang<br />
aus Schutz-, För<strong>der</strong>- und Partizipationsrechten.<br />
Ziel sind kindgerechte Lebensverhältnisse<br />
und die Ankündigung <strong>der</strong> längst überfälligen<br />
Rücknahme <strong>der</strong> Vorbehaltserklärung zur UN-Kin<strong>der</strong>rechtskonvention.<br />
Der DBJR begrüßt die Ankündigung <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Partizipation und <strong>der</strong> Mitgestaltungsmöglichkeiten<br />
von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen von<br />
Beginn an. Jugendverbände und Jugendringe ermöglichen<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen solche Partizipationsmöglichkeiten.<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
vertreten in den Jugendverbänden und<br />
Jugendringen ihre Interessen in <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />
gestalten und schaffen Freiräume. Sie lernen dort,<br />
ihre Interessen zu formulieren, Freiräume zu nutzen<br />
und zu gestalten sowie Verantwortung zu übernehmen.<br />
Der DBJR vermisst deshalb ein klares<br />
Bekenntnis zu den Jugendverbänden und Jugendringen<br />
und damit dem Engagement von weit über<br />
5,5 Millionen Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, die sich<br />
in diesen Strukturen engagieren. Dies bedeutet<br />
auch, Jugendverbände und Jugendringe als Bestandteil<br />
des Kin<strong>der</strong>- und Jugendhilfesystems bei<br />
dessen Weiterentwicklung aktiv einzubeziehen<br />
und auf kurzfristige Verän<strong>der</strong>ungen, die alleine<br />
auf Einsparungen ausgerichtet sind, zu verzichten.<br />
Eigenständige Jugendpolitik<br />
Der DBJR begrüßt, dass die Koalition zu einer<br />
eigenständigen Jugendpolitik, einer starken Jugendhilfe<br />
und einer starken Jugendarbeit steht,<br />
die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale<br />
för<strong>der</strong>t und ausbaut. Er vermisst allerdings<br />
eine Aussage zur Aufnahme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>rechte<br />
in das Grundgesetz.<br />
Der DBJR begrüßt die Absicht, bürgerschaftliches<br />
Engagement durch geeignete Rahmenbedingungen<br />
für eine nachhaltige Infrastruktur und<br />
Stabilisierung von Engagement und Partizipation<br />
zu stärken. Er begrüßt zudem ausdrücklich, dass<br />
im Koalitionsvertrag festgehalten ist, gesellschaftliche<br />
Teilhabe nicht von <strong>der</strong> finanziellen<br />
und wirtschaftlichen Haushaltslage des Einzelnen<br />
o<strong>der</strong> von Familien abhängen zu lassen. Der DBJR<br />
weist jedoch mit Nachdruck darauf hin, dass jede<br />
Weiterentwicklung des Engagements die bestehenden<br />
Möglichkeiten und Formen des Engagements<br />
vor allem in den großen zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen angemessen berücksichtigen<br />
muss – einschließlich <strong>der</strong> Selbstorganisationen<br />
junger Menschen, in denen traditionell <strong>der</strong> überwiegende<br />
Teil des Engagements verortet ist. Beson<strong>der</strong>er<br />
Aufmerksamkeit bedürfen dabei das Engagement<br />
junger Menschen und die dafür<br />
notwendigen spezifischen Bedingungen.<br />
Der DBJR begrüßt das Ziel <strong>der</strong> Koalition,<br />
kommenden Generationen ein Leben in Wohlstand,<br />
Gerechtigkeit und Sicherheit zu ermöglichen<br />
sowie Kin<strong>der</strong> von Anfang an dabei zu unterstützen,<br />
ihre Stärken zu erkennen, ihre Chancen zu<br />
för<strong>der</strong>n, Benachteiligungen zu verhin<strong>der</strong>n sowie<br />
Kin<strong>der</strong>armut offensiv zu bekämpfen. Die Formulierung<br />
eines bedarfsorientierten Bürgergeldes<br />
sieht <strong>der</strong> Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> als Einstieg<br />
in eine gesamtgesellschaftliche Debatte. Ziel muss<br />
dabei aber ein Grundeinkommen (im Sinne des<br />
"Jugendpolitischen Eckpunktepapiers des Deutschen<br />
<strong>Bundesjugendring</strong> - <strong>Zukunft</strong> <strong>der</strong> Arbeit und<br />
soziale Sicherheit", 2004) sein, das bedingungslos<br />
gewährt wird und Existenz sichernd ist.<br />
Der Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> mahnt jedoch:<br />
Eine Politik <strong>der</strong> Steuererleichterung für Unternehmen<br />
und Erben, absehbar steigende Sozialabgaben<br />
für Beschäftigte, eine Steuerreform, von<br />
<strong>der</strong> die ärmsten Familien keine Vorteile haben<br />
werden, und <strong>der</strong> endgültige Abschied vom Prinzip<br />
<strong>der</strong> paritätischen Finanzierung <strong>der</strong> Krankenversicherungsbeiträge<br />
– einem Kernstück des deutschen<br />
Sozialstaates – sind <strong>der</strong> falsche Weg. Dieser<br />
führt weg von sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand<br />
für alle und bricht mit dem Anspruch einer<br />
solidarischen Gesellschaft.<br />
Eine „neue Familienpolitik“, von <strong>der</strong> vor allem<br />
Besserverdienende profitieren, die ärmsten Kin<strong>der</strong><br />
und Familien aber nichts haben, ist falsch. Die Jugendverbände<br />
vermissen ein Bekenntnis zur Re-<br />
41
3/2009<br />
form <strong>der</strong> SGB II-Regelsätze für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche,<br />
die ihren speziellen Bedarf berücksichtigt.<br />
Der Deutsche <strong>Bundesjugendring</strong> kann<br />
nicht erkennen, wie gewährleistet werden soll,<br />
dass Menschen von ihrem Erwerbseinkommen leben<br />
können.<br />
Chancengerechtigkeit<br />
Der DBJR begrüßt das Bekenntnis <strong>der</strong> Koalition<br />
zu mehr Chancengerechtigkeit von Beginn an,<br />
zu Durchlässigkeit und zu fairen Aufstiegschancen<br />
für alle sowie die Absicht, „Deutschland zur Bildungsrepublik<br />
[zu] machen, mit den besten Kin<strong>der</strong>tagesstätten,<br />
den besten Schulen und Berufsschulen<br />
sowie den besten Hochschulen und<br />
Forschungs- einrichtungen.“ (WACHSTUM. BIL-<br />
DUNG. ZUSAMMENHALT. – Koalitionsvertrag<br />
zwischen CDU, CSU und FDP (17. Legislaturperiode),<br />
Kapitel II) Er begrüßt auch das Verständnis<br />
von Bildung als gesamtstaatlicher Aufgabe.<br />
Der DBJR mahnt jedoch: Im Sinne einer ganzheitlichen<br />
Bildung darf sich das Engagement nicht<br />
ausschließlich auf die formale Bildung beschränken.<br />
Die Notwendigkeit und die Potenziale von<br />
außerschulischen, non-formalen und informellen<br />
Bildungsangeboten, z. B. auch in den Jugendverbänden,<br />
müssen im Interesse einer guten Bildung<br />
für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erkannt und unterstützt<br />
werden.<br />
Maßnahmen wie das geplante Bildungssparen<br />
o<strong>der</strong> die Fokussierung auf Stipendien zur Studienfinanzierung<br />
sind dem Ziel <strong>der</strong> Chancengerechtigkeit<br />
nicht dienlich. Sie kommen den benachteiligten<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen nicht zu<br />
Gute. Der richtige Weg sind die Abschaffung <strong>der</strong><br />
Studiengebühren und ein Ausbau des BAföG.<br />
Maßnahmen zur notwendigen Steigerung <strong>der</strong><br />
Qualität im Bildungssystem – wie beispielsweise<br />
die bessere Ausbildung <strong>der</strong> Fachkräfte, die Verbesserung<br />
<strong>der</strong> Betreuungsrelationen in Schule und<br />
Kin<strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> einheitliche Bildungs- und Leistungsstandards<br />
– gehen in die richtige Richtung,<br />
reichen aber bei weitem nicht aus, das zentrale<br />
Ziel von Bildung, die Befähigung des Individuums,<br />
ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches<br />
Leben führen und umfassend am sozialen<br />
und ökonomischen Leben und <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Entwicklung partizipieren zu können, zu erreichen.<br />
42<br />
Vorreiter beim Klimaschutz<br />
Der DBJR begrüßt das Vorhaben <strong>der</strong> neuen<br />
Bundesregierung, die Vorreiterrolle Deutschlands<br />
im Klimaschutz beizubehalten, die erneuerbaren<br />
Energien konsequent auszubauen und konventionelle<br />
Energien langfristig zu ersetzen. Damit führt<br />
sie den eingeschlagenen Weg zu einer nachhaltigen<br />
und umweltfreundliche Energieproduktion für<br />
die heutige Generation von Kin<strong>der</strong>n- und Jugendlichen<br />
fort.<br />
Der DBJR ist aber nachdrücklich besorgt, dass<br />
die Bundesregierung wie<strong>der</strong> verstärkt auf die Nutzung<br />
<strong>der</strong> Atomenergie zurückgreifen will. Eine<br />
Energieform, die ganzheitlich betrachtet we<strong>der</strong><br />
klimafreundlich noch günstig ist, <strong>der</strong>en Risiko<br />
unüberschaubar ist und <strong>der</strong>en Abfallprodukte<br />
künftige Generationen noch Jahrhun<strong>der</strong>te belasten<br />
werden. Der DBJR erneuert daher seinen Beschluss<br />
von 2008 „Den Ausstieg aus <strong>der</strong> Atomenergie<br />
beschleunigen!“ und for<strong>der</strong>t die<br />
Bundesregierung auf, den Atomausstieg nicht länger<br />
hinauszuschieben und für eine zukunftsgerechte<br />
und nachhaltige Energieversorgung zu sorgen;<br />
gleichzeitig bis zur endgültigen Abschaltung<br />
<strong>der</strong> Atomkraftwerke die zusätzlichen Gewinne <strong>der</strong><br />
bereits abgeschriebenen Atomkraftwerke in die<br />
För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bildung und den Ausbau <strong>der</strong> regenerativen<br />
Energien sowie den Klimaschutz zu investieren.<br />
Im Interesse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen in<br />
Deutschland for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> DBJR die Regierungskoalition<br />
<strong>der</strong> 17. Legislaturperiode auf, bei <strong>der</strong><br />
Umsetzung und Ausgestaltung des Koalitionsvertrages<br />
allen Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen ein gutes<br />
Aufwachsen in einem sozial gerechten Land zu ermöglichen<br />
und sich aktiv für eine schlüssige und<br />
ressortübergreifende Jugendpolitik sowie den Erhalt<br />
und den Ausbau von Freiräumen für junge<br />
Menschen einzusetzen.<br />
Einstimmig beschlossen auf <strong>der</strong><br />
Vollversammlung 2009 in Kiel.<br />
Jugend politik
… steht für eine gute<br />
Ausbildung nach<br />
bundesweit einheitlichen<br />
Qualitätsstandards.<br />
… ist <strong>der</strong> Ausweis<br />
für Ehrenamtliche in <strong>der</strong><br />
Jugendarbeit.<br />
… stärkt das Ehrenamt.<br />
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