BerlinerStimme Nr. 05 2019
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Zeitung der Berliner Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 5 · <strong>2019</strong> | 69. Jahrgang<br />
THEMA<br />
DEBATTE<br />
GEFRAGT<br />
Michael Müller über den Sozialstaat<br />
2.0 und Machtoptionen<br />
DISKUTIERT<br />
Ladenöffnungszeiten,<br />
Verbeamtung, Enteignung<br />
GELESEN<br />
Maren Urners Buch über<br />
Medien und Verantwortung
Text Malu Dreyer<br />
Foto Susie Knoll<br />
Gemeinsam zu<br />
neuer Stärke finden<br />
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2 BERLINER STIMME
Die Sozialdemokratie vereinigt Menschen<br />
aller gesellschaftlichen Schichten und<br />
unterschiedlicher Herkunft. Individuelle<br />
Unterschiede trennen nicht voneinander,<br />
sondern lösen sich unter dem gemeinsamen<br />
Dach der Solidarität auf. Ich setze<br />
mich mit aller Kraft dafür ein, dass die<br />
SPD wieder genau das ist. Unsere Themen<br />
der Gerechtigkeit, der Solidarität<br />
und des gesellschaftlichen Friedens sind<br />
wichtiger denn je. Wir waren und wir<br />
sind die Fortschrittspartei. Aber es gibt<br />
wenig Zutrauen in uns. Von außen und<br />
von uns selbst.<br />
Wir erneuern unser Fundament, versammeln<br />
uns unter dem gemeinsamen<br />
Dach und besinnen uns auf die Kraft,<br />
die jeden von uns antreibt: jeden Tag<br />
dafür zu kämpfen, damit sich die Lebensbedingungen<br />
der Menschen verbessern.<br />
Das heißt aber auch: Solidarischer mit<br />
uns selbst sein. Denn ohne Solidarität<br />
untereinander können wir kaum glaubhaft<br />
für Solidarität in Deutschland und<br />
Europa werben.<br />
In den kommenden Wochen können<br />
unsere 420.000 Mitglieder entscheiden,<br />
wer die Spitze unserer Partei anführen<br />
soll. Wir lassen bewusst die Basis entscheiden.<br />
Als Mitgliederpartei sind wir<br />
stolz auf die vielen Aktiven, die unsere<br />
SPD mit ihren Ideen, ihrem ganzen Herzblut<br />
und ihrem täglichen Einsatz in ganz<br />
Deutschland voranbringen.<br />
Thorsten, Manuela und ich haben ein<br />
klares Ziel: Die SPD wird wieder als die<br />
Partei der Gerechtigkeit, des Zusammenhalts<br />
und des Friedens sichtbar. Wir<br />
stehen für diesen Wesenskern. Es darf<br />
bei diesen Grundpfeilern keine Zweideutigkeit<br />
geben. Dafür brauchen wir<br />
eine neue Führungsspitze, die sich etwas<br />
traut, die Haltung hat und auch bereit<br />
ist, ausgetretene Pfade zu verlassen.<br />
Der Fortschrittspartei stehen klare und<br />
auch mutige Konzepte gut zu Gesicht.<br />
Darum geht es beim Mitgliederentscheid.<br />
Wir wollen einen echten Wettbewerb der<br />
Ideen, durch Diskussionen mit möglichst<br />
vielen von euch. Es geht um Antworten<br />
auf die großen Fragen unserer Zeit.<br />
Darum, wie wir Zusammenhalt stiften,<br />
während Globalisierung und Digitalisierung<br />
zunehmend unsere Gesellschaft in<br />
„Gewinner“ und „Verlierer“ spaltet.<br />
Ich bin mir sicher, dass uns das gelingen<br />
wird. Das Verlangen nach solidarischen<br />
Antworten in unserer Gesellschaft ist<br />
groß. Das sehen wir auch am Zuspruch<br />
zu unserem Grundrentenkonzept. Die<br />
Anerkennung von Lebensleistung ist<br />
eine der großen Gerechtigkeitsfragen<br />
unserer Zeit, ebenso wie eine faire<br />
Steuerpolitik. Für uns als SPD ist deshalb<br />
klar: Eine Abschaffung des „Soli“ für<br />
90 Prozent der Steuerbürger ist ein<br />
wichtiger Beitrag zu mehr Steuergerechtigkeit.<br />
Eine Komplettabschaffung auch<br />
für die hohen Einkommen wird es mit<br />
uns erst geben, wenn Topverdiener<br />
stärker zum Gemeinwohl beitragen.<br />
Denn nur so erhalten wir die Mittel,<br />
die wir für Bildung und Sicherheit, für<br />
die Absicherung unserer gesellschaftlichen<br />
und natürlichen Lebensgrundlagen,<br />
für Infrastruktur unser soziales<br />
Netz brauchen.<br />
Lasst uns die kommenden Entscheidungen<br />
mit Neugier, Offenheit und Respekt<br />
miteinander treffen. Ich bin mir sicher, so<br />
werden wir gemeinsam zu neuer Stärke<br />
finden.<br />
Eure<br />
Gemeinsam mit Manuela Schwesig und<br />
Thorsten Schäfer-Gümbel führt Malu Dreyer<br />
derzeit die SPD kommissarisch.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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AKTUELL<br />
Neustart<br />
02 EDITORIAL<br />
Gemeinsam zu<br />
neuer Stärke finden<br />
Text Malu Dreyer<br />
Foto Susie Knoll<br />
06 INTERVIEW<br />
MIT MICHAEL MÜLLER<br />
Neue Mehrheiten für eine<br />
fortschrittliche Politik<br />
Foto Carolin Weinkopf<br />
Auf dem Bundesparteitag<br />
im Dezember in Berlin wählen<br />
die Delegierten eine neue Parteispitze.<br />
Neben neuem Personal ist<br />
aber auch die inhaltliche Ausrichtung<br />
maßgeblich. Dazu braucht es<br />
die faire Debatte auf Augenhöhe.<br />
In dieser Ausgabe finden sich<br />
verschiedene Themen, zu denen<br />
die Berliner SPD derzeit leidenschaftlich<br />
diskutiert.<br />
TITELTHEMA<br />
Debatte<br />
10 LADENÖFFNUNGSZEITEN<br />
Sonntags geöffnet?<br />
Texte PRO: Matthias Traub<br />
CONTRA: Andrea Kühnemann<br />
Fotos Adobe Stock/hanohiki &<br />
Privat & ver.di<br />
14<br />
LEBENSMITTELPREISE<br />
Angemessene Preise für Lebensmittel!<br />
Text Rainer Spiering<br />
Fotos Benno Kraehahn &<br />
Adobe Stock/Karanov images<br />
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16 VERBEAMTUNG<br />
Lehrkräfte verbeamten?<br />
Texte PRO: Sandra Scheeres<br />
CONTRA: Monika Buttgereit &<br />
Matthias Trenczek<br />
Fotos Adobe Stock/Herrndorf & Reto Klar<br />
& SPD Berlin & Joachim Gern<br />
20 ENTEIGNUNG<br />
Immobilien enteignen?<br />
Texte PRO: Max von Chelstowski<br />
CONTRA: Volker Härtig<br />
Fotos Adobe Stock/EricS &<br />
Privat<br />
4 BERLINER STIMME
AUS DEM LANDESVERBAND<br />
Berliner Stimmen<br />
24 VERNETZUNG<br />
SPD-Arbeitskreis für HumanistInnen<br />
und Konfessionsfreie<br />
Text Mark Rackles & Bruno Osuch<br />
Foto FotoAgenten Heidelberg &<br />
Die Hoffotografen GmbH &<br />
Adobe Stock/Gautier Willaume<br />
VERMISCHTES<br />
Kultur & Geschichte<br />
26 BUCHREZENSION<br />
Dr. Maren Urner:<br />
Schluss mit dem täglichen Weltuntergang<br />
Text Felix Bethmann<br />
IMPRESSUM<br />
Berliner Stimme<br />
Zeitung der Berliner Sozialdemokratie<br />
Herausgeber<br />
SPD Landesverband Berlin,<br />
Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),<br />
Müllerstraße 163, 13353 Berlin,<br />
Telefon: 030.4692-222<br />
E-Mail: spd@spd.berlin<br />
Webadresse: www.spd.berlin<br />
Redaktion<br />
Rowena Paeche, Anett Seltz<br />
Telefon: 030.4692-222<br />
E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de<br />
Mitarbeit an dieser Ausgabe<br />
Felix Bethmann, Monika Buttgereit,<br />
Malu Dreyer, Volker Härtig, Andrea Kühnemann,<br />
Bruno Osuch, Mark Rackles, Sandra Scheeres,<br />
Rainer Spiering (MdB), Matthias Traub,<br />
Matthias Trenczek, Max von Chelstowski<br />
Grafik Hans Kegel & Nico Roicke<br />
Titelbild Adobe Stock/Jan_S<br />
Abonnement 29,– Euro pro Jahr im Postvertrieb<br />
Abo-Service Telefon: 030.4692-144,<br />
Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de<br />
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Foto Carolin Weinkopf<br />
Neue Mehrheiten für<br />
eine fortschrittliche Politik<br />
Soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit bleiben nach Ansicht des<br />
SPD-Landesvorsitzenden Michael Müller die zentralen Themen der<br />
Sozialdemokratie. Dazu gehört auch bezahlbares Wohnen als eine der<br />
sozialen Fragen unserer Zeit. Ressortübergreifend muss alles getan<br />
werden, damit zusätzlicher erschwinglicher Wohnraum entsteht.<br />
Berliner Stimme: Die SPD sucht eine neue Führung. Diesmal liegt die<br />
Entscheidung bei den Mitgliedern. Am 17. September werden sich die<br />
Kandidatinnen und Kandidaten bei der Berliner Regionalkonferenz<br />
vorstellen. Was erwartet uns?<br />
Michael Müller: Es ist gut, dass in diesen für unsere Partei schwierigen<br />
Zeiten alle Mitglieder der SPD über unsere neue Führung entscheiden<br />
können. Das war auch die klare Forderung unseres Landesverbandes.<br />
Auch die Möglichkeit, eine Doppelspitze zu wählen, halte ich für richtig,<br />
Auf die Partei warten viele Herausforderungen. Ein gutes Doppelspitzen-<br />
Team, das gemeinsam arbeitet, kann da ein guter Ansatz sein. Die Regionalkonferenz<br />
am 17. September gibt uns die Chance, die Kandidatinnen<br />
und Kandidaten kennenzulernen und mit ihnen über die Zukunft unserer<br />
Partei zu diskutieren.<br />
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Was erwartest du von der Regionalkonferenz?<br />
Wer sich jetzt zur Wahl stellt, von dem werden natürlich auch Antworten<br />
erwartet. Wir müssen nicht drum herumreden: Für die SPD sind das<br />
extrem schwierige Zeiten. Ganz gleich, ob jung oder alt, Mann oder Frau,<br />
mehr oder weniger links, lange im Amt oder neu dabei. Es ist überall dasselbe<br />
Bild: Die SPD verliert bei Wahlen und in Umfragen an Zustimmung.<br />
Es kann also nicht nur an Personen oder regionalen Besonderheiten liegen.<br />
Natürlich wird die Frage „Wie hältst du es mit der großen Koalition?“<br />
eine Rolle spielen. Aber wir müssen vor allem über unsere inhaltliche<br />
Aufstellung als moderne Sozialdemokratie reden.<br />
6 BERLINER STIMME
OBEN<br />
Michael Müller<br />
Das heißt?<br />
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs.<br />
Digitalisierung und Automatisierung<br />
verändern schon jetzt die Arbeit. Mit<br />
dem Plattformkapitalismus ist zudem<br />
eine vollkommen neue Arbeitswelt<br />
entstanden. Prekäre Arbeit und Scheinselbstständigkeit<br />
ist da an der Tagesordnung.<br />
Für mich ist die Kombination<br />
von digital und sozial entscheidend.<br />
Die Sozialdemokratie wird also dringend<br />
gebraucht, um die neue Zeit sozial zu<br />
gestalten. Mit einem Sozialstaat 2.0, der<br />
den neuen Herausforderungen gerecht<br />
wird. Wer die SPD zukünftig führen will,<br />
der muss sich diesen Fragen stellen.<br />
Die SPD Berlin hat früh eine inhaltliche<br />
Erneuerung gefordert ...<br />
Ja, der Landesvorstand hat nach dem<br />
Rücktritt von Andrea Nahles für eine<br />
inhaltliche Neupositionierung erste<br />
Forderungen aufgestellt und in den<br />
Parteivorstand eingebracht. Wir wollen,<br />
dass die SPD mit einem neuen Grundsatzprogramm<br />
neue Antworten für die<br />
Herausforderungen der Zukunft entwickelt.<br />
Aber wir müssen uns natürlich<br />
schon jetzt zu Fragen verhalten, die uns<br />
alle bewegen. Da ist zum Beispiel das<br />
Thema Wirtschaft. Wir brauchen eine<br />
nachhaltige Produktion und Verwertung,<br />
die Menschen und Klima schützt. Wie erreichen<br />
wir eine gemeinwohlorientierte<br />
Wertschöpfung abseits der typischen<br />
Marktlogiken? Nötig ist außerdem ein<br />
gerechtes Steuersystem, über das eine<br />
faire Umverteilung erfolgt. Die Vermögenssteuer,<br />
eine gerechte Erbschaftsteuer<br />
und vor allem die Finanztransaktionssteuer<br />
müssen endlich von der<br />
SPD umgesetzt werden.<br />
Und was ist mit neuen Machtoptionen?<br />
Wenn jetzt Malu Dreyer und andere<br />
darüber nachdenken, auch auf Bundesebene<br />
das Verhältnis zur Linkspartei zu<br />
klären, um neue Machtoptionen jenseits<br />
der GroKo zu öffnen, finde ich das<br />
richtig. In Berlin sind wir diesen Weg<br />
2001 gegangen und haben 10 Jahre<br />
gut mit der Linkspartei regiert. Und mit<br />
unserem rot-rot-grünen Bündnis seit<br />
2016 beweisen wir, dass es Mehrheiten<br />
jenseits von Koalitionen mit der CDU<br />
gibt, mit denen man eine fortschrittliche<br />
Politik machen kann. Aber natürlich<br />
müssen viele Fragen geklärt und<br />
Gemeinsamkeiten entwickelt werden.<br />
Je früher man mit Gesprächen anfängt,<br />
umso besser. Klar ist: Auch in einem<br />
Bündnis mit Grünen und Linken muss<br />
die SPD ein eigenes, unverwechselbares<br />
Profil haben.<br />
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Kommen wir kurz zum Mitgliedervotum<br />
zurück. Wie geht es da weiter?<br />
Wir haben ja gute Erfahrungen mit<br />
Mitgliedervoten gemacht. In Berlin,<br />
aber auch vor nicht so langer Zeit auf<br />
Bundesebene, als es 2018 darum ging,<br />
über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen<br />
zu entscheiden. Das hat<br />
die Partei mobilisiert und auch viele<br />
Neumitglieder wollten mitentscheiden.<br />
Ich denke, auch diesmal werden viele<br />
neu zu uns in die SPD kommen. Stimmberechtigt<br />
sind alle Mitglieder, die bis<br />
zum 16. September in die SPD aufgenommen<br />
wurden. Und ich habe an alle,<br />
die abstimmen wollen, eine große Bitte:<br />
Es wäre toll, wenn sich möglichst viele<br />
Mitglieder für die Online-Abstimmung<br />
registrieren lassen. Das geht schnell<br />
und spart Geld, das wir dringend für<br />
unsere politische Arbeit brauchen.<br />
Am 14. Oktober startet dann die Abstimmung.<br />
Aus der ersten Runde<br />
werden die Ergebnisse am 26. Oktober<br />
vorliegen. Wenn kein Einzelkandidat<br />
oder keine Doppelspitzen-Kandidatur<br />
die absolute Mehrheit erhält, wird eine<br />
Stichwahl durchgeführt. Gewählt wird<br />
die neue Spitze dann auf dem Bundesparteitag<br />
im Dezember.<br />
Also liegt das Ergebnis der ersten<br />
Runde am Tag des nächsten Landesparteitags<br />
vor. Womit wird sich die<br />
Berliner SPD dort beschäftigen?<br />
Ja, das wird interessant. Denn inhaltlich<br />
werden wir uns in jedem Fall mit dem<br />
Bericht unserer Kommission Politische<br />
Handlungsfelder beschäftigen, der jetzt<br />
vorliegt und vor dem Parteitag in den<br />
Gliederungen diskutiert wird. Wir<br />
haben den Auftrag der Partei sehr ernst<br />
genommen, genau unsere Situation<br />
zu analysieren und zu ermitteln, was<br />
von der Berliner Sozialdemokratie erwartet<br />
wird. In vielen Sitzungen haben<br />
wir – auch von Umfragen gestützt –<br />
darüber diskutiert, wie wir verlorenes<br />
Vertrauen zurückgewinnen können und<br />
welche Themen zentral sind.<br />
Wir müssen besser<br />
soziale und persönliche<br />
Sicherheit garantieren.<br />
Und was sind die wichtigsten Themen?<br />
Wir müssen besser soziale und persönliche<br />
Sicherheit garantieren. Soziale<br />
Gerechtigkeit und gute Arbeit bleiben<br />
dabei zentrale Themen. Und natürlich<br />
geht es vor allem um die wichtigste<br />
soziale Frage unserer Zeit: bezahlbares<br />
Wohnen. Mit dem Mietendeckel haben<br />
wir hier einen eigenen SPD-Vorschlag<br />
vorgelegt, der auch bundesweit Interesse<br />
geweckt hat. Und wir werden natürlich<br />
über unseren Ansatz, für mehr bezahlbaren<br />
Wohnraum durch Bauen – Kaufen –<br />
Deckeln zu sorgen, auf dem Parteitag<br />
diskutieren. Ein zentrales Thema bleibt,<br />
dass Landes- und Bezirksebene sowie<br />
die Verantwortlichen aller Ressorts<br />
gemeinsam für mehr neue und bezahlbare<br />
Wohnungen arbeiten müssen.<br />
Du leitest ja auch die SPD-Wohnungsbaukommission<br />
auf Bundesebene.<br />
Was muss der Bund tun?<br />
Ja, wir arbeiten hier seit Monaten mit<br />
vielen Akteuren aus der Bundespolitik<br />
gut zusammen. Dabei geht es um viele<br />
Fragen rund um bezahlbares Wohnen,<br />
aber auch darum, wie wir bessere Infrastruktur<br />
in ländlichen Räumen schaffen<br />
und geeignete Maßnahmen gegen Bodenspekulation.<br />
Vieles, was dort diskutiert<br />
wird, steht bei uns in Berlin schon lange<br />
auf der Tagesordnung. Anderes können<br />
8 BERLINER STIMME
wir nur über Bundesrecht ändern. Wir<br />
haben hier viel Expertise zusammengetragen.<br />
Jetzt geht es darum, einen<br />
Antrag zum nächsten Bundesparteitag<br />
im Dezember zu erarbeiten. Die SPD<br />
muss auf dem Parteitag deutlich<br />
machen, dass sie Antworten auf die<br />
dringende soziale Frage für bezahlbaren<br />
Wohnraum hat. Berlin ist hier<br />
mit dem Mietendeckel und den vielen<br />
anderen Maßnahmen der Vergangenheit<br />
Vorreiter.<br />
Die Menschen<br />
müssen uns wieder<br />
zutrauen, dass für uns<br />
soziale Gerechtigkeit<br />
an erster Stelle steht.<br />
Klimapolitik ist in aller Munde. Auch<br />
hier muss die SPD Antworten liefern.<br />
In Berlin ist natürlich die ökologische<br />
Verkehrswende ein ganz entscheidender<br />
Schritt für ein besseres Stadtklima.<br />
Mit unserem Mobilitätsgesetz sind wir<br />
auch hier Vorreiter. Aber wir müssen<br />
den ÖPNV viel attraktiver machen.<br />
Deswegen habe ich auch vorgeschlagen,<br />
die Berlinerinnen und Berliner mit<br />
einem 365-Euro-Ticket zum Umsteigen<br />
zu bewegen. Ein Euro pro Tag, da kann<br />
man nicht meckern, wie der Berliner<br />
sagen würde. Genauso wichtig ist die<br />
verkehrliche Verbindung zwischen den<br />
Innen- und Außenbezirken. Wir müssen<br />
U-Bahnlinien verlängern wie zum<br />
Beispiel die U8 ins Märkische Viertel.<br />
Und nicht zu vergessen: Wir brauchen<br />
mehr moderne Fahrzeuge. Dafür investieren<br />
wir allein drei Milliarden Euro<br />
in neue U-Bahnzüge. Gute Alternativen<br />
bieten statt Autofahrer drangsalieren.<br />
Das ist sozialdemokratische Mobilitätsund<br />
Klimapolitik in Berlin. Was die<br />
Bundespolitik betrifft, müssen wir<br />
natürlich darüber diskutieren, ob wir<br />
schneller aus der Kohle aussteigen<br />
und Inlandsflüge durch ein gutes Bahnangebot<br />
überflüssig machen können.<br />
Und natürlich über eine sozial gerechte<br />
CO2-Steuer. Die SPD sollte nicht versuchen,<br />
die besseren Grünen zu werden.<br />
Ökologie und Ökonomie zusammen zu<br />
denken – das ist Auftrag der SPD.<br />
Abschließend noch mal zu Berlin.<br />
Auch in Berlin hat die SPD trotz guter<br />
Politik an Vertrauen verloren. Bis zur<br />
nächsten Wahl sind es noch über zwei<br />
Jahre. Was ist zu tun?<br />
Wir dürfen uns nicht von den Umfragen<br />
irre machen lassen, sondern müssen<br />
unsere Politik für die Stadt weiterführen<br />
und besser erklären, worum es uns geht.<br />
Schulsanierung, Verwaltungsreform und<br />
eine bessere Infrastruktur bleiben wichtige<br />
Aufgaben – und wir sind auf dem<br />
richtigen Weg. Aber wir können uns nicht<br />
einfach vom Bundestrend abkoppeln.<br />
Vertrauen zurückzugewinnen wird im<br />
Bund und in Berlin dauern. Die Menschen<br />
müssen uns wieder zutrauen, dass für<br />
uns soziale Gerechtigkeit an erster Stelle<br />
steht. Mit unserer Politik zur Entlastung<br />
von Familien – zum Beispiel durch das<br />
gebührenfreie Schülerticket, Schulmittagessen<br />
und kostenfreie Hortjahre – tun<br />
wir das. Und es war mir auch wichtig,<br />
mit meinem Vorschlag für das Solidarische<br />
Grundeinkommen zu zeigen, dass<br />
wir über einen neuen Sozialstaat nachdenken.<br />
Gute Arbeit statt Hartz IV, von<br />
der die Gesellschaft und der ehemalige<br />
Langzeitarbeitslose gleichermaßen<br />
profitierten. Das ist ein neuer Weg in<br />
der Arbeitsmarktpolitik. Und er schafft<br />
einen neuen Zusammenhalt.<br />
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Texte Matthias Traub & Andrea Kühnemann<br />
Fotos Adobe Stock/hanohiki & Privat & ver.di<br />
Sonntags geöffnet?<br />
Für Matthias Traub von der SPD Mauerpark sind „Spätis“<br />
aus den Kiezen nicht mehr wegzudenken. Er setzt sich für eine<br />
Änderung des Berliner Ladenöffnungsgesetzes ein, damit „Spätis“<br />
auch sonntags unter bestimmten Voraussetzungen öffnen können.<br />
Die stellvertretende Landesbezirksleiterin der Gewerkschaft verdi,<br />
Andrea Kühnemann, argumentiert dagegen, dass der Schutz der<br />
Arbeitsruhe an Sonntagen von grundsätzlicher Bedeutung sei<br />
und die Rechte der ArbeitnehmerInnen geschützt werden sollten.<br />
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Matthias Traub<br />
Berlin verstehen –<br />
Spätis erhalten!<br />
OBEN<br />
Matthias Traub<br />
ArbeitnehmerInnen vor Ausbeutung<br />
zu schützen, ist sozialdemokratisch.<br />
An diesem Grundsatz wollen und werden<br />
wir nicht rütteln – es ist aber nicht sozialdemokratisch,<br />
inhabergeführten Unternehmen<br />
vorzuschreiben, wann und wie<br />
sie ihre Geschäfte öffnen. Deswegen ist<br />
die SPD Mauerpark dafür, das Berliner<br />
Ladenöffnungsgesetz zu ändern und es<br />
zu ermöglichen, dass „Spätis“ unter bestimmten<br />
Voraussetzungen sonn- und<br />
feiertags sanktionsfrei und rechtssicher<br />
öffnen dürfen.<br />
Es ist für uns eine Frage der Teilhabe: Oft<br />
sind Spätis von UnternehmerInnen mit<br />
Migrationsgeschichte geführt – für sie ist<br />
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dieses eigene Geschäft oft die einzige<br />
Möglichkeit, eine gute und gesicherte<br />
Zukunft für sich und ihre Familien zu<br />
erwirtschaften. Das dürfen wir ihnen<br />
nicht verwehren. Die SPD hat Menschen<br />
immer ermutigt, ihr Leben in die eigene<br />
Hand zu nehmen – werden wir diesem<br />
Grundsatz wieder treu!<br />
Es ist für uns eine Frage der Ehrlichkeit:<br />
Sonntagssonderöffnungen etwa vor<br />
Weihnachten, zur IFA oder zur Grünen<br />
Woche betreffen ArbeitnehmerInnen.<br />
Hier erlauben wir Sonntagsarbeit zu<br />
Lasten Dritter – in erster Linie betrifft<br />
dies Frauen und prekär Beschäftigte.<br />
Selbstgewählte Sonntagsarbeit wollen<br />
wir aber weiterhin untersagen. Das<br />
ist nur dann logisch, wenn wir allein<br />
Großunternehmen und die durchorganiserte<br />
ArbeitnehmeInnenschaft als<br />
PartnerInnen unserer Politik sehen.<br />
Es ist für uns eine Frage der Glaubwürdigkeit<br />
unserer Partei: Wir wollen „Berlin<br />
verstehen“ und gehen mit diesem Slogan<br />
in Wahlkämpfe. Wenn wir kleinen<br />
Gewerbetreibenden ihre Existenz und<br />
den NachbarInnen im Kiez – gerade<br />
Älteren, Alleinstehenden und Armen –<br />
ihren Treffpunkt nehmen und Kaufkraft<br />
am Sonntag in den Einzelhandel an<br />
Bahnhöfen und in Tankstellen umleiten,<br />
verstehen wir Berlin nicht, sondern<br />
ignorieren unsere Stadt und ihre Wirklichkeit.<br />
In dieser Wirklichkeit sind<br />
auch Spätis von Verdrängung bedroht –<br />
schließen sie am Sonntag, können sie<br />
Mietsteigerungen nicht mehr abfangen<br />
und verschwinden aus dem Kiez.<br />
Berlin ist mehr, als das jetzige Ladenöffnungsgesetz<br />
zugestehen will und unsere<br />
Partei ist mehr, als sie sich aktuell zutraut:<br />
Wir sind dem Anspruch nach die<br />
„Berlinpartei“, die Partei der Menschen,<br />
die sich selbst organisieren und emanzipieren<br />
wollen, wir sind Kiezpartei, Partei<br />
des sozialen Aufstiegs, Partei der Integration<br />
und für alle, die in unsere Stadt<br />
kommen und hier leben wollen. Werden<br />
wir diesem Anspruch gerecht und treffen<br />
wir unsere Nachbarn am Späti. Auch<br />
und gerade am Sonntag und am Feiertag.<br />
CONTRA<br />
Andrea Kühnemann<br />
ver.di sagt „Nein“ zur Ladenöffnung<br />
an Sonntagen<br />
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OBEN<br />
Andrea Kühnemann<br />
Kranke und alte Menschen pflegen,<br />
Leben retten, Mobilität sichern, für Freizeitangebote<br />
sorgen – in zahlreichen<br />
Branchen wird am Sonntag gearbeitet.<br />
Aber ist das „Sonntagsshopping“ wirklich<br />
unverzichtbar?<br />
Seit dem 17. November 2006 hat Berlin<br />
ein sehr weitgehendes Ladenöffnungsgesetz.<br />
An den Werktagen Montag bis<br />
Samstag können sämtliche Läden rund<br />
12 BERLINER STIMME
FAKTEN<br />
Sonntagsöffnung von „Spätis“<br />
Viele „Spätis“ haben sonntags geöffnet, die meist inhabergeführten Geschäfte<br />
erwirtschaften am Sonntag einen großen Teil ihres Wochenumsatzes. Allerdings<br />
verstoßen sie dabei meistens gegen das Berliner Ladenschlussgesetz, das bundesweit<br />
eines der liberalsten ist.<br />
Die Berliner SPD hat schon häufig über das Spannungsfeld von Interessen der<br />
(inhabergeführten) Geschäfte auf der einen Seite und dem Schutz von ArbeitnehmerInnen<br />
auf der anderen Seite diskutiert.<br />
Bisher hat sie sich jedes Mal gegen eine reguläre Sonntagsöffnung für „Spätis“<br />
ausgesprochen.<br />
um die Uhr öffnen. Einzig geschützter<br />
Tag bleibt nach dem Grundgesetz und<br />
dem Arbeitszeitgesetz der Sonntag. Die<br />
bestehenden Ausnahmen für den Verkauf<br />
in Personenbahnhöfen, Tankstellen,<br />
Apotheken und von Reisebedarf für<br />
Touristen sowie die Genehmigung von<br />
Ladenöffnungen an bis zu 10 Sonntagen<br />
durch Allgemeinverfügung des Senats<br />
oder wegen eines Jubiläums oder Straßenfestes<br />
stellen die Versorgung sicher.<br />
Spätis haben sich danach zu richten.<br />
Es kommt eben nicht auf ein Verkaufsformat<br />
oder die Zuordnung zu einer<br />
Gruppe von Geschäften an, sondern<br />
darauf, dass die bestehenden Regeln<br />
für alle gleichermaßen gelten und die<br />
Einhaltung auch wirkungsvoll kontrolliert<br />
wird!<br />
Allein im Berliner Einzelhandel sind<br />
141.000 ArbeitnehmerInnen beschäftigt.<br />
Davon sind rund 70 Prozent weiblich,<br />
mehr als 60 Prozent arbeiten in Teilzeit.<br />
Die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten<br />
in den letzten 30 Jahren hat<br />
vielen Beschäftigten eine erhebliche Verschlechterung<br />
der Arbeitsbedingungen<br />
beschert. Arbeit zu ungünstigen Zeiten<br />
ist vielerorts die Regel. Gleichzeitig hat<br />
die Tarifbindung nachgelassen, wohl nur<br />
noch rund 30 Prozent der Beschäftigten<br />
sind in tarifgebundenen Betrieben des<br />
Einzelhandels tätig. In vielen Unternehmen,<br />
die nicht den Einzelhandelstarifvertrag<br />
anwenden, gibt es Haustarifverträge,<br />
aber der große Teil der in dieser<br />
Branche Beschäftigten arbeitet ohne<br />
Tarifvertrag. Das bedeutet: Sie erhalten<br />
keine tariflich vereinbarten Zuschläge<br />
wie z. B. für Wochenendarbeit. Das sind<br />
wichtige Gründe, warum ver.di stets<br />
gegen die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten<br />
war.<br />
Der Schutz der Arbeitsruhe an Sonntagen<br />
ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil<br />
der letzte gemeinsame arbeitsfreie Tag<br />
der Woche für Erholung und Gesundheitsschutz,<br />
Schutz der Familien und<br />
Schutz der Demokratie durch Teilnahme<br />
am öffentlichen gesellschaftlichen Leben<br />
steht. Ausnahmen gelten natürlich z. B.<br />
für Krankenhäuser oder die Polizei – Aufgaben,<br />
die auch sonntags erfüllt werden<br />
müssen. Das gilt nicht für den Einzelhandel!<br />
Auch im online-Handel darf<br />
sonntags nicht kommissioniert werden.<br />
Weder das Umsatzinteresse von Händlern<br />
noch das Einkaufsinteresse von<br />
Kunden sind geeignet, eine Ladenöffnung<br />
an einem Sonntag zu begründen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
13
Text Rainer Spiering (MdB)<br />
Fotos Benno Kraehahn & Adobe Stock/Karanov images<br />
Angemessene Preise<br />
für Lebensmittel!<br />
Als Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe Ernährung und Landwirtschaft<br />
im Deutschen Bundestag drückt Rainer Spiering in Sachen<br />
Klimaschutz aufs Tempo. Er setzt sich für bewussteres Konsumverhalten<br />
und eine tierwohlorientierte Fleischproduktion ein.<br />
Von der EU fordert er eine radikale Neuausrichtung der Agrarpolitik.<br />
Lebensmittel müssen uns wieder einen angemessenen<br />
Preis wert sein, der den Ausgleich<br />
von Klimaschäden einbezieht sowie gute<br />
Löhne für Arbeitnehmer in der Land- und<br />
Ernährungswirtschaft enthält.<br />
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OBEN<br />
Rainer Spiering ist Bundestagsabgeordneter<br />
für den Wahlkreis<br />
Osnabrück-Land<br />
Laut Sonderbericht des Weltklimarates (IPCC)<br />
sind die Folgen des Klimawandels schon heute<br />
nachweisbar: steigende Temperaturen, häufigere<br />
Wetterextreme, Vegetationsverluste,<br />
Artensterben, zunehmende Waldbrände sowie<br />
Auswirkungen auf Ernteerträge. Die Landund<br />
Forstwirtschaft sind für 23 Prozent des<br />
menschengemachten Treibhausgas-Ausstoßes<br />
verantwortlich.<br />
„Fridays for Future“ fordert von Politik und<br />
Wirtschaft mehr Tierwohl- und Klimaschutzmaßnahmen<br />
ein. Zum Nulltarif wird es das<br />
nicht geben. So plädiert auch der Tierschutzbund für eine Fleischsteuer.<br />
Eine andere Variante kann eine Anpassung des Mehrwertsteuersatzes<br />
(MwSt.) auf Fleisch auf 19 Prozent sein, da es unkomplizierter realisierbar<br />
wäre. Jedoch würden so hauptsächlich die Konsumenten belastet. Wenn<br />
heute ein Schweineschnitzel (200 Gramm) rund 2,38 Euro kostet, würde<br />
es dann um 28 Cent teurer werden und 2,66 Euro kosten.<br />
14 BERLINER STIMME
Laut Umweltbundesamt (UBA) würde eine<br />
Mehrwertsteueranpassung rund 5,2 Mrd.<br />
Euro in den Bundeshaushalt spülen.<br />
Denkbar wäre dann eine „Drittellösung“<br />
zur Finanzierung von Klima- und Tierschutzmaßnahmen<br />
sowie einen Ausgleich<br />
an die BürgerInnen. Im Sinne des<br />
Wissenschaftlichen Beirats des Bundeslandwirtschaftsministeriums<br />
(BMEL)<br />
könnten 3 Mrd. Euro für den Umbau von<br />
klima- und tierschutzgerechten Ställen<br />
genutzt werden.<br />
Alle Beteiligten entlang der Wertschöpfungskette<br />
müssen an einem Strang<br />
ziehen. Die Produktion von preiswertem<br />
Fleisch orientiert sich an der Profitmaximierung<br />
und wird durch Dumpinglöhne<br />
in der Lebensmittelwirtschaft ermöglicht.<br />
Die Fleischproduzenten und der Lebensmitteleinzelhandel<br />
müssen ihren Beitrag<br />
zur nachhaltigen Nutztierhaltung leisten.<br />
Ebenso müssen sie die ArbeitnehmerInnen<br />
mit einen Grundlohn deutlich über<br />
12,50 Euro pro Stunde anständig entlohnen.<br />
Nur so kann man auch Steuern<br />
gut bezahlen.<br />
Es bedarf eines differenzierten Ansatzes:<br />
Neben einem bewussteren Konsumverhalten<br />
und einer umweltgerechteren<br />
und tierwohlorientierten Fleischproduktion<br />
sollten regionale Nährstoffkreisläufe<br />
gestärkt und die klimaschädliche Bodennutzung<br />
beendet werden. Wir brauchen<br />
dürreresistente Pflanzen sowie effizientere<br />
Nahrungsmittel-Ketten mit geringeren<br />
Ernteverlusten.<br />
Mit einer radikalen Neuausrichtung der<br />
europäischen Agrarpolitik (GAP) nach<br />
2020 können mehr und effizienter Mittel<br />
für Klima-, Umwelt- und Tierschutz<br />
sowie zur Stärkung der ländlichen<br />
Räume eingeplant werden.<br />
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BERLINER STIMME<br />
15
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16 BERLINER STIMME
Texte Sandra Scheeres & Monika Buttgereit & Matthias Trenczek<br />
Fotos Adobe Stock/Herrndorf & Reto Klar & SPD Berlin & Joachim Gern<br />
Lehrkräfte verbeamten?<br />
Seit Berlin 2004 die Lehrkräfteverbeamtung abgeschafft hat,<br />
entfaltet sich die Debatte, ob sie nicht wieder eingeführt werden sollte.<br />
Sandra Scheeres ist seit 2011 Berlins Bildungssenatorin und<br />
plädiert für eine Rückkehr zur Verbeamtung von Lehrkräften,<br />
damit die Stadt bei der Lehrkräftegewinnung wettbewerbsfähig bleibt.<br />
Monika Buttgereit und Matthias Trenczek, SprecherInnen des Fachausschusses<br />
„Stadt des Wissens“ der SPD Berlin, argumentieren dagegen,<br />
dass Berlin den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen sollte.<br />
PRO<br />
Sandra Scheeres<br />
Zurück zur Verbeamtung –<br />
weil Berlin die besten<br />
Lehrkräfte braucht<br />
OBEN<br />
Sandra Scheeres<br />
Das neue Schuljahr hat mit einer<br />
guten Nachricht begonnen: Berlin konnte<br />
erneut alle rund 2.700 offenen Lehrkräftestellen<br />
besetzen. Und mit einer<br />
schlechten: Auch in diesem Jahr sind<br />
nicht einmal die Hälfte der Neueinstellungen<br />
Lehramtsabsolventen. Ich bin<br />
dankbar für jeden Quer- und Seiteneinsteiger,<br />
der oder die in den Berliner<br />
Schuldienst und das begleitende Qualifizierungsprogramm<br />
startet. Doch auf<br />
Dauer muss Berlin wieder mehr Lehramtsabsolventen<br />
gewinnen können.<br />
Die Rückkehr zur Verbeamtung ist dafür<br />
eine unverzichtbare Bedingung.<br />
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BERLINER STIMME<br />
17
Mir fällt diese Einsicht nicht leicht, da<br />
ringen Herz und Verstand miteinander.<br />
Und so geht es vielen in der SPD, deshalb<br />
ist es gut, dass uns der Parteitag im März<br />
Zeit für eine ausführliche Debatte und die<br />
Prüfung aller Alternativen gegeben hat.<br />
Als Berlin 2004 die Lehrkräfteverbeamtung<br />
abgeschafft hat, war ich optimistisch,<br />
dass die restlichen Bundesländer<br />
diesem Schritt früher oder später folgen<br />
würden. Das Gegenteil ist eingetreten,<br />
heute ist Berlin das letzte Land, das neue<br />
Lehrkräfte nur anstellt. Auf einem bundesweiten<br />
Arbeitsmarkt mit konstantem<br />
Absolventenmangel ist diese Sonderrolle<br />
ein Nachteil, der uns jedes Jahr mehrere<br />
hundert Lehrkräfte kostet. Und seit auch<br />
Brandenburg mit dem Beamtenstatus<br />
lockt, findet jedes Jahr eine Abstimmung<br />
mit den Füßen oder der S-Bahn statt.<br />
Höhere Nettobezüge und Pensionen,<br />
Unkündbarkeit und berufliche Mobilität<br />
im Rest der Republik – das sind Vorteile,<br />
die eine Anstellung kaum bieten kann.<br />
Berlin bezahlt seine angestellten Lehrer<br />
heute hervorragend, bietet multiprofes-<br />
sionelle Teams an den Schulen, erstklassige<br />
Fortbildungen und die Brennpunktzulage<br />
für Schulen in schwieriger Lage.<br />
Aber im Wettbewerb um Lehramtsabsolventinnen<br />
und -absolventen reicht<br />
das nicht aus, da spricht die Praxis eine<br />
deutliche Sprache.<br />
Natürlich ist die Verbeamtung kein Allheilmittel<br />
für die Lehrkräftegewinnung.<br />
Sie würde uns aber endlich Chancengleichheit<br />
mit den anderen Bundesländern<br />
bringen. Berlin muss seine Attraktivität<br />
auch im Kampf um die besten<br />
Lehrkräfte ausspielen können, das erwarten<br />
die Menschen von uns. Diese voll<br />
ausgebildeten Lehrkräfte kämen in Berlin<br />
auch den Brennpunktschulen zu Gute, an<br />
denen der Anteil an Quer- und Seiteneinsteigern<br />
derzeit noch besonders hoch ist.<br />
Auch wenn die Rückkehr zur Verbeamtung<br />
eher auf Pragmatismus als aus politischer<br />
Leidenschaft beruhen wird: Berlin<br />
sollte seine Kraft nicht in einem Kampf<br />
vergeuden, den es alleine nicht gewinnen<br />
kann. Das dankt uns keiner, und<br />
das schadet am Ende unserer Stadt.<br />
CONTRA<br />
Monika Buttgereit &<br />
Matthias Trenczek<br />
„Weshalb verbeamtet<br />
ihr nicht?“<br />
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OBEN<br />
Monika Buttgereit & Matthias Trenczek<br />
Es ist ein Ritual. Vor jedem Schuljahr<br />
Hiobsbotschaften, wie viele Lehrkräfte<br />
demnächst in Berlin fehlen würden.<br />
Nach Beginn des Schuljahres interessiert<br />
es schlicht nicht, dass die Stellen wieder<br />
alle besetzt wurden. Tatsächlich ein<br />
Anlass, von einer sozialdemokratischen<br />
Erfolgsgeschichte zu sprechen.<br />
Aber wem ist präsent, dass die Berliner<br />
18 BERLINER STIMME
FAKTEN<br />
Beschluss des Landesparteitags der SPD Berlin<br />
Den Antrag, Lehrkräfte wieder zu verbeamten, hat der Landesparteitag am<br />
30. März <strong>2019</strong> abgelehnt. Stattdessen wurden Senat und Fraktion aufgefordert,<br />
die Benachteiligung von angestellten Lehrkräften gegenüber verbeamteten<br />
Lehrkräften zu beenden. Dabei sollen bis Ende <strong>2019</strong> die Vor- und Nachteile einer<br />
außertariflichen Entgeltgestaltung, einer Regelung innerhalb der TdL (Tarifgemeinschaft<br />
deutscher Länder) und der Wiedereinführung der Verbeamtung<br />
miteinander abgewogen werden.<br />
SPD die Anstrengungen zur qualitativen<br />
Verbesserung der Berliner Schulen<br />
immer wieder aktualisiert? Wer hat das<br />
Bekenntnis zum Leitbild des kombinierten<br />
Einsatzes des pädagogischen Personals<br />
an den Berliner Schulen gelesen<br />
(Antrag 117/I/<strong>2019</strong>)? Gute Beschäftigungsverhältnisse<br />
auch im Bildungsbereich<br />
sollen weiter realisiert werden?<br />
Also z. B. Gehaltssteigerungen und eine<br />
deutliche Reduzierung der Wochenarbeitsstunden<br />
für Lehrerinnen und<br />
Lehrer (Antrag 121/I/<strong>2019</strong>)?<br />
Weshalb nicht einer ganzen Generation<br />
aktiver Lehrerinnen und Lehrer erklären,<br />
dass sie nicht bessergestellt werden,<br />
obwohl die SPD Ihnen genau das bei der<br />
Abschaffung der Verbeamtung versprochen<br />
hat? Weshalb nicht die Kollegien in<br />
verbeamtete Lehrkräfte und angestelltes<br />
übriges Personal spalten? Und was ist<br />
mit den Lehrkräften im Angestelltenverhältnis,<br />
die aus Altersgründen oder<br />
wegen Krankheit nicht verbeamtet<br />
werden können? Viele von ihnen haben<br />
in den letzten Jahren das Berliner Schulsystem<br />
maßgeblich mitgestaltet!<br />
Die Wiedereinführung der Verbeamtung<br />
ist kein Wundermittel, sondern schafft<br />
neue Ungerechtigkeiten. Tatsächlich<br />
führt sie nicht zu einer besseren Besetzung<br />
der Stellen, schon weil damit kein<br />
einziger Mensch mehr für den Beruf<br />
qualifiziert wird. Ein Blick auf die zahlreichen<br />
unbesetzten Stellen in Bundesländern,<br />
die sich nicht von der Verbeamtung<br />
gelöst haben, müsste reichen.<br />
Aber gehen nicht jedes Jahr immer mehr<br />
aus Berlin weg? Und weshalb kommen<br />
im gleichen Zeitraum mehr Menschen,<br />
um hier an den Schulen den Beruf auszuüben?<br />
Wer unbedingt verbeamtet<br />
werden möchte, hat die Möglichkeiten<br />
in den anderen Bundesländern.<br />
Und bitte, es gibt keine geringere finanzielle<br />
Belastung bei Verbeamtung. Und<br />
wir wollen für die privaten Krankenkassen<br />
keinen neuen Extramarkt schaffen.<br />
Die Frage, warum mit den erheblichen<br />
Kosten für eine Verbeamtung das Land<br />
Berlin nicht für alle Beschäftigten eine<br />
verbesserte landeseigene Zusatzversorgung<br />
wieder einrichtet, wäre dann auch<br />
noch zu beantworten.<br />
Wir wollen an einer Schulentwicklung<br />
arbeiten, die kein Kind zurücklässt,<br />
unabhängig vom finanziellen Spielraum<br />
der Eltern und mit allen, die dafür bereit<br />
sind, für Schulen mit einem gleichgestellten<br />
Lehrpersonal streiten, welches<br />
gerne und in guten Verhältnissen die<br />
Schule von morgen für die Kinder von<br />
morgen mitgestaltet. Lasst uns nicht auf<br />
ein scheinbares Wundermittel setzen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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20 BERLINER STIMME
Texte Max von Chelstowski & Volker Härtig<br />
Fotos Adobe Stock/EricS & Privat<br />
Immobilien enteignen?<br />
Bauen, Kaufen, Deckeln – auf diese drei Instrumente setzt die<br />
SPD Berlin, um mehr bezahlbaren Wohnraum für die Stadt zu schaffen<br />
und zu erhalten. Gleichzeitig sammelt eine Initiative Unterschriften<br />
für die Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen.<br />
Aber ist die Vergesellschaftung der richtige Weg?<br />
Max von Chelstowski von den Jusos Neukölln und Volker Härtig,<br />
Vorsitzender des Fachausschusses Soziale Stadt der SPD Berlin, wägen das<br />
Für und Wider ab und kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.<br />
PRO<br />
Max von Chelstowski<br />
Vergesellschaftung<br />
als Chance begreifen<br />
In Berlin herrscht seit Jahren Goldgräberstimmung.<br />
InvestorInnen verdienen<br />
bestens an den Immobilien der Hauptstadt.<br />
Im Zuge dessen ist Wohnen die<br />
soziale Frage unserer Zeit geworden.<br />
OBEN<br />
Max von Chelstowski<br />
Viele Menschen in Berlin fürchten die<br />
nächste Modernisierung, den Verlust der<br />
Wohnung oder mitsamt ihres Hauses<br />
verkauft zu werden. Angesichts dieser<br />
Lage überraschen weder die Radikalität<br />
der Forderung der Volksinitiative „Deutsche<br />
Wohnen und Co enteignen“ noch<br />
der Zuspruch in der Bevölkerung. Dass<br />
es gelungen ist, binnen weniger Wochen<br />
77.000 Unterschriften für die Vergesellschaftung<br />
aller großen privaten Berliner<br />
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BERLINER STIMME<br />
21
Immobiliengesellschaften zu sammeln,<br />
ist Grund genug, sich ernsthaft mit der<br />
Initiative auseinander zu setzen. Wir<br />
müssen uns als SPD Berlin fragen, inwiefern<br />
wir die Vergesellschaftung als Teil<br />
der Problemlösung betrachten wollen.<br />
Unbestritten hat der Volksentscheid inhaltliche<br />
Schwächen. Die Fokussierung<br />
auf Unternehmen ab 3.000 Wohnungen<br />
ist angreifbar und sagt nichts über deren<br />
Geschäftsgebaren aus. Stattdessen sollte<br />
die Vergesellschaftung stärker anhand<br />
sozialer Kriterien entschieden werden.<br />
Wir brauchen ihre Anwendung als<br />
Ultima Ratio, um verantwortungsvolles<br />
Vermieten durchzusetzen und Missbrauch<br />
zu beenden. Darüber hinaus gilt<br />
es, mit dem Mittel der Enteignung Sozialwohnungen<br />
und bezahlbaren Wohnraum<br />
dauerhaft zu sichern, wenn deren<br />
Verlust in Privatbesitz droht.<br />
Ein zentrales Problem der Volksinitiative<br />
ist die Beschränkung auf Bestandswohnungen,<br />
denn durch eine Vergesellschaftung<br />
wird zunächst kein Wohnraum neu<br />
geschaffen, sondern nur gerechter verwaltet.<br />
Wir müssen deshalb insbesondere<br />
über die Vergesellschaftung von<br />
Bauland nachdenken, um die soziale<br />
Stadt der Zukunft zu sichern. Zielorientierte<br />
Anwendung der Vergesellschaftung<br />
hilft nicht nur den Betroffenen,<br />
sondern schont auch den Haushalt. Im<br />
Gegensatz zum bislang genutzten Vorkaufsrecht,<br />
können wir dabei ungleich<br />
größere Markteingriffe zum Wohle der<br />
Stadtgesellschaft erzielen.<br />
Es gilt, in der Auseinandersetzung mit<br />
der Volksinitiative und in Abgrenzung<br />
von den Linken eine eigene Vision von<br />
sozial gerechter und sachlich begründeter<br />
Vergesellschaftung zu entwickeln. Die<br />
Einführung des Mietendeckels beweist,<br />
dass es positive Veränderungen auf dem<br />
Berliner Wohnungsmarkt nur dank der<br />
SPD gibt. Lasst uns erneut mutig sein. Die<br />
im Grundgesetz verankerte Möglichkeit<br />
zur Vergesellschaftung ist eine sozialdemokratische<br />
Errungenschaft und sollte<br />
in angemessener Form genutzt werden.<br />
Berlin wird es uns danken.<br />
CONTRA<br />
Volker Härtig<br />
Zynisches Placebo<br />
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OBEN<br />
Volker Härtig<br />
Franz Josef Strauß sprach in seiner berüchtigten<br />
Sonthofen-Rede 1974 von der<br />
Nützlichkeit schwerer Krisen: „Erst muss<br />
es zum totalen Offenbarungseid und<br />
zum Schock kommen. Erst dann kann<br />
man erfolgreich mit einem neuen Aufbau<br />
beginnen.“<br />
R2G ist wohnungspolitisch gescheitert,<br />
die Anspannung auf dem Wohnungsmarkt<br />
verschärft sich. Dieses krasse Urteil<br />
stammt nicht aus Oppositionskreisen,<br />
22 BERLINER STIMME
FAKTEN<br />
Der Volksentscheid fordert, private Immobilienkonzerne, die mehr als 3.000<br />
Wohnungen besitzen, nach Artikel 15 Grundgesetz zu enteignen und ihre Bestände<br />
in Gemeineigentum zu überführen. Die betroffenen Unternehmen sollen<br />
deutlich unter Marktwert entschädigt werden, die Bestände durch eine Anstalt<br />
öffentlichen Rechts (AöR) und unter demokratischer Beteiligung von Stadtgesellschaft<br />
und MieterInnen verwaltet werden. Sie dürfen nicht privatisiert werden.<br />
sondern aus dem MieterEcho, Organ<br />
der den Linken nahestehenden Mietergemeinschaft.<br />
Tausende Wohnungen,<br />
vor allem städtische, bezahlbare, werden<br />
nicht gebaut, verzögert, verhindert. Es<br />
begann mit dem ehemaligen Rieselfeld<br />
Elisabethaue (ca. 4.000 Wohnungen), es<br />
folgten Friedrichshain-West (1.500 WE),<br />
Michelangelostraße (2.000 WE), Postgiroamt<br />
Kreuzberg (400 WE), Blankenburger<br />
Süden (6-10.000 WE) und viele mehr.<br />
100.000 Wohnungen fehlen in Berlin<br />
heute schon, bald werden es 150.000 sein.<br />
Baugenehmigungen und Wohnungsbau<br />
stagnieren seit 2017. Jedes Jahr werden<br />
10.000 Wohnungen zu wenig gebaut.<br />
Solch zynisches Kalkül treibt heute die<br />
Wohnungspolitik der Linken in Berlin an:<br />
Je schlimmer die Verhältnisse auf dem<br />
Wohnungsmarkt, desto größer ist die<br />
Chance für Politik aus der DDR-Mottenkiste,<br />
etwa die Sozialisierung privater<br />
Wohnungsbestände.<br />
150.000 Berliner Haushalte suchen jedes<br />
Jahr eine Wohnung, weil sie umziehen<br />
müssen oder neu nach Berlin kommen.<br />
7 bis 8 % aller Haushalte begeben sich<br />
pro Jahr suchend auf den Wohnungsmarkt.<br />
Umgekehrt: Über 90 % haben eine<br />
Wohnung, da sind also viel mehr Wählerstimmen<br />
zu holen.<br />
Mit Mietendeckel und Sozialisierungsforderungen<br />
richtet sich Berlin derweil<br />
im Notstand ein. Und das, obwohl 75 %<br />
des Wohnungsbaus in Berlin privat erfolgt,<br />
die Landeseigenen nicht mal 25 %<br />
schaffen – wen interessiert schon das<br />
Investitionsklima? Die Landeseigenen<br />
kann man wenigstens kommandieren.<br />
Warum wird nicht mehr, vor allem landeseigenes<br />
Bauland ausgewiesen und<br />
beplant, um den explodierenden Bodenpreisen<br />
zu begegnen (Tegel, Buch,<br />
Tempelhof, Blankenburg – Berlin lässt<br />
Millionen von Quadratmetern Bauland<br />
rumliegen, Potential für zehntausende<br />
Wohnungen). Warum werden neue Baugebiete<br />
verzögert, anstatt beschleunigt<br />
(Michelangelostraße, Friedrichshain)?<br />
Warum wird die Öffentlichkeit über den<br />
wirklichen Wohnbaubedarf bis 2030<br />
desinformiert? Warum tut der Senat<br />
nicht alles, damit jedes Jahr 10.000<br />
bezahlbare Wohnungen mehr entstehen<br />
(Wohnbauförderung)?<br />
Der böse private Vermieter beginnt bei<br />
einem Immobilienbesitz von mehr als<br />
3.000 Wohnungen. An die 240.000 Wohnungen<br />
(gerade mal 12 % aller Wohnungen<br />
in Berlin) sollen vergesellschaftet<br />
werden. Kosten? Irgendwas zwischen<br />
20 und 40 Mrd. Euro. Egal, Sozialisieren<br />
ist Gesellschaftspolitik, nichts für Krämerseelen.<br />
Den auf 5 Jahre angelegten Mietendeckel<br />
kann man ja immer wieder verlängern,<br />
falls – Überraschung! – 2024 wegen<br />
dieser Politik immer noch Wohnungsnot<br />
herrschen sollte.<br />
Wollen wir hoffen, dass sich die Berliner<br />
SPD für diesen Unsinn nicht hergibt.<br />
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BERLINER STIMME<br />
23
Text Mark Rackles & Bruno Osuch<br />
Fotos FotoAgenten Heidelberg & Die Hoffotografen GmbH & Adobe Stock/Gautier Willaume<br />
SPD-Arbeitskreis<br />
für HumanistInnen und<br />
Konfessionsfreie<br />
Wie kann die SPD gezielt Menschen ansprechen, die ihr Leben<br />
ohne religiöse Bezüge gestalten und sich in der Sozialdemokratie<br />
untereinander austauschen und vernetzen wollen?<br />
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OBEN<br />
Mark Rackles (l.) ist Beisitzer im Landesvorstand<br />
der Berliner SPD · Bruno Osuch (r.) ist Lehrer und<br />
früherer Präsident des Humanistischen Verbandes<br />
Berlin-Brandenburg<br />
Die SPD ist eine weltanschaulich<br />
pluralistische Partei und die sozialdemokratische<br />
Werteorientierung<br />
schöpft – gewiss nicht zuletzt – auch<br />
aus dem weltlichen Humanismus.<br />
Die Demokratie ist zu wesentlichen<br />
Teilen eine über Jahrhunderte mühsam<br />
erworbene Errungenschaft<br />
weltlich humanistischen Denkens,<br />
ebenso gilt dies für zentrale sozialdemokratische<br />
Werte und Prinzipien<br />
wie die Gleichberechtigung der<br />
Geschlechter, Gewissensfreiheit,<br />
Selbstbestimmung und Toleranz.<br />
Mehr als 25 Millionen Menschen<br />
in Deutschland leben heute konfessionsfrei,<br />
in Berlin beträgt der Anteil der Konfessionsfreien mittlerweile<br />
über zwei Drittel der Bevölkerung.<br />
Vor diesem Hintergrund hat unser Berliner Landesparteitag im März<br />
<strong>2019</strong> den Beschluss gefasst, die Gründung eines Arbeitskreises für Konfessionsfreie<br />
und HumanistInnen zu fordern.<br />
24 BERLINER STIMME
Der Antrag wurde an den Landesvorstand<br />
überwiesen, der am 13. Mai <strong>2019</strong> einen<br />
Beschluss an den Vorstand der Bundespartei<br />
gefasst hat.<br />
Ein solcher Arbeitskreis soll Brücken<br />
bauen zwischen den Anliegen und Zielen<br />
der deutschen Sozialdemokratie und den<br />
Bürgerinnen und Bürgern mit humanistischem<br />
und alevitischem Bekenntnis<br />
sowie denjenigen ohne ein formalisiertes<br />
Bekenntnis zu einer anerkannten<br />
weltanschaulichen Traditionslinie.<br />
Im Einzelnen könnte der Arbeitskreis<br />
die folgenden Aufgaben übernehmen:<br />
► mit den entsprechenden Organisationen<br />
und Vereinigungen wie<br />
z. B. dem Humanistischen Verband<br />
in einen Dialog treten,<br />
► Kontakte mit weiteren zivilgeselschaftlichen<br />
Akteuren pflegen, Brücken in<br />
die Gesellschaft bauen und diejenigen<br />
besonders ansprechen, die ihr Leben<br />
ohne religiöse Bezüge gestalten und<br />
in der Sozialdemokratie die entsprechende<br />
Ansprechpartnerin suchen,<br />
► eine Plattform für diejenigen bieten,<br />
die ihr sozialdemokratisches Engagement<br />
aus einem weltlich-humanistischen<br />
Weltverständnis heraus begründen<br />
und dies mit Gleichgesinnten in<br />
der SPD diskutieren wollen.<br />
Erste Gespräche mit dem Willy-Brandt-<br />
Haus sind für Oktober terminiert. Bereits<br />
vorher wollen wir mit Interessierten<br />
einen Runden Tisch Humanistinnen<br />
und Humanisten sowie Konfessionsfreie<br />
in der Berliner SPD einberufen, der<br />
die spätere Gründung eines formalen<br />
Arbeitszusammenhangs vorbereitet und<br />
begleitet. Hierzu werden wir nach der<br />
Sommerpause einladen und freuen uns<br />
über jede interessierte Genossin und<br />
jeden interessierten Genossen.<br />
Bitte meldet Euch bei Interesse per E-Mail,<br />
dann halten wir Euch auf dem Laufenden:<br />
Mark Rackles (spd@rackles.de)<br />
Bruno Osuch (b.osuch@hvd-bb.de)<br />
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BERLINER STIMME<br />
25
Text Felix Bethmann<br />
Trocken bleiben<br />
in der Nachrichtenflut<br />
Die Neurowissenschaftlerin Dr. Maren Urner beschreibt<br />
in ihrem neuen Buch, wie wir durch ständigen Zugang zu Medien<br />
eine unrealistische, negative Sicht auf die Weltlage entwickeln –<br />
und bietet Lösungsansätze<br />
Morgens schon gilt einer der ersten Blicke dem Smartphone:<br />
Nachrichtenwebsites, Wetter-Apps, soziale Netzwerke. Musste man<br />
früher auf die Tagesschau warten, um einen Überblick über das weltweite<br />
Nachrichtengeschehen zu erhalten oder die Tageszeitung aufmerksam<br />
lesen, erhält man heute Eilmeldungen aufs Handy und bekommt<br />
Überschriften in die Timeline gespült. Bestehende Meinungen verfestigen<br />
sich durch die eigene Filterblase, die als Echokammer fungiert.<br />
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Dr. Maren Urner ist Dozentin für Medienpsychologie an der Hochschule<br />
für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln und Mitbegründerin<br />
des ersten werbefreien Online-Magazins für Konstruktiven Journalismus,<br />
Perspective Daily. In ihrem Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang.<br />
Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne<br />
wehren.“ beschreibt sie, wie unsere Aufmerksamkeit auf negative<br />
Nachrichten gelenkt wird und wie sich dadurch unser Weltbild verzerrt.<br />
Mitunter könnte man meinen, wir seien nur so umgeben von Terror,<br />
Kriegen und Naturkatastrophen. Passiert etwas Schlimmes in der Welt,<br />
sind wir heutzutage zu jeder Tages- und Nachtzeit problemlos live dabei.<br />
Ein paar Klicks genügen und wir haben Zugriff auf Nachrichten in Echtzeit,<br />
Spekulationen, Gerüchte. Hinzu kommen Überschriften, die uns<br />
dazu anhalten sollen, auf Artikel zu klicken. Eine scheinbar in der Überschrift<br />
angelegte Nachricht wird so auch ohne Kenntnis des eigentlichen<br />
Inhalts eines Artikels schnell zum Fakt.<br />
26 BERLINER STIMME
Dr. Maren Urner:<br />
Schluss mit dem täglichen Weltuntergang<br />
Klappenbroschur<br />
Droemer HC, 224 Seiten<br />
ISBN: 978-3-426-27776-8<br />
16,99 Euro<br />
als E-Book:<br />
Droemer eBook<br />
ISBN: 978-3-426-45413-8<br />
14,99 Euro<br />
Durch die Art, wie wir Berichterstattung<br />
konsumieren, entwickeln wir laut Urner<br />
gesamtgesellschaftlich ein „Gefühl der<br />
antrainierten Hilflosigkeit“, das uns mit<br />
negativen Gefühlen allein lässt und<br />
Verdrossenheit befördert.<br />
Fakt ist aber auch, dass sich die Welt in<br />
vielen Bereichen mitnichten so negativ<br />
entwickelt, wie unsere Wahrnehmung<br />
suggeriert. Seit 1970 ist die Anzahl der<br />
Toten durch Naturkatastrophen auf<br />
weniger als die Hälfte gesunken, die<br />
Kindersterblichkeit ist seit 1990 um<br />
56 Prozent gesunken und 80 Prozent<br />
der erwachsenen Menschen weltweit<br />
können lesen und schreiben. Dies sind<br />
nur einige Beispiele für positive Entwicklungen,<br />
die wir kaum wahrnehmen,<br />
wie Befragungen zeigen.<br />
Die gleichen Methoden, die wir verwenden,<br />
wenn wir Nachrichten konsumieren,<br />
können uns aber auch dabei helfen,<br />
diese kritisch einzuordnen und anhand<br />
unserer Vernunft abzuwägen. Wie keine<br />
Generation zuvor sind wir in der Lage,<br />
Quellen zu überprüfen. Ein paar wenige<br />
Klicks reichen, um vermeintliche Nachrichten<br />
als Fake News zu entlarven oder<br />
Argumentationslinien gegeneinander<br />
abzuwägen. Es gibt Websites, die sich<br />
darauf spezialisiert haben, populäre Verschwörungstheorien<br />
zu dekonstruieren.<br />
Wir besitzen eine Eigenverantwortung<br />
für unseren Umgang mit Medien und<br />
die Art und Weise, wie wir die Welt um<br />
uns sehen (wollen). Sich selbst zu hinterfragen,<br />
Ignoranz als solche zu erkennen<br />
und bewusst abzubauen und andere<br />
Sichtweisen aktiv zu erfragen sind Wege,<br />
diese Eigenverantwortung wahrzunehmen.<br />
Es gehört zur Stärke des Buches,<br />
nicht nur eine Analyse der mitunter<br />
nachdenklich stimmenden Wirklichkeit<br />
unseres Medienkonsums zu liefern,<br />
sondern auch Lösungsansätze aufzuzeigen,<br />
die uns dabei helfen können,<br />
nicht in Panik und Schwarz-Weiß-<br />
Denken zu verfallen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
27
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Die Teams und KandidatInnen für den SPD-Parteivorsitz sind<br />
von Anfang September bis Mitte Oktober in ganz Deutschland<br />
unterwegs, um sich vorzustellen und mit uns zu diskutieren.<br />
Du bist herzlich willkommen zum<br />
Tour-Termin in Berlin<br />
am Dienstag, 17. September <strong>2019</strong><br />
um 18.30 Uhr · Einlass ab 17.30 Uhr<br />
im Willy-Brandt-Haus · Atrium<br />
Für den Tour-Termin in Berlin bitten wir Dich um eine Anmeldung<br />
► über das Online-Formular auf www.spd.berlin/unserespd<br />
► oder telefonisch unter 030.4692-155<br />
Der Veranstaltungsort ist barrierefrei. Weiteren Assistenzbedarf sowie einen Wunsch nach<br />
Kinderbetreuung bitte unter 030.4692-155 anmelden.