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L E<br />
T O U R<br />
20<br />
19<br />
SIMON<br />
YATES<br />
S<br />
imon Yates steht auf und schüttelt sein<br />
Trikot von der Brust weg, um etwas kühle<br />
Luft zirkulieren zu lassen. Es steht ein<br />
Klimagerät auf dem Boden des Konferenzraums<br />
im dritten Stock des Logis Nîmotel<br />
in Nîmes, wo Mitchelton-Scott am zweiten<br />
Ruhetag der Tour de France untergebracht<br />
ist. Draußen ist das Thermometer<br />
auf 37 Grad geklettert. Yates ist zwar in<br />
einem australischen Team, aber in diesem<br />
sengenden, nicht heimischen Klima ist er<br />
immer noch der Junge aus dem englischen<br />
Bury. Er lacht, als er dem Team-Pressesprecher<br />
sagt, dass er sitzen bleibe, wo er<br />
während unseres Interviews saß – nur vor<br />
einer Klimaanlage halte man es heute aus.<br />
Yates ist guter Dinge, und das ist kein<br />
Wunder. Am Tag zuvor hat er seine zweite<br />
Etappe bei der Tour gewonnen. Er lächelt,<br />
als er sich wieder auf seinen Platz setzt;<br />
aufeinanderfolgende Interviews sind nicht<br />
anstrengend, wenn man gute Resultate<br />
auf seiner Seite hat.<br />
Vor sechs Wochen war das noch ganz<br />
anders. Yates hatte gerade den Giro d’Italia<br />
beendet und war Gesamt-Achter geworden<br />
– mit 7:49 Minuten Rückstand<br />
auf den Sieger Richard Carapaz. Für andere<br />
wäre ein Top-Ten-Platz bei einer großen<br />
Rundfahrt ein mehr als respektables Ergebnis,<br />
doch nicht für Yates. Er war in Italien<br />
angetreten, um den Titel zu holen und<br />
die Erinnerungen an zwölf Monate zuvor<br />
auszulöschen, als er auf der 19. Etappe,<br />
das Rosa Trikot auf den Schultern, entkräftet<br />
einbrach. Moralisch gestärkt durch<br />
seine erste gewonnene Landesrundfahrt,<br />
die Vuelta a España im September, erklärte<br />
er mutig, den Giro im Mai gewinnen zu<br />
wollen. Auf der Pressekonferenz vor dem<br />
Rennen zeigte er selbstsicher und ungeniert<br />
auf sich selbst und sagte „ich“, als er<br />
gefragt wurde, wer der Favorit sei.<br />
Achter zu werden, war nicht sein Plan.<br />
Tatsächlich nannte Yates das Resultat<br />
„herzzerreißend“.<br />
Yates kam dann kurzfristig ins Tour-<br />
Aufgebot, um seinen Bruder Adam in der<br />
Gesamtwertung zu unterstützen. Simon<br />
hatte die Freiheit, auf Etappenjagd zu gehen,<br />
insbesondere als Adam die Gesamtwertung<br />
abschreiben konnte. Er ergriff die<br />
Chance mit beiden Händen und gewann<br />
seine ersten beiden Tour-Etappen sicher<br />
und souverän, erst auf der 12. Etappe in<br />
Bagnères-de-Bigorre aus der Ausreißergruppe<br />
heraus, bevor er die Galavorstellung<br />
drei Tage später auf der 15. Etappe<br />
am Prat d’Albis wiederholte. Wenn Yates’<br />
Glücksbringer beim Giro verloren gegangen<br />
war, hatte er ihn wiedergefunden.<br />
„Körperlich bin ich sehr gut daraus<br />
[dem Giro] hervorgegangen, so gut habe<br />
ich mich noch nie von einer großen Rundfahrt<br />
erholt“, sagt er zu Procycling, während<br />
er mit seinem Silberarmband am linken<br />
Handgelenk spielt.<br />
„Ich war nie fest für die Tour eingeplant,<br />
aber ich habe mich sehr gut regeneriert<br />
und bin dann ohne Druck ins Rennen gegangen,<br />
es ist eine Kombination, um hier<br />
wirklich in guter Form zu starten.“<br />
Yates spielt seine Gefühle nach dem<br />
Giro nicht herunter: „Ich bin dort angetreten,<br />
um zu gewinnen, daraus mache ich<br />
keinen Hehl, und das nicht zu schaffen,<br />
war sehr enttäuschend“, sagt er. Aber er<br />
will das Resultat abhaken. Er habe danach<br />
sofort Urlaub gemacht, wie nach jeder<br />
Landesrundfahrt, und nicht viel Zeit zum<br />
Grübeln gehabt, wie er sagt.<br />
Die Tour lieferte eine willkommene Ablenkung,<br />
zumal er mehr Freiheiten hatte<br />
und weniger unter Druck stand, als wenn<br />
er die Gesamtwertung angepeilt hätte.<br />
Stattdessen konnte er an den Tagen, die<br />
ihm am meisten lagen, angriffslustig und<br />
nach seinem Instinkt fahren, wie er es<br />
mag. Die Etappensiege waren eine natürliche<br />
Folge.<br />
„Ich hatte wirklich Spaß“, sagt Yates.<br />
„Wenn es auf das Ende eines Rennens zugeht,<br />
spürst du den Druck und willst etwas<br />
gewinnen, aber wenn ich etwas versuche<br />
und es nicht funktioniert, ist es<br />
nicht schlimm, denn mein Ziel war, meinen<br />
Bruder Adam zu unterstützen. Ich<br />
habe hier nicht wirklich etwas zu verlieren,<br />
was mir hilft, glaube ich.“<br />
Am Hourquette<br />
d’Ancizan startet<br />
Yates die Attacke,<br />
die ihm den Sieg<br />
auf der 12. Etappe<br />
bringen wird.<br />
DAS POSITIVE SEHEN<br />
Man verliert im Radsport häufiger als man<br />
gewinnt. Dass man sich wieder aufrappelt<br />
und es erneut versucht, ist also ganz<br />
normal. Der Sport ist voller Höhen und<br />
Tiefen, doch Yates und sein Mitchelton-<br />
Scott-Team scheinen es besser zu verstehen<br />
als andere, Enttäuschung schnell in<br />
Freude umzumünzen. Beim Giro 2018<br />
ging Mikel Nieve 24 Stunden nach Yates‘<br />
Einbruch am Colle delle Finestre in die<br />
Ausreißergruppe und gewann die Etappe.<br />
Yates meldete sich nach dem Giro zurück<br />
und entschied die Vuelta für sich. Und als<br />
er beim diesjährigen Giro keine Chancen<br />
mehr auf den Sieg hatte, gewann sein<br />
Teamkollege Esteban Chaves die vorletzte<br />
Bergetappe (19.).<br />
Und jetzt die Tour. Yates’ zwei Siege<br />
waren nicht das Einzige, was Mitchelton<br />
zu feiern hatte; auch Daryl Impey und<br />
Matteo Trentin mischten mit und gewannen<br />
die Etappen 8 und 17, ebenfalls aus<br />
Ausreißergruppen heraus. Obwohl Adam<br />
Yates das Podium weit verfehlte, machten<br />
Mitcheltons vier Etappensiege die Tour<br />
<strong>2019</strong> zu ihrer erfolgreichsten Auflage<br />
überhaupt.<br />
Die Reaktion von Sportdirektor Matt<br />
White, als Yates seine zweite Etappe<br />
gewann, sagte alles. Am Tag vor der<br />
15. Etappe verlor Adam am Tourmalet<br />
6:42 Minuten und rutschte vom 10. auf<br />
den 18. Platz ab. Jeder Hauch von Hoffnung<br />
auf einen Podiumsplatz war verflogen.<br />
Als Simons zweiter Etappensieg<br />
MITCHELTON-<br />
SCOTTS<br />
TOUR-ATTACKEN<br />
Alle vier Etappensiege von Mitchelton-Scott bei der Tour<br />
entstanden aus Ausreißergruppen. Doch diese Tage waren nicht<br />
die einzigen, an denen das Team zum Angriff blies.<br />
ETAPPE FAHRER DISTANZ ERGEBNIS<br />
9 Daryl Impey 156 km 1.<br />
12 Simon Yates & Daryl Impey 167 km 1., 6.<br />
15 Simon Yates 147 km 1.<br />
17 Matteo Trentin 194 km 1.<br />
18 Adam Yates 128 km 31.<br />
19 Simon Yates 101 km (2.)<br />
106 PROCYCLING | SEPTEMBER <strong>2019</strong>