PC_09_2019_FINAL_X1
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ETAPPE<br />
12<br />
DONNERSTAG, 18. JULI<br />
TOULOUSE ›<br />
BAGNÈRES-DE-BIGORRE<br />
2<strong>09</strong>,5 KM<br />
L E<br />
T O U R<br />
20<br />
19<br />
MICHAEL<br />
MATTHEWS<br />
© Yuzuru Sunada (Yates)<br />
Über solche Etappen wird oft gesagt,<br />
dass es eigentlich zwei Rennen in einem<br />
gibt – eines um den Etappensieg, das<br />
andere um die Platzierung im Gesamtklassement.<br />
So mussten die Fernsehkommentatoren<br />
die fast zehnminütige<br />
Lücke schließen, die zwischen Simon<br />
Yates, der im Sprint vor Pello Bilbao und<br />
Gregor Mühlberger gewann, und den<br />
Favoriten entstanden war, die scheinbar<br />
entspannt und ohne größere Ambitionen<br />
für diesen Tag gemeinsam ins Ziel<br />
fuhren. Diese erste Etappe in den<br />
Pyrenäen war schwer zu beurteilen.<br />
Verglichen mit den folgenden Alpenabschnitten<br />
oder den beiden schweren<br />
Pyrenäenetappen nach dem Zeitfahren<br />
des nächsten Tages war es für Yates ein<br />
leichtes Spiel. Der Col de Peyresourde<br />
und Hourquette d’Ancizan, beides<br />
Anstiege der ersten Kategorie, versetzten<br />
das Peloton nicht wirklich in Unruhe;<br />
stattdessen zog Luke Rowe von Ineos<br />
– eigentlich ein Fahrer für flachere<br />
Etappen – das Feld über die Gipfel und<br />
bis zur Ziellinie. So lag die gesamte Spannung<br />
an der Spitze des Rennens. Yates’<br />
Teamkollege Matteo Trentin holte an<br />
der letzten Bergwertung, dem Hourquette<br />
d’Ancizan, den bis dahin Führenden<br />
Simon Clarke ein, konnte jedoch dem<br />
Tempo von Yates und Mühlberger nicht<br />
folgen. In der Abfahrt gelang es Pello<br />
Bilbao, zum Spitzenduo aufzuschließen,<br />
jedoch holte sich Yates den Tagessieg.<br />
ETAPPENERGEBNIS<br />
1 Simon Yates Mitchelton-Scott 4:57:53<br />
2 Pello Bilbao Astana gl. Zeit<br />
3 Gregor Mühlberger Bora–hansgrohe gl. Zeit<br />
GESAMTWERTUNG<br />
1 Julian Alaphilippe Deceuninck–QS 52:26:<strong>09</strong><br />
2 Geraint Thomas Team Ineos +1:12<br />
3 Egan Bernal Team Ineos +1:16<br />
NACHWUCHSWERTUNG<br />
1 Egan Bernal Team Ineos 52:27:25<br />
2 Enric Mas Deceuninck–QS +0:30<br />
3 David Gaudu Groupma-FDJ +3:16<br />
richtet. Jede Menge Gedanken müssen<br />
ihm durch den Kopf gegangen sein. Was<br />
konnte er sonst noch tun?<br />
Matthews trug sein Herz immer auf der<br />
Zunge, ob er gewonnen oder verloren hatte.<br />
Er beantwortete Fragen vor und nach<br />
jeder Etappe, und er antwortete umfassend,<br />
auch wenn er sichtbar frustriert oder<br />
ratlos war. Am Ruhetag lächelt er, als er<br />
uns begrüßt, und setzt sich hin, aber er<br />
spricht langsam und macht sehr lange<br />
Pausen, während er einatmet und nachdenkt.<br />
Eine Blase, die so intensiv und<br />
druckvoll ist wie die Tour, kann das Rennen<br />
zu einem einsamen Ort macht. Es gibt<br />
wenige Orte, wo man sich die Wunden<br />
lecken und regenerieren kann. Fahrer, zumindest<br />
die erfolgreichsten, sind in der<br />
Lage, sich aufzurappeln und es am nächsten<br />
Tag wieder zu probieren, selbst wenn<br />
sie nicht wollen.<br />
„Bei der Tour de France, wo so viele<br />
Journalisten sind, wo du ständig darüber<br />
sprichst, sieht es jeder, wenn du einen<br />
Fehler machst. Die ganze Welt sieht es,<br />
und dann bekommst du immer dieselben<br />
Fragen gestellt“, erklärt uns Matthews.<br />
„Ich habe eine wirklich gute Gruppe um<br />
mich, die an mich glaubt. Ich glaube, das<br />
hilft mir definitiv, am nächsten Morgen<br />
aufzustehen und weiterzumachen.<br />
Abends ist es ziemlich schwer, ins Bett<br />
zu gehen. Es gehen dir immer noch 1.000<br />
Sachen durch den Kopf – wo du einen<br />
Fehler gemacht hast oder was passiert ist<br />
oder sonst etwas“, sagt der Australier.<br />
35<br />
Karrierensiege<br />
für Matthews<br />
– doch nur<br />
zwei davon<br />
fuhr er bis<br />
Ende Juli im<br />
Jahr <strong>2019</strong> ein<br />
Für Matthews<br />
war der Wechsel<br />
seines Tourplans<br />
in letzter Minute<br />
eine große mentale<br />
Herausforderung.<br />
Vor zwei Jahren lief bei der Tour für Matthews<br />
alles wie am Schnürchen. Er gewann<br />
zwei Etappen und sein erstes Grü -<br />
nes Trikot, während sein Teamkollege<br />
Warren Barguil ebenfalls zwei Tageserfolge<br />
und das Gepunktete Trikot holte. Sechs<br />
Wochen zuvor hatte Tom Dumoulin mit<br />
dem Giro d’Italia die erste große Rundfahrt<br />
für das deutsche Team gewonnen.<br />
Sie ritten auf einer Welle.<br />
Aber nichts ist sicher im Radsport. In<br />
diesem Jahr ging alles schief, was schiefgehen<br />
konnte. Bis Juli hatte Sunweb nur sechs<br />
Siege zu Buche stehen, mit die wenigsten in<br />
der WorldTour. Ihr Talisman Dumoulin<br />
musste den Giro nach einem Sturz aufgeben.<br />
Er war für die Tour vorgesehen, doch<br />
zwei Wochen vor dem Grand Départ sagte<br />
er den Start wegen Knieproblemen ab. In<br />
Frankreich kursierten Gerüchte, der Holländer<br />
sei kurz davor, das Team zu verlassen.<br />
Matthews hatte sich das ganze Frühjahr<br />
darauf vorbereitet, bei der Tour als<br />
Helfer für Dumoulin zu fahren, was bedeutete,<br />
dass er seine eigenen Ambitionen<br />
weitgehend hintanstellte. Dann fand er<br />
sich plötzlich im Niemandsland wieder.<br />
Der langlebige Sprinter war jetzt der<br />
De-facto-Teamkapitän, hatte sich aber<br />
nicht darauf vorbereitet.<br />
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass<br />
ich jeden Tag diese Etappensiege anpeile.<br />
Ich war mental nicht darauf vorbereitet.<br />
2017 hatte ich mich geistig darauf eingestellt,<br />
dass ich jeden Tag um den Etappensieg<br />
kämpfe und um die Zwischensprints.<br />
Ich habe viel Planung dort reingesteckt,<br />
daher war ich mental und physisch bereit.<br />
Jetzt glaube ich, dass ich physisch bereit<br />
bin, aber mental wahrscheinlich nicht da,<br />
wo ich sein sollte, um auf jeder Etappe mit<br />
den besten Sprintern zu kämpfen.“<br />
Sein Chefanfahrer Bol, ein Neuprofi,<br />
war nach Dumoulins Ausfall kurzfristig<br />
ins Aufgebot genommen worden. Das Paar<br />
war zuvor nur einmal, bei der Flandern-<br />
Rundfahrt, zusammen gefahren. Verständlicherweise<br />
dauerte es ein bisschen,<br />
bis sie aufeinander eingespielt waren, und<br />
jede Etappe war für sie sowohl eine steile<br />
Lernkurve als auch ein großes Ziel. Als<br />
Matthews mit jedem Tag verzweifelter<br />
um den Sieg kämpfte, war es auch wahrscheinlicher,<br />
dass er Fehler machte. Je<br />
mehr er es wollte, umso mehr liefen er<br />
und sein Team Gefahr, sich zu sehr den<br />
Kopf zu zerbrechen. „Das hat mich wahrscheinlich<br />
mental ein bisschen blockiert,<br />
wenn ich in die Sprints ging, zu denken:<br />
Oh, ich sollte da sein, ich sollte dort sein,<br />
86 PROCYCLING | SEPTEMBER <strong>2019</strong>