02.07.2020 Aufrufe

Pandemie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 80 (3/2020)

Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.

Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Besprechungen

Die Entgrenzung der

Architektur

Andre Krammer

Balkrishna Doshi, Wohnsiedlung

Aranya, Indore, 1989;

Foto — Iwan Baan 2018

Die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum

Wien mit dem Titel Balkrishna Doshi –

Architektur für den Menschen ist auf den

ersten Blick eine traditionelle Personale

und erscheint so von den zuletzt thematisch

orientierten Zugängen im Architekturmuseum

abzuweichen. Der Umstand, dass

es sich um eine internationale Wanderausstellung

handelt, ist spürbar: Die verschachtelte

Schau erscheint im Ausstellungsraum

des Az W etwas eingezwängt

und insbesondere das zentrale Modell

im Zentrum der Ausstellung wirkt in seiner

Übergröße leicht deplatziert.

Der indische Architekt Balkrishna Doshi,

Jahrgang 1927, hat in der Nachkriegszeit

in den Büros von Le Corbusier und Louis

Kahn gearbeitet. Sein eigenes, mittlerweile

viele Jahrzehnte umspannendes Werk ist

stark von der Formensprache und Ideenwelt

seiner Lehrmeister beeinflusst und

geht doch über diese hinaus. Es ist gleichermaßen

von der westlichen Moderne

geprägt wie von lokalen und regionalen

Bautraditionen der indischen Kultur-Landschaft,

in der sie eingebettet sind. Eine originäre

Offenheit der räumlichen und funk-

tionalen Konfigurationen zeichnet das

architektonische Werk Doshis aus, für das

er 2018 mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet

wurde.

Es überschreitet die Grenzen des traditionellen

Funktionalismus. Die von Doshis

Büro entworfenen Stadtquartiere, Wohnund

Bildungsbauten zeichnet eine hohe

Nutzungsoffenheit aus, die aus der traditionellen

indischen Alltagskultur abgeleitet

ist. Die Architektur versteht sich hier nicht

mehr als übergeordnetes Ordnungsprinzip,

sondern als Rahmenwerk, das vielfältige

Nutzungsszenarios ermöglichen

soll. Dabei ordnet sie sich einem gesellschaftlichen

Gesamtzusammenhang unter.

Lebenswirklichkeiten werden nicht als

Hindernis verstanden.

Doshis Arbeitsfelder beschränken sich

nicht auf die eines traditionellen Architekten.

Seine Bildungsbauten basieren auf

einem von ihm mitentwickelten interdisziplinären

Ausbildungskonzept. Die allumfassende

Konzeption ist aber gleichzeitig

immer als wandelbare, offene Struktur

konzipiert. Das Leben der Menschen auf

der gesellschaftlichen und kulturellen

Ebene soll durch das räumliche Dispositiv

nicht kontrolliert werden – es soll sich frei

entfalten können. Architektur schreibt

nichts Endgültiges fest, sondern soll auch

das Unvorhersehbare ermöglichen.

Manchen Entwürfen gingen vom Architekten

erfundene Erzählungen und Mythen

voraus, ein Narrativ wird angeboten, das

aber durch den Gebrauch überschrieben

werden darf und soll.

Nachhaltiges Bauen so verstanden, zielt

auch auf Wandelbarkeit ab. Räumliche,

architektonische, ökonomische, ökologische

und soziale Aspekte begegnen sich auf

Augenhöhe. Der anvisierte Gemeinsinn

der zukünftigen Bewohner*innen ist eine

Utopie, die erst durch die Praxis des

Bewohnens realisiert werden kann.

Am Bau einer Wohnsiedlung für einkommensschwache

Gruppen, die auch in

der Schau zu sehen ist, waren die zukünftigen

Bewohner*innen beteiligt. Die Architekt*innen

haben eine »main-structure«

entworfen, die von den Bewohner*innen

im Laufe der Zeit ihren Bedürfnissen

gemäß erweitert und verändert werden

darf – sie werden selbst zu Architekt*innen

der »sub-structure«. Diese Form der Raumproduktion

nimmt ein Spannungsverhältnis

von Kontrolle und Kontrollverlust bewusst

in Kauf.

Auf technischer Ebene bedeutete das in

diesem Fall eine Kombination aus Fertigbauweise

und lokalen Handwerkstechniken,

Tradition und Moderne. Doshis Landschaften

lösen die Grenze zwischen Innen und

Außen, zwischen Projekt und benachbarter

Siedlungsstruktur auf. Strategisch gesetzte

Zwischenräume und Schwellen, räumliche

Leerstellen erlauben Durchlässigkeit

und eine Praxis der Aneignung durch die

Bewohner*innen und Nutzer*innen.

In der Ausstellung verweisen bewegte

Bilder und Szenen, welche die digitalen

wie analogen Pläne ergänzen, auf die

Bedeutung des realen Gebrauchs. Doshis

Gemälde, die der Tradition indischer Miniaturmalerei

abgeleitet sind und seine

Projekte auf eine abstrakte wie imaginäre

Ebene heben, scheinen simultane Szenarien

zu präsentieren und verweisen so auf

einen zentralen Aspekt Doshis Architektur:

Zeit spielt in ihrer Konzeption eine genauso

wichtige Rolle wie Raum.

Ausstellung

Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen

Architekturzentrum Wien

29.05.2020 –29.06.2020

Kuratorin Khushnu Panthaki Hoof; Kuratorin Vitra Design

Museum: Jolanthe Kugler

Katalog

Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Jolanthe

Kugler, Khushnu Panthaki Hoof (Hg.)

Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen

Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2019

383 Seiten, 59,90 Euro

61

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!