Pandemie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 80 (3/2020)
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
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Besprechungen
Die Entgrenzung der
Architektur
Andre Krammer
Balkrishna Doshi, Wohnsiedlung
Aranya, Indore, 1989;
Foto — Iwan Baan 2018
Die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum
Wien mit dem Titel Balkrishna Doshi –
Architektur für den Menschen ist auf den
ersten Blick eine traditionelle Personale
und erscheint so von den zuletzt thematisch
orientierten Zugängen im Architekturmuseum
abzuweichen. Der Umstand, dass
es sich um eine internationale Wanderausstellung
handelt, ist spürbar: Die verschachtelte
Schau erscheint im Ausstellungsraum
des Az W etwas eingezwängt
und insbesondere das zentrale Modell
im Zentrum der Ausstellung wirkt in seiner
Übergröße leicht deplatziert.
Der indische Architekt Balkrishna Doshi,
Jahrgang 1927, hat in der Nachkriegszeit
in den Büros von Le Corbusier und Louis
Kahn gearbeitet. Sein eigenes, mittlerweile
viele Jahrzehnte umspannendes Werk ist
stark von der Formensprache und Ideenwelt
seiner Lehrmeister beeinflusst und
geht doch über diese hinaus. Es ist gleichermaßen
von der westlichen Moderne
geprägt wie von lokalen und regionalen
Bautraditionen der indischen Kultur-Landschaft,
in der sie eingebettet sind. Eine originäre
Offenheit der räumlichen und funk-
tionalen Konfigurationen zeichnet das
architektonische Werk Doshis aus, für das
er 2018 mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet
wurde.
Es überschreitet die Grenzen des traditionellen
Funktionalismus. Die von Doshis
Büro entworfenen Stadtquartiere, Wohnund
Bildungsbauten zeichnet eine hohe
Nutzungsoffenheit aus, die aus der traditionellen
indischen Alltagskultur abgeleitet
ist. Die Architektur versteht sich hier nicht
mehr als übergeordnetes Ordnungsprinzip,
sondern als Rahmenwerk, das vielfältige
Nutzungsszenarios ermöglichen
soll. Dabei ordnet sie sich einem gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhang unter.
Lebenswirklichkeiten werden nicht als
Hindernis verstanden.
Doshis Arbeitsfelder beschränken sich
nicht auf die eines traditionellen Architekten.
Seine Bildungsbauten basieren auf
einem von ihm mitentwickelten interdisziplinären
Ausbildungskonzept. Die allumfassende
Konzeption ist aber gleichzeitig
immer als wandelbare, offene Struktur
konzipiert. Das Leben der Menschen auf
der gesellschaftlichen und kulturellen
Ebene soll durch das räumliche Dispositiv
nicht kontrolliert werden – es soll sich frei
entfalten können. Architektur schreibt
nichts Endgültiges fest, sondern soll auch
das Unvorhersehbare ermöglichen.
Manchen Entwürfen gingen vom Architekten
erfundene Erzählungen und Mythen
voraus, ein Narrativ wird angeboten, das
aber durch den Gebrauch überschrieben
werden darf und soll.
Nachhaltiges Bauen so verstanden, zielt
auch auf Wandelbarkeit ab. Räumliche,
architektonische, ökonomische, ökologische
und soziale Aspekte begegnen sich auf
Augenhöhe. Der anvisierte Gemeinsinn
der zukünftigen Bewohner*innen ist eine
Utopie, die erst durch die Praxis des
Bewohnens realisiert werden kann.
Am Bau einer Wohnsiedlung für einkommensschwache
Gruppen, die auch in
der Schau zu sehen ist, waren die zukünftigen
Bewohner*innen beteiligt. Die Architekt*innen
haben eine »main-structure«
entworfen, die von den Bewohner*innen
im Laufe der Zeit ihren Bedürfnissen
gemäß erweitert und verändert werden
darf – sie werden selbst zu Architekt*innen
der »sub-structure«. Diese Form der Raumproduktion
nimmt ein Spannungsverhältnis
von Kontrolle und Kontrollverlust bewusst
in Kauf.
Auf technischer Ebene bedeutete das in
diesem Fall eine Kombination aus Fertigbauweise
und lokalen Handwerkstechniken,
Tradition und Moderne. Doshis Landschaften
lösen die Grenze zwischen Innen und
Außen, zwischen Projekt und benachbarter
Siedlungsstruktur auf. Strategisch gesetzte
Zwischenräume und Schwellen, räumliche
Leerstellen erlauben Durchlässigkeit
und eine Praxis der Aneignung durch die
Bewohner*innen und Nutzer*innen.
In der Ausstellung verweisen bewegte
Bilder und Szenen, welche die digitalen
wie analogen Pläne ergänzen, auf die
Bedeutung des realen Gebrauchs. Doshis
Gemälde, die der Tradition indischer Miniaturmalerei
abgeleitet sind und seine
Projekte auf eine abstrakte wie imaginäre
Ebene heben, scheinen simultane Szenarien
zu präsentieren und verweisen so auf
einen zentralen Aspekt Doshis Architektur:
Zeit spielt in ihrer Konzeption eine genauso
wichtige Rolle wie Raum.
—
Ausstellung
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen
Architekturzentrum Wien
29.05.2020 –29.06.2020
Kuratorin Khushnu Panthaki Hoof; Kuratorin Vitra Design
Museum: Jolanthe Kugler
—
Katalog
Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Jolanthe
Kugler, Khushnu Panthaki Hoof (Hg.)
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen
Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2019
383 Seiten, 59,90 Euro
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