Pandemie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 80 (3/2020)
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
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Editorial
Ursprünglich war geplant, den Schwerpunkt dieser Ausgabe
dem Thema Mobilität zu widmen. In zahlreichen Städten ist in
den letzten Jahren das Bewusstsein dafür gestiegen, dass
urbane Lebensqualität erfordert, die jahrzehntelange Bevorzugung
des motorisierten Individualverkehrs zu beenden und den
öffentlichen Verkehr und nicht-motorisierte Mobilitätsformen
wie Zufußgehen oder Radfahren zu stärken. Doch die beharrenden
Kräfte sind stark und einflussreich und stemmen sich
mit all ihrer gesellschaftlichen Macht gegen diese Entwicklungen.
Um jeden Parkplatz wird gekämpft, jeder neue Radweg ist
Anlass für medial geführte Kampagnen.
Während der Redaktionsarbeit für diesen Schwerpunkt
änderte sich mit Covid-19 und den damit verbundenen Maßnahmen
scheinbar plötzlich alles und es war uns klar, dass
Covid-19 bzw. Pandemien im Allgemeinen ein Thema für eine
Stadtforschungszeitschrift sein müssen. Der Eindruck, es hätte
sich alles geändert, erwies sich rasch als oberflächlich. Covid-19
hat einfach vieles, was latent ohnehin schon lange vorhanden
war, für alle offensichtlich gemacht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse
wurden nicht auf den Kopf gestellt, sondern zeigen
sich uns durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie
wie unter einer Lupe. Das betrifft auch das Thema Mobilität.
Noch nie war es so sicht- und spürbar, wie viel Platz auf
den Straßen vorhanden ist, wenn der Verkehr von einem Tag
auf den anderen fast gänzlich verschwindet, wie das mit Verkündung
der Ausgangsbeschränkungen der Fall war. Viel freier
Platz wäre notwendig gewesen, um ausreichend räumlichen
Abstand halten zu können. Eine verantwortungsvolle Politik
hätte zu diesem Zeitpunkt Straßen für Fußgeher*innen geöffnet
und Open Streets, Shared Spaces, Begegnungszonen etc.
daraus gemacht. Doch davon war – von Ausnahmestädten
abgesehen – nichts zu hören oder die Maßnahmen kamen erst
sehr spät. Das Thema Flächengerechtigkeit, der zentrale Aspekt
unseres geplanten Mobilitätsschwerpunkts, war mit Covid-19
also plötzlich noch zentraler als zuvor. Somit ist das Thema
Mobilität nun auch Teil unseres Schwerpunkts zu Pandemien:
Rainer Stummer, aktuell Aktivist der wichtigen und unbedingt
unterstützenswerten Kampagne Platz für Wien, schreibt – ausgehend
von einer Analyse des Volksentscheids Fahrrad in Berlin
– über Raumverteilung und Protest und knüpft damit auch ein
wenig an den letzten dérive-Schwerpunkt zu Protest an. Florian
Lorenz hat für uns einen Text über das Konzept der Open
Streets verfasst, das mit der seit 1976 (!) jeden Sonntag stattfindenden
Ciclovía in Bogotá, Kolumbien, auf eine lange
Geschichte zurückblicken kann.
Frank Eckardt verweist in seinem Beitrag die Vertiefung
der Gräben auf die Zunahme gesellschaftlicher Ausschlüsse,
sozialer und ökonomischer Diskriminierung und der Segregation
zwischen Arm und Reich. Er tritt für eine Stadtplanung
ein, »die sich nicht auf infrastrukturelle und städtebauliche
Zielstellungen reduziert,« um die Voraussetzung für solidarische
Strukturen eines urbanen Zusammenlebens zu schaffen.
Die Notwendigkeit einer sozialen urbanen Infrastruktur, die
allen unabhängig von Herkunft und Klasse zur Verfügung steht
und unabhängig von der neoliberalen Marktordnung geschaffen
und aufrecht erhalten wird, betonen auch die Autor*innen
des Beitrags Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger
Stadtentwicklung. Der Ansatz der Alltagsökonomie (foundational
economy) findet seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit,
und das, wie sich nun während Covid-19 wieder
zeigt, völlig zurecht. Ein schlagendes Beispiel dafür, was passiert,
wenn genau diese basale soziale Infrastruktur in Städten
nicht vorhanden ist oder nicht allen zur Verfügung steht, bringt
Ayona Datta mit ihrem Bericht über die Verhältnisse in indischen
Städten. Millionen Arbeiter*innen mussten ihre Städte
verlassen und zu Fuß oft über hunderte Kilometer in ihre Herkunfts-Dörfer
zurückkehren, weil ein Überleben mit Verhängung
der Ausgangssperren und somit ohne Einkommen für sie
nicht mehr möglich war.
Einen Überblick über die Situation am Wohnungsmarkt,
eine kritische Analyse der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen
und Beispiele für selbstorganisierte solidarische
Hilfsaktionen gibt das Redaktionskollektiv der Zeitschrift
Radical Housing in ihrem Beitrag Covid-19 and housing struggles,
den wir in einer gekürzten Version für diesen Schwerpunkt
übersetzt haben.
Felix Stalder schließlich konstatiert eine Beschleunigung
bestehender Digitalisierungsdynamiken, die sich durch die
massive Stärkung digitaler Infrastrukturen ebenso zeigt wie
durch den Ausbau der Marktmacht von Händler*innen wie
Amazon, die sich anschicken, sich als kritischer Teil der Grundversorgung
zu etablieren oder dem noch tieferen Eindringen von
Sozialen Medien in unseren Alltag. Als überraschende und positive
Entwicklung sieht Stalder die Entwicklung eines neuen
Standards für Kontaktnachverfolgung (DP 3 T), »bei dem weder
kommerzielle noch sicherheitspolitische, sondern zivilgesellschaftliche
Akteur*innen federführend sind.«
Für unsere lose Serie an Beiträgen zur Wiener Stadtgeschichte
stehen ein weiteres Mal die Donau und ihr räumliches
Umfeld im Mittelpunkt. Die kleine Anarchie an der Donau ist
der Titel von Matthias Marschiks Artikel über die Donauwiese.
Das Kunstinsert der vorliegenden Ausgabe stammt von Selma
Selman. Es zeigt »eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als
Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit
geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren«.
Mit dieser Ausgabe feiert dérive seinen 20. Geburtstag.
Letzten Herbst hatten wir noch eine große Party in der Nordbahnhalle
vor Augen, als wir an das Jubiläum dachten. Wäre
die Nordbahnhalle letzten November nicht einer Brandstiftung
zum Opfer gefallen, deren Aufklärung, wie es scheint, niemanden
mehr interessiert, hätte uns wohl Corona einen Strich
durch die Rechnung gemacht. Wenn es die Umstände erlauben,
werden wir den 20er zumindest in kleinerem Rahmen beim
diesjährigen urbanize!-Festival (nach-)feiern, das dieses Jahr
Raum als Gemeingut unter dem Motto »Common Spaces,
Hybrid Places« thematisiert und vom 14.–18. Oktober in Wien
stattfindet. Save the date!
Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer
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