13.08.2020 Aufrufe

CMS-Magazin RADAR Nr. 11 August 2020: Häusliche Gewalt tut weh

CMS-Magazin Nr. 11: Häusliche Gewalt tut weh Gewalt in Partnerschaft und Familie, häusliche Gewalt, ist eine heute international anerkannte Menschenrechtsverletzung. Sie geschieht auch in Basel – täglich. Davon erfassen die offiziellen Statistiken nur einen Teil, denn die Dunkelziffer ist sehr hoch. Die Christoph Merian Stiftung, deren Stiftungszweck «Linderung der Noth und des Unglückes» ist, hat das Thema häusliche Gewalt seit ihrer 2017 durchgeführten Bedarfsanalyse als dringliches Handlungsfeld erkannt. Gerade weil häusliche Gewalt häufig nicht sichtbar ist, ist es wichtig, hinzuschauen und zu handeln. Die CMS engagiert sich deshalb bei der Unterstützung von Institutionen und Projekten: von der Soforthilfe über die Nachbetreuung, von der Aufklärung über Prävention bis zu zielgruppenspezifischen Angeboten für Kinder, Männer und Frauen. Die Bilder im ersten Bund sind Kreationen von Vanessa Serrano und Anna Klokow vom Grafik-Büro BKVK. In Zusammenarbeit mit dem Fotografen Cedric Christopher Merkli haben sie das Thema dieser Ausgabe künstlerisch umgesetzt. Online-Version als pdf: https://www.cms-basel.ch/de/medien/Stiftungspublikationen/RADAR.html

CMS-Magazin Nr. 11: Häusliche Gewalt tut weh
Gewalt in Partnerschaft und Familie, häusliche Gewalt, ist eine heute international anerkannte Menschenrechtsverletzung. Sie geschieht auch in Basel – täglich. Davon erfassen die offiziellen Statistiken nur einen Teil, denn die Dunkelziffer ist sehr hoch.
Die Christoph Merian Stiftung, deren Stiftungszweck «Linderung der Noth und des Unglückes» ist, hat das Thema häusliche Gewalt seit ihrer 2017 durchgeführten Bedarfsanalyse als dringliches Handlungsfeld erkannt. Gerade weil häusliche Gewalt häufig nicht sichtbar ist, ist es wichtig, hinzuschauen und zu handeln. Die CMS engagiert sich deshalb bei der Unterstützung von Institutionen und Projekten: von der Soforthilfe über die Nachbetreuung, von der Aufklärung über Prävention bis zu zielgruppenspezifischen
Angeboten für Kinder, Männer und Frauen.
Die Bilder im ersten Bund sind Kreationen von Vanessa Serrano und Anna Klokow vom Grafik-Büro BKVK. In Zusammenarbeit mit dem Fotografen Cedric Christopher Merkli haben sie das Thema dieser Ausgabe künstlerisch umgesetzt.
Online-Version als pdf: https://www.cms-basel.ch/de/medien/Stiftungspublikationen/RADAR.html

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Pilotprojekt «Sorgsam»

Vorsorgen ist besser

als Heilen

Nicht überall herrscht eitel Sonnenschein nach

der Geburt eines Babys. Die frei praktizierenden

Hebammen der Region Basel treffen bei ihren

Hausbesuchen zuweilen auf grosse Notlagen.

Die CMS unterstützt das Pilotprojekt «Sorgsam»,

das Babys zu einem besseren Start in die Welt

verhilft und Hebammen für die bisherige Gratisarbeit

entschädigt.

scy. Ein Kind zu gebären ist an sich schon kein Kinderspiel. Dann aber wird

es erst richtig anspruchsvoll – selbst für Frauen und Familien, die sich

sorgfältig auf das Baby vorbereitet haben. Erstgebärende haben in der

Schweiz seit 2015 Anrecht auf maximal 16 Hausbesuche von Hebammen

während 8 Wochen, bis sie alleine klarkommen. Die meisten von ihnen

(über 60 %) haben schon vor der Geburt eine der 120 frei praktizierenden

Hebammen in den beiden Basel beigezogen. Den anderen rund 1 600

Familien wird die von der Krankenkasse bezahlte Unterstützung gleich

im Spital empfohlen. Der Verein Familystart, dem die Hälfte der Hebammen

aus der Region angeschlossen ist, organisiert diese Betreuung.

Seit die Familystart-Helpline Wöchnerinnen nach der Geburt

eine Hebammenvermittlung anbietet, haben markant mehr Familien

diese Unterstützung in Anspruch genommen; gemäss Fünf-Jahres-

Evaluation stieg die Nachbetreuungsrate von 81 Prozent im Jahr 2012

auf 97 Prozent im Jahr 2016. Damit erhalten die frei praktizierenden

Hebammen auch vermehrt Einblick in die Lebensumstände von stark

belasteten Familien. Und der ist nicht immer schön: überforderte Familien

in desaströsen Wohnverhältnissen, massive finanzielle oder psychische

Probleme, manchmal fehlen die nötigsten Vorkehrungen für das

Neugeborene – und auch häusliche Gewalt. Nicht die Regel, klar. Aber

häufig genug.

Bis vor Kurzem leisteten die Hebammen alles, was über die

medizinische Betreuung hinausging, ehrenamtlich: vom Schoppenflaschen

einkaufen bis hin zur komplexen Hilfestellung beim Kontakt mit

Behörden, Sozial- und Opferhilfestellen. Als der Verein Familystart einen

Härtefallfonds einrichtete und damit begann, diese Leistungen zu entschädigen,

rutschte er in die roten Zahlen.

Mit dem von der CMS unterstützten Pilotprojekt «Sorgsam – Support am

Lebensstart» erhalten Hebammen seit 2018 speditiv fachliche Beratung

und Support bei der Betreuung von Neugeborenen und Familien in Ri-

sikokonstellationen. Auch eine interprofessionelle Weiterbildung ist

geplant. Zudem werden die Hebammen für ihre koordinierenden Leistungen

nun entschädigt. Kein Luxus, denn mit den rund 100 Franken

Stundenlohn, den die Hebammen den Krankenkassen in Rechnung stellen

können, verdienen selbstständige Hebammen nach ihrem heute

obligatorischen Studium sehr wenig.

Das niederschwellige Betreuungsangebot für Wöchnerinnen

hat auch eine höhere Nachfrage generiert. Wo bleibt da die Eigenverantwortung?

Elisabeth Kurth, Geschäftsleiterin von Familystart, hat

darauf eine klare Antwort: «Frühkindlicher Stress hat gravierende psychosoziale

und gesundheitliche Folgen. Aber nicht nur das.» Kurth, die

als erste Hebamme an einer Schweizer Universität promoviert hat, verweist

auch auf die enormen volkswirtschaftlichen Kosten: «Mehrere

Studien in den USA haben aufgezeigt, dass mit einer frühzeitigen

Unterstützung von Babys und Familien in prekären Verhältnissen verhindert

werden kann, dass Jugendliche in der Schule scheitern oder

später kriminell werden. So wird die Chancengleichheit verbessert.

Das zahlt sich auch volkswirtschaftlich

aus: Wir sparen mit

einer gezielten Hilfestellung in

der frühkindlichen Phase ein

Mehrfaches an schulischen und

sozialen Unterstützungsmass-

nahmen bis ins Erwachsenenalter.

Vorbeugen ist besser als

Heilen.»

Das Pilotprojekt «Sorg-

sam» läuft bis Ende dieses

Jahres und wird vom Schwei-

zerischen Tropen- und Public-

Health-Institut in Basel be-

gleitet und ausgewertet. Die

Zwischenergebnisse sind viel-

versprechend.

Frühkindlicher

Stress hat

gravierende

psychosoziale

und

gesundheitliche

Folgen.

Herzblut ja,

Gratisarbeit nein

Monika Barth ist seit dreissig Jahren Hebamme aus

Leidenschaft. Sie ist selber noch in der häuslichen

Wochenbettpflege tätig, berät und unterstützt aber

auch die rund 120 frei praktizierenden Hebammen in

der Region Basel. Was sie mitbekommt, wenn eine der

Hebammen sie notfallmässig um Rat bittet, verschlägt

auch der erfahrenen Berufsfrau manchmal die Sprache.

scy. Zum Beispiel kürzlich die Situation einer 21-jährigen

jungen Mutter. Bei ihrem ersten Hausbesuch traf die

Hebamme auf ein Chaos von Wohnung. Auf Hanfschwaden

und einen zugedröhnten Kindsvater. Kein Geld, kein

Essen, zu wenig Schoppen und Milchpulver, kein soziales

Netz und die junge Mutter am Rande ihrer Kräfte. Die

Hebamme hat über Sozialdienste sofort Geld für Schop-

pen und Babynahrung organisiert und sich mit der

Elternberatung, dem Kinderarzt und vielen anderen Stellen

in Verbindung gesetzt. Als der Kindsvater später mit

dem Messer auf die Frau losging, machte Familystart

eine Meldung bei der KESB, um die Situation abklären

zu lassen. Einige Tage später «fiel» das Kind angeblich

vom Wickeltisch. Sechs Wochen nach der Geburt wurde

das Baby in einer Pflegefamilie fremdplatziert. Ohne die

enge und aufwendige Begleitung durch die Hebamme

wäre wohl in einem solchen Fall erst viel später eingeschritten

worden. Zum Nachteil des Kindes.

Ein ganz anderer Fall: ein junges Paar aus der

Alternativszene. Schwangerschaft und Hausgeburt ohne

Zuzug einer medizinischen Fachperson. Drei Tage nach

der Geburt hat die Mutter sich eine Hebamme gesucht

und gefragt, wann denn «dieser Kloss weggehen würde».

Es waren Nabelschnur und Plazenta. Beim Hausbesuch

hat die Hebamme neben der medizinischen Betreuung

auch darauf hingewiesen, dass das Baby behördlich

angemeldet werden müsse, und ihnen die nötigen Formulare

gegeben. Daran hatten die Eltern bisher nicht gedacht.

Das sind krasse Beispiele. Aber sie kommen

vor, immer wieder. Allein im letzten Jahr ist Monika

Barth von 35 Berufskolleginnen um Rat und Unterstützung

angefragt worden. 57 Mal musste der Härtefallfonds

angezapft werden: für koordinierende Leistungen

in komplexen Betreuungssituationen, für Babynahrung,

Notgeld oder die Bezahlung der Hebammenrechnung,

weil die Wöchnerinnen nicht angemeldet waren und

keine Krankenkasse hatten.

«Wir engagieren uns mit Herzblut und Fachwissen

für Mütter und Neugeborene. Wir begleiten die

Familie und organisieren wenn nötig erste Hilfe», sagt

Monika Barth. «Aber wir wollen diese Arbeit nicht in

unserer Freizeit machen müssen. Deshalb ist das Pilotprojekt

für uns so wichtig.»

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