Schön, dass du da bist!
Hospizbegleiter/innen erzählen von ihrem Ehrenamt
Hospizbegleiter/innen erzählen von ihrem Ehrenamt
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„Schön, dass du da bist!“
Der Trauer
Raum geben
Hospizbegleiter/innen erzählen von ihrem Ehrenamt
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INHALT
Seite 06-09
Seite 10-11
Seite 12-21
Seite 22-27
Seite 28-35
Seite 36-43
Seite 44-49
Seite 50-59
Vorwort des Vorstands
„Die Einladung“ Oriah Mountain Dreamer
Interview mit Uschi Bogatzki
„Ines Geschichte“ Uschi Bogatzki
Interview mit Marlies Steinbrück
Interview mit Theresia Kämpfer
Interview mit Brunhilde Knebel
Interview mit Eberhard Freundt
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Vorwort
Der Verein Ambulante ökumenische Hospizhilfe Siegen e.V. wurde 2001 gegründet und arbeitet
bereits seit 1994 als eine Gruppe beziehungsweise Initiative in der ambulanten hospizlichen Versorgung
in Siegen und im Kreisgebiet Siegen-Wittgenstein.
Seit 1998 besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Caritasverband Siegen-Wittgenstein e.V.,
aus welcher sich über die Zeit hinweg eine sehr vertrauensvolle Beziehung entwickelt hat.
Die Koordinationsstelle für ambulante Hospizarbeit ist unter anderem für die Erstkontakte und
Koordination der Begleitungen, für die Gewinnung und Ausbildung der Ehrenamtlichen und die
Netzwerkarbeit des Dienstes zuständig.
Als ambulanter Hospizdienst wollen wir gemeinsam Menschen am Lebensende und deren Angehörige
begleiten. Was das auch immer heißen mag und wie das dann konkret gestaltet wird,
das ist so verschieden wie die Leben der einzelnen Menschen auch verschieden sind und wie die
jeweilige Lebenssituation es gerade erforderlich und möglich macht: manch einer wünscht sich
Gespräche, ein anderer möchte nicht alleine sein.
Gerade auch für Angehörige möchten wir da sein. Sie sind oft häufig auf sich allein gestellt und
großen Belastungen ausgesetzt. Da können wir mit Gesprächen und Unterstützung in verschiedener
Weise helfen.
Alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich.
Sie engagieren sich in großer Weise in den verschiedenen Bereichen der Hospizarbeit.
Neben der Begleitung sterbender Menschen und der Unterstützung der Angehörigen bieten wir
nun seit annähernd 15 Jahren das Trauercafé an, eine Form für trauernde Menschen, ihrer Trauer
Raum zu geben und sich mit anderen über Erfahrungen auszutauschen und sich gemeinsam auf
den Weg durch die Trauer zu machen.
Daneben gibt es schon seit vielen Jahren das Projekt „Hospiz macht Schule“, mit welchem wir
Kinder im Grundschulalter und ihre Familien bereits für einen bewussten Umgang mit Verlusten
sensibilisieren wollen.
Weitere Angebote sind Einzel- und Gruppengespräche für betroffene Menschen, verschiedene
Ausstellungen in Siegen ebenso wie das Siegener Hospizgespräch, mit welchem wir seit 2014 verschiedene
Themen ins öffentliche Bewusstsein bringen wollen.
Der Vorstand von links nach rechts:
Gerrit Ebener-Greis (1. Vorsitzende), Christina Pfeifer (2. Vorsitzende), Anke Raeder, Iris Dittmann
(Leiterin Koordinationsstelle Hospizarbeit beim Caritasverband), Wolfgang Ax, Wolfgang Termath
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Vorwort
Das Projekt „Hörst du mich?“- Hilfe für Kinder lebensbedrohlich erkrankter Eltern, beim Caritasverband
Siegen-Wittgenstein e.V. verankert, ist eine konsequente Weiterführung in der Thematik.
Es bietet Begleitung und Unterstützung für Kinder lebensbedrohlich erkrankter Eltern an. Neben
der Verunsicherung, das Thema mit Kindern anzusprechen, bestehen Fragen um den Umgang mit
Schuld und Sorgen um die Zukunft. Auch hier arbeiten ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Vereins aktiv mit.
Alle ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind umfangreich ausgebildet und werden
sorgfältig auf ihren jeweiligen Dienst vorbereitet. Sie erhalten professionelle Begleitung in regelmäßig
stattfinden Gruppentreffen, Fortbildungen und Supervision.
So kann diese umfangreiche und ebenso anspruchsvolle Arbeit nur geleistet werden, wenn sich
genügend Menschen finden und ihre Zeit, ihre Zuwendung und ihr Engagement verschenken.
Sie tun das zum Teil aus der Überzeugung, Gutes zu tun und selbst daraus Kraft und Lebenssinn
zu schöpfen.
Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fragen immer wieder nach dem „richtigen Werkzeug“ für
diese Arbeit, wenn sie ausgebildet werden oder gerade fertig sind.
Sie wünschen sich einen Leitfaden, den es eben wegen der vielfältigen Lebensweisen und den verschiedenen
Menschen so einfach nicht gibt.
Da hilft es ihnen oft, wenn die „alten Hasen“, diejenigen, die diese Arbeit schon lange machen
oder teilweise auch inzwischen „im ehrenamtlichen Ruhestand“ sind, einiges erzählen können.
Diese Berichte sind sehr authentisch und spiegeln die Gefühle und Ängste ebenso wider wie die
schönen Erlebnisse und gewonnenen Erkenntnisse. Sie sind ein Zeugnis gelebter Hospizarbeit.
Und sie sind für unseren Verein ein Baustein unserer Erinnerungskultur.
In diesem Sinne haben wir, der Vorstand 2018/2019 des Vereins, dieses Büchlein erstellt.
Wir haben fünf ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ersten beiden Generationen,
die unsere Arbeit über lange Zeit aktiv mitgestaltet haben und jetzt teilweise im “ehrenamtlichen
Ruhestand“ sind, gebeten, von ihren Erfahrungen zu erzählen und uns ihre Sicht auf die Hospizarbeit
zu zeigen.
Dafür möchten wir ihnen allen sehr herzlich danken.
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Die Interviews haben viel Freude bereitet, wir haben uns an vieles neben dem Geschriebenen erinnert
und dabei auch viel gelacht.
Es war wie ein Ausflug in die Biografie des Vereins, aber auch in die Entwicklung der ambulanten
Hospizarbeit unserer Gesellschaft, beginnend in der Mitte der 90er Jahre bis heute.
Herzlichen Dank
an die „alten Hasen“, die langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich haben interviewen
lassen und die die Leserinnen und Leser an ihrem Erlebten und Erkenntnissen teilhaben
lassen. Euch möchten wir mit diesem Büchlein ehren.
„Den Neuen“, den Azubis (den Begriff hat einmal eine Ausbildungsgruppe so selbst geprägt) in der
Hospizarbeit möchten wir etwas in euren Werkzeugkoffer mitgeben, was euch durch die Arbeit
tragen mag.
Bei allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mögen diese Gedanken manche, vielleicht
auch schöne Erinnerungen wachrufen oder aber zum Weiterdenken anregen.
Alle anderen, (noch) nicht in der Hospizarbeit engagierten Menschen mögen einen Einblick in die
„praktische Hospizarbeit“ bekommen!
Für den Vorstand
Gerrit Ebener-Greis
Siegen, Januar 2019
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Die Einladung
Es interessiert mich nicht, womit du dein Geld verdienst.
Ich will wissen, wonach du dich sehnst und ob du die
Erfüllung deines Herzenswunsches zu träumen wagst.
Es interessiert mich nicht, wie alt du bist. Ich will wissen, ob
du es riskierst, dich zum Narren zu machen, auf deiner Suche
nach Liebe, nach deinem Traum, nach dem Abenteuer
des Lebens.
Es interessiert mich nicht, welche Planeten ein Quadrat
zu deinem Mond bilden. Ich will wissen, ob du deinem
Leid auf den Grund gegangen bist und ob dich die Ungerechtigkeiten
des Lebens geöffnet haben, oder du dich klein
machst und verschließt, um dich vor neuen Verletzungen
zu schützen. Ich will wissen, ob du Schmerz – meinen oder
deinen eigenen – ertragen kannst, ohne ihn zu verstecken,
zu bemänteln oder zu lindern.
Ich will wissen, ob du Freude – meine oder deine eigene –
aushalten, dich hemmungslos dem Tanz hingeben und jede
Faser deines Körpers von Ekstase erbeben lassen kannst,
ohne an Vorsicht und Vernunft zu appellieren oder an die
Begrenztheit des Menschseins zu denken.
Es interessiert mich nicht, ob das, was du mir erzählst,
wahr ist. Ich will wissen, ob du andere enttäuschen kannst,
um dir selbst treu zu bleiben; ob du den Vorwurf des Verrats
ertragen kannst, um deine eigene Seele nicht zu verraten;
ob du treulos sein kannst, um vertrauenswürdig zu
bleiben.
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Ich will wissen, ob du die Schönheit des Alltäglichen erkennen
kannst, selbst wenn sie nicht immer angenehm ist
und ob ihre Allgegenwärtigkeit die Quelle ist, aus der du
die Kraft zum Leben schöpfst.
Ich will wissen, ob du mit Unzulänglichkeit leben kannst
– meiner und deiner eigenen – und immer noch am Seeufer
stehst und der silbrigen Scheibe des Vollmonds ein uneingeschränktes
»Ja!« zurufst.
Es interessiert mich nicht, wo du wohnst oder wie reich
du bist. Ich will wissen, ob du nach einer kummervoll
durchwachten Nacht zermürbt und müde bis auf die Knochen
aufstehen kannst, um das Notwendige zu tun, damit
deine Kinder versorgt sind.
Es interessiert mich nicht, wen du kennst oder wie du
hierher gekommen bist. Ich will wissen, ob du inmitten des
Feuers bei mir ausharren wirst, ohne zurückzuweichen.
Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du
studiert hast. Ich will wissen, was dich von innen heraus
trägt, wenn alles andere wegbricht.
Ich will wissen, ob du mit dir selbst allein sein kannst
und ob du den, der dir in solch einsamen Momenten deines
Lebens Gesellschaft leistet, wirklich magst.
Oriah Mountain Dreamer*
* übersetzt von Ulla Rahn-Huber, Goldman Verlag, 1. Mai 2000, Seite 7/8
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Uschi Bogatzki
Ich habe gelernt, ruhig zuzuhören.
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Uschi Bogatzki
Interviewerin: Liebe Uschi, wie bist du denn damals zur Sterbebegleitung gekommen?
Uschi Bogatzki: Meine Überlegung oder der Hintergrund, weshalb ich damals zu Hans Günter 1 gegangen
bin, war der Tod meines Vaters. Er ist 1982 gestorben. Ich habe ihn die letzten zwei Wochen
im Krankenhaus begleitet und war jede Nacht und manchmal nochmal nachmittags bei ihm. Mein
Vater war ein Mensch, dem es sehr unangenehm gewesen wäre, wenn er im Mittelpunkt gestanden
hätte. Wir haben also nie darüber gesprochen, dass er stirbt. Wenn ich abends kam, dann gingen
seine Sorgen um mich: „Sind deine Kinder versorgt?“ oder „Ist der Siegfried, dein Mann, zuhause?“.
Ich hab dann nie gefragt: „Wie geht es dir?“, „Möchtest du über irgendwas reden?“, weil ich
mehr im Unterbewusstsein wusste, das wäre für ihn sehr schwer. Seine Generation hat es nicht
gelernt und seine Sorge galt immer den anderen, nie sich selbst, selbst im Sterben nicht. Das hat
mich lange Jahre immer wieder beschäftigt, hast du das richtig gemacht, hättest du es ansprechen
müssen: „Papa du stirbst“? Ich war mir immer unsicher, es hat an mir genagt. Ich war 39 Jahre alt,
es war also auch die erste Sterbebegleitung und überhaupt der erste Tote, den ich bewusst erlebt
habe. 1996 wurde von Hans Günter Scheuer und Pfarrer Lieske ein Seminar angeboten „Wie stelle
ich mir mein Sterben vor“, oder so ähnlich hieß das. Und deshalb bin ich dahin gegangen, weil ich
gedacht habe, da kriegst du deine Fragen beantwortet. Hast du es richtig gemacht? Oder hättest
du doch anders reagieren müssen? Deshalb bin ich dahin gegangen und dabei geblieben.
Interviewerin: Weil du die Erfahrung gemacht hast?
Uschi Bogatzki: Ja, und eben auch in dem Bewusstsein der Veränderungen in den Familien. Es gibt
keine Großfamilien mehr. Immer mehr Familien sind getrennt, weil die Kinder auswärts arbeiten
und leben. Ich sah damals schon die Notwendigkeit: “Meine Güte, da muss irgendwas passieren.
Sonst stirbt eines Tages jeder für sich alleine.“ Sofort nach der Ausbildung, also als unser Kurs zu
Ende war, da sind die Ute, ich, noch eine Frau aus der Gruppe und zwei Personen aus dem Altenheim
zu Hans Günter ins Büro gegangen und haben gefragt, was können wir denn jetzt daraus
machen?
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Pfarrer Dr. Dr. Hans Günter Scheuer, Ev. Krankenhausseelsorger im St. Marien-Krankenhaus Siegen bis 2017,
initiierte 1994 mit Pfarrer Rainer Lieske den ersten Kurs zur Sterbebegleitung.
Interviewerin: Okay, das kam aus der Gruppe?
Uschi Bogatzki: Ja. Wir wollten es irgendwie anwenden, hatten aber keine Vorstellung. Sicher wäre
von Dr. Lieske und Hans Günter auch noch eine Anfrage gekommen.
Interviewerin: Von den Gruppenleitern meinst du?
Uschi Bogatzki: Ja, es ging aus der Gruppe heraus, dass wir da saßen, was können wir denn jetzt
damit machen. Die beiden aus dem Altenheim sind recht schnell abgesprungen, weil sie merkten,
das wird uns zeitlich zu viel, das können wir nicht. Wir haben uns dann regelmäßig mit Hans
Günter getroffen. Dann saßen da Ute, noch eine andere Frau aus der Gruppe und ich. Später kam
noch jemand dazu. Das war, glaube ich, eine Krankenschwester, die aber nicht die Ausbildung mitgemacht
hat, die aufgrund ihrer Erfahrung dazu gekommen ist. Wir sind dann einige Zeit alleine
gewesen und nach und nach kamen noch einige Personen dazu. 1998 haben wir in Kaan-Marienborn
unsere Gruppe der Öffentlichkeit vorgestellt. Aber bis dahin haben wir uns schon regelmäßig
bei Hans Günter im Büro getroffen. Wir haben auch schon die erste Begleitung gemacht. Ich kann
mich erinnern, Ute und ich haben eine Begleitung im Altenheim gemacht, bei einer alten Dame.
Wir zwei haben uns alle vier Stunden abgelöst. Das ging über zwei bis drei Tage. Ute wollte mich,
glaube ich, um zehn Uhr abends ablösen. Sie wäre gar nicht ins Altenheim reingekommen, wenn
sie nicht eine Nachtschwester gekannt hätte. Und da haben wir zwei schon gesagt, wir brauchen
Ausweise, und dann hieß es „Bürokraten“. Das kann doch nicht sein, dass wir irgendwo nicht rein
kommen können, weil wir uns nicht ausweisen können! Zwei aus der Gruppe tuschelten dann „Bürokraten“
(schmunzelnd). Da haben wir schon gesagt, wir müssen ein Stück dokumentieren. Das
haben Ute und ich dann für uns gemacht, was wir an Begleitungen oder sowas gemacht haben.
Dass wir uns mal wenigstens den Namen, Alter und wo sie wohnen und was vorlag und wie es gelaufen
ist, dass wir das für uns aufgeschrieben haben. Und dann gab es eine „Schwarze Kasse“
(lacht), wo ich dann aufgeschrieben habe, wenn Hans Günter eine Spende für uns erhalten hat,
oder sowas. Dann haben wir mal Bücher gekauft. Es waren auch nur kleine Beträge. Es war nicht
viel. Wir haben ja Sprit und Ausbildungswochenenden lange Jahre privat bezahlt. Wir waren auch
noch nicht versichert.
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Uschi Bogatzki
Interviewerin: Aber du hast damals schon Buch geführt.
Uschi Bogatzki: Ja, ich hatte ein DIN-A5-Heft und habe darin aufgeschrieben, wie viel Geld Hans
Günter mir gegeben hatte und was ich dafür gekauft habe. Das war unsere Buchhaltung. Musste
ja irgendwie nachzuvollziehen sein. Das veränderte sich natürlich total, als wir ein eingetragener
Verein wurden. Danach habe ich eine ordentliche Buchhaltung gemacht. Wir wurden ja dann versichert,
die Weiterbildungen wurden vom Verein bezahlt, wir bekamen Kilometergeld. Die Vereinsgründung
war fast wie eine Firmengründung. Außerdem kam die Vorstandarbeit dazu. Wir waren
und sind ja ein sehr reger Vorstand.
Interviewerin: Dann kam eine weitere Ausbildungsgruppe mit dazu?
Uschi Bogatzki: Es kamen dann immer wieder Neue mit dazu. Aber ich kann mich auch schon gar
nicht mehr daran erinnern, wer wann mit seiner Gruppe dazu gekommen ist. Also das weiß ich
nicht mehr. Aber wir haben eben mit den paar Leuten angefangen und 1998 waren wir ja noch
nicht viele.
Interviewerin: Gab es Schwerpunkte in der Begleitung?
Uschi Bogatzki: Wir haben auf alle Anfragen reagiert. Da waren also Trauerbegleitungen, glaube
ich, zu der Zeit noch nicht. Es waren Sterbebegleitungen, aber eben auch noch nicht so viele. Es
war oft im Altenheim, weil wir da unsere Ausbildung gemacht haben. Viel war da noch nicht. Ich
erinnere mich. Bei einigen Begleitungen war die ich ganze Nacht alleine in einer Wohnung mit dem
Sterbenden.
Interviewerin: Und Trauerbegleitungen kamen dann später.
Uschi Bogatzki: Ich meine, das war später.
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Interviewerin: Trauercafé und „Hospiz macht Schule“ 2 hast du auch mitgemacht?
Uschi Bogatzki: Bei „Hospiz macht Schule“ habe ich ja auch die Ausbildung mitgemacht. Da war
ich mit Marianne und Brunhilde und aus dem Hospiz selbst war noch eine Dame dabei. Zweimal,
glaube ich, war ich bei „Hospiz macht Schule“ dabei. Ich weiß gar nicht, aus welchen Gründen ich
damit aufgehört habe. Es war familiär begründet.
Interviewerin: Und wenn du jetzt so zurück schaust: Was hat sich in deinem Leben durch die Hospizarbeit
geändert?
Uschi Bogatzki: Ich habe gelernt, ruhig zuzuhören. Ich habe immer Menschen begleitet, die sich
nicht mehr mitteilen konnten. Meine Stärke ist, stundenlang schweigend bei jemandem zu sitzen
und das auszuhalten. Ja, und mich selbst zurück nehmen zu können, wenn es darauf ankommt.
Ich spreche ja sonst gerne mal viel, aber in solchen Situationen kann ich mich total zurück nehmen,
ruhig sein und vermitteln: „Ich bin bei dir! Du bist nicht alleine. Ich begleite dich durch diese
Nacht. Nimm dir von mir, was du brauchst.“ Auch wenn der Sterbende nicht mehr kommunizieren
kann, findet auf irgendeiner Ebene ein Austausch statt. Man muss nur ganz leer bleiben und sich
nicht ablenken. Dann hört oder fühlt man es.
Interviewerin: Und wenn du dir überlegst, du hättest die Hospizarbeit nicht gehabt in deinem Leben?
Wie wäre dein Leben verlaufen, wenn du das Seminar damals nicht gemacht hättest?
Uschi Bogatzki: Also ich weiß, ich bin ein sehr impulsiver Mensch gewesen und konnte aufgrund
dessen auch manchmal sehr unbeherrscht sein. Da habe ich mich heute total im Griff. Ich glaube,
dass ich das damals gelernt habe. Ich kann mich sehr gut auf mein Gegenüber einstellen und mich
zurücknehmen.
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„Hospiz macht Schule“ ist eine Projektwoche für Grundschüler/innen zum Thema „Sterben, Krankheit, Trauer und Tod“.
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Uschi Bogatzki
Interviewerin: Also eine ganz persönliche Veränderung?
Uschi Bogatzki: Ja. Inzwischen spielt natürlich auch das Alter eine Rolle. Man lernt, so viele Sachen
sind unwichtig, da braucht man sich nicht drüber aufzuregen. Obwohl, manchmal will ich mich
auch heute noch aufregen (schmunzelt). Aber ich denke schon, das habe ich hauptsächlich da gelernt.
Interviewerin: Und die Trauerbegleitung kam dann später?
Uschi Bogatzki: Trauerbegleitung kam später und ich muss immer wieder sagen, diese Trauerbegleitung
mit der Frau und den vier Kindern, das war für mich wirklich die härteste Aufgabe. Bei den
Sterbebegleitungen, das waren alles alte Leute, bei denen ich gewesen bin, und alle waren in der
Situation, dass sie sich nicht mehr mitteilen konnten. Ich habe also keine Begleitung gemacht, wo
ich frühzeitig da war, sodass man noch eine Beziehung aufbauen konnte. Und dadurch habe ich,
denke ich, aushalten können gelernt. Einfach da sitzen, wenn ein Gespräch nicht mehr möglich
ist. Vermitteln können: Da ist jemand. Das war alles nicht so schwer wie mit der jungen Frau mit
den Kindern 3 .
Interviewerin: Was möchtest du den Jüngeren, die jetzt anfangen mit den Begleitungen, mitgeben?
Uschi Bogatzki: Man lernt sehr viel über sich selbst. Es ist nicht nur schwer. Man erfährt auch ganz
berührende und tolle Sachen und auch Sachen, an denen man wachsen kann. Das war mir immer
sehr wichtig. Ich komme ja aus einem einfachen Elternhaus und ich habe nach Möglichkeit immer
auch Leute um mich herum gehabt, die mehr Wissen hatten wie ich. Ich habe mir immer Menschen
gesucht, an denen ich lernen und mir etwas abgucken konnte. Wo ich sehen konnte: „Mensch,
das gefällt mir, bemüh dich mal in diese Richtung“. Und ich habe da ganz viel erfahren über mich
selbst und auch darüber, was nicht so gut an mir ist. Wo ich dran arbeiten sollte und müsste. Das
ist eine gute Gelegenheit und man kriegt unheimlich viel zurück.
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Siehe „Ines Geschichte“ von Uschi Bogatzki
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Interviewerin: Von den zu Begleitenden, von den Familien?
Uschi Bogatzki: Von allen, wobei man bei den Familien aufpassen muss, dass man da nicht in die
Mühlen reingerät. Da muss man natürlich enorm aufpassen, aber wenn man sich dann jede Person
anguckt, kann man von allen sehr viel lernen. Mir war immer wichtig, mit großer Achtsamkeit den
Menschen zu begegnen und auch Abstand zu wahren.
Interviewerin: Gibt es noch etwas, was du erzählen möchtest?
Uschi Bogatzki: Ja, ich bin ja auch im Trauercafé gewesen, das habe ich ja auch gemacht. Das
Wichtige waren für mich aber die Begleitungen. Das Trauercafé war nicht so meins. Das liegt mir
nicht so - auf Leute zugehen ist nicht meine Stärke. Ich muss erst Abstand halten können. Das
Trauercafe ist nicht der Ort, wo ich hingehöre. Aber in der Trauerbegleitung - im Kontakt mit dem
Einzelnen, das hat mich sehr erfüllt.
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Uschi Bogatzki
Interviewerin: Du hast doch auch mit uns getanzt!
Uschi Bogatzki: Ja, ich habe eine Ausbildung in meditativem und sakralen Tanz. Getanzt haben
wir schon bei der Ausbildung. Später bei Hans Günter im Büro haben wir bei jedem Treffen ein
bis zwei Tänze gemacht. Ich erinnere mich gerne an ein Wochenende in Feudingen. Dort haben
wir abends den Georgstanz 4 getanzt. Es war wunderschön. Wir haben den Inhalt des Tanzes total
gefühlt und umgesetzt. Wir waren stark und unverwundbar, eine Einheit. Das Personal aus der
Küche hat heimlich und leise die Türen von unserem Raum geöffnet. Sie wollten schauen, was wir
anstellen. Wir haben lange davon gesprochen. Oft hieß es: Weißt du noch, in Feudingen? Irgendwo
an der Bigge haben wir in dem Andachtsraum getanzt. Wir haben im Kreis begonnen. Dann habe
ich den Kreis geöffnet und wir sind im Pilgerschritt kreuz und quer in einer langen Reihe durch
den Raum gegangen. Bei den letzten Klängen der Musik hatte ich euch wieder zum geschlossenen
Kreis geführt. Das hatte etwas mit Häutung zu tun. Wir gingen zusammen, trennten uns, entwickelten
uns weiter und gingen gemeinsam weiter auf einer neuen Ebene. Ich war besonders stolz. Mir
war es gelungen, euch auf dem letzten Meter in diesem großen Raum wieder im Kreis zusammenzuführen.
Nach einiger Zeit habe ich an den Fortbildungswochenenden von Hans Günter teilweise
die morgendliche Meditation übernommen. Natürlich mit meiner Musik und meinen Tänzen. Das
war immer ein schöner Einstieg in den Tag.
Interviewerin: Vielen herzlichen Dank, liebe Uschi, für das tolle Gespräch.
4
St. Georg (Heiliger) Drachentöter
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Ines Geschichte
Die Aufgabe, die mich am meisten seelisch und zeitlich gefordert hat, war die Trauerbegleitung
einer jungen Frau. Gleichzeitig war diese Begleitung meine größte Erfahrung über Schmerz und
Mut und Verzweiflung.
Als ich das erste Mal Kontakt zu ihr hatte – ich nenne sie Ines – wusste ich nur, dass diese Frau
zweimal geschieden war und vier Kinder hat. Zuletzt lebten sie und ihre Kinder mit ihrer Jugendliebe
zusammen. Nun war ihr Lebensgefährte gestorben. Dies waren meine einzigen Informationen.
So machte ich mich 2007 auf den Weg zu ihr.
Ich hatte mich telefonisch bei ihr angemeldet. Mein erster Besuch verlief wie folgt:
Ines macht mir die Tür auf und ich stelle mich vor. Sie lässt mich im Türrahmen stehen und läuft
laut weinend in die Wohnung zurück. Da stehe ich nun - zugegeben ziemlich ratlos. Nach dem ersten
Schreck gehe ich ihr nach und setze mich neben sie. An ein Gespräch ist nicht zu denken. Sie
weint sich die Seele aus dem Leib, und ich halte ihre Hand und lasse sie weinen. Eine ewige Stunde
lang. Ab und zu kommt eines der Kinder oder die Oma dazu und geht dann wieder. Irgendwann
beginnt Ines langsam zu erzählen und so erfahre ich ihre Geschichte.
Nach den beiden Scheidungen, die nicht einfach waren, traf sie durch Zufall ihre Jugendliebe wieder.
Sie waren ein Paar als Ines 16 Jahre alt war und es funkte sofort wieder zwischen ihnen. Er zog
zu ihr und ihren Kindern. Es war das erste Mal, dass es ihnen gut ging. Nach einem Jahr ist er gestorben
und das ist nun die Situation. Ich höre ihr zu und bemühe mich, ganz bei ihr zu sein. Was
soll ich selbst sagen? Es kann alles nur falsch oder für ihren Schmerz zu klein sein. Wir verabreden
weitere Besuche einmal in der Woche. Außerdem kann sie mich zu jeder Zeit per E-Mail erreichen.
Ines meldet sich die folgende Woche nicht bei mir. Also fahre ich wie verabredet zu ihr. Sie weint
und erzählt diesmal viel. Sie ist 33 Jahre, ihre Kinder sind 12, 10, 8 und 4 Jahre alt. Den Kindern und
ihr ging es das erste Mal in ihrem Leben richtig gut. Sie hatten keine Angst und waren glücklich.
Ihre Kinder kommen auch diesmal immer wieder zu uns und bleiben einige Zeit bei uns sitzen. Ich
höre ihr zu und tröste sie. Wir verabreden uns für die nächste Woche, und ich fahre nach Hause.
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Uschi Bogatzki erzählt
Dann kommen die E-Mails. Manchmal sind es drei am Tag und alle mit den Fragen: Warum ich? –
Ich will nicht mehr! – Wenn die Kinder nicht wären…... – Was hat mein Leben noch für einen Sinn?
– Warum darf ich nicht glücklich sein? - Uschi, ich kann nicht mehr! Was kann ich auf eine seitenlange
E-Mail mit dieser Verzweiflung antworten? Auch spitzt sich alles immer weiter zu. Stündlich
gehe ich an den PC. Ich bekomme Angst, dass sie sich etwas antut. Ich habe Angst, zu spät zu
reagieren. Mal tröste ich sie, mal muss ich massiv vorgehen und sie erinnern: „Du hast vier Kinder
und die brauchen dich! Nun kümmere dich um sie.“ Damit kann ich sie erreichen. Ich weiß, dass sie
eine Löwenmutter ist. Jedes Mal wäge ich neu ab: Was ist jetzt gut für sie? Was braucht sie jetzt?
Rückendeckung hole ich mir in den Reflexionsgesprächen.
Nach zwei bis drei Monaten wird es besser. Meine Angst um sie ist nicht mehr nötig. Sie lädt mich
nun zum Mittagessen ein und ich fahre zu ihr, wenn die Kinder aus der Schule kommen. Schnell
finde ich heraus, dass meine Essensportion für die Kinder fehlt. Sie werden manchmal dadurch
nicht satt und holen sich bei der Oma noch eine Scheibe Brot. Ich erfahre auch, dass sich die Väter
weder seelisch noch finanziell um die Kinder kümmern. Also bringe ich in Zukunft unter einem
Vorwand das Mittagessen mit.
Meine wöchentlichen Besuche sind immer noch nötig, aber sie werden entspannter. Die E-Mails
sind auch nicht mehr beängstigend. Irgendwie gehöre ich nun dazu und bin auch privat ihre Vertrauensperson.
Ines weint immer noch viel, aber sie kann jetzt auch lachen und wird zuversichtlich.
Im Herbst will ich nach einem Besuch nach Hause fahren. Da kommt ihr Kleiner mit seinen vier
Jahren angelaufen und ruft: „Uschi, du kannst doch nicht einfach abhauen, ich will dir doch noch
tschüss sagen. Ich bin nämlich gerade mit der Oma im Garten am schaffen.“ Ein anderes Mal:
„Uschi, ich habe heute keine Zeit für dich. Ich muss schaffen.“ Das sind meine Geschenke, sie tun
meiner Seele gut.
25
Ines Geschichte
So vergeht das Jahr 2007. Ich gehöre fast zur Familie und bin Trösterin, Vertraute, Ansprechpartnerin
für alle Probleme, aber auch Mahnerin, wenn es nötig ist. Wöchentlich werde ich nicht mehr
gebraucht. Die Abstände werden größer.
Dann, Anfang 2008, kommt ein Anruf von Ines. Sie ist total aufgelöst und weint fürchterlich. Ich
kann sie kaum verstehen. Sie kann es nicht mehr für sich behalten und muss es mir sagen: Sie hat
einen Mann kennengelernt und vermutet, dass daraus etwas werden könnte. Sie fragt sich, was sie
für ein Mensch ist. Vor einem Jahr wollte sie noch sterben oder wenigstens in das Grab zu Martin
springen. Und nun, nach so kurzer Zeit, so etwas.
Ich rede ganz ernst mit ihr und frage sie, ob sie wirklich denkt, dass ihr Martin von ihr erwartet
hätte, dass sie bis an ihr Lebensende um ihn trauert? Vielleicht hat er ja sogar den neuen Mann
geschickt? Er würde wollen, dass sie und die Kinder glücklich werden. Denn das ist ihr Recht.
Also gut. Was tun? Ich frage sie, was sie von einem Ritual hält und erkläre es ihr. Sie und die Kinder
sollen jeder einen Brief an Martin schreiben. Ihr Einwand ist, dass der Kleine aber noch nicht
schreiben kann. Ich sage ihr, dass er aber malen kann. In den Briefen sollen sie von ihren Gefühlen
schreiben, dass sie Martin lieben, dass er immer einen Platz in ihren Herzen behält und wie wichtig
er für sie ist. Und dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen, um glücklich und frei zu
sein. Sie findet die Idee gut und ich sage ihr zu, sofort zu kommen, um sie zu unterstützen und es
den Kindern zu erklären.
Nach einer knappen Stunde bin ich bei ihr. Alle haben schon einen Brief geschrieben und der Kleine
hat ein Bild gemalt. Wir setzen uns zusammen und ich erkläre ihnen, dass Martin mit Sicherheit
gewollt hätte, dass sie alle glücklich werden. Falls nun ein neuer Mann in die Familie kommt, heißt
das nicht, dass sie Martin vergessen müssen. Er wird immer einen Platz in ihren Herzen behalten
und sie verraten ihn nicht. Wer möchte, darf seinen Brief vorlesen, sie müssen es aber nicht.
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Uschi Bogatzki erzählt
Nur der Neunjährige will seinen Brief vorlesen. Er schreibt: „Lieber Martin, du warst mein bester
Freund und der erste Mann, vor dem ich keine Angst hatte. Ich hab dich lieb….“
Wir heulen alle wie die Schlosshunde. Der Große klappt zusammen. Ich kümmere mich um ihn und
darf ihn in die Arme nehmen und trösten. Das ist wie ein Geschenk für mich. Ines kümmert sich
um die drei anderen Kinder.
Nachdem wir uns alle beruhigt haben, erkläre ich den nächsten Schritt. Nun werden alle Briefe
im Ofen verbrannt. Der Rauch trägt ihre Gedanken und Gefühle zu Martin. Er wird ihnen bestimmt
alles Gute wünschen und wollen, dass sie dem neuen Mann eine Chance geben. Die Briefe werden
dann einzeln verbrannt. Ein großes Gefühl der Erleichterung ergreift alle, und ich kann beruhigt
nach Hause fahren. Unterwegs merke ich, dass eine Unterzuckerung beginnt und fahre schnell
rechts ran und versorge mich. Es war wohl doch alles ziemlich heftig. Nach einiger Zeit geht es mir
besser, und ich fahre langsam nach Hause.
Ende 2008 zieht Ines mit drei der vier Kinder zu dem neuen Mann. Inzwischen sind sie verheiratet.
Der Große bleibt bei der Oma. Er wird in der Nähe eine Ausbildung beginnen.
Unser Kontakt ist nie abgebrochen. Ich werde noch immer über den ganz normalen Wahnsinn mit
den Kindern informiert. Es ist alles gut und sie sind als Familie zusammen gewachsen.
2015 wiederholt sich alles für einen kurzen Moment. Der Große, mit nun 20 Jahren, ruft mich an
und möchte zu mir kommen. Ich lade ihn zum Essen ein und dabei erzählt er mir, dass seine Freundin
im Krankenhaus liegt und in der finalen Phase an Krebs erkrankt ist. Ich höre ihm zu und er
erzählt mir, dass er sehr gut von ihren Eltern begleitet wird. Seine Freundin ist dann gestorben und
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Ines Geschichte
er hat sie, trotz seines jungen Alters, vorbildlich begleitet. Sein Chef hat ihm auf unbestimmte Zeit
Urlaub gegeben, damit das möglich ist. Auch von dieser Seite hat er alle Unterstützung. Nun lebt
er wieder in der Nähe von Ines. Sie hält mich über alles Wichtige auf dem Laufenden.
Heute, 2018, erfahre ich von Ines, dass der Große nach dem Tod seiner Freundin wieder das Räucherritual
durchgeführt hat. Dadurch konnte er seine Freundin gut gehen lassen und sich verabschieden.
Das hat mich gefreut und mir die Gewissheit gegeben, dass es damals richtig und gut
war, dieses Ritual mit der Familie gemacht zu haben.
Ich bin stolz, dass ich Ines, diese Löwenmutter, und ihre Kinder in dieser schlimmen Zeit begleiten
durfte. Sie hat wirklich alles für ihre Kinder getan und es ist berührend zu sehen, wie die Kinder
heute aufeinander achten und füreinander da sind. Ein Kind hat eine Ausbildung gemacht, ein anderes
hat angefangen zu studieren, alle gehen ihren Weg. Und alle haben gelernt, mit dem Verlust
eines geliebten Menschen zu leben. Das ist der Verdienst „meiner“ Ines.
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Marlies Steinbrück
Ich möchte Mut machen es zu tun.
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Marlies Steinbrück
Wie und wann bist du zur Hospizhilfe gekommen?
Interviewerin: Marlies, wann bist du zur Hospizarbeit gekommen, wann hast du deine Ausbildung
gemacht, kannst du mir dazu etwas erzählen.
Marlies Steinbrück: Also, da waren die zwei Pastöre, Dr. Lieske und Dr. Hans Günter Scheuer 1 .
Sie haben einen Kurs angeboten, sich mit dem eigenen Leben und Tod auseinanderzusetzen. Da
waren wir so zwölf Leute, von denen dann drei weitergemacht haben. Das war im Jahr 1994.
Interviewerin: Was war für dich dein Auslöser, dass du dich da angesprochen gefühlt hast?
Marlies Steinbrück: Das war der Tod meiner Mutter. Sie ist schon 1969 verstorben, da war ich mit
dem vierten Kind schwanger. Sie hatte eine Gallen-OP, hatte sehr viel Angst, sie wollte, dass ich da
bliebe im Krankenhaus nachts bei ihr, ich wurde aber weggeschickt, weil ich schwanger war, das
war damals so. Heute ließ sich ja kein Mensch mehr wegschicken!
In der Nacht ist sie verstorben. Das hat mich beschäftigt, von 1969 bis 1994 habe ich das - mein
Gewissen belastend - mitgeschleppt, dass ich in den letzten Stunden nicht bei ihr sein konnte.
Interviewerin: Also, die beiden (Dr. Lieske und Dr. Scheuer) haben einen Kurs angeboten?
Marlies Steinbrück: Für mich ging es zunächst mehr um mich, das zu verarbeiten, was ich da erlebt
hatte und mitschleppte. Da habe ich dann im Kurs ein Rollenspiel mit Hans Günter gemacht, unter
Tränen habe ich meine Vergangenheit bearbeitet.
1
siehe Fußnote 1 Interview Bogatzki
32
Interviewerin: Wie ging es dann weiter?
Marlies Steinbrück: Ja, so haben wir dann vieles bearbeitet. Am Ende sind wir dann alle gefragt
worden, wie es weitergehen sollte, wie wir uns das vorstellen würden, für uns, mit der Gruppe, mit
der Auseinandersetzung mit möglichen Konflikten usw. Für manche war das gar nicht vorstellbar,
mit bestehenden Konflikten in der Familie dann in einer Begleitung umzugehen. Wir hatten dann
alle diejenigen, die wollten, ein Einzelgespräch (da im Zimmer unterm Dach im Marien-Krankenhaus)
mit den beiden und dann wurde entschieden, ob man weitermachen konnte. Ich habe das
Einzelgespräch gemacht und sie haben mir gesagt, dass sie sich freuen würden, wenn ich weitermache.
Das war alles in 1994, die Ausbildung und das Einzelgespräch als Abschluss.
Ein Jahr später kamen zu uns dreien, die übrig geblieben waren, noch weitere dazu. Uschi und eine
weitere Frau.
1995/1996 wurden dann schon Aufgabenbereiche verteilt. Ich machte die Koordination, Uschi war
für die Finanzen zuständig.
Interviewerin: Was hattest du damals als (ehrenamtliche) Koordinatorin zu tun?
Marlies Steinbrück: Ja, wenn Anfragen kamen, kamen diese bei Hans Günter an, er hat mich dann
angerufen. Er hatte ja damals keinen Führerschein, dann sind wir zusammen gefahren, haben uns
auch mal im Siegerland verfahren. Einmal gab es einen Straßennamen in Geisweid und in Obersdorf.
Da sind wir dann nach Obersdorf gefahren und als der Mann uns öffnete, war uns schon
klar, hier sind wir falsch. Da haben wir dann erst mal einen warmen Tee bekommen, dann sind wir
wieder los nach Geisweid.
Überhaupt bekamen wir dann erst mal einen Stadtplan.
Interviewerin: Wie ging es weiter?
Marlies Steinbrück: Dann kamen viele aus einem neuen Kurs hinzu, das war auch der Kurs, aus
dem du 1 dann dazu gekommen bist. Im Zimmer oben im Marien-Krankenhaus war zu wenig Platz,
so trafen wir uns dann in den Gemeinderäumen am Bleichweg. Irgendwann dann (so ab 1998) kam
dann auch Christa Hartmann 2 dazu.
1
die Interviewerin, Gerrit Ebener-Greis
2 die damalige hauptberufliche Mitarbeiterin beim Caritasverband für die Umsetzung von Hospizarbeit
33
Marlies Steinbrück
Interviewerin: Wie war das alles für dich?
Marlies Steinbrück: Ich habe das alles akzeptiert, wie es sich entwickelt hat. Ich konnte gut damit
leben, dass es mehr Menschen wurden.
Dann kam Iris Dittmann 3 dazu und ich glaube bis zur Vereinsgründung habe ich weiter koordiniert,
du hast mir da auch bei geholfen, oft haben wir telefoniert und uns abgesprochen, auch mit Eberhard
habe ich mich oft ausgetauscht.
Später wurde ja Iris zur hauptamtlichen Koordinatorin, vorher habe ich das alles ehrenamtlich
gemacht.
Interviewerin: Dann konntest du dich zurückziehen?
Marlies Steinbrück: Dann habe ich nur noch ehrenamtlich in der Begleitung gearbeitet.
Das war nicht immer einfach. Wir haben auch Familien betreut, nicht nur einen einzigen Menschen.
Da war einmal eine Familie mit einem schwerkranken Kind, das über eine Maschine beatmet
wurde. Da sind Hans Günter und ich hingefahren und haben uns dann überlegt, ob wir die
Begleitung machen können oder wollen. Das Wollen meint, ob wir es uns zutrauen, alles leisten
zu können. Wir meinten aber, wir könnten es doch nicht abschlagen, wo sie unsere Unterstützung
so nötig haben. Da sind dann auch noch zwei andere Hospizmitarbeiterinnen über eine lange Zeit
hin gefahren und haben mit den Geschwistern nachmittags etwas gemacht. So sind sie mit ihnen
Schlitten gefahren und anderes. Die Frau hat dann auch noch hier angerufen und sich beschwert,
dass durch den Schnee, der mit ins Haus gebracht wurde, sie nun mehr Arbeit hätte. Es war nicht
immer einfach und es waren schwere Zeiten für diese Familie damals.
Warum machst du Hospizarbeit?
Interviewerin: Marlies, warum machst du Hospizarbeit, was war/ist deine Motivation?
Marlies Steinbrück: Da ist das Erlebnis mit meiner Mutter. Das werde ich nie vergessen, weil ich
da nicht helfen konnte, will ich anderen die Gelegenheit geben, dass da einer am Bett sitzt. Das
geht mir heute noch so, dass ich sage: Das darf nicht passieren, dass da jemand so alleine bleiben
muss.
3
Nachfolgerin von Christa Hartmann und bis heute Koordinatorin beim Caritasverband
34
Was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Interviewerin: Was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Marlies Steinbrück: Ja, dass ich immer noch anderen Menschen helfen kann, wenn so etwas da ist,
wenn sie es nicht können.
Interviewerin: Glaubst du, dass dich die Hospizarbeit geprägt hat, dass du dich dadurch verändert
hast?
Marlies Steinbrück: Ich glaube schon, dass es daher kommt, wie ich mich verhalte, dass mich die
Ausbildung und die Arbeit geprägt haben. Manche Bekannte sagen zu mir, dass sie mit mir über
Tod und Sterben sprechen können. Dadurch, dass ich auch Jürgens Tod 4 verarbeiten muss, werde
ich oft gefragt, wie lange denn so die Trauerzeit dauert. Ich kann nur sagen, ich weiß es nicht, ich
selbst habe heute noch guten Kontakt zu ihm.
Was hat dich besonders beschäftigt?
Interviewerin: Marlies, was hat dich besonders beschäftigt?
Marlies Steinbrück: Jetzt – denke ich oft an mein eigenes Sterben. Ich habe mein Leben jetzt gelebt.
Ich lebe zwar gerne und gut, aber es wäre nicht schlimm, wenn es zu Ende wäre. Ich habe
keine Angst davor.
Ich bin ein Mensch, ich habe keinen, mit dem ich Krach habe, ich möchte Konflikte austragen und
Frieden haben. Konflikte austragen habe ich damals im Kurs mit Dr. Lieske gelernt, er hat das mit
uns ganz intensiv geübt.
Was möchtest du den „Jüngeren“ mitgeben?
Interviewerin: Was möchtest du den „Jüngeren“ in der Hospizarbeit mitgeben?
Marlies Steinbrück: Ich möchte einfach Mut machen, es zu tun, keine Angst davor zu haben.
Man bekommt auch viel dafür. Man gibt nicht nur, man bekommt auch eine Menge zurück, nichts
Materielles, aber einen Händedruck, Dankbarkeit.
4
verstorbener Ehemann
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Marlies Steinbrück
Was ist das Besondere an der Hospizarbeit? Kannst du davon erzählen?
Interviewerin: Was ist das Besondere an der Hospizarbeit? Kannst du davon erzählen.
Marlies Steinbrück: Ph... da fällt mir die Situation eines jungen Mannes ein mit zwei Jungen. Er
ist sehr schnell verstorben und eigentlich ganz plötzlich. Man konnte den Kontakt zu ihm spüren,
wenn man ihn berührte. Die Situation zuhause war damals ganz schwierig. Er kam dann ins Hospiz
noch für zwei Tage, da konnte er dann in Ruhe und mit Würde sterben. Da ging es ihm sehr gut,
die letzten zwei Tage im Hospiz. Da haben wir geholfen, dass das sich so arrangieren ließ. Mir ging
es danach gut.
Andere sollten keine Angst vor den Begleitungen haben.
Sonst noch etwas?
Interviewerin: Was magst du sonst noch erzählen?
Marlies Steinbrück: Auch durch den Tod von Jürgen 4 habe ich selbst erlebt, wie wichtig es ist, dass
man am Sterbebett bei jemandem ist und ihn nicht alleine lässt. Auch wenn man nichts mehr
machen kann, kann man noch was tun. Ich bin dabei damals auch sehr unterstützt worden. Es tat
auch gut von anderen zu hören, die uns beobachtet haben, wie sie es als gut empfunden haben.
Es ist immer ein Unterschied, ob man sich auf ein Sterben vorbereiten kann oder ganz plötzlich
verstirbt.
Interviewerin: Vielen Dank Marlies!
4
verstorbener Ehemann
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Theresia Kämpfer
Ganz wichtig ist das Wir-Gefühl in unserem gemeinsamen Anliegen.
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Theresia Kämpfer
Wie und wann bist du zur Hospizhilfe gekommen?
Interviewerin: Theresia, wie bist du zur Hospizarbeit gekommen?
Theresia Kämpfer: Ich weiß nicht mehr so genau, wann ich gekommen bin. Ich erinnere mich an
die Kursleiter, Pfarrer Dr. Lieske und Pfarrer Dr. Scheuer. Christa Hartmann vom Caritasverband
war damals auch schon da. Ich war damals noch berufstätig, habe meine Ausbildung und Fortbildungen
da gemacht, dann ab 2006 im Trauercafé mitgearbeitet, einige Jahre im Projekt „Hospiz
macht Schule“ und in der Sterbebegleitung.
Warum machst du Hospizarbeit – was ist deine Motivation?
Interviewerin: Was war damals bzw. ist später deine Motivation gewesen?
Theresia Kämpfer: Anlass war der Tod meiner Eltern in den Jahren 1990 und 1992 und meine damit
in Zusammenhang stehenden Erfahrungen. Ich durfte damals nicht bei meiner kranken Mutter im
Krankenhaus bleiben, ich wusste nicht, dass sie sterbenskrank war. Ich hatte da so ein Gefühl, ich
habe gefragt, ob ich bei ihr bleiben darf, doch durfte ich nicht, es war nicht möglich über Nacht zu
bleiben. Man hat mir gesagt, wir rufen Sie an! Doch das war nicht gut.
Meine Motivation war und ist weiterhin der Wunsch, daran mitzuarbeiten, dass sowohl die Wünsche
und Bedürfnisse der kranken bzw. sterbenden Menschen und die der Angehörigen gleichermaßen
Beachtung finden durch angemessene Gespräche, Unterstützung, Informationen und mit
ehrenamtlich tätigen Menschen.
Was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Interviewerin: Was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Theresia Kämpfer: Immer wieder neue Begegnungen, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse und
den Anstoß, das eigene Leben zu bedenken ebenso wie Mitgefühl für andere.
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Interviewerin: Was hat dich besonders beschäftigt?
Theresia Kämpfer: Einmal abgesehen von dem Alter der Menschen, der Vielzahl der Erkrankungen
sind es die weiterführenden Fragen: „Welche Verantwortung kann jeder einzelne für sein Leben
und seine Gesundheit wahrnehmen? „Welche gesamtgesellschaftliche Verantwortung darf mich
nicht unberührt lassen?“
Interviewerin: Was meinst du damit?
Theresia Kämpfer: Viele Menschen leben leichtfertig, was ihre Gesundheit anbetrifft und andererseits
gibt es so viele verschiedene Krankheiten, Erkrankungen.
Was möchtest du den „Jüngeren“ mitgeben?
Interviewerin: Was möchtest du den „Jüngeren“ mitgeben?
Theresia Kämpfer: Generell sollte man nach den Begleitungen immer Abstand davon gewinnen.
Als zweites möchte ich das „Wir-Gefühl“ unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern benennen,
das gibt Stärke und die ist immens wichtig. Wir sind uns nicht gleichgültig, helfen uns, sind keine
Einzelkämpfer, das macht stark. Und es gibt da Leute, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
den Rücken stärken, die Rückhalt geben, damit meine ich euch von der Koordinationsstelle und
dem Vorstand.
Interviewerin: Was meinst du damit?
Theresia Kämpfer: Ja, die Ausbildung ist gut, war gut damals bei mir, das hat mir Courage gegeben.
Doch ich war auch geschockt, ich war aus meinem Kurs damals die einzige, die übrig geblieben ist.
Dann in der Praxis ist der Austausch ganz wichtig, wenn mal eine Situation kommt, wo man nicht
weiter weiß, es so weit kommt, dass man ausflippen könnte, dann kann man sich Unterstützung
holen und das bedeutet, man korrigiert seinen eigenen Blickwinkel und vielleicht auch die eigene
Meinung. Andere sehen auch immer noch andere Facetten einer Geschichte.
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Theresia Kämpfer
Wenn man dann selbst betroffen ist, ist die Wahrnehmung eben auch immer die eigene, da tut
eine andere Wahrnehmung dann gut. Ich habe so viele Begleitungen gemacht, kann damit normalerweise
so gut umgehen, aber in eigener Betroffenheit waren alle Erfahrungen auf einmal Neuland
für mich. Was man dann kennt, sind die Abläufe und Wege, das gibt dann schon Sicherheit,
aber in der Situation steht man dann auf einmal selbst da.
Mir ist auch ganz wichtig, dass die Angehörigen auch im Blick sind und dass auf sie sehr gut eingegangen
wird.
Interviewerin: Was meinst du damit?
Theresia Kämpfer: Damit sie wieder Kraft bekommen, diese Situation gut durchzustehen. Ich habe
es an zwei Orten ganz verschieden erlebt. Einmal sehr annehmend, einmal weniger, mehr abwickelnd.
Vielleicht ein Beispiel: Ich erinnere mich an ein altes Ehepaar, so zwischen 80. und 90. Lebensjahr.
Der Ehemann war nach vielen Jahren an Alzheimer-Demenz sterbend, wurde noch von der Ehefrau
und berufstätiger Tochter sowie anderen Diensten versorgt. Wir waren dort mit zwei Mitarbeiterinnen
im Einsatz. Ich hatte die Vorstellung, dass sich die Ehefrau während meiner Anwesenheit
eine oder zwei Stunden zur Mittagsruhe in das Wohnzimmer zurückzieht. Sie kam jedoch nach
zehn Minuten zurück. Ihr Mann war schon seit längerer Zeit nicht mehr oder kaum ansprechbar.
Was konnte ich in dieser Situation tun? – Da saßen wir beide nun auf einer stattlichen Holztruhe
gegenüber dem Sterbenden, die alte Ehefrau und ich, die Person, die sie entlasten wollte. So haben
wir auf meinen Vorschlag uns Fotos angesehen. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen
war, doch Frau Donner 1 war ganz offensichtlich dankbar für die Gelegenheit, sich zu erinnern und
über vieles sprechen zu können. Ich habe mich dann verabschiedet von Herrn Donner mit den
Worten, dass ich nun gehen würde, dass er weiterhin seinen Engel an seiner Seite habe, seine Ehefrau.
Frau Donner lächelte zufrieden, Herr Donner sagte dann laut und deutlich: „Komm gut heim“.
Interviewerin: Was willst du noch erzählen?
Theresia Kämpfer: Im Moment merke ich, dass ich noch nicht so viele Begegnungen, Kontakte mit
Menschen verkrafte, weil ich gerade noch selbst zu sehr in Trauer bin. Ich brauche Kraft für mich
– eine Auszeit. Auch um zu sehen, was in meinem Rucksack überflüssig ist.
1 Name geändert
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Ganz wichtig in der Hospizarbeit ist Einfühlungsvermögen. Das habe ich immer wieder und in verschiedenen
Situationen auch ganz verschieden erlebt.
Ich erinnere mich an meine erste Begleitung. Ich war auf dem Weg in ein kleines Dorf auf dem Lande.
Die Landschaft war noch geprägt von Landwirtschaft. Den Weg dorthin säumten Bäume rechts
und links. Ich hatte Sorge, in welche Situation ich dort treffen würde. Ich sollte eine berufstätige
Tochter entlasten, war alleine mit dem Sterbenden, wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Da habe
ich den Mann erst einmal gefragt, ob wir Dialekt, also Platt sprechen sollten oder könnten. Damit
war das Eis gebrochen, der Herr hat mir dann sein ganzes Leben erzählt, von der körperlichen Beeinträchtigung
durch den Krieg, der Familie, auf das, worauf er stolz war, wann und unter welchen
Bedingungen er sein Haus gebaut hat, von der Landwirtschaft, dass seine Frau verstorben sei
und mehr. Wir haben dann Fotoalben angeschaut, die er in der Nachtkonsole hatte. So haben wir
uns intensiv ausgetauscht. Doch bevor ich ging, habe ich ihn noch nach dem Namen seiner Frau
gefragt, er hat ihn mir dann gesagt. Ich habe ihm dann mitgegeben „Ich glaube, Waltraud wartet
schon auf Sie“. In der Nacht ist er dann verstorben.
Interviewerin: Was hat dich getragen, dass du diese Frage gestellt hast?
Theresia Kämpfer: Der ganze Lebenslauf und sein Erzählen jetzt zum Ende lief darauf hin, dass ich
diese Frage so stellen konnte – und das bei der ersten Begleitung.
Interviewerin: Gibt es noch weitere Beispiele, die du erzählen möchtest?
Theresia Kämpfer: Ich war zu einer Begleitung im Pflegeheim. Dort begrüßte mich eine Angehörige.
Als ich mich vorstellte, sagte sie: „So sehen Sie auch aus“ (Anmerkung: dunkelblau bekleidet,
hellblaue Bluse, rot-blaues Halstuch). Weitere Hinweise zur sterbenden Frau bekam ich von der
Pflegekraft. Frau Schmidt 2 war Krankenschwester in einem Lazarett. Ihre Wörter, die sie jetzt immer
wieder sprach oder rief, waren „Hilf mir, hilf mir...“ Ein Gespräch sonst war nicht möglich. Ich
habe versucht, über mögliche Erinnerungen zu sprechen, habe angesprochen, dass sie in ihrem
Leben vielen Menschen geholfen hat, dass sie jetzt an einem Ort sei, wo ihr geholfen werde. Vom
Flur her hörte ich Gitarrenspiel. Die Pflegekräfte erklärten, dass manchmal Studierende Musik
machten, ein Klavierspieler war auch dabei. So hatten sich einige Heimbewohner auf dem Flur
versammelt. Ich fragte die Pflegekraft nach der Möglichkeit, Frau Schmidt von ihrem Bett in einen
Rollstuhl zu setzen, so dass wir gemeinsam zur Musik-Gruppe fahren konnten. Wir konnten und
haben es möglich gemacht. Beim Lied „Im Märzen der Bauer...“ konnte Frau Schmidt alle Strophen
mitsingen.
2 Name geändert
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Theresia Kämpfer
Was ist das Besondere an Hospizarbeit – kannst du davon erzählen
Interviewerin: Was ist das Besondere an der Hospizarbeit – kannst du davon erzählen
Theresia Kämpfer: Das Besondere ist neben allem, was ich schon gesagt habe, die gute Ausbildung,
die Begleitung in regelmäßigen Gruppentreffen und die Supervision, die wir haben.
Daneben gibt es das Angebot von Fortbildungen, von Fachvorträgen.
Ganz wichtig ist das Wir-Gefühl in unserem gemeinsamen Anliegen.
Und auch, dass wir selbst Entscheidungsmöglichkeiten haben, je nach eigener Begabung oder
Kompetenz, wo wir eingesetzt werden, ebenso wie die Einsatzzeiten je nach persönlicher Situation
passen müssen. Wichtig ist auch, dass es Vorgespräche mit den Betroffenen gibt, dass es
Vereinbarungen gibt.
Interviewerin: Was willst du noch sagen?
Theresia Kämpfer: Es gibt kein Rezept oder eine Anleitung für die Begleitung. Man muss immer
seinen Verstand einschalten und sich individuell verhalten, Empathie mitbringen und sich persönlich
abgrenzen.
Interviewerin: Ganz herzlichen Dank Theresia!
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Brunhilde Knebel
Zugewandt, und vor allen Dingen herzlich.
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Brunhilde Knebel
Interviewerin: Liebe Brunhilde, wann hast du mit der Hospizarbeit angefangen?
Brunhilde Knebel: 2003 habe ich angefangen und direkt auch die Ausbildung gemacht. Ich habe
in der Zeitung davon gelesen und mich mit Hans Günter aus dem St. Marien-Krankenhaus kurzgeschlossen.
Er sagte, so Leute wie dich können wir da gebrauchen.
Interviewerin: Was hat dir besonders gut gefallen?
Brunhilde Knebel: Das Trauercafé ist eines der Sachen, die mir am meisten Freude gemacht haben,
„Hospiz macht Schule“ noch mehr. Im Trauercafé habe ich direkt angefangen. Das hat mir sehr viel
gegeben und vor allem fand ich das sehr gut. Und „Hospiz macht Schule“ hat mir auch sehr viel
Freude gemacht. Das tut mir auch Leid, dass es im Moment nicht geht. Es ist im Moment schwierig,
da ich keine fünf Stunden außer Haus gehen kann.
Interviewerin: Warum machst du Hospizarbeit? Was ist deine Motivation?
Brunhilde Knebel: Anderen Leuten helfen, ihnen beistehen in diesen Situationen.
Interviewerin: Kannst du vielleicht von einer Begleitung erzählen, die dir besonders gut in Erinnerung
ist?
Brunhilde Knebel: Ganz besonders in Erinnerung ist mir die eines Ehepaars, das ich über eineinhalb
Jahre begleitet habe. Der Ehemann war erst zu Hause und kam dann zur Kurzzeitpflege in
ein Altenheim. Dann bin ich jede Woche mit der Ehefrau hingefahren und wir haben ihn besucht.
Das letzte Mal sind wir sehr lange bei ihm gewesen, wir konnten uns einfach nicht verabschieden.
Sonst sind wir so von drei bis fünf Uhr geblieben, und da waren wir so bis abends um sieben Uhr
da. In der Nacht verstarb er dann. Seine Frau ruft mich heute noch an, wir haben heute noch Kontakt.
Wir wissen nicht, warum wir so lange dageblieben sind an dem letzten Tag, nur irgendwie
konnten wir uns nicht von ihm verabschieden. Ja und dann ist er in der Nacht verstorben. Das, sagt
sie immer, ist für sie eine ganz besondere Sache gewesen.
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Die letzte Begleitung, die hatte ich hier oben in der Siedlung, die junge Frau, die hat mich auch
lange beschäftigt. Sie hatte einen kleinen Burschen mit fünf Jahren, den ich immer vom Kindergarten
abgeholt und begleitet habe. Die Begleitung für sie war eigentlich, dass ich mich um das Kind
kümmerte. Der kleine Bursche hat mich unwahrscheinlich beeindruckt. Heute geht es ihm gut.
Eine Begleitung, die mich noch sehr mitgenommen hat, ist Frau Walter 1 im Altenheim. Das war eine
Begleitung, die über lange, lange Zeit gegangen ist. Sie hatten ja Probleme, die Eheleute. Die Tochter
hatte die Eltern nach Siegen geholt. Sie hatte beide hier im Altenheim untergebracht, zuerst
im Doppelzimmer, das hat aber gar nicht geklappt. Dann war die Ehefrau unten und der Ehemann
oben in einem Zimmer. Die Ehefrau war Krebspatientin und wurde da in meinen Augen sehr gut
betreut. Sie ist dann gefallen und im Krankenhaus verstorben. Zur Beerdigung bin ich auch mitgegangen,
weil ich wirklich meinte, da gehörte ich hin.
Interviewerin: Was würdest du denn sagen, wenn du jetzt an die Hospizarbeit denkst, was hat sich
denn dadurch in deinem Leben verändert?
Brunhilde Knebel: Da hat sich eine Menge verändert, ich sehe viele Sachen aus einer anderen
Sicht. Auch jetzt, wo es uns ja monatelang nicht gut gegangen ist, denke ich so oft daran, wen ich
da begleitet habe und wie es da gegangen ist. Ich glaube, wenn man die Einstellung nicht hätte,
ich durch meinen Beruf als Krankenschwester all die Jahre, würde man so was gar nicht machen.
Das ist genauso, wie man heute sieht, wie wir es diesen Sommer erlebt haben im Krankenhaus
– wir sind oft sehr lieblos behandelt worden, die Leute sind meiner Meinung fehl am Platz. Man
muss schon eine gewisse Einstellung dazu haben, sonst sollte man den Beruf nicht ausüben.
1 Name geändert
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Brunhilde Knebel
Interviewerin: Wie würdest du denn diese Einstellung beschreiben, kann man das in Worte fassen?
Brunhilde Knebel: Wie würde ich das beschreiben… Ich würde sagen, so wie ich mir vorstelle, wie
ich behandelt werden möchte, so möchte ich auch die Leute behandeln. Zugewandt, und vor allen
Dingen herzlich. Die Achtsamkeit, würde ich sagen, das ist das A und O.
Zum Beispiel Herr Sommer 2 redete kaum, aber wenn wir oder wenn ich hinkam, dann ging seine
Frau meistens in den Garten und ich war die ganze Zeit mit ihm alleine und habe ihm erzählt. Er
sagte nicht viel, aber was er sagte, dann sagte er „Ich liebe euch beide“, oder „kommt gut nach
Hause“. So ein oder zwei Sätze, die er brachte, die waren wirklich von Herzen und ich denke, er hat
auch gefühlt, dass die Besuche beiden gut tun.
Interviewerin: Was würdest du denn den Ehrenamtlichen auf den Weg geben, die jetzt neu dazu
kommen?
Brunhilde Knebel: Wirklich mit dem Herzen dabei sein, das ist das allerwichtigste. Die Leute, die
man begleitet, müssen spüren, dass man das ehrlich meint und dass das von Herzen kommt. Ich
muss auch ehrlich sagen, die Erfahrung habe ich auch immer wieder gemacht.
Interviewerin: Wenn die Frau Sommer sich heute immer noch regelmäßig meldet, dann ist sie dir
ja auch sehr dankbar, dass du damals da warst.
Brunhilde Knebel: Ist sie auch. Das sagt sie auch heute noch immer wieder.
Interviewerin: Würdest du Hospizarbeit nochmal machen?
Brunhilde Knebel: (ohne zu überlegen) Ja. Auf jeden Fall. Ich würde wirklich gerne Hospizarbeit,
Trauercafé und „Hospiz macht Schule“ weiterhin machen. Ich habe mir jetzt nochmal die Sachen,
die uns die Kinder immer zum Abschied geschenkt haben, angesehen, da habe ich gedacht, auch
das war schön.
Vor dem Kennenlernen einer neuen Person fragt man sich, stimmt die Chemie. Man ist anfangs mit
einem bubbernden Herzen hingegangen. Was kommt auf dich zu, was erwartet dich? Man hatte ja
auch verschiedene Begleitungen. Ich habe auch mal eine Nachtwache gemacht, der Patient war
nicht mehr richtig ansprechbar, da hab ich praktisch nur die ganze Zeit gesessen, damit die Frau
mal schlafen konnte. Das war mal eine Begleitung, wo du keinen Kontakt aufbauen konntest.
2 Name geändert
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Interviewerin: Aber sonst ging es darum, ob die Chemie stimmt.
Brunhilde Knebel: Ja, das war ganz, ganz wichtig für mich.
Interviewerin: Aber wenn man mit dieser Einstellung den Menschen mit Achtsamkeit begegnet,
und man offen und zugewandt ist, dann stimmt die Chemie auch öfters.
Brunhilde Knebel: Ich meine, es gibt Leute, wo du sagst, da komm ich einfach nicht mit zurecht.
Dann sollte man auch abbrechen und sagen, schickt da bitte einen anderen hin, das klappt hier
nicht. Aber ich hab es wirklich nicht erlebt; die Leute, die ich begleitet habe, da hat es immer geklappt.
Interviewerin: Liebe Brunhilde, vielen Dank für das Gespräch.
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Eberhard Freundt
Erst einmal muss ich jedem Menschen so begegnen, wie er ist.
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Eberhard Freundt
Wie und wann bist du zur Hospizhilfe gekommen?
Interviewerin: Lieber Eberhard, wie und wann bist du zur Hospizhilfe gekommen?
Wir überlegen gemeinsam, wie es denn nun angefangen hat und was Iris, die Koordinatorin, damit
zu tun hatte.
Interviewerin: Hast du dir Hospizarbeit ausgesucht oder bist du angeworben worden?
Eberhard Freundt: Die Verbindung und der erste Kontakt zur Hospizhilfe muss im Haus Herbstzeitlos
zu finden sein. Da habe ich als Mitglied von Alter Aktiv mitgeholfen das Senecafé aufzubauen.
In dieser Zeit muss mich Iris angesprochen haben. Sie lud mich zu einem ganz unverbindlichen
Informationsabend ein. Aus Neugier und als Rentner auf der Suche nach einer sinnvollen, ehrenamtlichen
Tätigkeit, habe ich zugesagt und 2004 mit der Ausbildung angefangen und mich auf das
„Abenteuer“ Hospizarbeit eingelassen. In dieser Zeit habe ich auch Hans Günter kennengelernt
sowie gleichgesinnte Mitmenschen, die mit mir die Ausbildung gemacht haben.
Interviewerin: Sind von denen noch welche heute dabei?
Eberhard Freundt: Ja, einige sind bis heute noch aktiv tätig, als Vorstandsmitglied, in einer Begleitung,
im Trauercafé, der Ausrichtung von Trauerspaziergängen sowie andere vereinsfördernde
Tätigkeiten.
Interviewerin: Welche Schwerpunkte hast du dir danach in der Hospizarbeit für dich selbst gesucht?
Gibt es da etwas zu berichten?
Eberhard Freundt: Also zunächst stand für mich die Frage an, bin ich für die Hospizarbeit und
Sterbebegleitung überhaupt geeignet, kann ich das überhaupt leisten? Diese Frage ist ein wesentlicher
Bestandteil der Ausbildung. Erfahren habe ich dies direkt bei meiner ersten Begleitung. Ich
fühlte mich sozusagen ins kalte Wasser gestoßen. Da lag vor mir ein alter hilfloser Mann, blind,
beide Beine amputiert, geistig aber gut ansprechbar. Gepflegt wurde er von seiner Schwiegertochter.
Als die zum Einkaufen in die Stadt fuhr, war ich ganz allein mit einem schwerstkranken Mann,
in einem mir völlig fremden Haus und fragte mich: „Was machst Du hier? Es gibt doch sicherlich
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schönere Aufenthaltsorte als diesen?“ Aber trotz dieses anfänglichen Zweifels wurde es eine intensive
und lehrreiche Begleitung.
In den ersten Jahren meiner Hospizarbeit lag der Schwerpunkt ausschließlich in der persönlichen
Begleitung sterbender Menschen. Gezählt habe ich sie nicht, hätte ich vielleicht mal tun sollen.
Jede Begleitung hat mich auf ganz unterschiedliche Weise immer an den Rand des Lebens geführt
und mir auch meine eigene Endlichkeit immer wieder in Erinnerung gerufen. Ein entscheidender
Punkt für das Gelingen einer Begleitung war und ist ihre Dauer, denn mit jedem neuen Besuch und
jedem geführten Gespräch wächst so etwas wie eine gewisse Vertrautheit. Immer dann, wenn mir
der Sterbende sein DU angeboten hat, habe ich mir gesagt: Jetzt ich bin bei ihm angekommen.
Interviewerin: Du hast auch noch Vorstandsarbeit gemacht?
Eberhard Freundt: Ja, ich weiß gar nicht mehr, ab wann, aufgehört habe ich im Jahr 2016. Neben
den persönlichen Begleitungen, der Vorstandsarbeit und anfänglichen Mitarbeit im Trauercafé
hatte ich mir auch den Aufbau einer Hospiz-Homepage auf die Fahnen geschrieben. Damals hatten
ja noch nicht viele Vereine eine eigene Homepage. Sozusagen als Autodidakt habe ich sie entwickelt
und über Jahre hinweg gepflegt. Heute ist sie – Gott sei Dank – in professionellen Händen.
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Eberhard Freundt
Warum machst du Hospizarbeit
Interviewerin: Eberhard, kannst du was darüber erzählen, warum du Hospizarbeit machst, was
deine Motivation war/ist?
Eberhard Freundt: Immer wenn mich Leute fragen, warum ich gerade Hospizarbeit mache, muss
ich passen, denn ich habe bis heute noch keine für mich befriedigende Erklärung gefunden. Die
einzig mögliche Erklärung liegt in einem traumatischen Kindheitserlebnis. Es geschah in der Nachkriegszeit,
ich war wohl 6-8 Jahre alt, im Marien-Krankenhaus, als eine Ordensschwester meine
kleine Hand nahm und zu mir sagte „Komm mal mit mir, ich zeige dir mal dein kleines Schwesterchen“.
Ich ging mit ihr, über viele Flure, die mir wie ein Labyrinth vorkamen, in den Keller des
Marien-Krankenhauses. Dort war es dunkel und kalt. In einem kleinen Raum brannte eine Kerze
und als ich näher kam, sah ich sie da liegen, meine kleine Schwester - Monika sollte sie heißen -.
Ihr Gesicht war blau angelaufen, um ihre kleinen, zierlichen Hände war ein Rosenkranz gewickelt.
Monika war während der Geburt, aufgrund einer Fehlentscheidung der Hebamme, im Blut erstickt.
Meine Mutter rang durch den hohen Blutverlust mit dem Tod. Ob dieses traurige Erlebnis der (unbewusste)
Anlass und Motivation für mein heutiges Engagement in der Hospizarbeit ist, möchte
ich offen lassen. Aber es gibt viele Menschen, die durch die Erschütterung eines Schicksalsschlages
zur Hospizarbeit gefunden haben.
Interviewerin: Das heißt auch, dass du damals zu Beginn etwas für dich tun wolltest?
Eberhard Freundt: Ja, auf jeden Fall. Ich bin ein neugieriger Mensch, komme aus der philosophischen
Ecke und habe mich schon immer gerne mit existenziellen Lebensfragen auseinandergesetzt.
Wie sagte schon Platon, der alte Grieche: „Philosophieren heißt sterben lernen“.
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Was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Interviewerin: Eberhard, was nimmst du aus der Hospizarbeit mit?
Eberhard Freundt: Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und dass man das Sterben und
den Tod nicht verdrängen sollte, denn sie sind fester Bestandteil unseres Lebens. Ob früher oder
später und trotz noch so vieler Tabletten der Ärzte, irgendwann steht Gevatter Tod am Fußende
deines Bettes und sagt: „Es ist Zeit, komm.“ Vieles in unserem Leben ist unsicher und wage, aber
wenn etwas in unserem Leben hundert Prozent sicher ist, dann unser Sterben und Tod.
Mir ist ein Satz wichtig geworden, den ich mal irgendwo gelesen habe:
Die Kräfte der Seele wachsen mit der Erkenntnis
und mit der Klarheit der Erkenntnis
die Intensität des Lebens.
Das heißt, je intensiver mir meine Endlichkeit bewusst wird, um so kostbarer werden die oft kurzen
glücklichen Momente des Lebens. Es geht darum, die Intensität des Lebens wert zu schätzen.
Für die Hospizarbeit heißt das, man muss sich bei jeder Begleitung ganz auf den Menschen als
Gegenüber einlassen. Eine längere Dauer der Begleitungen führt vielleicht zu intensiveren Gesprächen.
Nicht alle, aber die meisten Menschen, die ich begleiten durfte, habe ich gefragt, ob sie
Angst vor dem Sterben hätten. Alle haben mit NEIN geantwortet.
Interviewerin: Konntest du das alle fragen?
Eberhard Freundt: NEIN, das gelingt nur, wenn die Begleitung eine gewisse Dauer hat, sonst kannst
du die Frage nicht stellen.
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Eberhard Freundt
Was hat dich besonders beschäftigt?
Interviewerin: Eberhard, was hat dich besonders beschäftigt?
Eberhard Freundt: Da sind so viele Dinge. Zum Beispiel der Mann mit einer intensiven Nahtoderfahrung,
der nicht verstehen konnte, warum der liebe Gott ihn wieder zurück auf die Erde geschickt
hat. Wann triffst du mal so einen?
Gut getan hat mir der Anruf einer Frau, nachdem der Mann am Vortag in ihren Armen verstorben
war und die sich noch einmal für meine Begleitung bedanken wollte, sagte: „Herr Freundt, Sie waren
für mich wie ein Fels in der Brandung.“ Das gibt einem ein Feedback, wie wichtig man für die
Menschen gewesen ist. Der Mann wollte mich erst auch gar nicht haben, dann hat er doch noch
einmal angerufen und gesagt, ich könne doch kommen.
Was möchtest du den „Jüngeren“ mitgeben?
Interviewerin: Eberhard, gibt es etwas, was du den „Jüngeren“ in der Hospizarbeit mitgeben willst?
Eberhard Freundt: Ein ganz wichtiger Aspekt in einer Begleitung ist die Balance zwischen Nähe und
Distanz. Die Nähe spüren lassen, sich aber nicht hinein ziehen lassen in den Strudel von Trauer
und Schmerz.
Was ist das Besondere an Hospizarbeit? Kannst du davon erzählen?
Interviewerin: Eberhard, was ist das Besondere an Hospizarbeit?
Eberhard Freundt: Erst einmal muss ich jedem Menschen so begegnen, wie er ist (unabhängig
von der Lebenssituation, Krankheit o.a.). Dazu kommt, die Menschen erzählen ja auch Stories
aus ihrem Leben, ganz verschiedene, da kommt ganz viel nach oben. So haben mir Männer ihre
Kriegserlebnisse als Soldat erzählt. Eine Aussage hat mich dabei sehr berührt „,... ich musste den
Franzosen doch erschießen, sonst hätte er meinen Kameraden erschossen“.
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Interviewerin: Diese „Stories“ – machen sie dir Angst zuweilen?
Eberhard Freundt: Nein, sie machen mir keine Angst, aber sie stimmen mich oft sehr nachdenklich.
Insgesamt kann ich sagen, die Hospizarbeit hat mich bereichert und jede Begleitung hat Spuren in
mir hinterlassen, auch wenn ich ihre Namen nach so vielen Jahren teilweise vergessen habe, ihre
Gesichter aber sehe ich noch vor mir.
Mit Manfred bin ich immer erst einkaufen gegangen, immer nach demselben Plan, was wir in welcher
Reihenfolge gekauft haben, dann sind wir zur Sparkasse gefahren, um zu „gucken“, ob noch
alles Geld da ist, man weiß ja nie. Ich durfte alles über ihn wissen, sogar dass er den Leichnam seiner
Frau, auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, um
die Bestattungskosten zu sparen.
Interviewerin: Also bist du dann schon sehr vertraut mit manchen Menschen gewesen?
Eberhard Freundt: Ich denke ja, denn ich war oft der einzige Mensch, mit dem sie sich einmal in der
Woche unterhalten konnten.
Eine besondere Begleitung war für mich „Emil“ 1 , den ich über Monate hinweg regelmäßig besuchte.
Zwei Ereignisse sind mir unvergesslich. Das eine war in der Adventszeit. Um mir zu beweisen, wie
fit er geistig noch sei, wollte er mir eine kleine Freude bereiten und sagte mir fehlerfrei und ohne
zu stottern das Gedicht von Ludwig Uhland auf: „Die Kapelle“ oder auch „Der Hirtenknabe“. Ich war
tief berührt. Da lag ein alter sterbender Mann und schenkte mir ein Gedicht. Wo kann man so etwas
schon erleben? Wer das Gedicht nicht kennt, sollte es mal lesen. Das zweite Ereignis kam für mich
überraschend, als er mich fragte, ob ich ihm nicht ein Mittel besorgen könnte, um ihn endlich von
seinem Leiden zu erlösen. „Ihr habt da doch so Mittelchen....“
Emil hatte Parkinson und hochgradig Halluzinationen. Als ich ihm sagte, dass ich mich dabei strafbar
machen könnte, ließ er traurig und enttäuscht von seiner Bitte ab. Das Einzige, was ich ihm als
Trost sagen konnte, war: „Emil, du kannst an meiner Hand sterben, aber nicht durch meine Hand.“
1 Name geändert
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Eberhard Freundt
Interviewerin: Sag mal, wie siehst du das, dass du als Mann in der Hospizarbeit tätig bist?
Eberhard Freundt: Ich denke, man kann als Mann über bestimmte Themen von Mann zu Mann
besser und auch leichter reden. Außerdem dürfte das Themenangebot zwischen zwei Männern
größer sein. Vielleicht sollte man in Zukunft vorher einmal erfragen, ob die Begleitung, sofern
möglich, durch eine Frau oder einen Mann erfolgen soll. Ich für meinen Teil hatte es überwiegend
mit Männern zu tun.
Interviewerin: Gibt es noch etwas, was du gerne erzählen möchtest?
Eberhard Freundt: Es gibt Situationen, wo es angebracht ist zu schweigen und still zu sein. Die
Stille einfach aushalten und auf sich wirken lassen. Man muss nicht fortwährend der Unterhalter
sein. Einfach nur da sein, die Hand halten und schweigen. Der Patient spürt meine Nähe. Das allein
genügt schon.
So vielfältig wie wir Menschen leben, so vielfältig sterben wir auch. Jeder Mensch stirbt seinen
eigenen Tod. Ganz individuell in seiner Einzigartigkeit.
Der frühere Quizmaster und Fernsehmoderator Hans-Joachim Kulenkampff hat 1998 kurz vor seinem
Tod gesagt: „Ich weiß nicht wohin ich gehe, aber ich gehe nicht ohne Hoffnung“.
Interviewerin: Hoffnung auf was?
Eberhard Freundt: Das lassen wir offen.
Interviewerin: Ein schönes Schlusswort, vielen Dank fürs Interview Eberhard!
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Impressum
Herausgeber
Ambulante ökumenische Hospizhilfe Siegen e.V.
Gerrit Ebener-Greis
Christinenweg 16
57080 Siegen
Vorsitzende:
Gerrit Ebener-Greis
Vereinsregisternummer:
VR 2580 Amtsgericht Siegen
Sitz des Vereins:
Christinenweg 16
57080 Siegen
Spendenkonto
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BIC: WELADED1SIE
www.hospizhilfe-siegen.de
Design / Layout
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Fotografie
Foto Kinkel
1. Auflage 2019
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