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Liudger - Ausgabe September 2020

Die 12. Ausgabe des Magazins für Mitarbeitende im Bistum Münster trägt den Titel "Alt & Neu". Entdecken Sie die unterschiedlichen Facetten dieses Wortpaares und reisen Sie mit uns zur Kirche St. Marien in Schillig und ins Museum Religio nach Telgte. Lesen Sei ein Interview mit Prof. Dr. Norbert Köster zum Thema Wendepunkte der Kirchengeschichte, erfahren Sie von Andrea Stachon-Groth, Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Münster, wie es ist, in einem generationsgemischten Team zu arbeiten und Vieles mehr.

Die 12. Ausgabe des Magazins für Mitarbeitende im Bistum Münster trägt den Titel "Alt & Neu". Entdecken Sie die unterschiedlichen Facetten dieses Wortpaares und reisen Sie mit uns zur Kirche St. Marien in Schillig und ins Museum Religio nach Telgte. Lesen Sei ein Interview mit Prof. Dr. Norbert Köster zum Thema Wendepunkte der Kirchengeschichte, erfahren Sie von Andrea Stachon-Groth, Leiterin der Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Münster, wie es ist, in einem generationsgemischten Team zu arbeiten und Vieles mehr.

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Dafür / Dagegen<br />

„SIND TRADITIONELLE RITEN<br />

WICHTIG, UM AN GOTT<br />

GLAUBEN ZU KÖNNEN?“<br />

Von Anke Lucht<br />

Von Carolin Bartnick<br />

Wer je versucht hat, in einer Familie etablierte Abläufe zu Weihnachten zu ändern und sich unweigerlich<br />

entsetzten Protesten von allen Seiten ausgesetzt sah, bekommt eine Ahnung davon, wie wichtig Rituale<br />

für Menschen sind.<br />

Mehr noch: Rituale sind Teil der menschlichen DNA. Nicht umsonst hat es sie zu allen Zeiten und in allen<br />

Kulturen gegeben und gibt es sie noch heute weltweit.<br />

Entsprechend braucht auch der Glaube an Gott Rituale. Denn sie vermitteln ihn. Zu uns allen ist Glaube<br />

auf den sprichwörtlichen zwei Beinen gekommen, nämlich durch Menschen, die ihn geteilt haben. Das<br />

geschieht oft durch Weitergabe von Ritualen. Der Rosenkranz, den die Großmutter bei Gewitter betete,<br />

das vom Großvater stets als Tischgebet vorgetragene Vater unser: Durch solche Rituale gewinnt der Glaube<br />

ein Gesicht und etabliert sich.<br />

In Ritualen bietet der Glaube außerdem wertvollen Halt an. Für nahezu alle Lebenslagen, in denen eigene<br />

Worte oder Ideen fehlen, gibt es Rituale als Verbindung zu Gott. Die können wir, weil sie eingeübt sind,<br />

automatisch abrufen und umsetzen. Sie geben ein Gefühl der Handlungsfähigkeit, des Kontakts, sie übersetzen<br />

die eigene Situation in Worte oder Taten und stützen.<br />

Neben jedem Einzelnen sind Glaubensrituale auch für die Gemeinschaft unverzichtbar. Sie überwinden<br />

zeitliche und räumlich Abstände und verbinden uns so mit denen, die vor uns Christen waren genauso wie<br />

mit allen, die es heute weltweit sind. So muss eine Katholikin nicht die Landessprache verstehen, um in<br />

Polen, im Niger oder irgendwo sonst eine Messe mitzufeiern.<br />

Schließlich können Rituale uns und anderen zu wertvollen Erkenntnissen verhelfen und diese ausdrücken:<br />

die Bittprozession oder der Erntedank-Kranz, mit denen wir anerkennen, dass eine gute Ernte eben nicht<br />

allein in den Händen des Landwirts liegt, die traditionsreiche Wallfahrt, die Dankbarkeit wach hält, das<br />

Nachbarschaftsgebet, das die Verbundenheit mit einem Verstorbenen und dessen Angehörigen ausdrückt.<br />

Damit Rituale so wirken, dürfen sie nicht zur Routine erstarren, die wir automatisiert abspulen. Rituale<br />

brauchen Sinn, sie können und sollen hinterfragt, bewusst durchlebt und angemessen weiterentwickelt<br />

werden. Dann sind sie so wertvoll wie das Familientreffen am Weihnachtsbaum.<br />

Dass wir auch in diesem Jahr gemeinsam mit der Familie Ostern feiern, ist so sicher, wie das Amen in der<br />

Kirche. Dachte ich zumindest. Dann kam Corona. Und auf einmal fiel nicht nur die traditionelle Osterfeier<br />

im Kreise der Lieben ins Wasser, sondern tatsächlich auch das Amen in der Kirche, als plötzlich keine<br />

öffentlichen Gottesdienste mehr stattfinden konnten.<br />

Wer hätte sich vor der Pandemie, die unser gesellschaftliches und privates Leben seit so vielen Monaten<br />

beeinflusst und uns auf unabsehbare Zeit weiter begleiten wird, vorstellen können, dass liebgewonnene<br />

Rituale, die wir Jahr für Jahr oder sogar Tag für Tag selbstverständlich durchgeführt haben, von heute auf<br />

morgen nicht mehr Teil unseres Alltags- und Glaubenslebens sein werden?<br />

Kein vereintes Palmzweigbasteln mit anschließender Weihe und Prozession, keine gemeinsame Feier der<br />

Auferstehungsmesse, kein nettes Beisammensein am Osterfeuer – nichts. Und auch jetzt, da beispielsweise<br />

das Feiern von Gottesdiensten unter hygienischen Auflagen wieder möglich ist, reichen wir uns beim<br />

Friedensgruß immer noch nicht die Hand. Und an das Bekreuzigen mit Weihwasser beim Betreten und<br />

Verlassen der Kirche ist auch nicht zu denken.<br />

Dies sind nur einige wenige von unzähligen Ritualen, die normalerweise Teil unseres Glaubens sind, die<br />

wir aktuell jedoch nicht zelebrieren können. Aber glauben wir dadurch weniger an Gott als vorher? Im<br />

Sinne von: Wenn zehn Prozent der traditionellen kirchlichen Riten nicht durchgeführt werden können,<br />

glauben wir zu zehn Prozent weniger an die frohe Botschaft? Wohl kaum. Eher im Gegenteil: Unser Glaube<br />

an Gott hilft uns besonders in dieser chaotischen, unvorhersehbaren Zeit mehr denn je. Er gibt uns Hoffnung.<br />

Der Glaube ist uns geschenkt. Er ist nichts, was wir uns kaufen oder verdienen können – oder was in<br />

irgendeiner Weise existenziell von bestimmten Ritualen abhängig ist. Rituale sind zwar schön und gut und<br />

es ist zum Teil schmerzlich, aktuell auf einige von ihnen verzichten zu müssen. Doch das, was uns fernab<br />

von Ritualen momentan bleibt, ist unser Glaube und die Erkenntnis, dass wir eine Zeit lang sehr gut ohne<br />

einen Teil von ihnen auskommen können. Denn ohne unseren Glauben auskommen müssen wir Gott sei<br />

Dank nicht.<br />

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