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Heidenheimer Zeitung vom 19.10.2020

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Montag, 19.Oktober 2020<br />

3<br />

Die EU-Regierungschefs<br />

machten aus<br />

ihrem Ärger über<br />

den türkischenPräsidenten<br />

Recep<br />

Tayyip Erdogan<br />

keinen Hehl. Die Türkei müsse<br />

ihreneuenProvokationen bei der<br />

Gaserkundung im östlichen Mittelmeer<br />

sofort einstellen, hieß es<br />

zum Ende des Gipfeltreffens am<br />

vergangenen Freitag. Den Gegenspielern<br />

in dem Gaskonflikt, den<br />

EU-Mitgliedern Griechenland<br />

und Zypern, gehöredie „volleSolidarität“<br />

der EU, versicherten<br />

Kanzlerin Angela Merkel (CDU)<br />

und ihre Kollegen.<br />

Es ist nicht der einzige Streitpunkt<br />

zwischen der Union und<br />

der Türkei: Ankaras Rolle in den<br />

Kämpfen um Berg-Karabach oder<br />

im Libyen-Konflikt wird von<br />

Brüssel ebenso kritisch bewertet.<br />

Immer öfter haben das vereinte<br />

Europa und die zunehmend als<br />

selbstbewusste Regionalmacht<br />

auftretende Türkei auf der internationalen<br />

Bühne Probleme miteinander<br />

–bis hin zur offenen<br />

Konfrontation. Dabei will die<br />

Türkeidoch eigentlich selbst der<br />

EU angehören: Seit sechs Jahrzehnten<br />

ist ein Beitritt zum Club<br />

im Gespräch, seit 15 Jahren wird<br />

offiziell über die Aufnahme verhandelt.<br />

Aber ist das überhaupt<br />

noch realistisch?Die wichtigsten<br />

Fragen und Antworten:<br />

Viel Streit,<br />

aber kein<br />

Abbruch<br />

Beitrittsprozess Wirklich vorankommen die<br />

EU und die Türkei in den Verhandlungen<br />

nicht.Trotzdem bleibt Ankaraformell ein<br />

Kandidat für die Aufnahme. Warum? Die<br />

wichtigsten Antworten. VonChristian Kerl<br />

Die Europäische Union<br />

Mitglieder und<br />

Beitrittskandidaten der EU<br />

Verhandlungenlaufen<br />

Verhandlungen angekündigt<br />

Potenziell (nochkein<br />

offizieller Beitrittsstatus)<br />

Austrittmit Übergangsphase<br />

GRAFIK BOCK /QUELLE: DPA<br />

BOSNIENUND<br />

HERZEGOWINA<br />

MONTENEGRO<br />

ALBANIEN<br />

SERBIEN<br />

KOSOVO<br />

Will sein Land offiziell<br />

noch in die EU führen:<br />

der türkische Präsident<br />

Erdogan.<br />

Kommissionspräsidentin<br />

von der Leyen will<br />

die Verhandlungen<br />

nicht abbrechen.<br />

Montage: Krause /<br />

Foto: Tolga Bozoglu/EPA/dpa<br />

NORDMAZEDONIEN<br />

TÜRKEI<br />

Wie ist der aktuelle Status bei den<br />

Beitrittsverhandlungen? Die Türkei<br />

ist seit 1999 offiziell Beitrittskandidat,<br />

2005 begannen die Verhandlungen.<br />

Aber die Gespräche<br />

liegen seit vier Jahren auf Eis.<br />

Weil Präsident Erdogan auf den<br />

gescheiterten Militärputsch 2016<br />

mit großer Härte–Massenverhaftungen<br />

vonRegimegegnern, Menschenrechtsverletzungen,<br />

Schwächung<br />

des Parlaments –reagierte,<br />

schaltete die EU auf Stillstands-Modus.<br />

Allerdings waren<br />

die Beitrittsgespräche von Anfang<br />

an in der EU so umstritten,<br />

dass sie ausdrücklich als „ergebnisoffen“<br />

deklariert wurden; auch<br />

Kanzlerin Merkel zählte schon<br />

2005 zu den Skeptikern. Die Türkeileitetedann<br />

anfangszwarReformen<br />

ein, aber schon lange vor<br />

dem Putsch gab esinvielen Feldernnur<br />

wenigeFortschritte.Von<br />

den 35 Beitrittskapiteln sind erst<br />

18 eröffnet, nur das Kapitel Wissenschaft<br />

und Forschung ist abgeschlossen.<br />

Dennoch hält dieEU<br />

formell an den Beitrittsgesprächenfest.<br />

Ein förmlicher Abbruch<br />

müssteeinstimmig vonallen Mitgliedstaatenbeschlossen<br />

werden,<br />

das ist nicht in Sicht.<br />

Wersind die wichtigen Unterstützer<br />

desBeitrittsprozesses? Starke Unterstützer<br />

hat Erdogan vor allem<br />

in Osteuropa: Polen, Litauen,Rumänien,<br />

Bulgarien und offiziell<br />

auch Ungarn befürworten klareinen<br />

Beitritt der Türkei. Ursprünglich<br />

war Deutschland, unter<br />

Kanzler GerhardSchröder (SPD),<br />

treibendeKraft im Aufnahmeprozess,<br />

das ist mit Merkels Amtsantritt<br />

vorbei. Durch den Brexit<br />

hat Erdogan auch Großbritannien<br />

als starkenFürsprecherverloren.<br />

Zu den größtenBedenkenträgern<br />

zähltevon Anfang an Frankreich,<br />

daschließt Präsident Emmanuel<br />

Macron nahtlos an die<br />

Linie seiner Vorgänger an.<br />

Wassinddie wichtigsten Argumente<br />

füreinen Beitritts-Abbruch? Die<br />

Gegner eines Beitritts verweisen<br />

aktuell auf die Rückschritte der<br />

Türkei bei Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit. Als Hindernis<br />

gilt auch der außenpolitische<br />

Kurs Erdogans, der zu offenen<br />

Konfrontationen mit EU-Staaten<br />

führt. Für viele Kritiker bestätigen<br />

die letzten Jahre aber nur<br />

grundsätzliche Vorbehalte. Die<br />

beziehen sich darauf, dass die<br />

Türkei kulturell und überwiegend<br />

auch geografisch nicht zu Europa<br />

gehöre, auf die Dominanz des Islam<br />

oder darauf, dass das Land<br />

mit 82 Millionen Einwohnern und<br />

großem wirtschaftlichen Rückstand<br />

die Aufnahmefähigkeitder<br />

EU überfordern würde.<br />

Was spricht für die weitere Beitrittsperspektive?<br />

Mit den Beitrittsverhandlungen<br />

gebe es immer<br />

noch einen Hebel, von der<br />

Türkei innerstaatliche Reformen<br />

einzufordern und Druck von außen<br />

auszuüben, argumentieren<br />

die Befürworter weiterer Gespräche.<br />

Ein solches Instrument dürfe<br />

man nicht aus der Hand geben.<br />

Zudem lebten in der Türkei Millionen<br />

Menschen, die die europäischen<br />

Werte teilten. Der Chef<br />

des AuswärtigenAusschusses des<br />

Bundestags, Norbert Röttgen<br />

(CDU), warnt, wenn die EUdie<br />

Türendgültig zuschlage, lasse sie<br />

dieOppositionebensowie die säkularen<br />

und demokratischen<br />

Kräfte in der Türkei imStich.<br />

Gibt es wirtschaft<br />

liche Gründe, die<br />

für den Beitritt sprechen? Ja, die<br />

wirtschaftlichen Beziehungen<br />

sindfür beideSeiten wichtig.Wobei<br />

die Türkeiviel stärkerauf die<br />

EU angewiesenist als umgekehrt:<br />

Sechs der zehn wichtigsten Exportpartner<br />

der Türkei sind europäische<br />

Staaten.<br />

WelcheRollespielt derFlüchtlingsdeal?<br />

Keine entscheidende. Zwar<br />

gibt es Befürchtungen, Erdogan<br />

werde bei einem Abbruch der<br />

Verhandlungen den Flüchtlingspakt<br />

aufk<br />

ündigen und Millionen<br />

Menschen aus SyrienoderAfghanistanindie<br />

EU weiterziehen lassen.<br />

Doch zum einen ist die EU<br />

auf ein solches Szenario besser<br />

vorbereitet als 2015 –sie würde<br />

wohl die Grenzen fester verschließen.<br />

Zumanderen profitiert<br />

Erdogan von dem Deal, für den<br />

die EU bisher sechs Milliarden<br />

Euro anAnkara überwiesen hat.<br />

Stimmt es,dass die USAdie Europäer<br />

immer wieder drängen, mit der<br />

Türkei weiterzuverhandeln? Die<br />

USAhaben die Union viele Jahre<br />

aufgefordert, der Türkei einen<br />

Beitrittzuermöglichen. Washington<br />

sieht die strategische Bedeutung<br />

der Regionalmacht, die für<br />

die Nato die Speerspitze ander<br />

Südostflanke ist. 2010 ermahnte<br />

der damalige US-Präsident Barack<br />

Obama die Europäer, die<br />

Türkeiaufzunehmen.Inzwischen<br />

sind die Beziehungen zwischen<br />

der Türkei und den USA allerdings<br />

abgekühlt –und Präsident<br />

Donald Trump wünscht eigentlich<br />

eher einen Zusammenbruch<br />

der EU als ihre Erweiterung.<br />

FOTO: AFP/ GREEK PRIME MINISTER’S PRESS OFFICE<br />

Hintergrund<br />

Ökonomisches<br />

Interesse<br />

Die Türkei und Europa: Das ist eine<br />

lange Geschichte enttäuschter<br />

Hoffnungen, auf beiden Seiten.<br />

Seit 57 Jahren tanzen die Gemeinschaft<br />

und das Land um eine Assoziierung,<br />

eine Aufnahme,einen<br />

Beitritt herum.<br />

Jetzt stehen die Beziehungen<br />

der Türkei zur EU an einem<br />

Scheideweg. Mit seinem zunehmend<br />

aggressiven Kurs gegenüberGriechenland<br />

und Zypern im<br />

Streit um die Wirtschaftszonen<br />

im Mittelmeer liefert Staatschef<br />

Recep Tayyip Erdogan den Beitrittsgegnern<br />

neue Munition.<br />

Griechenland baut seine Grenzzäune<br />

entlang des Flusses Evros<br />

an der Grenze zur Türkei aus.<br />

Auch Erdogans aggressiver militärischer<br />

Kurs inBerg-Karabach<br />

und in Libyen haben für Irritation<br />

und Empörung gesorgt.<br />

Dabei waresErdogan, der nach<br />

seinem ersten Wahlsieg 2002 mit<br />

innenpolitischen Reformen den<br />

Wegfür Beitrittsverhandlungen<br />

ebnete. Doch die auf Druck der<br />

EU umgesetzteDemokratisierung<br />

diente vorallem dazu, den politischen<br />

Einflussder türkischen Militärszurückzudrängen<br />

–und damit<br />

Erdogans Macht zu zementieren.<br />

„Die Demokratie ist nur der<br />

Zug, auf den wir aufspringen, bis<br />

wir am Ziel sind“, hatte Erdogan<br />

schon 1998 als Oberbürgermeister<br />

von Istanbul verkündet.<br />

Als Staatschef mit nahezu unbeschränkten<br />

Befugnissen hat er<br />

die meisten Reformen längst zurückgedreht.<br />

Das Parlament ist<br />

entmachtet, die Justiz gegängelt,<br />

die Medien gleichgeschaltet.<br />

50 000 Menschen sitzen als politische<br />

Gefangene hinter Gittern.<br />

Jetzt forciertErdogan die Wiedereinführung<br />

der Todesstrafe, die er<br />

2004 auf Drängen der EU abschaffte.<br />

Von einem Beitritt ist<br />

dasLand weiter denn je entfernt.<br />

Erdogan weiß, dass die Chancen<br />

auf einen Beitritt gleich Null<br />

sind. Dass er dennoch an der<br />

EU-Mitgliedschaft als „strategischem<br />

Ziel“ festhält, hat vor allem<br />

ökonomische Gründe. Fürdie<br />

türkische Wirtschaft ist die europäische<br />

Perspektive ein wichtiger<br />

Stabilitätsanker.Aus der EU kommen<br />

die meisten ausländischen<br />

Investoren, die EU ist der wichtigsteHandelspartnerder<br />

Türkei.<br />

Doch es gibtesauch einenTeil<br />

der türkischen Bevölkerung, die<br />

trotzErdogans Abkehr weiterhin<br />

auf die EU hoffen. An dieseHoffnung<br />

klammern sich auch viele<br />

Oppositionelle in der Türkei.<br />

AberErdogan widerlegt siejeden<br />

Tag.<br />

Gerd Höhler<br />

Griechenland baut neue Grenzzäune<br />

zur Türkei.<br />

SATZ DES TAGES<br />

„Für Hamsterkäufe<br />

gibt es keinen<br />

Grund.“<br />

JuliaKlöckner,die Bundeslandwirtschaftsministerin<br />

(CDU),appelliert an<br />

die Verbraucher,trotz der steigenden<br />

Zahl vonCorona-Infektionen keine<br />

größeren Mengen einzukaufen als<br />

sonst. Foto: JörgCarstensen/dpa<br />

Missbrauch<br />

Papstakzeptiert<br />

JaniaksRücktrittt<br />

Warschau/Rom. Papst Franziskus<br />

hatden Rücktrittdes Bischofs Edward<br />

Janiak angenommen, der<br />

Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs<br />

durchPriester in der Diözese<br />

Kaliszignoriert haben soll.<br />

Janiak spielt eine wichtige Rolle<br />

im Dokumentarfilm „Versteckspiel“,<br />

der den Missbrauch Minderjähriger<br />

in der katholischen<br />

Kirche in Polenthematisiert. Darin<br />

wird Janiak vorgeworfen, angesichts<br />

von Vorwürfen gegen<br />

ihm untergeordnete Priester<br />

nicht gehandelt zu haben. dpa<br />

Im Protestvereint<br />

Siegeben nicht auf, trotz massiver Polizeigewalt: Wieder protestiertenin<br />

Belarus Zehntausende gegenPräsident AlexanderLukaschenko.Sie wollen seinen<br />

Rücktrittund haben ihmein Ultimatum gestellt.<br />

Foto:Stringer/afp<br />

Israel<br />

Zeremonie<br />

in Bahrain<br />

Jerusalem. Israel und Bahrain<br />

wollten nach Angaben israelischer<br />

Behörden am Sonntag ihre<br />

vor kurzem vereinbarten diplomatischen<br />

Beziehungen offiziell<br />

aufnehmen. Bei einer Zeremonie<br />

in der bahrainischen Hauptstadt<br />

Manama sollten Vertreter beider<br />

Staaten eine „gemeinsame Erklärung“<br />

unterzeichnen, womit die<br />

Aufnahme „uneingeschränkter diplomatischerBeziehungen“<br />

markiert<br />

werde, sagteein israelischer<br />

Beamter am Sonntagmorgen in<br />

Manama.<br />

afp<br />

USA<br />

Trump nennt<br />

Biden „korrupt“<br />

Washington. GutzweiWochen vor<br />

der Präsidentenwahl in den USA<br />

hat der Amtsinhaber Donald<br />

Trump die Angriffe auf seinen<br />

Herausforderer Joe Biden und<br />

dessenFamilie verschärft. „Joe Biden<br />

ist und war immer ein korrupter<br />

Politiker“, sagteTrump am<br />

Samstagabend in Janesville im<br />

Bundesstaat Wisconsin. „Die Biden-Familie<br />

ist ein kriminelles<br />

Unternehmen.“ Biden selbsthielt<br />

sich am Wochenende im Wahlkampf<br />

weitgehend im Hintergrund.<br />

dpa

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