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Leseprobe_Murakami_Erste Person Singular

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HARUKI MURAKAMI<br />

ERSTE PERSON<br />

SINGULAR<br />

Erzählungen<br />

Aus dem Japanischen<br />

von Ursula Gräfe


INHALT<br />

Auf einem Kissen aus Stein 7<br />

Crème de la Crème 25<br />

Charlie Parker Plays Bossa Nova 47<br />

With the Beatles 65<br />

Gesammelte Gedichte über die Yakult<br />

Swallows 111<br />

Carnaval 135<br />

Bekenntnis des Affen von Shinagawa 169<br />

<strong>Erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>Singular</strong> 201


BEKENNTNIS DES AFFEN VON SHINAGAWA<br />

Vor etwa fünf Jahren machte ich in einem kleinen<br />

Ryokan im Badeort M. in der Präfektur Gumma<br />

die Bekanntschaft eines älteren Affen. Es war bloßer<br />

Zufall, dass ich in der abgelegenen oder, besser<br />

gesagt, heruntergekommenen Herberge abstieg.<br />

Ich war dabei, ein wenig herumzureisen, von hier<br />

nach dort, so wie mir der Sinn stand. Es war bereits<br />

nach sieben Uhr, als ich in dem Onsen, dem kleinen<br />

Ort mit den heißen Quellen, aus dem Zug stieg.<br />

Der Herbst neigte sich dem Ende zu, die Sonne war<br />

längst untergegangen, und alles war in das für Gebirgslandschaften<br />

typische tiefblaue Dunkel gehüllt.<br />

Von den Bergkämmen blies ein schneidend kalter<br />

Wind und trieb handtellergroße trockene Blätter<br />

raschelnd durch die Straßen.<br />

Auf der Suche nach einer geeigneten Unterkunft<br />

169


lief ich in der Ortsmitte herum, aber keine der besseren<br />

Pensionen nahm nach dem Abendessen noch<br />

Gäste auf.<br />

Nachdem mich ein Ryokan nach dem anderen<br />

abgewiesen hatte, entdeckte ich schließlich am Ortsrand<br />

eine Pension mit heißer Quelle, die Übernachtungen<br />

anbot, aber keine Mahlzeiten. Es handelte<br />

sich um eine vernachlässigte Herberge, auf die der<br />

altmodische Ausdruck »Bruchbude« bestens zutraf.<br />

Das Gebäude hatte ein beträchtliches Alter, besaß<br />

jedoch nichts von dem nostalgischen Charme, der<br />

solchen Gasthäusern mitunter zu eigen ist. Das<br />

ganze Haus wirkte windschief und verzogen. Die<br />

wohl nach und nach behelfsmäßig durchgeführten<br />

Reparaturen schienen die ursprüngliche Statik zu<br />

missachten, und es war zu befürchten, dass das Haus<br />

das nächste Erdbeben nicht überstehen würde. Ich<br />

konnte nur hoffen, dass es an diesem Tag oder am<br />

nächsten keines geben würde.<br />

Es wurde also kein Abendessen serviert, aber das<br />

Frühstück war inbegriffen und die Übernachtung<br />

erstaunlich billig. Im Eingangsraum war eine einfache<br />

Empfangstheke, an der ein völlig haarloser alter<br />

Mann – er hatte nicht einmal Augenbrauen – den<br />

Zimmerpreis im Voraus kassierte. Wegen der fehlenden<br />

Brauen wirkten seine großen Augen sonderbar<br />

starr und glänzend. Neben ihm auf einem Kis-<br />

170


sen lag eine große braune Katze, ebenfalls sehr alt,<br />

die fest schlief. Irgendetwas war mit ihrer Nase, denn<br />

sie schnarchte viel zu laut für eine Katze. Hin und<br />

wieder gab es einen beunruhigenden Aussetzer im<br />

Rhythmus ihres Atems. Alles in dieser Herberge<br />

wirkte alt und am Rande des Verfalls.<br />

Das Zimmer, in das man mich führte, war kaum<br />

größer als ein Wandschrank, in dem man Futons<br />

aufbewahrt. Die Deckenbeleuchtung war trüb, und<br />

der Boden unter den Tatami knarrte bei jedem<br />

Schritt unheilvoll. Aber ich durfte mich nicht beschweren,<br />

sondern musste froh und dankbar sein,<br />

ein Dach über dem Kopf und einen Futon zum<br />

Schlafen zu haben. Allerdings lud das Zimmer nicht<br />

zur Entspannung ein, also stellte ich meine große<br />

Umhängetasche – mein einziges Gepäckstück – dort<br />

ab und ging in den Ort, um in einem Soba-Lokal<br />

rasch etwas zu Abend zu essen. Es war das einzige<br />

in der Umgebung, das geöffnet hatte. Ich bestellte<br />

ein Bier, Snacks und eine Suppe. Die Nudeln waren<br />

nicht besonders, und die Brühe war lauwarm, aber<br />

auch damit musste ich zufrieden sein. Immerhin<br />

besser, als mit leerem Magen schlafen zu gehen.<br />

Anschließend machte ich mich auf die Suche nach<br />

einem Convenience Store, um mir etwas zu knabbern<br />

und eine kleine Flasche Whisky zu besorgen,<br />

fand aber keinen. Es war nach acht Uhr, und nur<br />

171


noch ein paar kleine Schießstände, wie es sie in<br />

Badeorten häufiger gibt, hatten geöffnet. Es blieb<br />

mir also nichts anderes übrig, als in mein Quartier<br />

zurückzugehen, meinen Yukata anzuziehen und<br />

das Onsen im Untergeschoß aufzusuchen.<br />

Verglichen mit dem Haus und seiner schäbigen<br />

Einrichtung war die Thermalquelle überraschenderweise<br />

hervorragend. Das dampfende Wasser<br />

hatte eine intensive grüne Farbe, es wirkte überhaupt<br />

nicht verdünnt und roch so stark nach Schwefel,<br />

wie ich es noch nie erlebt hatte. Als ich mich<br />

da rin niederließ, durchdrang mich wohltuende Wärme.<br />

Da ich allein im Bad war (ich wusste nicht, ob<br />

es noch andere Gäste gab), konnte ich mir Zeit lassen<br />

und mich in aller Ruhe im Wasser ausstrecken.<br />

Nach einer Weile wurde mir ein wenig schummrig,<br />

und ich verließ das Becken, um mich abzukühlen,<br />

bevor ich wieder ins Wasser stieg. Vielleicht war<br />

mein Aufenthalt in der alten Herberge doch keine<br />

so schlechte Fügung gewesen. Hier war es doch viel<br />

entspannter als in den großen Ryokan, in denen ich<br />

wahrscheinlich auf irgendwelche lärmenden Reisegruppen<br />

gestoßen wäre.<br />

Ich war gerade zum dritten Mal ins Becken gestiegen,<br />

als der Affe klappernd die Glastür aufschob<br />

und mit einem leisen »Entschuldigen Sie« das Bad<br />

172


etrat. Es dauerte eine Zeit lang, bis ich erkannte,<br />

dass es sich um einen Affen handelte. Zum einen<br />

war ich ein wenig benebelt von dem heißen Thermalbad,<br />

und zum anderen rechnete ich nicht damit,<br />

dass ein Affe sprechen konnte, weshalb ich<br />

ihn nicht mit meiner Vorstellung von einem Tier<br />

übereinbrachte. Auf diese Weise verstört, starrte<br />

ich den Affen eine Zeit lang unverwandt durch den<br />

Dampf an. Er schloss die Glastür hinter sich, stapelte<br />

die herumliegenden Eimer und prüfte mit einem<br />

großen Thermometer die Wassertemperatur,<br />

worauf er mit zusammengekniffenen Augen, wie<br />

ein Bakteriologe, der versucht, einen neuen Krankheitserreger<br />

zu identifizieren, die Messskala betrachtete.<br />

»Wie ist das Wasser?«, fragte mich der Affe.<br />

»Ausgezeichnet, danke.« Meine Stimme klang<br />

dumpf und weich in all dem Dampf. Sie hatte sogar<br />

etwas Mythisches, hörte sich nicht an wie meine,<br />

sondern wie ein Echo aus der Vergangenheit, das<br />

aus einem tiefen Wald hallte. Und dieses Echo …<br />

Halt, Moment mal, warum war hier ein Affe, und<br />

wieso konnte er sprechen wie ein Mensch?<br />

»Wünschen Sie, dass ich Ihnen den Rücken wasche?«,<br />

fragte mich der Affe erneut in verhaltenem<br />

Ton. Ungeachtet seiner Erscheinung ließ seine volle<br />

wohlklingende Stimme mich an einen Doo-Wop-<br />

173


Bariton denken. Er hatte eine völlig natürliche Art<br />

zu sprechen, und wenn ich die Augen schloss, hörte<br />

er sich ganz normal an – wie ein Mensch.<br />

»Ja, bitte«, sagte ich. Ich war nicht erpicht darauf,<br />

dass jemand mir den Rücken schrubbte, aber ich<br />

fürchtete, er könnte eine Ablehnung so auffassen,<br />

als wäre es mir nicht recht, dass mir ein Affe den Rücken<br />

wusch. Vielleicht wollte er nur nett sein, und<br />

ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Also hievte<br />

ich mich aus dem Becken und setzte mich mit dem<br />

Rücken zu ihm auf einen kleinen hölzernen Hocker.<br />

Der Affe trug keine Kleidung. Da Affen in der<br />

Regel unbekleidet sind, befremdete mich dies nicht<br />

sonderlich. Er schien schon älter zu sein, denn zahlreiche<br />

weiße Fäden durchzogen sein Fell. Er holte<br />

einen Waschlappen, seifte ihn ein und wusch mir<br />

mit geübter Hand den Rücken.<br />

»Es ist ziemlich kalt geworden«, sagte er.<br />

»Ja, nicht wahr?«<br />

»Nicht mehr lange, und wir sind hier eingeschneit.<br />

Dann bekommen wir den Schnee gar nicht mehr<br />

weg.«<br />

Es entstand eine Pause, und endlich traute ich<br />

mich, ihm die eine Frage zu stellen. »Sie können also<br />

sprechen?«<br />

Der Affe bejahte lebhaft. Sicher war er an diese<br />

Frage gewöhnt. »Ich bin von klein auf bei Menschen<br />

174


aufgewachsen und habe mit der Zeit sprechen gelernt.<br />

Ich habe länger in Shinagawa in Tokio gelebt.«<br />

»Wo denn in Shinagawa?«<br />

»In Gotenyama.«<br />

»Eine hübsche Gegend.«<br />

»Ja, es wohnt sich dort sehr angenehm. In der Nähe<br />

liegt der Gotenyama-Park, und ich konnte gewissermaßen<br />

die Natur genießen.«<br />

Damit endete unser Gespräch. Der Affe schrubbte<br />

mir kraftvoll den Rücken (es fühlte sich ziemlich<br />

gut an), während ich mich bemühte, Ordnung in<br />

meine Gedanken zu bringen und das Gehörte zu<br />

verstehen. Ein Affe, der in Shinagawa aufgewachsen<br />

war? Am Gotenyama-Park? Konnte ein Affe sich<br />

wirklich solche Worte merken und so fließend aussprechen?<br />

Er war doch in jeder Hinsicht ein Affe.<br />

Nichts weiter als ein Affe.<br />

»Ich wohne im Bezirk Minato«, bemerkte ich mehr<br />

oder weniger sinnlos.<br />

»Wir waren also sozusagen Nachbarn«, sagte der<br />

Affe in freundlichem Ton.<br />

»Bei wem haben Sie in Shinagawa gelebt?«, fragte<br />

ich.<br />

»Mein Herr war Physikprofessor an der Gakugei-<br />

Universität in Tokio.«<br />

»Er war also Akademiker.«<br />

»Ja, das ist richtig, und er war ein großer Musik-<br />

175

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