regionalernaturparkschaffhausen
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Naturforschende Gesellschaft Schaffhausen,
Susi Demmerle (Hrsg.)
Regionaler Naturpark
Schaffhausen
Der Natur auf der Spur
Der Natur- und Exkursionsführer
für den Regionalen Naturpark Schaffhausen
Die Publikation des vorliegenden Werkes wurde ermöglicht durch
die grosszügige Unterstützung folgender Organisationen und Firmen:
• aagne Familie Gysel – Weingut, Hallau
• Baumwerker AG, Rüdlingen
• Best Western Plus Hotel Bahnhof, Schaffhausen
• Frei Gartenbau – Erdbau AG, Thayngen
• Genossenschaft Volksapotheke, Schaffhausen
• Genussregion Wilchingen, Osterfingen, Trasadingen
• GVS Weinkellerei, Schaffhausen
• Holcim Kies und Beton AG, Schaffhausen
• Naturwerk – Verein für Mensch, Natur und Arbeit, Windisch
• Pro Natura Schaffhausen, Schaffhausen
• Pro Velo Schaffhausen, Schaffhausen
• Randenvereinigung, Schaffhausen
• Weinkellerei zum Hirschen, Osterfingen
Inhalt
Vorwort
Der Regionale Naturpark Schaffhausen
7
11
Grundlagen
13
A Die Gesteine: Ein Fenster in die Vergangenheit 15
B Magerwiesen: Woher kommt die Vielfalt? 19
Erkundungsthemen
23
1 Tannbüel: Orchideen 25
2 Lichter Föhrenwaldsaum: Der Hasebuck 35
3 Blütenpracht: Oberberghalde, Hemmental 45
4 Kleintiere in Magerwiesen: Grätenweg, Merishausen 53
5 Wo Wald auf Wiese trifft: Schmetterlinge der Randenwiesen 61
6 Meistersängerin auf dem Randen: Die Heidelerche 81
7 Der Randen als Apotheke: Heilpflanzen 85
8 Aus dem Jurameer: Versteinerungen 91
9 Von Gletschern und Wassern modelliert: Eiszeiten formten unsere Landschaft 99
10 Eiszeitliche Schluchten heute: Langloch–Churzloch 101
11 Zeugen der Eiszeit: Findlinge 109
6 Inhalt
12 Versteckte Vielfalt vor der Haustüre: Moose im Felsentäli 113
13 Nächtliche Jäger: Fledermäuse 123
14 Nächtliche Irrlichter: Leuchtkäfer in der Stadt Schaffhausen 127
15 Nicht nur für Touristen: Der Rheinfall 131
16 Am Radweg beim Schmerlat: Zauneidechsen 137
17 Wutachtal: Das Auenwaldreservat 141
18 An der Wutach: Vögel im Auenwaldreservat 149
19 Artenvielfalt inmitten von Landwirtschaft: Widen bei Neunkirch 151
20 Ein lokaler Bodenschatz: Bohnerz 159
21 Aus Bohnerzlöchern wird ein Amphibienparadies: Winterihau 165
22 Wo der Mittelspecht wohnt: Eichenwälder 171
23 Natur aus Menschenhand: Im See, Wangental 177
24 Alter Rhein: Rüdlingen 185
Welche Jahreszeit?
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
192
195
197
7
Vorwort
Unvergessliche Naturerlebnisse
Wollen Sie Fossilien von längst ausgestorbenen
Lebewesen suchen? Wollen Sie durch
ein Meer von Orchideen wandern und die
vielseitige und unübertreffbare Blumenpracht
des Randens geniessen? Wollen Sie
in den Bohnerzlöchern nach Bohnerz Ausschau
halten? Wollen Sie seltene Vögel, wie
beispielsweise die Heidelerche, singen hören
oder sie gar mit dem Feldstecher entdecken?
Wollen Sie die eindrücklichen Vulkankegel
des Hegau bestaunen? Wollen Sie
durch Auenwälder schweifen oder den Zauneidechsen
beim Sonnenbaden zusehen?
Wollen Sie die nächtlichen Flugbewegungen
der Fledermäuse verfolgen? Wollen Sie seltene
Moose entdecken oder wollen Sie des
Nachts durch einen Wald voller Leuchtkäfer
schweifen?
Wenn Sie eine dieser Fragen mit Ja beantworten,
dann halten Sie den richtigen Führer
in Ihren Händen. Mit seiner Hilfe wird Ihr
Ausflug zu einem unvergesslichen Naturerlebnis.
Er gibt Ihnen bei Ihren Entdeckungsreisen
die ausschlaggebenden Tipps. Möglich
gemacht haben dies orts- und fachkundige
Autorinnen und Autoren, die sich dank grossem
Interesse und oft jahrelangen Beobachtungen
der Natur auf ihrem Gebiet fundierte
Kenntnisse angeeignet haben. Sie werden
diese Erfahrung spüren, aber auch die damit
verbundene Begeisterung und das Herzblut,
das die Autorinnen und Autoren in ihre Beiträge
gesteckt haben. Beachten Sie auch die
fantastischen Abbildungen, mit denen der
Naturführer an Ausstrahlungskraft gewonnen
hat. Talentierte Fotografen und Naturliebhaberinnen
haben ihre besten Werke für diesen
Führer zur Verfügung gestellt. Blättern Sie den
Führer durch, und Sie werden anhand der
Bilder schnell den Reichtum der Natur erkennen.
Sie werden entdecken, dass der Kanton
Schaffhausen ein äusserst wertvolles Gebiet
für zahlreiche vom Aussterben bedrohte
Pflanzen und Tiere ist. Die Gründe für diese
Einzigartigkeit liegen in den speziellen geologischen,
klimatischen und kulturgeschichtlichen
Verhältnissen. In diesem Führer erfahren
Sie mehr darüber. Machen Sie diesen
Führer zum Wegweiser für Ihre eigenen Entdeckungen.
Wenn Sie staunen, ist das Ziel
erreicht.
Ich danke der Initiantin, treibenden Kraft
und Herausgeberin Susi Demmerle, ihrem Redaktionskollegen
Jakob Walter, allen Autorinnen
und Autoren sowie den Fotografinnen und
Fotografen dafür, dass sie ihr Fachwissen in
diesem Führer zur Verfügung stellen. Nur dank
dem Mitwirken von zahlreichen Akteuren aus
dem Kreis der Naturforschenden Gesellschaft
Schaffhausen ist es gelungen, die Natur im
Kanton aus derart verschiedenen Blickwinkeln
zu beleuchten.
Wir danken dem ott verlag und dem Regionalen
Naturpark Schaffhausen für die wertvolle
und gute Zusammenarbeit.
Dr. Kurt Seiler, Präsident Naturforschende
Gesellschaft Schaffhausen NGSH
Postfach, 8201 Schaffhausen,
info@ngsh.ch, www.ngsh.ch
8 Vorwort
Die Naturforschende Gesellschaft
Schaffhausen (NGSH)
Die Naturforschende Gesellschaft
Schaffhausen (NGSH) will das Interesse
an den Naturwissenschaften und an der
Technik fördern, naturwissenschaftliche
Zusammenhänge erklären und Verständnis
für die Umwelt, insbesondere im
Raum Schaffhausen, wecken. Ihr Jahresprogramm
besteht aus allgemein verständlichen
Vorträgen, Besichtigungen
und naturkundlichen Exkursionen. Naturwissenschaftliche
Arbeiten werden
alljährlich in den «Neujahrsblättern der
NGSH» veröffentlicht und so den Mitgliedern
und der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht. Die Gesellschaft unterhält
verschiedene Sammlungen und unterstützt
die naturkundliche Abteilung des
Museums zu Allerheiligen. Sie betreibt
zudem eine moderne Sternwarte mit Planetarium
( www.sternwarte-schaffhausen.ch).
Die NGSH zählt über 700 Mitglieder.
Detaillierte Informationen finden Sie im
Internet unter www.ngsh.ch. Dort
können Sie sich als Mitglied anmelden
oder einen kostenlosen Newsletter abonnieren,
der Sie in unregelmässigen Abständen
über alle Aktivitäten informiert.
Entdeckungsreisen zu den
Kostbarkeiten unserer Natur
Der Rheinfall, Stein am Rhein und die Stadt
Schaffhausen sind vielen bekannt. Aber was
hat die Region Schaffhausen sonst noch zu
bieten? Ich wage zu behaupten: Sehr viel! Der
Regionale Naturpark Schaffhausen vereint
eine reiche Kulturlandschaft, Dörfer mit einzigartigen
Ortsbildern und eine Natur, die ihresgleichen
sucht. Denken Sie nur an den
Randen mit den wunderbar blühenden Trockenwiesen
und den dazugehörigen Schmetterlingen.
Oder die auch kulturhistorisch spannenden
Bohnerzgruben auf dem Südranden,
welche heute ausgezeichnete Biotope für Amphibien
sind. Der Regionale Naturpark Schaffhausen
ist ein Juwel. Auf den ersten Blick
zwar wenig spektakulär: Keine Gletscher,
keine hohen Berge, keine tiefen Canyons.
Doch wer genauer hinschaut, dem eröffnet
sich eine unglaublich faszinierende Welt. Zu
jeder Jahreszeit gibt es Spannendes zu beobachten.
Der vorliegende Führer soll Ihnen ein
hilfreicher Begleiter sein, der Sie zu spannenden
Exkursionen einlädt. Spezialistinnen und
Spezialisten aus den Reihen der Naturforschenden
Gesellschaft eröffnen Ihnen damit
einen Blick in die Schatztruhen der Natur.
Im Regionalen Naturpark Schaffhausen soll
diese einzigartige Tier- und Pflanzenwelt in einer
Koexistenz mit den Menschen leben. Durch
eine traditionelle Bewirtschaftung von Feld und
Wald durch den Menschen sind viele Biotope
erst zu dem geworden, was sie heute sind. Nun
gilt es, auf diese wertvollen Schätze unserer
Heimat Rücksicht zu nehmen, denn sie sind
Teil der Identität unserer Region.
Dieses Miteinander von Natur, Gesellschaft
und Wirtschaft wird im Regionalen Naturpark
Schaffhausen gross geschrieben. Wir setzen
uns für eine Region ein, die für Menschen,
Tiere und Pflanzen lebenswert ist und auch
noch über eine lange Zeit sein wird.
Seien Sie herzlich willkommen im Regionalen
Naturpark Schaffhausen!
Ganz herzlichen Dank den Autorinnen und
Autoren aus den Reihen der Naturforschenden
Gesellschaft Schaffhausen für ihre spannenden
Texte, der Herausgeberin Susi Demmerle,
Vorwort 9
dass sie die zahlreichen Fäden zusammengehalten
hat, der Naturforschenden Gesellschaft
für die Initiative zu diesem Werk und natürlich
dem ott verlag.
Hans Rudolf Meier,
Präsident Regionaler Naturpark Schaffhausen
Hauptstrasse 45, 8217 Wilchingen,
info@naturpark-schaffhausen.ch,
www.naturpark-schaffhausen.ch
11
Der Regionale Naturpark Schaffhausen
Thomas Hofstetter
«Pärke gehören zu den ursprünglichsten Natur-
und Kulturlandschaften der Schweiz. Sie
sind weitgehend intakte, vielfältige, dynamische
und natürliche oder vom Menschen naturnah
gestaltete Lebensräume. Die Bevölkerung
der Parkgemeinden ist stolz auf ihr
ausserordentliches natürliches und kulturelles
Erbe. Sie verpflichtet sich, dieses zu erhalten
und respektvoll zu nutzen. Die Bevölkerung
erwartet von den Naturpärken eine Stärkung
der Identität und des Zusammenhalts sowie
eine Förderung der regionalen Wirtschaft.
Pärke bieten den Besucherinnen und Besuchern
echte Naturerlebnisse, faszinierende
Geschichten, Kontakte zu einer naturverbundenen
Bevölkerung und den Genuss regionaler
Spezialitäten.» ( www.paerke.ch)
Das Gebiet des Regionalen Naturparks
Schaffhausen erstreckt sich über eine Fläche
von knapp 200 Quadratkilometern. Es beinhaltet
Gemeinden aus dem Klettgau, dem Randen,
dem Reiat, dem unteren Kantons teil mit
Rüdlingen und Buchberg und die zwei deutschen
Gemeinden Jestetten und Lott stetten.
Zahlreiche gut erhaltene Ortsbilder mit
Häusern in typischer Fachwerkbauweise, eine
lebhafte Kultur, welche sich in einem regen
Vereinsleben und zahlreichen Festivitäten niederschlägt
und eine Landschaft, welche für
viele Arten der Roten Liste einen Lebensraum
bietet, zeichnen das Bild einer vielfältigen und
lebhaften Region.
Drei regionale Aspekte bilden die Grundpfeiler
für den Regionalen Naturpark Schaffhausen:
Der Randen, ein Ausläufer des Juras,
mit seiner typischen Kulturlandschaft, die
Reben, welche die Region landschaftlich, aber
auch wirtschaftlich und kulturell prägen, und
der Rhein, der die Parkregion durchfliesst.
Mit dem Naturpark werden folgende Ziele
verfolgt:
• Stärkung der regionalen Wertschöpfung
durch regionale Produkte und Dienstleistungen
in Landwirtschaft, Gewerbe und
Tourismus.
• Landschaft, Natur und Umwelt: Pflege und
ökologische Aufwertung, Schonung natürlicher
Ressourcen und Förderung erneuerbarer
Energien.
• Bildung für nachhaltige Entwicklung: Bündelung
und Förderung entsprechender
Angebote.
• Natur- und kulturnaher Tourismus mit authentischen
und ressourcenschonenden
Angeboten.
• Kulturelles Leben und Erbe: Erhalt und Förderung
parkspezifischer Traditionen und
kulturhistorischer Attraktionen.
• Netzwerkbildung zwischen Akteuren und
Organisationen.
Damit stellt sich der Regionale Naturpark
Schaffhausen der Herausforderung, ein Gleichgewicht
zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung
in der Region und dem Erhalt der Naturund
Landschaftswerte zu finden. Die Be völ -
kerung der Mitgliedergemeinden hat sich dazu
entschlossen, sich aktiv mir der Zukunft der
Region auseinanderzusetzen.
Grundlagen
15
A Die Gesteine: Ein Fenster in die Vergangenheit
Iwan Stössel-Sittig
Schematische Darstellung der Schichtstufenlandschaft Wutach - Klettgau - Randen
Westen
Wilchingerberg//Hallauerberg
Wutach
Wunderklingen
Eichberg/Littichapf/Husemerbuch
Klettgau
Randen/Südranden
Osten
weiche Gesteine (vorwiegend Tone, Mergel)
Hauptmuschelkalk
weiche Gesteine
(vorwiegend Evaporite,
Tone, Mergel)
Kalke des Lias
Kalke des Malm
weiche Gesteine
(vorwiegend Tone,
Mergel)
Abb. A.1: Der schräggestellte Schichtstapel prägt die Landschaftsformen des Naturparks.
Wie die Seiten eines gigantischen Buches liegen
die Schichten der Ablagerungsgesteine in
der Landschaft des Regionalen Naturparks
Schaffhausen (Bild Innenseite hinten). Sie erzählen
von den letzten rund 250 Millionen Jahren.
Anders als beispielsweise im Faltenjura,
liegen die Schichten eben da, unverfaltet und
unterbrochen nur von wenigen Brüchen, wie
zum Beispiel die Randenverwerfung bei
Thayn gen/Almenbühl. Dieses Buch der Erdgeschichte
ist jedoch leicht verkippt und taucht
flach gegen Südosten ab; gegen Nordwesten
findet man daher die ältesten, gegen Südosten
die jüngsten Kapitel dieses grossen Buches.
Die Unterlage bildet das Kristallin des
Schwarzwaldes. Es handelt sich um ein komplexes
Gebilde von Schiefern, Gneisen und
Graniten, also sogenannten kristallinen Gesteinen.
Sie erzählen von wandernden Kontinenten,
Kollisionen und dem Werden und Vergehen
von Gebirgen in der fernen Vergangenheit.
Die jüngste Gebirgsbildung, die diese Gesteine
erlebten, liegt etwa 320 Millionen Jahre
zurück.
Vor 250 Millionen Jahren waren diese
Gebirge längst eingeebnet. Ihre einst tief im
Erdinnern geformten Fundamente lagen nun
an der Erdoberfläche. Wüstensande, heute
zu festem Sandstein verbacken, zeugen von
trockenem Klima. Doch langsam und in
mehreren Vorstössen wurde das Gebiet vom
Meer überflutet. In flachen Meeresbecken
bildete sich Gips, der in historischer Zeit entlang
der Wutach abgebaut wurde. Später
wurde das Meer tiefer, und es lagerten sich
Kalke ab, die stellenweise reich an Fossilien
16 Iwan Stössel-Sittig
Abb. A.2: Kelche von Seelilien aus dem
Gebiet von Wunderklingen an der Wutach.
Was vom Namen her nach einer Pflanze
klingt, ist der versteinerte Rest eines
Meerestieres.
sind. Spektakuläre Felswände entlang der
Wutach gehen darauf zurück. Mit etwas
Glück findet man versteinerte Stielglieder
von Seelilien, Muscheln oder gar Reste von
Krebsen.
Noch einmal zog sich das Meer zurück.
Eine flache Küstenebene mit Salzsümpfen
prägte das Bild. In dieser Zeit scheinen auch
die ersten Dinosaurier die Gegend durchstreift
zu haben; vereinzelt wurden ihre zusammengeschwemmten
Knochen rund um Hallau und
Schleitheim gefunden.
Vor rund 200 Millionen Jahren versank das
Gebiet schliesslich für viele Jahrmillionen im
Meer. In diesem Meer blühte das Leben. Berühmt
sind die «Schneckensteine», Ammoniten.
Es handelt sich um die versteinerten kalkigen
Schalen von Verwandten unserer
heutigen Tintenfische. Aber es gibt auch andere
Tiere: Seelilien, Muscheln, Schnecken
sowie Wirbeltiere wie Meeressaurier oder Fische.
Wer über die Hügelzüge des Naturparks
wandert, hat genügend Gelegenheit, ihre Spuren
zu finden ( Kapitel 8).
Zunächst wurden von den umgebenden
Festländern viel Ton und Schlick eingespült.
Die Gesteine sind schwarz bis braun. Vor allem
die tonreichen Schichten sind weich und verwittern
stark, sodass man sie fast nur in Steinund
Tongruben in frischem Zustand studieren
kann.
Vor rund 160 Millionen Jahren wurden die
Ablagerungen zunehmend kalkiger. Sie hinterliessen
die charakteristischen hellen Randenkalke.
Sie bilden die Kanten und Rücken
der heutigen Landschaft, sie bilden aber
auch die Unterlage der mageren Böden des
Randens.
Der Meeresgrund wurde von Schwammriffen
besiedelt; einer Lebensgemeinschaft von
Kieselschwämmen und Mikroben. Wir begegnen
diesen Riffen heute beispielsweise am
Rheinfallfelsen ( Kapitel 15).
Von den nun folgenden 100 Millionen Jahren
– also aus der Kreidezeit – fehlen die Seiten
in unserem erdgeschichtlichen Buch. Unser
Gebiet erhob sich in dieser Zeit wieder über
den Meeresspiegel. Tiefgreifende Verwitterung
unter tropischen Bedingungen hinterliess in
Karstlöchern eingeschwemmten Boluston mit
Bohnerz ( Kapitel 20).
Später, vor etwa 40 Millionen Jahren, als
weiter im Süden die Alpen aufgrund der Kollision
von Kontinenten langsam dem Meer entstiegen
und ihr Erosionsschutt nach Norden
geschüttet wurde, geriet auch Schaffhausen
in diesen Einflussbereich. Das feinere Material,
das durch Flüsse und Meeresströmungen über
grössere Distanzen transportiert werden
konnte, gelangte bis in unsere Gegend. Festländische
Ablagerungen (Ablagerungen von
Flüssen, Überflutungsebenen und Seen) und
A Die Gesteine: Ein Fenster in die Vergangenheit 17
Abb. A.3: Die wasserdurchlässigen Randenkalke bilden die Unterlage der trockenen und
mageren Böden des Randens.
Abb. A.4: Ausblick in die Vulkanschlote des Hegau
18 Iwan Stössel-Sittig
jene eines flachen Meeresarmes wechselten
sich ab ( Kapitel 9).
Besonders eindrücklich sind auch die
Quarzsande, die beim Cholfirst bei Benken
früher abgebaut wurden.
In diese Zeit fällt auch die Zeit des
Hegau-Vulkanismus: Über mehrere Phasen
entstanden entlang einer Schwächezone der
Erdkruste Vulkane, deren Schlote noch heute
die Landschaft des Hegau prägen.
Die Phase der vulkanischen Aktivität erstreckte
sich über eine Zeit von etwa 16 Millionen
bis rund 6 Millionen Jahren vor unserer
Zeit.
Die letzten 2.5 Millionen Jahre standen im
Zeichen der Eiszeiten ( Kapitel 9).
19
B Magerwiesen: Woher kommt die Vielfalt?
Susi Demmerle
Abb. B.1: Gräte, Merishausen um 1880: Die schmalen Felder sind gut sichtbar.
Der Randen besteht aus dem ehemaligen
Meeresboden der Jurazeit. Das Gestein ist sehr
wasserdurchlässig, und deshalb ist der Aufbau
einer Humusdecke eher schwierig, da auch
der Wind die Ackerkrume leicht wegtragen
kann. Wasser und Nährstoffe verschwinden
zwischen den Spalten des Bodens schnell, es
bleibt ein magerer, trockener und flachgründiger
Boden zurück
Auf den Randenhöhen wurde schon zur
Zeit der Alemannen eine Dreifelderwirtschaft
betrieben: Korn – Hafer – Brache. Über Jahrhunderte
blieb diese extensive Form der Landwirtschaft
erhalten. Dadurch verarmten die
Böden immer mehr, sodass die Erträge sanken
und der Ackerbau auf den Randenhöhen im
19. Jahrhundert aufgegeben wurde.
Zeitweise wurden auch Viehherden auf
dem Randen gesömmert, aber der Wassermangel
und die wenigen nutzbaren Quellen
machten das Unternehmen wenig ergiebig.
Auch die Erbteilung spielte eine Rolle, denn
die Parzellen wurden dadurch absurd schmal
und dadurch komplizierter zum Bearbeiten,
zum Teil wurden auf dem Randen darum Föhren
in diese Minigrundstücke eingesät.
20 Susi Demmerle
Magerwiesen
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen nun
langsam blumenreiche Wiesen heran, die
durch «Thomasmehl» (ein phosphathaltiges
Nebenprodukt der früheren Eisenverhüttung)
oder Mist leicht gedüngt wurden. Mit dem Aufkommen
der Viehzucht in den Dörfern war
dieses Heu als Ergänzung zu den Ernten im
Talboden hoch willkommen.
Das war die Blütezeit dieser farbenfrohen
Wiesen, welche die zum Teil unbewaldete Randenhochfläche
bedeckten. Sie zeichneten sich
durch eine Vielfalt von Blumen und Gräsern
aus, die spezialisiert waren auf karge, trockene
Böden. Pro Quadratmeter wuchsen mehr als
40 verschiedene Pflanzenarten, der Ertrag für
die Bauern war aber gering.
Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Mechanisierung
der Landwirtschaft, der Güterzusammenlegung,
dem Aufkommen von
Traktoren und der Subventionspraxis des
Bundes, ging es den Magerwiesen rasch an
den Kragen. Nun lohnte es sich wieder,
Ackerbau auf den Randenflächen zu betreiben,
denn der eingesetzte Kunstdünger ermöglichte
ein ertragreicheres Wirtschaften
als je zuvor.
Aber wenn gedüngt wird, verschwindet die
Artenvielfalt sofort: Pflanzen, die Nährstoffe gut
verwerten können, gewinnen den Standortwettkampf
gegen die langsamer wachsenden
Blumen und Gräser, und das Resultat ist eine
Fettwiese, die etwa viermal mehr Biomasse
produziert, aber weniger Pflanzenarten enthält.
Besonders die Orchideen ertragen Dünger
ganz schlecht und verlieren ihren Standort an
Fettwiesenpflanzen.
Im Folgenden werden die absolut ungedüngten
Wiesen (Trespenwiesen) und die Wiesen,
die nur mit wenig Mist gedüngt werden
dürfen (Fromentalwiesen) der Einfachheit
halber nicht unterschieden und als «Magerwiesen»
bezeichnet.
Die vielseitige Pflanzenwelt und die zum
Teil schlechte Bedeckung des Bodens erzeugen
viele unterschiedliche Lebensbedingungen
auf kleinem Raum. Besonders für Insekten
bedeutet das eine Chance für eine Vielfalt an
Arten und Lebensweisen, und ein ganz interessantes
Nahrungsnetz kann sich aufbauen.
Blüten, Blätter oder auch Wurzeln dienen den
verschiedensten Insekten als Nahrung und
diese Tiere ihrerseits bilden dann die Nahrungsgrundlage
für räuberische Insekten, für
viele Vogelarten und auch für andere Wirbeltiere.
Am auffälligsten sind die vielen verschiedenen
Schmetterlinge, die an den farbigen
Blüten saugen, sie sind aber nicht die interessantesten
Gliedertiere an diesen Orten
( Kapitel 4)!
Die farbigen Magerwiesen, die wir heute
noch bestaunen können, werden von den
Bauern also nicht mehr in erster Linie als Viehfutter
genutzt. Sie bestehen noch, weil erkannt
wurde, dass sie ein wertvolles Rückzugsgebiet
für viele nützliche Insekten und vom Aussterben
bedrohte Pflanzen darstellen. Sie wurden
1977 unter Schutz gestellt und zur «Schutzwürdigen
Landschaft von nationaler Bedeutung»
erklärt. Die noch bestehenden Wiesen werden
heute bewusst und mit beträchtlichem
Aufwand gepflegt, das heisst gemäht und
entbuscht.
Leider sind in den letzten 50 Jahren 90 Prozent
dieser interessanten Biotope im Schweizer
Mittelland zu Fettwiesen oder Äckern umgewandelt
worden und darum wohl für immer
verschwunden. Aber hier auf dem Randen
können wir einige noch in ihrer ursprünglichen
Pracht bewundern und erleben.
Magerwiesen sind einzigartige Kulturgüter,
die mit einer Bibliothek von seltenen Bü-
B Magerwiesen: Woher kommt die Vielfalt? 21
Abb. B.2: Magerwiese
chern verglichen werden können. Werden sie
zerstört, können sie nur unter grösstem Aufwand
wieder zurückgeführt werden, und nicht
alle früheren Pflanzen können sich wieder ansiedeln.
Diese wertvollen Wiesen werden einerseits
von Freiwilligen und anderseits mit Geldern
von Bund, Kanton und Naturschutzvereinigungen
von den Bauern als sogenannte «Ausgleichsflächen
und Vernetzungsgebiete» bearbeitet.
Dank diesen vereinten Anstrengungen
bleibt uns die ganze Magerwiesen-Vielfalt erhalten.
Die Schnittzeiten der Magerwiesen sind
heute flexibel, an den meisten Orten geschieht
das nicht am selben Tag sondern gestaffelt,
sodass die Insekten auf ungemähte Wiesen
ausweichen können.
Pflanzenwanderungen
Nicht nur aus kulturgeschichtlichen Gründen
weist der Kanton Schaffhausen eine spezielle
Flora auf, geologische und klimatische Ursachen
waren ebenfalls entscheidend.
In der letzten Eiszeit war der Randen nicht
von Eis bedeckt, die Vereisung endete in der
Gegend von Thayngen bis Singen ( Kapitel
9). In der frühen Nacheiszeit wanderten
bald alpine Pflanzen in die eisfreien, tundra-ähnlichen
Gebiete ein: unter anderem der
Frühlings-Enzian ( Abbildung 1.12), der
Gelbe Enzian ( Abbildung 2.15), die Europäische
Trollblume und die Pracht-Nelke.
Mit der Erwärmung der Vorwärmezeit (zirka
vor 10 000 bis 8500 Jahren) drangen der
Kreuzblättrige Enzian, die Moosorchis ( Ab-
22 Susi Demmerle
bildung 2.13 und Abbildung 2.14), das Hügel-Windröschen
( Abbildung 2.3), die Gemeine
Küchenschelle ( Abbildung 2.2) und
weitere Pflanzen aus dem trockenen Osten,
wohl der Donau entlang, zu uns vor.
Aus dem Mittelmeergebiet erreichten uns,
als das Klima feucht und warm wurde, die Sorbus-Bäume,
zum Beispiel der Elsbeerbaum und
der Mehlbeerbaum ( Abbildung 2.18 und
Abbildung 2.19), viele Orchideenarten, unter
anderem die Bocks-Riemenzunge ( Abbildung
3.6), die Fliegen-Ragwurz ( Abbildung
2.7) und die Waldvögelein-Arten. Wahrscheinlich
waren auch die Ästige Graslilie
( Abbildung 3.15) und der prächtige Diptam
( Abbildung 22.3) unter den Einwanderern.
Da die Alpen eine Barriere für eine direkte
Einwanderung wärmeliebender Pflanzen aus
dem Süden bildeten, sind diese sehr wahrscheinlich
den Flüssen entlang eingewandert.
Von Osten und Südosten her via die Donau
und von Südwesten her via das Rhone- Rhein-
Flusssystem. Diese «Wanderwege» kreuzten
sich genau in unserer Gegend.
Viele dieser sogenannten Relikt-Pflanzen
wurden später durch den aufkommenden
dunklen Buchenwald wieder verdrängt, einige
davon sind aber geblieben und fühlen sich in
den lichten Föhrenstreifen im Tannbüel ( Kapitel
1) und auf dem Hasebuck ( Kapitel 2),
teilweise auch an anderen Orten immer noch
heimisch.
Aus den geschilderten Gründen sind der
Kanton Schaffhausen und der Randen zu einer
Gegend geworden, die für Botanikerinnen und
Botaniker ausserordentlich interessant ist.
Auch Insektenkundlerinnen und -kundler besuchen
diesen Landstrich mit besonderem
Interesse, denn in abhängiger Koexistenz mit
den Pflanzen leben auch Schmetterlinge und
andere seltene Insekten, die hier in grosser
Fülle heimisch sind.
Pflanzenwanderungen finden noch immer
statt, wenn auch heute meist durch menschliche
Aktivität: Bekannt sind das rosa blühende
Drüsige Springkraut ( Abbildung 17.5), die
Kanadische Goldrute und andere «invasive»
Pflanzen.
Erkundungsthemen
25
1 Tannbüel: Orchideen
Urs Capaul
Abb. 1.1: Karte Tannbüel
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA150278)
0 0.25 0.5 0.75 1 Kilometer
Erreichbar mit:
• Bus 23 Schaffhausen–Bargen, dann zu Fuss
via Bargemer Steig
• Mit dem Auto bis zum deutschen Zollamt
Bargen/Neuhaus, erste Ausfahrt rechts bis
zum Parkplatz
26 Urs Capaul
Direkt an der Landesgrenze auf der Gemarkung
Bargen gelegen, befindet sich ein botanisches
Juwel: der Tannbüel. Besucher erreichen
den Tannbüel entweder von Bargen
aus nach einem etwa halbstündigen Fussmarsch
den alten Bargemer Steig hinauf
oder vom Zollamt Bargen/Neuhaus (D) aus.
Da die Landesgrenze überschritten werden
muss, sind die Ausweispapiere mitzunehmen.
Insbesondere, wer einen Tagesausflug
machen will, wählt den Bargemer Steig. Dieser
Weg lohnt sich in jedem Fall, säumen
doch etliche Orchideenarten und andere
botanische Kostbarkeiten die Strasse (Gebiet
). Zum Beispiel auch typische Magerwiesen,
wie sie ursprünglich auf dem Randen
weit verbreitet waren. Reich blü hen de
Heckenelemente, unter anderem mit Weissund
Schwarzdorn sowie Kirschbäumen, begleiten
die Strasse im Bereich der Landesgrenze.
Vom Tannbüel zum nördlichsten Grenzstein
der Schweiz, dem Schwarzen Stein, ist es nur
ein Katzensprung und aus historischen Gründen
interessant. Denn hier machten sich die
Schaffhauser Behörden die Lage «am Rand»
zunutze. Sie schoben hier Verbannte und Verurteilte
über den nördlichsten Grenzstein der
Schweiz nach Deutschland ab.
Im Tannbüel bietet eine betreute Feuerstelle
(Brennholz vorhanden) die Möglichkeit,
eine Rast einzulegen und seine mitgebrachten
Fleischwaren oder Äpfel zu bräteln.
Direkt neben der Feuerstelle liegt ein eingezäuntes
Reservat mit einer Hütte, in der man
am Wochenende weiterführende Literatur finden
kann (Gebiet ).
Eine ähnliche Pflanzenvielfalt blüht auch
im Hasebuck ( Kapitel 2), jedoch mit
anderen Schwerpunkten. Wir haben uns
bemüht, möglichst viele Pflanzen zu besprechen
und abzubilden, aber wollen
uns nicht wiederholen. Deshalb wird bei
gemeinsamen Pflanzen jeweils auf das andere
Kapitel verwiesen.
Die Attraktion: Der Frauenschuh
Die «Leitpflanzenart» im Tannbüel ist zweifellos
der Frauenschuh (Gebiet und ). Er
bevorzugt lichte Wälder mit feuchten, kalkreichen
Böden und gedeiht noch bis in eine
Höhe von 1500 Metern. Sein Verbreitungsgebiet
reicht von der Atlantikküste durch Europa
und Asien bis zum pazifischen Ozean. Der
Gattungsname Cypripedium ist griechischen
Ursprungs und bezieht sich auf das Wort «Kypris».
Kypris ist der Beiname der Aphrodite,
Göttin der Schönheit und Liebe. Wegen der
aussergewöhnlichen Schönheit der Blüte
wurde der Frauenschuh übermässig oft gepflückt
oder ausgegraben und so zu einer seltenen
Pflanze.
In der Regel sind die einzelnen Triebe einblütig.
Bei gutem Wachstum tragen sie oft auch
zwei, selten sogar drei oder vier Blüten. Die
Blüte des Frauenschuhs ist eine sogenannte
Kesselfalle. Insekten – insbesondere Sandbienen
der Gattung Andrena – dringen in den
Pantoffel ein, rutschen am nach innen eingeschlagenen
Rand ab und fallen in den Kessel.
Wollen die Insekten wieder in die Freiheit, müssen
sie sich zwischen dem stark behaarten
Lippengrund und der Narbe an den Pollensäcken
vorbeidrücken. Dabei bleiben die Pollen
an ihren Körpern kleben. Auf diese Weise be-
1 Tannbüel: Orchideen 27
Abb. 1.2: Frauenschuh (Cypripedium calceolus)
rühren sie zuerst die Narbe und dann zumindest
eine der beiden klebrigen Pollenmassen.
Erst wenn sich der Vorgang an einer anderen
Pflanze wiederholt, erfolgt eine Bestäubung.
Zuweilen lauern Krabbenspinnen ( Abbildung
4.12) und andere Raubspinnen in den
Kesseln des Frauenschuhs. Dadurch werden
diese zur tödlichen Falle für die bestäubenden
Insekten.
Als Früchte werden einfächrige Trockenkapseln
gebildet, die winzige Samen enthalten.
Diese werden durch den Wind verbreitet. Um
keimen zu können, müssen sie im Boden einen
ganz bestimmten Pilz finden, der dem
Sämchen hilft, zur Keimung zu gelangen und
auszuwachsen. Nach zwei bis drei Jahren entwickelt
der Frauenschuh eigenes Blattgrün
und wird eine selbstständige Pflanze.
Der aussergewöhnlich hohe Bestand an
«Frauenschüeli» führte zu einem grossen Bekanntheitsgrad
dieses Standortes. Während
der Frauenschuh-Saison (Mitte Mai bis Mitte
Juni) durchwandern Tausende von schweizerischen
und deutschen botanisch interessierten
Gästen den Tannbüel.
Orchideen –
ein Leben mit Pilzen
Angesichts der Blütenpracht des Frauenschuhs
fallen andere Orchideenarten, die
gleichzeitig und in grosser Zahl blühen, zu Unrecht
weniger auf. So das wenig spektakuläre
Grosse Zweiblatt mit seinen grossen gegenständigen
Blättern und seinen unscheinbaren,
gelbgrünen Blüten.
Im lockeren Wald trifft man auf seltsame
braun-gelbe Pflanzen, die kein Chlorophyll besitzen.
Beim näheren Hinsehen entdeckt man
28 Urs Capaul
Abb. 1.3: Das Grosse Zweiblatt
(Listera ovata) ist sehr häufig.
Abb. 1.4: Die Nestwurz (Neottia nidusavis)
lebt in einer komplizierten Abhängigkeit
zu Bäumen.
eine Blüte, die zeigt, dass es sich um eine
Orchidee handelt. Es ist die Vogel-Nestwurz
die sich mithilfe von Mykorrhiza-Pilzen ernährt,
die mit anderen Mykorrhiza-Pilzen von zum
Beispiel Buchen verbunden sind. Ihre Nahrung
bezieht die parasitisch lebende Pflanze
schliesslich von grossen Bäumen.
Solche Pflanzen leben komplett von der
Ausbeutung ihrer pilzlichen Partner. Viele Orchi
deen erhalten wesentlich mehr Nährstoffe
von ihren Pilzpartnern, als sie ihnen im Austausch
dafür zurückgeben. Auch die Samenkeimung
ist vielfach ohne Pilze eingeschränkt
oder unmöglich. Bei der Helm-Orchis oder
dem Weissen Breitkölbchen enthält der Same
beispielsweise keinerlei Nährgewebe für den
Keimling. Die Samenkeimung erfolgt daher nur
bei Infektion durch einen Wurzelpilz. Das Gefleckte
Knabenkraut benötigt wiederum ganz
spezielle Wurzelpilze (endotrophe Mykorrhiza),
mit deren Hilfe sie sich vor allem im Jugendstadium
ernährt. Wie bei der Nestwurz ist bei
der Gewöhnlichen Breitblättrigen Stendelwurz
der Pilzpartner gleichzeitig Mykorrhiza-Partner
von Waldbäumen, und organische Substanzen
des Baumes sind auch in der Orchidee nachzuweisen.
Eine Verpflanzung von Orchideen in den
Garten ist daher ohne den zugehörigen Pilz
nicht möglich.
Weitere Orchideenarten
Neben dem Frauenschuh leben rund 20 weitere
Orchideenarten im Tannbüel. Ergänzend
zu den bereits erwähnten Arten sind folgende
Orchideen zu finden:
• Die Helm-Orchis aus der Gattung der Knabenkräuter.
Die Oberlippe wölbt sich helmartig
über ein kleines «Männchen», das von
der Unterlippe gebildet wird.
1 Tannbüel: Orchideen 29
• Breitkölbchen sind mit zwei Arten vertreten:
Das Grünliche Breitkölbchen und das
Zweiblättrige oder Weisse Breitkölbchen.
Der Volksmund nennt die Breitkölbchen
auch Waldhyazinthen. Während das Grünliche
Breitkölbchen gar nicht duftet, ist der
Duft des Weissen Breitkölbchens sehr intensiv.
Seine Blüte duftet nur nachts und
wird von nachtaktiven, langrüsseligen
Schmetterlingen aufgesucht.
Abb. 1.5: Querschnitt durch eine Wurzel
der Nestwurz mit Mykorrhizapilzen (blau)
• Fuchs’ Knabenkraut: Nach dem Tübinger
Medizinprofessor Leonhard Fuchs benannt.
Von vielen Botanikern als Unterart
des Gefleckten Knabenkrauts bezeichnet.
• Fliegen-Ragwurz: Sie ist eine Insektentäuschblume
( Abbildung 2.7).
• Bienen-Ragwurz: Die Blüten werden nur
selten von Insekten fremdbestäubt. Die Regel
ist eine Selbstbestäubung, was bei den
Orchideen äusserst selten ist. Dabei krümmen
sich die Stiele der Pollensäcke nach
unten und bringen sie so mit der Narbe in
Berührung.
• Waldvögelein-Arten. Gefunden werden die
drei Arten: Weisses Waldvögelein, das ebenfalls
weiss blühende, sehr häufige Langblättrige
bzw. Schwertblättrige Waldvögelein
( Abbildung 2.6) und das Rote Waldvögelein
( Abbildung 24.9) mit seinen prächtigen
rosafarbenen Blüten. Dieses ist im
Tannbüel weniger verbreitet und stellt auch
höhere Ansprüche an das Licht. Waldvögelein-Arten
können sich durch Knospung an
den Wurzeln auch vegetativ vermehren.
Später im Jahr, wenn der Frauenschuh längst
verwelkt ist, blühen die folgenden Orchideen:
• Sumpfwurz- bzw. Stendelwurz-Arten: Im
Tannbüel kommen verschiedene Arten der
Gattung Epipactis vor: Gewöhnliche Breitblättrige
Stendelwurz, Braunrote Stendelwurz
( Abbildung 2.12), Violette Stendelwurz
und vor allem die Sumpf-Stendelwurz
oder Weisse Sumpfwurz. Diese ist auf
feuchte und sehr lichte Stellen angewiesen.
Alle Stendelwurz-Arten sind leicht erkennbar
an der typisch zweigegliederten Lippe,
sie alle blühen erst im Sommer.
• Das Kriechende Netzblatt oder Moosorchis
ist die einzige immergrüne Pflanzenart
aus der Familie der Orchideen
(Orchidaceae) im deutschsprachigen
Raum. Das Rhizom kriecht oberflächennah
in Moos und Humus. Die Moosorchis
vermehrt sich sehr stark vegetativ durch
Seitentriebe des kriechenden Rhizoms.
Ein neuer Trieb wächst oft über Jahre hinweg
bis zur Blüte heran und stirbt danach
ab ( Abbildung 2.13, 2.14).
Nicht nur Orchideen
Der Tannbüel weist weitere botanische Kostbarkeiten
auf. Auch hier seien nur einige Beispiele
genannt:
30 Urs Capaul
Abb. 1.6: Die Helm-Orchis (Orchis militaris) kommt stellenweise sehr häufig vor.
Abb. 1.7: Helm-Orchis (Orchis militaris).
Das Männchen mit dem Helm.
Abb. 1.8: Fuchs’ Knabenkraut (Dactylorhiza
fuchsii)
1 Tannbüel: Orchideen 31
Abb. 1.11: Gewöhnliche Breitblättrige
Stendelwurz (Epipactis helleborine)
Abb. 1.9: Weisses Waldvögelein
(Cephalanthera damasonium)
Abb. 1.10: Das Weisse Breitkölbchen
(Platanthera bifolia) wird auch Waldhyazinthe
genannt.
32 Urs Capaul
Abb. 1.12: Frühlings-Enzian (Gentiana verna). Er ist eine Reliktpflanze aus der letzten
Nacheiszeit.
• Die Küchenschelle aus der Familie der
Hahnenfussgewächse (Ranunculaceae).
In der Volksmedizin gilt diese Pflanze als
ausgezeichnetes und entspannendes
Stärkungsmittel für die Nerven ( Abbildung
2.2).
• Drei Arten des Wintergrüns ( Abbildung
2.9–2.11).
• Sechs Arten der Enziangewächse (Gentianaceae):
der Frühlings-Enzian ( Abbildung
1.12), der Gelbe Enzian ( Abbildung
2.15), der Feld-Enzian (G. campestris);
der Kreuzblättrige Enzian (G. cruciata),
der Gefranste Enzian ( Abbildung
2.22) und der Deutsche Enzian
( Abbildung 2.21). Die letzten vier blühen
erst spät im Jahr.
• Das Echte Tausendgüldenkraut: Es wurde
2004 zur Heilpflanze des Jahres gekürt. Es
wird bei Erkrankungen der Leber und Galle
sowie bei Fieber eingesetzt. Der deutsche
Name verweist auf die hohe Bedeutung
dieser Pflanze in der Volksmedizin («tausend
Gulden wert»). Aufgrund ihrer Begehrtheit
wurde sie fast ausgerottet.
• Nicht besser erging es dem Gelben Enzian,
der massenhaft ausgegraben und mit
Schnaps angesetzt wurde, doch heute ist
er geschützt ( Abbildung 2.15).
• Der Pyrenäen-Bergflachs oder das Wiesen-
Leinblatt aus der Familie der Sandelholzgewächse
(Santalaceae) ist ein Halbparasit,
der durch unterirdische Saugorgane (sogenannte
Haustorien) der Wirtspflanze
Wasser und Nährsalze entzieht.
• Das Alpenveilchen aus der Familie der Primelgewächse
(Primulaceae): Es ist nicht
bekannt, ob diese Pflanzenart im Tannbüel
ursprünglich heimisch war oder ausgesetzt
worden ist. Die erst im Spätsommer blü-
1 Tannbüel: Orchideen 33
Abb. 1.13: Echtes Tausendgüldenkraut
(Centaurium erythraea)
Abb. 1.14: Pyrenäen-Bergflachs (Thesium
pyrenaicum) mit seinen winzigen Blüten
Abb. 1.15:
Das Alpenveilchen (Cyclamen purpurascens) wächst in der Nähe der Hütte des Forstamtes.
34 Urs Capaul
hende Pflanze ist trotz allem eine bemerkenswert
attraktive Wildpflanze, die sowohl
im schweizerischen Alpenraum als auch
im Jura vereinzelt anzutreffen ist. Ihre
selektive Verbreitung ist noch immer ein
pflanzengeografisches Rätsel. Die Wurzel
wurde in der Volksmedizin unter anderem
als Wurmmittel und gegen chronische
Hautkrankheiten eingesetzt.
Wie Sie sehen, erwartet den Naturfreund und
die Naturfreundin im Tannbüel eine grosse
pflanzliche Vielfalt. Sie kann auf schmalen,
abgesteckten Pfaden erkundet werden, und
der eine Bereich am sanften Südhang ist frei
zugänglich. Andere Teile sind eingezäunt, um
dem kleinen Naturreservat den nötigen Schutz
zu gewähren.
Zwischen den beiden Hauptteilen des Reservats
liegt eine prachtvolle Magerwiese, die
sich in allen Farben präsentiert.
Pflegekonzept
Seit 1979 liegt ein vom Geobotanischen Institut
der ETH Zürich erarbeitetes Schutz- und
Pflegekonzept vor. Ziel der Pflegeeingriffe ist
es, optimale Wuchsbedingungen für die vielen
seltenen Pflanzenarten zu schaffen. Dazu gehört
die Durchforstung der Altbestände, um
genügend Licht auf den Boden zu bringen.
Sehr vitale Sträucher wie etwa der Liguster werden
entfernt, spezielle oder seltene Baumarten
dagegen gefördert. Zu den geförderten Arten
zählen neben der Föhre die im Tannbüel besonders
zahlreichen Wildobstbäume, nicht zu
verwechseln mit verwilderten Obstbäumen
(Felsenbirne, Wildapfel), sowie der Elsbeerbaum
( Abbildung 2.18) und der Mehlbeerbaum
( Abbildung 2.19). Besonders entlang
der Waldsäume schaffen die Pflegeeingriffe
vielseitige Strukturen in Form von stufigen,
buchtigen Waldrändern. Die artenreichen
Halbtrockenwiesen werden so gemäht, dass
die Pflanzen vorher ihre Samen verbreiten können.
Diese sehr arbeitsintensiven Pflegearbeiten
erfolgen durch die Stadt Schaffhausen in
enger Zusammenarbeit mit dem kantonalen
Naturschutzamt sowie mit Vertretern des Bundes.
Bund und Kanton beteiligen sich auch an
den Kosten für diese Pflegemassnahmen.
Beim Tannbüel handelt es sich um ein
grenzüberschreitendes Schutzgebiet von
überregionaler Bedeutung; es umfasst
sowohl schweizerische als auch deutsche
Areale. Der aussergewöhnliche
Reichtum verpflichtet alle – Erholungssuchende,
Forstleute, Orchideenfreunde,
Botanikerinnen –, diesem
Kleinod Sorge zu tragen, sodass auch
die zukünftigen Generationen sich daran
erfreuen können.
35
2 Lichter Föhrenwaldsaum: Der Hasebuck
Roland Stalder
Abb. 2.1: Karte Ausgangspunkt Heidenbomm
von/nach Hemmental
von/nach Merishausen
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA150278) 0 0.25 0.5 Kilometer
Den Ausgangspunkt der Wanderung, den Heidenbomm
(Parkplatz ) erreicht man per
Auto oder Fahrrad am leichtesten von Hemmental
aus auf der Randenüberfahrt nach Beggingen
oder umgekehrt.
Zu Fuss muss zuerst ein Anmarsch von etwa
einer Stunde bewältigt werden. Mit der Buslinie
22 nach Hemmental, vom Wendeplatz
des Busses aus gibt es mehrere Möglichkeiten
den Ausgangspunkt Heidenbomm
zu erreichen. Entweder via Chrüzweg–
Gutbuck Richtung Hagen oder via Guggental–
Mäserich Richtung Hagen (schattigere
Variante).
Eine andere Möglichkeit ist, mit Bus 23 nach
Merishausen, Gemeindehaus zu fahren, unterhalb
der Kirche Richtung Randehorn zu
gehen, dann nach 700 Metern vom Parkplatz
bei der Kirche von der Fahrstrasse links abzuzweigen
und via Stofflenhang durch die
schönsten Blumenwiesen im Dostental bis zuhinterst
zu gehen, und dann von Nordosten
her direkt zur SAC-Hütte Hasebuck (P. 811)
aufzusteigen (Wegweiser).